Neue Rosen und alte Dornen – Die neue Stelle
Autor: Karl Kollar
Karin knallte wütend die Wohnungstür zu und ging mit schnellen Schritten durch den Korridor zum Treppenhaus. Tränen schossen aus ihren Augen. In ihrem Kopf hallte noch der letzte Streit mit ihrem Freund nach. An den neugierigen Nachbarn lief sie wortlos vorbei.
Sie war mehr als verzweifelt. Von der romantischen Liebe zu ihrem Freund war nichts mehr geblieben als der tägliche Streit. Alle im Haus wussten, dass es in ihrer Beziehung schon lange nicht mehr stimmte. Nur weil Karin sich im Moment nichts eigenes leisten konnte, wohnte sie überhaupt noch bei ihrem Freund.
Sobald sie eine neue Arbeit hatte, würde sie bei ihm ausziehen. Dies war im Moment der einzige Traum, der ihr noch verblieben war. Doch zugleich wusste sie, dass dieser Wunsch so gut wie nicht erfüllbar war. Keiner stellte eine wegen Unterschlagung vorbestrafte Erzieherin ein.
Fast wäre sie gestolpert, weil sie wegen ihren verweinten Augen die Treppenstufen nicht richtig erkennen konnte. Den Hausmeister, der gerade eine Birne wechselte, grüßte sie kurz. Manchmal konnte sie sich beim ihm ihre Sorgen ausschütten. Er war für sie so etwas wie der Großvater, den sie nie kennen gelernt hatte.
Er hatte stets Zeit für ein kleines Pläuschchen und er war auch der einzige, der sie nicht auf den täglichen Streit ansprach. »Wieder eine neue Stelle?« Sein Blick fiel auf das Kuvert mit dem Stempel des Arbeitsamts.
Karin wischte sich die Tränen weg und versuchte, ihren Ärger herunter zu schlucken. »Ja, wieder so ein aussichtsloses Angebot.« Sie zeigte die Adresse. »Aber ich muss mich dort vorstellen, sonst streichen sie mir die Unterstützung.«
Der Hausmeister war von der Adresse sichtlich beeindruckt. Er nahm die Erzieherin in den Arm. »Einmal wird es klappen.«
Die Umarmung genoss Karin sehr und nur zu gern wollte sie seinen Worten glauben. Schließlich rang sie sich ein »Danke« heraus. »Der Bus fährt gleich«.
* * *
Die Haustür fiel ins Schloss und Karin bliebt abrupt stehen. SIE waren da und warteten schon auf sie. Wenigstens darauf konnte sie sich verlassen. Karin wartete kurz, bis SIE die Fesseln bereit hatten, dann stellte sie ihre Beine zusammen und presste ihre Arme an ihre Seite. SIE waren sehr geschickt beim Fesseln und Karin spürte sofort die wohlige Umklammerung des Leders und die Kraft der Schnallen, die ein Abnehmen wirksam verhinderten.
Doch für Außenstehende war nur zu sehen, das die Erzieherin stocksteif vor dem Haus stand und sich nicht bewegte. Von den Fesseln war nichts zu sehen. Auch von IHNEN nicht. Das war sehr nett von IHNEN, das nur Karin sie sehen konnte.
Mit langsamen Schritten ging sie los. SIE hatten ihr die Beine oberhalb der Knie zusammengebunden, deswegen konnte sie jetzt nur noch Trippelschritte machen. Aber das war sie gewohnt und was die Nachbarn dachten, war ihr herzlich gleichgültig.
Zwei Häuserblocks musste sie entlang gehen, bis sie an der Bushaltestelle war. Sie betete, das SIE ihr rechtzeitig die Fesseln losmachen würden, denn mit zusammengebundenen Knien kam sie sehr schlecht in den Bus hinein. Bis dahin genoss sie es, das SIE ihr jetzt auch noch den Mund zugeklebt hatten. Sie hielt die Lippen fest aufeinander gepresst. Es kam ohnehin nie vor, dass sie jemand ansprach und sie selbst hatte keinen Grund etwas zu sagen.
Während sie auf den Bus wartete, prüfte sie noch einmal, ob ihre Fesseln auch wirklich fest genug saßen. Doch zu ihrer Erleichterung stelle sie fest, das SIE sehr gute Arbeit geleistet hatten. Sie konnte sich wirklich nicht mehr bewegen und war zum Schweigen gezwungen, so wie sie es so gern mochte.
* * *
Der Bus kam pünktlich, soweit Karin dies auf der kleinen Kirchturmuhr erkennen konnte. Erst als er schon vor ihr stand, machten SIE die Beinfesseln auf und erlaubten ihr das Einsteigen. Sie bedankte sich höflich mit einem Knicks und erhielt von IHNEN die Erlaubnis, sich hinzusetzen. Natürlich wurde sie auf dem Sitz sofort von IHNEN festgeschnallt. Ganz fest, so dass ihr auch wirklich nichts passieren konnte.
Und sie betete, das es keine Kontrolle geben würde. Sicher, sie hatte eine Monatskarte, doch die war in ihrer Handtasche und um sie vor zu zeigen, hätten SIE sie los machen müssen. Natürlich würden SIE das auch tun, aber SIE würden dafür eine Bestrafung von ihr fordern. Und diese über sich ergehen zu lassen, darauf hatte Karin nun überhaupt keine Lust. Es war nicht einfach, wenn sie sich Erbsen in die Schuhe tun musste oder darauf kniete. Gewiss, die Strafen waren subtil, doch auch gerecht. Karin war da sehr streng. Und SIE auch.
Während der Bus sie gemütlich durch die Stadt schaukelte, dachte sie voller Zorn an ihren Freund, mit dem sie leider immer noch die Wohnung teilte. Sie hatte sich von ihm überreden lassen, ihm bei einer Unterschlagung mitzuhelfen und hatte ihr Konto für einige Transaktionen bereit gestellt. Sie hatte es damals aus Liebe getan, doch als Folge davon war sie jetzt vorbestraft. Sie waren beide jeweils mit einer Bewährungsstrafe davon gekommen und dazu kam noch eine hohe Geldstrafe, die Karin nur mühsam ab stottern konnte.
Insgesamt ging es ihr jetzt ziemlich schlecht. Sie wäre liebend gern bei ihrem Freund ausgezogen, doch sie konnte das Geld für einen Wohnungswechsel nicht aufbringen. Zusätzlich war sie darauf angewiesen, dass ihr Freund die Miete zahlte, weil sie im Moment kein eigenes Einkommen hatte. Es war auch so gut wie unmöglich, als vorbestrafte Erzieherin eine Anstellung zu bekommen.
Seufzend lehnte sie sich zurück. Sie würde jetzt bei diesen 'von Steins' sehr schnell ihre Unterschrift bekommen und dann würde sie sicher gleich wieder im Bus sitzen.
* * *
Wieder musste Karin darauf warten, dass SIE sie vom Sitz los schnallten, und sie wusste, dass SIE das gern erst im allerletzten Moment machten, so das sie gerade so noch aussteigen konnte.
Vor dem Bus blieb sie gleich wieder gehorsam stehen und wartete auf ihre Beinfesseln. Von den anderen Leuten an der Bushaltestelle wurde sie bloß verständnislos angesehen, weil sie so steif dastand. Sie wusste, es waren besondere Fesseln, die sie tragen durfte, es waren Fesseln, die nur sie selber sehen konnte. Natürlich wurden auch ihre Lippen wieder von IHNEN versiegelt.
Ganz langsam machte sie sich auf, die Adresse zu suchen, bei der sie sich vorstellen sollte. Sie war im besten Villenviertel der Stadt und schon allein deswegen maß sie dieser offenen Stelle keinerlei Erfolgsaussichten bei. Spätestens wenn die Sprache auf ihre Vorstrafe kam, würde sie ganz sicher abgelehnt werden. Wer würde schon eine vorbestrafte Erzieherin einstellen.
Wieder liefen Karin ein paar Tränen die Wange herunter. Es war fast ein Teufelskreis. Mit diesem Lebenslauf bekam sie keinen Job, ohne Job war kein Geld da und ohne Geld konnte sie sich keine eigene Wohnung leisten. Sie war auf ihren Freund angewiesen, durch den sie überhaupt in dem Schlamassel steckte.
Während sie langsam die Straße entlang ging, fragte sie sich, wo ihre Liebe geblieben war. Früher war alles so Rosa, doch dann kam die Unterschlagung ihres Freundes und sie war als aktive Mittäterin eingestuft worden. Die Strafe, die das Gericht festgesetzt hatte, hatte alle ihre Ersparnisse aufgebraucht, doch noch viel schlimmer war jetzt der Makel der Vorstrafe in ihrem Lebenslauf.
Seit dem Vorfall war sie arbeitslos und nur die gemeinsame Wohnung hielt sie und ihren Freund noch etwas zusammen. Sie kochte für ihn und er ließ sie dafür bei ihr wohnen. Liebe gab es schon lange nicht mehr, bloß noch Streit.
Karin schaute nach den Hausnummern und stellte überrascht fest, dass sie da war. Sie wartete, bis SIE ihr sämtliche Fesseln abgenommen hatten und sie auch von dem Knebel befreit hatten, dann drückte sie auf den Klingelknopf.
* * *
Anna, Sandra und Jasmin, die drei Töchter der Familie von Stein saßen im Salon und warteten gespannt auf die neue Bewerberin für die Stelle als ihre Gouvernante. Sie hatten es geschafft, ihren Vater davon zu überzeugen, dass sie wieder eine neue Betreuerin brauchten. Seit ihre alte Gouvernante in den Ruhestand gegangen war, waren der Butler und auch die Verwalterin mit ihren Ansprüchen völlig überfordert.
Außerdem hatten die drei Töchter die Hoffnung, und das war der eigentliche Antrieb, dass ihr Vater sich vielleicht wieder verlieben würde. So lange es die Familientradition nicht verletzte, konnten sie sich eigentlich alles von ihrem Vater wünschen. Seit dem Tod der Mutter las er ihnen jeden Wunsch von den Augen ab.
Doch bisher hatten sie bei keiner Bewerberin auch nur annähernd eine Chance, dass diese sich für den Job interessieren würde. Jede hatte bisher aus irgendeinem recht plausiblen Grund abgesagt. Doch Anna war sich sicher, dass alle Kandidatinnen von der außergewöhnlich konsequent gelebten Tradition ihrer weitreichenden Familie abgeschreckt waren.
Wie es in den hohen Adelskreisen üblich war, hatten die Töchter Privatunterricht bekommen und wurden von einem eigens dafür angestellte Lehrer im Schloss unterrichtet. Sie waren jetzt alle volljährig, doch da Selbstständigkeit bei ihrer Erziehung nie eine Rolle gespielt hatte, wussten die Mädchen auch nicht, was ihnen entging. Für eine adelige Dame war es nicht nötig zu arbeiten. Es wurde aber von ihnen erwartet, klug zu sein und die Aufsicht führen zu können.
* * *
Anna, die älteste Tochter seufzte resigniert und versuchte, ein wenig ihre Arme zu bewegen. Doch heute war die Schnürung des Monohandschuh besonders streng ausgefallen, weil sich Tante Selma selbst um das Anlegen gekümmert hatte. Die Arbeiten von John in dieser Richtung waren der Schwester ihres Vaters selten sorgfältig genug. Außerdem hatte sie den Butler in Verdacht, heimlich Mitleid mit den Mädchen zu haben und das war in ihren Augen äußert verpönt.
Eine junge Dame ihrer Kreise hatte es nicht nötig, zu arbeiten oder sich viel zu bewegen. Entsprechend waren ihre Kleider dafür gearbeitet. Die Arme waren fast immer irgendwie aus dem Weg geräumt, bevorzugt auf dem Rücken und von ihren Beinen konnten die Mädchen meistens nur die Unterschenkel bewegen.
Anna blickte zu ihren Schwestern und obwohl sie es seit Jahren kannte, blieb es ein seltsamer Anblick, wie sie alle drei einen Ballknebel um den Hals hängen hatten. Es war ein Zeichen ihres Status einer versprochenen unverheirateten Prinzessin. Bei allen formalen Anlässen und bei den seltenen Auftritten in der Öffentlichkeit zeigte der Ball im Mund, dass für die Prinzessin bald eine Hochzeit in Aussicht stand. Erst nach der Hochzeit waren sie von dieser Pflicht befreit.
Anna blickte an sich herunter und seufzte. Nicht nur die gekreuzten Riemen über ihrer Brust zeigten ihren Status, auch der rote Ball, der wie eine Halskette um ihren Hals baumelte, hatte in der Familie eine wichtige Bedeutung. Es war das wichtigste Anzeichen dafür, dass die Tochter noch nicht verheiratet, aber schon versprochen war.
Seit einigen für die Familie äußert peinlichen Vorfällen wurde bei jeder Gelegenheit auf die richtige Einhaltung der Tradition sehr viel Wert gelegt. Anna wusste, dass sie spätestens, wenn die Bewerberin das Haus betreten hatte, den Ball in ihrem Mund trage würde.
Die Tradition verfolgte dabei mehrere Zwecke. Zum einen wurde die Trägerin des Balles stets an ihren Zustand als bereit versprochen erinnert. Auch die jungen Herren respektierten den Anblick und vermieden es, mit ihr zu flirten.
Der Ball bewahrte die Mädchen aber auch vor unüberlegten Äußerungen, denn der Ball bewirkte auch, dass sie nicht schlucken konnten und sich so Speichel im Mund sammelte. Wenn sie die Lippen bewegten, dann lief dieser unkontrolliert heraus und hinterließ demütigende Spuren auf ihrer Kleidung. Alle Mädchen waren mehr als bemüht, sich diese Peinlichkeit zu ersparen.
Anna blickte erneut zu ihren Schwestern. Sandra litt besonders wegen der erzwungenen Unbeweglichkeit. Ihre Schwester wäre viel lieber bei den Pferden oder hätte der Gärtnerin beim Arbeiten geholfen. Doch sie musste sich stets den Anforderungen der Tradition unterordnen.
Jasmin hingegen war die einzige der drei Schwestern, die strahlte. Sie trug einen noch viel strengeren Handschuh als ihre beiden Schwestern und sie hatte sich auch schon den Ball in ihrem Mund festschnallen lassen. Ihre Augen strahlten. Sie war es auch, die der Tradition sehr viel positives abgewinnen konnte und die sie geradezu begeistert nacheiferte. In ihrem Kleiderschrank befanden sich viele Kleider, zu denen sie sich einen Handschuh aus dem selbem Material hatte anfertigen lassen.
»Ob es diesmal klappen wird?« Anna sprach aus, was alle drei Töchter dachten. »Vielleicht lässt sich die Bewerberin diesmal nicht abschrecken.« Beim letzten Telefonat mit dem Arbeitsamt hatte ihnen die Sachbearbeiterin ja gewisse Hoffnungen gemacht. Aber ob die Tanten diesen »Frosch« auch schlucken würden?
»Warum müssen wir denn auch jedes mal die vollen »Uniform« tragen?« stöhnte Sandra. Die Mädchen wurden nicht müde, dies immer wieder anzusprechen. Doch die Antwort war stets die gleiche. Es könnte ja sein, dass ein Bekannter sehen würde, dass sie im Haus der Tradition nicht folgen würden. Und seit dem Vorfall mit ihrer Mutter...
* * *
»Seid ihr fertig für die neue Bewerberin?« Tante Paula kam in den Salon und natürlich erschien hinter ihr auch gleich ihre Schwester Selma. Sie gingen auf die drei Mädchen zu, die auf der kleinen Polstergruppe Platz genommen hatten. »Heute sehr ihr wieder besonders hübsch aus.«
Für einen Aussenstehenden hätte es wie Ironie geklungen, doch Selma und Paula hatten das Lob sehr ernst gemeint. Es war ihnen wichtig, dass die Mädchen entsprechend der großen Tradition ihres Hauses erzogen wurden und dass sie optimal auf ihr künftiges Leben vorbereitet wurden.
»Warum müssen wir denn auch gleich jedes mal so aufgetakelt erscheinen.« Anna sprach ihre Gedanken aus. »Das hat bisher noch jede Bewerberin sofort verschreckt.«
Doch als Antwort bekam sie nur ein mitleidiges Kopfschütteln von Selma. »Du stellst die falschen Fragen, mein Schatz.« Sie löste die Schnalle des Knebels und hielt Anna die Kugel vor den Mund.
Seufzend macht Anna ihren Mund auf, nahm brav die Kugel in den Mund und versuchte, den Eindringling so bequem wie möglich in ihrem Mund unter zu bringen. Zum Glück waren die Bälle gut ihrem Mund angepasst und ließen sich auch über längere Zeit tragen, was ab und zu schon mal vor kam.
Tante Paula war zu Sandra gegangen und wie üblich ließ sie sich ganz ohne Widerworte den Mund versiegeln.
Schließlich trat Selma noch zu Jasmin und wie üblich, machte sie den Riemen des Knebels noch einige Löcher enger. »Frau Dortmund ist dabei viel zu nachlässig.« Erst als Jasmin ein wenig stöhnte, ließ sie von ihr ab. »Es ist schön«, sagte sie, »das ihr wieder so brav der alten Tradition folgt.«
* * *
Anna verdrehte innerlich die Augen. Gleich würden die Tanten wieder über ihre Mutter herziehen. Sie beschloss, gar nicht erst zuzuhören, weil es doch nur weh tun würde. Nur zu gern erinnerte sie sich an die Zeiten, als ihre Mutter noch lebte.
Es war eine sehr schöne Zeit gewesen in ihrer Kindheit. Doch als Anna als erste der drei Schwestern so alt wurde, dass sie für die Tradition in Frage kam, änderte sich alles.
Die Tanten hatten schon länger mit Argwohn beobachtet, dass die Mutter von der Tradition nicht viel hielt und sie hatten befürchtet, das die Töchter aufgrund des Einflusses ihrer Mutter die Tradition eventuell nicht fortsetzen würden. Deswegen waren sie in das große Haus eingezogen und hatten quasi die Aufsicht über die weitere Erziehung der Töchter übernommen. Seit dem war es oft genug zu einem Streit gekommen zwischen ihrer Mutter und den beiden Tanten gekommen. Ihre Mutter wollte für ihre Töchter so viel Freiheit wie möglich haben, doch die Tanten bestanden streng auf der Einhaltung der Traditionen. Ihr Vater hatte sich immer geschickt herausgehalten oder war gar nicht erst anwesend.
Der Konflikt spitzte sich zu, als er Vater einmal bei so einem Streit anwesend war. Annas Mutter hatte damals wohl gehofft, das sie ihren Mann auf ihrer Seite haben würde. Sehr groß war ihre Enttäuschung, als sie feststellen musste, das ihr Mann zu seinen Schwestern hielt und ihr damit quasi in den Rücken fiel. Sie hatte wütend und enttäuscht das Haus verlassen und war mit dem Auto weggefahren. Einen Tag später kam der Anruf der Polizei, das sie wohl in der Nähe ihres Geburtsortes tödlich verunglückt war. Zumindest hatte man ihr Autowrack ausgebrannt vorgefunden. Von ihr selbst fehlte jede Spur.
Anna vermisste ihre Mutter sehr. Den anderen ging es nicht anders.
* * *
Es war so gut wie unmöglich, als vorbestrafte Erzieherin eine Anstellung zu bekommen. Karin würde jetzt bei diesen... Sie nahm das Blatt noch mal zur Hand. ...von Steins sehr schnell ihre Unterschrift bekommen und dann würde sie gleich wieder im Bus sitzen.
Sie blickte sich um. Sie war wirklich im besten Viertel der Stadt. In der richtigen Straße war sie schon, und bis zu der angegebenen Hausnummer waren es nur noch zwei Grundstücke. Aber was für Grundstücke. Hohe Mauern oder Hecken, und dahinter protzten die Besitzer mit ihren großen Häusern, die jeweils fast immer schon aussahen wie ein kleines Schloss.
Ein Haus fiel ihr besonders auf. Der Bauherr hatte es vermutlich nach dem Vorbild eines Schlosses angelegt. Sofort stach der seitliche große Turm ins Auge, mit dem oberen Zinnenrand. Die Fenster des gesamten Gebäudes waren im gotischen Stil gehalten und im zweiten Geschoss und im ersten Dachgeschoss waren passende Fensterläden. Das dunkelgraue Dach passte gut zu den hellen, fast weißen Wänden des Schlosses. Karin fand, dass hier ein Architekt einen Blick für Proportionen gehabt hatte.
Doch dann entdeckte sie vorn an dem Tor die Hausnummer. Es war das Anwesen der von Steins. Das Herz rutschte ihr in die Hose. Bei diesen Leuten würde sie doch nie eine Anstellung bekommen. Nicht einmal mit einem perfekten Lebenslauf.
Sie blickte noch einmal auf den Zettel vom Arbeitsamt. Die Familie suchte eine Betreuerin für ihre drei Töchter. Karin seufzte noch einmal, dann drückte sie mit dem Mut der Verzweiflung auf die Klingel.
Eine recht unfreundliche Stimme fragte: »Ja bitte?«
Karin beugte sich runter zu der Klingel und sagte: »Ich komme vom Arbeitsamt.«
»Einen Augenblick bitte!« war aus dem Lautsprecher zu hören und Karin kam es so vor, als ob die Stimme jetzt ein klein wenig freundlicher war. Ein leises Summen ertönte und die Tür ging auf. Zögernd trat Karin auf das Grundstück und erst jetzt sah sie das Schloss in seiner vollen Größe. Während sie sehr eingeschüchtert über den kurzen Kiesweg auf das große Portal zuging, öffnete sich dort eine Tür und ein Mann in einer Livree trat vor das Portal. Karin vermutete in ihm den Butler.
Sie fühlte sich von ihm mit sehr viel Missbilligung gemustert. Sehr verlegen blickte Karin an sich herunter und kam sich sehr verunsichert vor mit ihrer ausgewaschenen Jeans und ihrer schäbigen Lederjacke. Doch der Butler lies sich nichts weiter anmerken, er bat Karin mit einer Handbewegung in Haus.
* * *
Sie wartete in einer großen Halle und genau wie sie es erwartet hatte, sah es auch aus. Es standen einige alte Rüstungen herum, an den Wänden hingen alte Waffen und Bilder.
»Lassen sie sich bloß nicht vom Äußeren beeindrucken,« war auf einmal eine sympathische Stimme zu hören. »Die Familie legt sehr viel Wert auf Traditionen.« Eine Frau etwas älter als Karin kam die Treppe herunter und stellte sich als Frau Dortmund, die Verwalterin vor. »Sie sind die neue Erzieherin?«
Karin war von der Atmosphäre noch etwas gefangen. Sie zeigte das Schreiben des Arbeitsamtes vor und musterte gleichzeitig den eleganten Hosenanzug.
»Lassen sie uns doch in den Salon gehen.« sprach Frau Dortmund und öffnete eine Tür. Sie traten ein und Karin setzte sich in den Sessel, auf den die Verwalterin zeigte.
Wie bei ihren bisherigen Vorstellungsgesprächen auch erzählte Karin von ihrem Lebenslauf und obwohl es ihr schwer fiel, berichtete sie auch gleich von ihrer Vorstrafe. Es stand in ihren Bewerbungsunterlagen und verheimlichen wäre ohnehin nicht möglich, obwohl ihr das sicher viel lieber gewesen wäre.
Die Verwalterin wollte viel über Karins bisherige Arbeiten wissen und diese gab gern Auskunft. Dann berichteten Frau Dortmund von den drei erwachsenen Töchtern, auf die sie aufpassen sollte.
Karin wunderte sich schon, warum sie auf erwachsene Frauen aufpassen sollte. Sie wagte aber nicht zu fragen.
* * *
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Karin das Gefühl, ein ganz normales Bewerbungsgespräch zu führen. Doch was jetzt folgte, hatte sie bisher noch nie erlebt. Frau Dortmund hatte nach dem Butler geklingelt und als dieser mit einem Tablett erschien, stockte Karin der Atem. Auf dem Tablett lag ein Ballknebel. Eine rote Kugel, vielleicht dreieinhalb Zentimeter im Durchmesser und von zwei Riemen mit einer Schnalle gehalten.
Der Butler nahm ein Tuch, putze die Kugel ab und reichte Karin den Knebel.
Karin blickte die Verwalterin sehr verwirrt an.
»Wissen sie, was das ist?« fragte Frau Dortmund mit ein wenig Hoffnung in der Stimme.
Karin wurde rot, als sie mit leiser Stimme »ein Ballknebel« sagte.
»Zeigen sie uns, dass sie damit umgehen können.« Die Verwalterin blickte Karin ermutigend an.
»Ich soll mich...« Sie blickte ungläubig zwischen der Verwalterin und dem Butler hin und her. In den Gesichtern las Karin, das die Anweisung durchaus ernst gemeint war. Sie nahm den Knebel zitternd in die Hand und immer noch sehr verwirrt öffnete sie die Schnalle des Knebels. Wie schon so oft öffnete sie ihren Mund und schob den Ball zwischen ihre Lippen. Mit geübter Hand schloss sie die Riemen hinter ihrem Kopf und blickte dann die Schwestern immer noch sehr verwirrt an.
»Sie sind eine der wenigen, die diesen Test besteht.« Die Verwalterin klang erleichtert. »Vielleicht habe wir ja doch Glück mit ihnen.«
Karin verstand immer weniger, worin ihre Aufgabe bestehen sollte und was dieser merkwürdige Knebeltest sollte. Doch seltsamerweise begann ihr die Sache Spaß zu machen. Und so war sie auch gar nicht mehr erstaunt, als der Butler als nächstes ein Seilbündel auf das Tablett legte und ihr rechte.
»Bitte zeigen sie uns, das sie auch mit Seilen umgehen können.« Frau Dortmund blickte recht hoffnungsvoll auf das Tablett. »Binden sie sich ihre Beinen oberhalb der Knie zusammen. mit sorgfältigen Knoten.«
Karin wusste gar nicht mehr, wie ihr geschah. Doch ihre Beine zusammenbinden, das konnte sie gut. Sehr gut! Sie liebte es streng. Und die weißen Seile sahen sehr gut aus auf ihrer blauen Jeans. Karin begann sich sehr wohl zu fühlen.
»Sie sind vorbestraft, hat uns das Arbeitsamt mitgeteilt?« fragte Frau Dortmund im gleichen Tonfall bis bisher.
Karin zuckte zusammen. Auf einmal war sie wieder sehr verunsichert. Sie wusste jetzt nicht was sie machen sollte und was von ihr erwartet wurde.
»Sie können den Knebel und die Seile wieder abnehmen.«
Karin schluckte, während sie der Bitte nach kam. »Ja, wegen Unterschlagung.« Sie legte Seile und Knebel wieder auf das Tablett. Sie sagte sich, dass sie nichts zu verlieren hatte. Immerhin hatten diese Leute sie zu sich eingeladen, obwohl sie von der Vorstrafe wussten.
Von der Verhandlung erzählte Karin, von der großen Geldstrafe und von ihrer Bewährungsfrist. Sie hatte alle ihre Hemmungen über Bord geworfen und berichtete ganz frei und ehrlich. Die Verwalterin fragte nur ab und zu eine Kleinigkeit nach.
* * *
Als das Gespräch auf ihre jetzige Situation zu sprechen kam, war Karin besonders niedergeschlagen.
»Es ist ihre Aufgabe, jederzeit bereit zu sein, damit die Familientradition weitergeführt werden kann. Aber dafür ist es erforderlich, dass sie ihre jetzige Wohnung aufgeben und zu uns ins Schloss ziehen.«
Karin wäre ihrer zukünftigen Arbeitgeberin fast um den Hals gefallen, jetzt konnte sie endlich bei ihrem Freund ausziehen.
»Sie werden mit unserem Dienstpersonal essen und kriegen eine eigene abgeschlossene Wohnung hier im Schloss, gleich neben den Räumen der Töchter. Sie müssen sehr oft nach ihnen sehen und ihnen zu Diensten sein.«
Karin war mit diesen Bedingungen mehr als einverstanden.
»Sie werden verstehen, dass wir ihnen bei freier Kost und Logie kein großes Gehalt zahlen können. Aber wir werden ihnen ein monatliches Taschengeld zur Verfügung stellen.« Die Verwalterin nannte einen Betrag.
Karin war mehr als angetan über dieses »Taschengeld«. So viel hatte sie auf ihrer letzten Stelle nicht bekommen.
* * *
»Da wären aber auch noch die beiden Schwestern des Barons.« Die Stimme der Verwalterin zeigte deutlich an, dass sie angespannt war. »Sie möchten sie auch kennen lernen.« Sie gab dem Butler ein Zeichen, der gleich darauf das Zimmer verließ.
Als die zwei älteren Damen den Raum betraten, versteife sich Karin in ihrer Haltung. Sie spürte die Blicke der beiden Schwestern und schämte sich wegen ihrer so völlig unpassenden Jeans. Erst im letzten Moment fiel ihr ein, dass es höflicher wäre, wenn sie zur Begrüßung aufstehen würde.
Strenge Blicke musste Karin über sich ergehen lassen. Doch keine der Damen stellte eine Frage oder sagte etwas. Karin versuchte, ihr Zittern zu verbergen.
Nach einiger Zeit ging die Verwalterin auf die beiden Schwestern zu und begann leise mit ihnen zu diskutieren.
Karin konnte nur Fetzen aufschnappen, zumal sie wusste, das es unhöflich war, so zu lauschen. Doch stellenweise wurde Frau Dortmund etwas lauter und so hörte Karin etwas wie ,keine Wahl', später ,wir müssen froh sein, wenn sie bleibt' und kurz darauf ,Sie ist die erste, die nicht sofort abgesagt hat'. Und 'sie könnte sofort anfangen und sie würde hier einziehen'.
Dann nach einigen weiteren Diskussionen traten die drei wieder auseinander und drehten sich zu Karin. Diese sah sofort die finsteren Mienen der Schwestern, aber auch das eher fröhliche Gesicht der Verwalterin. Und letzteres machte ihr wieder etwas Mut.
»Informieren sie bitte die Comtessen.« Die Verwalterin hatte dem Butler die Anweisung gegeben, dann drehte sie sich wieder zu Karin. »Ich erkläre ihnen dann, welches ihre wichtigsten Aufgaben sind.«
Karin traute der Situation noch nicht. »Soll das heißen, dass sie mich nehmen?«
Selma drehte sich langsam zu ihr hin. »Wir werden es für drei Monate mit ihnen probieren.« Sie reichte Karin einen dicken Ordner. »Machen sie sich bitte hiermit vertraut. Um 16 Uhr erwarten wir sie dann zum Dienstbeginn.«
Karin nahm den schweren Ordner entgegen. »Danke für das Vertrauen.« Sie hatte gemischte Gefühle. Einerseits freute sie sich, dass sie jetzt eine Anstellung hatte, wenn auch nur auf Probe. Auf der anderen Seite fühlte sie den Ordner in ihrer Hand. Sie ahnte, dass ihre Aufgabe nicht einfach werden würde.