Das Minutenbuch

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Das Minutenbuch – Dienstreise im Winter

Autor: Karl Kollar

Mit langsamen Schritten ging Sabrina in ihr Arbeitszimmer zum Telefon. In Gedanken war sie ihrer Tante sehr dankbar, das sie hier eine Freisprecheinrichtung hatte einrichten lassen. So war es ihr möglich, trotz der Handschuhe zu telefonieren. Die wichtigen Nummern waren alle auf die Tasten programmiert und einen Hörer musste sie nicht festhalten.

Sie drückte die Taste für den Verlag und nach zwei mal Klingeln hörte sie auch schon die Stimme der Sekretärin ihrer Tante. »Oh Sabrina, schön, das Du mal anrufst. Was kann ich für Dich tun?«

»Wann kommt heute die Reporterin von der Zeitung?«

Sie hörte, wie die Sekretärin erst ein wenig blätterte, dann teilte sie ihr mit, das sie sich für zwei Uhr am Nachmittag angesagt hatte.

Sabrina blickte auf die Uhr und ihr Blick verfinsterte sich. »Danke für die Auskunft.«

Die Sekretärin fragte, ob Sabrina allein wäre.

»Ja, Christina holt meine Tante vom Bahnhof ab. Ich hoffe, sie kommen rechtzeitig zurück. Ich muss noch aus dem Geschirr raus und will mich auch noch umziehen.«

Die Sekretärin wusste von Sabrina besonderem Alltag. »Dann lauf nicht zu schnell. Und viel Spaß mit der Reporterin.« Dann legte sie auf.

Sabrina schaute wieder auf die Uhr und begann nervös zu werden. Es war nur noch eine halbe Stunde Zeit und ihre Tante war noch nicht zurück. 'Wo bleiben die denn bloß? Sie wissen doch, wie wichtig das Interview ist.'

Ob die Maschine ihr wohl jetzt noch einen Orgasmus spendieren würde? Sabrina war da recht unsicher. Heute war es bis jetzt noch nicht passiert und es wäre ihr sehr peinlich, wenn sie in Anwesenheit der Reporterin kommen würde. Die Kontrolle darüber hatte sie allerdings schon lange abgegeben.

 

Die Zeit schritt voran. Und Sabrina wurde immer nervöser. Sie versuchte an ihrem Ledergeschirr zu zerren, aber selbst, wenn sie es hätte richtig anfassen können, hätte das nichts genutzt. Der Sattler, dem sie damals ihre Wünsche berichtet hatte, hatte sehr gute Arbeit geleistet.

Sie wollte sich doch noch umziehen, raus aus dem Jogginganzug, endlich mal wieder ein schönes Kleid und Schuhe mit Absätzen. Doch wenn ihre Tante nicht bald kommen würde, dann...

Sabrina wollte es nicht zu Ende denken.

 

War da eben ein Auto vorgefahren? Sabrina drehte sich schnell um und wollte ans Fenster laufen. Doch nach den ersten zwei Schritten spürte sie, wie der Schlitten sie bremste und sie von der Leine zurück gehalten wurde. Sie verfluchte diese Einrichtung, die sie früher immer so toll fand und bemühte sich, jetzt mit langsamen Schritten zu gehen. Es klappte, der Schlitten hielt sie nicht zurück.

Mit langsamen Schritten ging sie durch das Wohnzimmer, immer den Schienen an der Decke nach, dann konnte sie durch das große Fenster nach draußen sehen.

Doch da war kein Auto und es schneite wie verrückt. Das Christina heute Morgen mit dem Auto losgefahren war, davon war nichts mehr zu sehen, es war alles wieder zu geschneit. Sie dachte wieder an ihre Tante und hoffte sehr, das sie keine Probleme mit dem Schnee haben würde. Gewiss, das große Haus lag ziemlich abseits, doch der Schneepflug fuhr trotzdem ab und zu bei ihnen vorbei und Schneeketten waren auch immer im Auto. Eigentlich kein Grund, sich Sorgen zu machen.

Doch die Zeit schritt voran.

Sabrina wurde immer nervöser. Vielleicht könnte sie ihre Tante auf dem Handy erreichen? Sie ging langsam, aber mit ziemlich großer innerer Ungeduld in ihr Arbeitszimmer zum Telefon und drückte die entsprechende Taste auf dem Telefon. Doch das Handy klingelte irgendwo im Haus. Ihre Tante hatte es mal wieder vergessen. Sabrina war enttäuscht und wurde noch nervöser. Der Zeiger der Uhr lief unerbittlich auf 14 Uhr zu.

Sie warf einen Blick auf das Minutenbuch. »Dienstbefreiung wegen Reporterbesuch« stand dort in wenigen Worten. Und das für den ganzen Tag, so etwas war war noch nie vorgekommen.

Mit langsamen Schritten ging Sabrina wieder zum großen Fenster im Wohnzimmer. Sie blickte in das Schneetreiben hinaus und war schon ziemlich verzweifelt. Es wurde immer später, sie würde sich nicht mehr rechtzeitig umziehen können. Die Reporterin sollte sie aber doch nicht in diesem Geschirr und in diesem Aufzug sehen. Sabrina würde lieber im Boden versinken.

 

Das Telefon klingelte. Sabrina war elektrisiert.

Sie drehte sich schnell um und lief zum Telefon. Nach den ersten Schritten fluchte über den Schlitten und ging in dem Tempo weiter, was der Schlitten gerade noch erlaubte. Es klingelte lange, doch alle die bei ihr anriefen, wussten, das sie lange warten mussten.

Sie nahm den Anruf an und es meldete sie ihre Freundin Angelika.

»Ach Du bist es«, Sabrina klangt enttäuscht und genervt zugleich.

Doch Angelika bekam davon nichts mit. Sie begann sofort von ihren letzten Rendezvous zu erzählen und merkte von Sabrinas Sorgen gar nichts.

Sie unterbrach den Redefluß ihrer Freundin. »Du Geli, ich habe jetzt überhaupt keine Zeit.«

Angelika war etwas verwundert. »Ich denke, Du hast heute frei? Du hat mir doch das Minutenbuch gezeigt.«

Sabrina war recht ungehalten. »Jeden Moment kann die Reporterin kommen.«

Angelika verstand. »Ich wollte auch bloß wissen, ob wir am Samstag wieder mal einkaufen gehen.«

Sabrina war recht ungeduldig, aber die Aussicht, mal wieder in die Stadt zu kommen, erfreute sie. »Tante Bertha muss ihr Okay dazu geben. Du kennst doch meine Regeln.« Aus dem Hörer war ein Seufzen zu hören.

»Wirst du auch deine Ledertüte wieder tragen?«

»Ja, vermutlich schon«, trotz der Anspannung freute sie sich auf die Aussicht, ihre Arme mal wieder in ihren Monohandschuh zu stecken.

Es klingelte an der Haustür.

Sabrinas Herz machte einen großen Sprung. Hastig verabschiedete sie sich von Angelika und so schnell wie der Schlitten es erlaubte, ging sie zur Haustür. Es hatte schon ein zweites Mal geklingelt.

»Wo bleibt ihr bloß so lange, die Reporterin kann jeden Moment kommen und ich muss mich doch noch umziehen.« Innerlich kochte sie, als sie die Tür öffnete und ohne nach draußen zu sehen, drehte sie sich schon wieder um und wollte zurück in ihr Zimmer gehen zum Umziehen.

Doch sie erstarrte in der Bewegung, als sie auf einmal draußen eine fremde Stimme hörte: »Wegen mir müssen Sie sich aber nicht umziehen.«

Sabrina wusste im ersten Moment überhaupt nicht, was sie jetzt machen sollte. Sie wäre am liebsten ganz tief in den Boden gesunken.

Wieder riss sie die Stimme der Reporterin in die Wirklichkeit zurück. »Darf ich hereinkommen, es ist sehr kalt draußen.«

Nur langsam drehte Sabrina sich wieder um und blickte der Reporterin ins Gesicht.

»Bitte entschuldigen Sie«, sie begann sich wieder zu fassen. »Kommen sie doch herein.«

* * *

Andrea verstaute ihre Tasche in dem Gepäckfach und ließ sich dann genüsslich in den Sitz sinken. Es war die erste Dienstreise, auf der sie erster Klasse reisen durfte und sie war entschlossen, dies auch zu genießen.

Sie machte es sich in dem weichen Stuhl bequem und legte ihre Mappe vor sich auf den Tisch. Sie ließ sich ein Getränk an den Tisch bringen und ging dann noch mal ihre Unterlagen durch.

Ihr Chef hatte ihr sehr viel Material über die erfolgreiche Autorin zur Verfügung gestellt und Andrea war bemüht, sich in die Lebensgeschichte der Sabrina Timani einzuarbeiten.

Sie wusste, das sie bei einem sehr schweren Unfall ihre Eltern verloren hatte und das sie sehr lange danach noch sehr krank war. Sie wohnte in einem winzigen Kaff westlich vor München. Andrea schaute sich noch einmal die Skizze an, die sie bekommen hatten. Mit dem Zug bis München, dann die S-Bahn bis vor die Stadt, umsteigen in den Bus und dann noch eine gutes Stück zu Fuß.

Sie blickte auf ihre nicht ganz winterfesten Stiefel, dann auf ihr dickes Spesenkonto und beschloss, in München ein Taxi zu nehmen.

Das Handy klingelte. Es war ihr Chef. Er machte ihr noch einmal deutlich, wie wichtig doch dieses Interview für ihre Zeitung wäre und das sie ja nichts verpatzen sollte. Sie erklärte ihm noch mal, das sie sich gut vorbereitet hätte und das nichts schief gehen würde.

Sie legte wieder auf. Bald würde München kommen.

 

Sie zeigte dem Taxifahrer die Skizze und dieser nickte wortlos. »Steigen Sie ein.« Er half ihr, das Gepäck zu verstauen und dann fuhren sie los.

Wieder klingelte ihr Handy. Sie beschloss, es für das Interview auszumachen. Das sie da ständig gestört werden würde, das konnte sie nicht brauchen.

Es war ihre Mutter. »Liebling, ich wollte nur fragen, was für einen Kuchen ich für Sonntag backen soll?«

Andrea grübelte. Hatte sie schon wieder einen Termin übersehen. Sie fragte vorsichtig: »Wieso Sonntag?«

»Naja, Du warst gestern mit ihm weg, Du wirst ihn mir doch am Wochenende sicher vorstellen.«

Andrea stöhnte. Ihre Mutter hätte sie so gern unter der Haube gesehen. »Mama, das war rein dienstlich. Das ist nichts.«

Die wollte das nicht hören. »Aber Du bringst ihn doch mit oder? Ich mache Topfkuchen.«

Andrea war sichtlich genervt. »Ja... Mach ihn... Ich muss jetzt arbeiten.« Dann legte sie auf.

Gleich klingelte es wieder. Es war wieder ihr Chef. Er machte ihr noch einmal klar, wie wichtig dieser Termin war. »Die Familie wollte ausdrücklich Sie haben. Also vermasseln sie es nicht.«

Sie versuchte, ihren Chef zu beruhigen. Sie wusste, er hätte viel lieber dieses Interview führen wollen, aber das war von der Familie nicht erlaubt worden.

 

Auf einmal blieb das Taxi stehen. Sie blickte den Fahrer fragend an. »Was ist los?«

Seine Antwort erstaunte sie. »Wir sind da. Da drüben ist das Haus.«

Andrea blickte sich um. Es war weit und breit das einzige Haus. Seltsam.

Sie bezahlte das Taxi, gab noch ein fürstliches Trinkgeld und stürzte sich dann in den dicht fallenden Schnee hinaus. Sie blickte auf die Uhr. Kurz nach 14 Uhr. Sie war pünktlich.

* * *

Sabrina blickte noch einmal kurz an sich herunter und war ziemlich unglücklich über den Anblick den sie gerade bot. Gewiss, der rote Jogginganzug bildete einen schönen Kontrast zu dem blauen Riemengeschirr, welches sich um ihren Körper spannte, doch sie schämte sich deswegen.

Sie drehte sich wieder zur Tür und steckte nur ihren Kopf nach draußen. Eigentlich wollte sie die Reporterin bitten, nicht zu lachen, doch als sie merkte, wie kalt es draußen doch war, sagte sie nur kurz: »Kommen Sie doch bitte herein, das ist ja ewig kalt draußen.«

Andrea trat herein und als sie Sabrina in ihrem Geschirr sah, mußte sie leicht grinsen und sagte: »Na, heute ein wenig kurz angebunden?«

Auch Sabrina mußte über dieses nette Wortspiel lächeln und irgendwie war das Eis gebrochen. Sie stellte sich unsicher vor: »Ich bin Sabrina Timani. Sie sind die Reporterin von der Zeitung oder? Meine Tante hat mir ihren Namen nicht genannt.«

»Ich bin Andrea Schuster. Ich hoffe, ich komme nicht unpassend.« Wieder warf sie einen Blick auf das Geschirr und die Leine zur Decke.

Sabrina versuchte dies zu überspielen. »Ich bin unhöflich. Wollen sie nicht ablegen?«

Andrea zog sich ihren Mantel aus und war gerade dabei, ihn Sabrina hinzuhalten, als diese weiter sprach. »Ich bin schon wieder unhöflich, aber ich muß sie bitten, Ihren Mantel selber auf zuhängen. Mit meinen Handschuhen kann ich leider nicht zufassen.«

Andrea blickte auf die die schwarzen Handschuh und ihr wurde etwas unheimlich. »Sind sie allein hier?« In ihrer Stimme klang sowohl Neugier als auch Besorgnis.

Sabrina schien dies zu spüren. Sie erzählte sofort, das sonst immer Christina da wäre, um sich um sie zu kümmern. »Ausgerechnet heute sind sie weg und ich weiß nicht, was los ist.«

»Es ist auch sehr schlechtes Wetter draußen.« Andrea wußte nichts Besseres zu sagen.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« Sabrina war sehr erleichtert, das die Reporterin nichts weiter zu ihrem Geschirr gesagt hatte.

»Ein heißer Kaffee wäre jetzt nichts schlecht.« Dann stutzte Andrea etwas und blickte auf Sabrinas Handschuhe. Diese wurde verlegen. Andrea wollte ihr helfen. »Wenn Sie mir alles zeigen, dann kann ich mich auch selber bedienen.«

Jetzt war es an Sabrina, erleichtert zu sein. »Das wäre sehr nett, es war nicht geplant, das ich etwas tun müßte. Dann würde ich die Handschuhe nicht tragen.

Sabrina ging voraus in die Küche und dabei konnte Andrea beobachten, wie sie an dem Seil oben an dem Schienensystem befestigt war und den Schlitten hinter sich her zog. Sie brannte vor Neugier, gleichzeitig sagte ihr aber ihr Verstand, das sie jetzt dazu nichts fragen durfte.

Die Kaffeemaschine stand auf dem Küchenschrank und Sabrina zeigte ihr den Schrank mit den Kaffeesachen. Andrea machte sich sofort daran, die Kaffeemaschine mit Wasser und Kaffeepulver zu versorgen. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Sabrina, wie diese sich abmühte, etwas aus dem Schrank zu holen.

Andrea vesuchte jetzt ganz vorsichtig, die ersten richtigen Fragen zu stellen. »Ich habe gelesen, sie hatten einen ganz schweren Unfall...«

Sabrina nickte leicht. »Ich habe dabei meine Eltern verloren.« Sie machte eine kleine Pause. »Aber das wissen Sie ja sicher.«

Andrea schwieg einen Moment, während die Kaffeemaschine leise zu gluckern begann. Immer wieder blickte sie auf die Handschuhe. »Ihre Hände...« Andrea mußte schlucken, »Ich meine, wie schreiben sie ihre Romane?« Es fiel ihr Schwer, diese Frage zu stellen.

Jetzt war es an Sabrina, verlegen zu werden. »Ach so, verzeihen Sie bitte, das hätten Sie gar nicht sehen sollen.« Sie machte eine Pause und das Sprechen fiel ihr schwer. »Meine Hände sind wieder vollkommen in Ordnung.«

Sie machte eine kleine Pause, dann blickte sie etwas ängstlich und scheu. Sie rang mit sich, dann schien sie einen Entschluß gefaßt zu haben.

»Was solls, ich muß Ihnen eh vertrauen.« Sie versuchte, die Ärmel ihre Joggingjacke hoch zukrempeln, aber selbst das ging nicht. Sie gab auf. »Das sind spezielle Handschuhe, extra für mich angefertigt. Sie sind noch aus der Zeit kurz nach dem Unfall. Sie wirken wie ein Gipsverband, kommen Sie, fassen Sie sie ruhig mal an.

Sabrinas Arm zitterte fast, als sie ihn zu Andrea hinstreckte. Und wirklich, Andrea spürte nur eine dünne Schicht Leder und darunter etwas hartes.

Sabrina bat Andrea, die Ärmel hoch zu krempeln und mit zitternden Händen kam Andrea dieser Bitte nach. Was zum Vorschein kam, überraschte Andrea noch mehr. Die Handschuhe reichten bis zum Ellenbogen und waren über die ganz Länge total steif. Deutlich waren die Schnallen zu sehen, mit denen sie geschlossen waren und was Andrea noch mehr erschauderte, jede der drei Schnallen war auch noch mit einem winzigen Schloß abgeschlossen.

»Die Schlüssel sind bei ihrer Tante, stimmts?« Andrea glaubte zu ahnen, was hier wirklich los war. Doch damit sollte sie falsch liegen. Sie zog Sabrina den Ärmel wieder herunter.

Sabrina schwieg einen Moment, während die Kaffeemaschine etwas stärker gluckerte. Ohne auf Andreas Bemerkung einzugehen, zeigte sie auf den Schrank und sagte mit einem Schlucken, »Dort sind Kaffee-Becher. Und im Kühlschrank ist Milch.«

Sie machte noch eine Pause und wieder war zu sehen, das sie deutlich mit sich kämpfte.

»Es sind überall im Haus Schlüssel, um mich zu befreien.« Sie zeigte auf das eher unauffällige kleine Schlüsselbrett.

Andrea hatte noch nicht den Mund aufgemacht, da antwortete Sabrina schon auf die noch nicht gestellte Frage.

»Die Schlüssel sind alle von meiner Tante versiegelt. Sehen sie den dünnen Siegeldraht?« Sie schluckte noch einmal. »Und außerdem will ich gar nicht frei sein.«