Das Minutenbuch

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Das Minutenbuch – Das besondere Leben

Autor: Karl Kollar

Andrea war ziemlich erstaunt über Sabrinas Äußerung, doch als gute Journalistin hörte sie auch einen leicht trotzigen Unterton und war entsprechend gewarnt. Sie beschloß erstmal davon abzulenken. Sie reichte hinüber zur Kaffeemaschine und schaltete sie aus. Dann blickte sie Sabrina an und fragte sie, wo denn die Tassen wären.

Sabrina war für die Ablenkung auch recht dankbar. Sie griff mit ihrer schwarzen Hand an eine der Schranktüren und zog sie auf. Dann griff sie mit beiden Händen hinein und versuchte einen der Kaffeebecher zwischen ihre unbeweglichen Finger zu bekommen. Doch der Becher entglitt ihren Händen, fiel herunter und zerbrach in Scherben.

Andrea hielt den Atem an und wußte, das sie jetzt gar nichts sagen durfte. Sie blickte sich um, ob sie irgendwo etwas zum Aufnehmen der Scherben erblicken würde. In der Ecke lagen ein Handfeger und ein Kehrblech. Sie nahm es wortlos, kniete sich hin und begann die Scherben zusammenzukehren.

Dabei hörte sie, wie Sabrina weinte. Sie blickte erstaunt zu ihr auf.

Sabrina schluchzte. »Das ist so demütigend, ich halte es nicht mehr aus.«

Andrea tat instiktiv das einzig richtige, sie stand auf und nahm Sabrina in ihre Arme und ließ sie weinen.

Langsam beruhigte sich die Autorin wieder. Leise kam ihre Stimme: »Sonst ist das immer so schön, aber heute ist es furchtbar. Was müssen sie bloß von mir denken?«

Andrea versuchte, ihr durch die Umarmung Trost zu geben, auch wenn sie gern gefragt hätte, 'was' denn da so schön war.

Sie wischte Sabrina die Tränen weg und sagte leise zu ihr. »Weißt Du was? Du zeigst mir alles und ich werde Dich bedienen.« Sie war zum Du übergegangen, ziemlich unbewußt. Die Nähe zu der Autorin brachte es einfach mit sich.

Sabrina wollte widersprechen. »Das hatten wir doch ganz anders geplant. Ich bin so ein Tolpatsch.« Sie schluchzte noch mal. »Ich hätte mir ein schönes Kleid angezogen...und schöne Schuhe... Und nicht dieses ... Dieses...«

Sie fand nicht das richtige Wort, stattdessen schluchzte sie. Andrea drückte sie etwas an sich.

Sabrina schuchzte noch mal, dann versuchte sie sich wieder in den Griff zu bekommen. Sie blickte Andrea unglaubig an. »Aber ich kann Dich doch hier nicht für mich arbeiten lassen.«

Andrea lächelte, dann blickte sie fast etwas streng: »Doch, das kannst Du. Oder willst Du noch mehr Scherben machen?«

Sabrina seufzte, »Ich glaube, Du hast recht.« Trotzdem fiel es ihr nicht leicht. Sie zeigte auf ein paar Schranktüren, um Andrea ein Tablett und Milch und Zucker zu zeigen.

Diese nahm erst das Tablett und dann die anderen Sachen aus den Schränken. Sie stellte die Kaffeekanne dazu und blickte Sabrina fragend an.

Diese nahm die nicht ausgeprochende Frage auf. »Laß uns ins Wohnzimmer gehen.«

Sie drehte sich um und nach zwei Schritten blieb sie stehen und fluchte leise. Andrea begriff zuerst überhaupt nichts, erst als die Autorin sich umdrehte. Sie faßte mit ihrer Hand an das Seil und versuchte dran zu ziehen. »Manchal ist dieses Ding nur lästig.«

Auch Andrea fiel jetzt wieder ein, das Sabrina ja auch an dieses Schienensystem an der Decke gebunden war. Auch hierzu hätte sie gern mehr gewußt, aber sie spürte, das die Zeit für so eine Frage noch nicht gekommen war.

Ihr fiel nichts besseres ein, als genau hinter Sabrina her zu gehen. Ein schnelles Tempo schien ihr diese Anlage nicht zu erlauben und sie konnte auch nicht auf dem direkten Weg zu dem Tisch gehen, sie mußte an den Wänden entlang gehen, so wie die Schienen ihr den Weg vorschrieben. Innerlich brannte Andrea vor Neugier, aber sie riß sich zusammen.

* * *

Es war eine gemütliche Sesselgarnitur, die um den kleinen Tisch herum standen, sehr weich und gut gepolstert, so das die kleinen Metallösen fast nicht auffielen. Doch Andrea mit ihrem Reporterblick entging so etwas nicht. Sie fühlte etwas Gänsehaut, als sie über den Zweck der Ösen nachdachte.

Andrea hatte das Tablett auf dem Tisch abgestellt und verteilte die Tassen. Sie schenkte den Kaffee ein und blickte die Autorin an.

»Mit Milch und Zucker bitte.« Andrea kam der Bitte nach und ohne zögern, aber mit viel Einfühlungsvermögen rührte sie den Kaffee auch gleich für Sabrina um. Diese war etwas erstaunt darüber, doch dann sagte sie leise »Danke«

Auf einmal mußten beide lachen. Wieder war ein Damm gebrochen.

Andrea hatte eigentlich schon vergessen, wie kalt ihr noch vor kurzem war, doch als sie jetzt den heißen Kaffee in sich spürte, nahm sie die Wärme dankbar auf.

Sabrina blickte zum Fenster »Es schneit wie verrückt..« Sie machte eine sorgenvolle Pause. »Sind sie...« sie vebesserte sich, »Bist Du zu fuß hier?«

»Ich habe mir ab München ein Taxi genommen.«

Sabrina blickte erstaunt. »Das ist doch teuer.«

Andrea lächelte. »Das zahlt mein Chef.«

Wieder schlürften beide ihren heißen Kaffee. Andrea sah fasziniert zu, wie konzentriert Sabrina die Tasse in den Händen hielt. Diese merkte den Blick und grinste: »Noch mal soll mir das nicht passieren.«

Beide schwiegen und genossen den Kaffee.

»Ich glaube, da sind auch noch irgendwo Kekse. Möchtest du welche?«

Andrea schüttelte den Kopf. »Nein danke, sehr lieb."

Sie versuchte langsam wieder zum eigentlichen Zwecks ihres Besuches zurück zukommen. »Dein letzter Roman war ein voller Erfolg.«

Sabrina lächelte leise.

»Das Mädchen, das den Unfall hatte... Das warst Du oder?«

Sabrina zögerte etwas. »Ja... Das... Ich mußte das einfach verarbeiten.« Sie seufzte etwas und ihr Blick wurde trauriger.

Andrea fragte, ob Sabrina jeden Morgen ins Büro fahren würde.

Sie schüttelt den Kopf, »nein, mein Arbeitszimmer ist hier. Ich arbeite hier im Haus.«

Wieder warf Andrea einen Blick auf Sabrinas Hände. Diese lächelte, »ohne die Handschuhe.« Sie schluckte. »Wenn ich Romane schreibe, sind meine Finger so ziemlich das einzige, was ich bewegen kann.« Sie lehnte sich zurück und blickte ziemlich verträumt durch das Wohnzimmer. »Dafür schone ich sie jetzt. Sie sind wertvoll.« Sie streichelte leicht mit einer Hand über die andere. »Seltsam... Immer noch. Ich spüre nichts dabei.«

Andrea nahm allen ihren Mut zusammen und wagte einen ersten Anlauf: »Und Du fühlst Dich wohl, wenn Du so eingeschränkt bist?«

Sabrina lächelte wieder: »Nein, im Moment bin ich nicht wirklich eingeschränkt. Für mich ist das Freiheit, so steht es im Vertrag.«

Andrea runzelte die Stirn. »Was für ein Vertrag?«

»Mein Arbeitsvertrag. Okay, er regelt auch meine Freitzeit, aber das wollte ich so haben.«

»Wie, das wolltest du so haben?« Andrea blickte Sabrina mit einer Mischung aus Unglauben und Besorgnis an.

Sabrina nahm den Blick entgegen und wußte, das Andrea noch viel mehr gefragt hatte, ohne es auszusprechen. »Du schaust genauso wie damals meine Tante. Sie wollte es erst auch nicht verstehen.«

* * *

Beide machten eine lange Pause. Dann fing Sabrina leise an zusprechen. »Ich glaube, es hängt sehr mit dem Unfall zusammen.« Ihre Stimme war auf einmal recht traurig.

Andrea bemühte sich, genauso gefühlvoll weiter zu fragen. »Du hst Deine Eltern sehr geliebt.«

Sabrina liefen ein paar Tränen ins Gesicht. Sie wischte sie mit dem Ärmel ihrer Jacke weg. Mehr aus Reflex als mit Nachdenken hielt Andrea ihr Taschentücher hin. Sabrina blickte sie dankbar an.

»Wenn Du mir eines auspackst...« Sie winkte mit ihrer schwarzen unbeweglichen Hand.

Andrea lächelte kurz, »stimmt. Verzeih mir.« Sie reichte ihr ein einzelnes Tuch und Sabrina konnte sich durch das Gesicht wischen.

»Ja... sie waren sofort tot, wurde mir später berichtet... und es wäre ein Wunder gewesen, das ich überlebt habe...«

Es entstand eine kleine Pause... und beide blickten mit etwas sorgenvollen Blicken aus dem Fenster, wo der Schnee immer noch in dicken Flocken zu boden tanzte. Sabrina fragte sich, wo bloß ihre Tante bleiben würde und Andrea machte sich Sorgen um ihren Rückweg. Sabrina sprach die Gedanken laut aus. »Ein Wetter ist das...«

»Was schreibst Du im denn im Moment?«

Sabrina grinste etwas verschmitzt. »Also eigentlich darf das ja keiner wissen, aber es wird wieder eine Liebesgeschichte... im Mittelalter... mit Ritter und Burgfräulein und so.«

Irgendwo im Haus klingelte ein Telefon. Sabrina war elektrisiert. »Telefon, das ist hoffentlich meine Tante.«

Sie war aufgesprungen und wollte zum Telefon eilen, als sie wieder vom Schienensystem gebremst wurde. Sie drehte sich zum Seil um und sah Andrea noch am Tisch sitzen. Ohne groß nachzudenken, forderte sie Andrea auf, mitzukommen.

Diese kam der Bitte sehr gern nach, sie war von allem, was diese geheimnisvolle Autorin betraf, sehr fasziniert. Sie überlegte, ob es wohl bei Sabrinas Tempo lange genug klingeln würde.

Sabrina schien diese Gedanken gespürt zu haben, denn sie drehte sich unter dem Gehen um und lächelte zu Andrea hin. »Wer hier anruft, weiß, wie langsam ich bin und läßt es lange klingeln.«

Sie gingen weiter... Und Andrea war von einer gewaltigen inneren Unruhe befallen. Wie konnte jemand diese Langsamkeit nur aushalten? Ihr würde das sehr auf die Nerven gehen. Aber Sabrina schien damit sehr glücklich zu sein.

»Dies ist mein Arbeitszimmer«, sagte Sabrina mit einem Anflug von Stolz. »Dort ist der Rechner, wo ich meine Romane schreibe«, das Telefon klingelte unnachgiebig, »und auf dem umgebauten Rollstuhl sitze ich.«

Andrea warf einen zweiten Blick auf den Stuhl und konnte wegen einer riesigen Anzahl von Kabeln und Lederriemen nicht wirklich sehen, wie Sabrina dort wohl bequem sitzen würde.

»Sabrina Timati«, Andrea drehte sich zu der Autorin um und sah, das sie vor dem Telefon stand und über eine Freisprecheinrichtung telefonierte.

Es war die Tante. Sie berichtete gleich von der Zugverspätung und von der Autopanne und das sie jetzt ein Taxi nehmen würden.

Sabrina war sehr erleichtert. Sie beendete das Gespräch und blickte Andrea glücklich an. Sie machte sich dran, zurück ins Wohnzimmer zu gehen. Gern hätte Andrea sich im Arbeitszimmer noch genauer umgesehen, vorallem den Stuhl, doch irgendwie ahnte sie, das dazu wohl noch genug Zeit bleiben würde.

* * *

Aut einmal blieb Sabrina stehen und fluchte vor sich hin. Sie ging zu dem kleinen Tischchen, das am Rand stand und lehnte sich leicht dagegen.

Andrea sah, das die Autorin am ganzen Körper zitterte und sie machte sich Sorgen um den Zustand von Sabrina. Andrea ging auf sie zu und fragte sie mit einem sorgenvollen Blick, was denn los sei.

Sabrina keuchte beim Sprechen: »Diese verdammte Maschine. Ich muß kommen.« Sie hatte das 'muß' mehr betont als das 'kommen'. Andrea brauchte einige Zeit, bis sie begriff, was Sabrina gemeint hatte. Sie sollte einen Orgasmus bekommen. Und sie schien es nicht verhindern zu können.

Andrea war zunächst ziemlich verwirrt und erschrocken, doch dann siegte ihre journalistische Routine und sie tat wieder das wohl einzig richtige. Sie setzte sich auch auf das Tischchen und nahm Sabrina in ihre Arme. Sie spürte, das die Autorin ziemlich verstört war, doch zu ihrer Erleichterung wehrte sich Sabrina nicht gegen diese Umarmung.

Leises Stöhnen, ein zitternder Körper... Andrea hielt Sabrina fest in ihren Armen und streichelte sie ganz zärtlich, als sie den Höhepunkt in ihrem Körper spürte. Sabrina lehnte sich jetzt ziemlich dankbar an sie.

Andrea streichelte weiter und fragte so ganz nebenbei: »Du wolltest mir von Deinem Unfall erzählen.« Sabrina blickte sie sehr dankbar an, sie war sehr froh, jetzt hatte sie es hinter sich, noch mal würde es heute nicht mehr passieren. Und noch viel mehr war sie dankbar, das Andrea so verständnisvoll reagiert hatte.

Sabrina blieb noch ein wenig sitzen, dann schien sie sich wieder im Griff zu haben und begann dann leise zu erzählen.

»Nach vier Wochen bin ich erst aus dem Koma erwacht, haben mir die Ärzte erzählt. Und ich konnte mich überhaupt nicht bewegen, gerade mal die Augen. Die Ärzte erklärten mir, das ich noch sehr viel Ruhe brauchte, vor allem körperliche Ruhe. Ich hätte viel fragen wollen, aber ich konnte meinen Mund auch nicht bewegen.«

Sie machte eine Pause, als ob sie ihre Stummheit präsentieren wollte.

»Ich wußte nicht, wie es meinen Eltern ergangen war, die Mediziner habe mir das mit Rücksicht auf meinen Zustand lange nicht gesagt, doch ich habe später erfahren, das sie sofort tot waren, gleich nach dem Unfall. Und der Arzt betonte immer wieder, das ich dankbar sein soll, das ich lebend aus dem Autowrack herausgekommen sei.«

Instinktiv nahm Andrea Sabrinas Hand und wollte sie trösten. Eine Gänsehaut überkam sie, als sie wegen des Handschuhs von ihren Händen praktisch gar nicht spürte. Aber sie ließ sie nicht los.

»Einmal kamen sie mit einem großen Spiegel und so konnte ich mich mal ansehen... Ich war überall eingegipst, nur meine Augen waren sichtbar... Es war seltsam... Dort wo mein Mund war, kam nur ein Schlauch aus dem Gips... Und wie es unten ausgesehen haben mag... Ich weiß es nicht...«

Sie fing Andreas fragenden Blick auf.

»Ich trug wohl eine Magensonde... Ich hatte keine Kontrolle über meinen Körper... Überhaupt nicht mehr...«

Wieder machte sie eine Pause.

»Ich weiß nicht, warum, aber im Krankenhaus war eine Schwester, die mich mehrmals hat kommen lassen. Ich habe später erfahren, das es sogar Teil der Therapie war. Beim ersten Mal war es sehr seltsam, überhaupt keinen Einfluß darauf zu haben. Doch später habe ich es genossen. Sie war total zärtlich und liebevoll... Und ich spürte wieder Leben in meinem Körper.«

Andrea nahm dies einfach zur Kenntnis, doch wieder überkam sie eine Gänsehaut.

 

»Irgendwann kam dann der Gips ab.... Und ich wurde am ganzen Körper geschient. Es war ganz seltsam. Ich konnte nach wie vor nichts selber bewegen. Nach einigen Monaten durfte ich dann immerhin im Rollstuhl geschoben werden... Und ich habe erfahren, das meine Eltern den Unfall nicht überlebt haben. Früher, sagten die Ärzte, hätte ich die Nachricht wohl nicht verkraftet...«

Wieder flossen ein paar Tränen.

»Sprechen konnte ich auch noch nicht wieder, mein Mund war noch total verschient, aber meine Tante schien mir eh alles von den Augen abzulesen. Sie fuhr mich als erstes auf den Friedhof, so das ich mich von meinen Eltern verabschieden konnte. Es war nicht einfach. Sogar die Tränen mußte sie mir wegwischen. Ich konnte und durfte noch überhaupt nichts machen.«

Auf einmal lag etwas träumerisches in ihrem Blick. »Es war wunderschön, endlich mal wieder den Himmel zu sehen. Und die Luft zu atmen. Ich konnte mich zwar immer noch nicht bewegen. Aber ich hatte das Gefühl, das es weiter geht.«

Andrea saß fast atemlos neben ihr und hörte ihr zu.

»Dann mußte ich erste Bewegungen machen... Ich war mit meinen vielen Schienen in so eine Maschine eingespannt, die meine Muskeln wieder anregen sollte. Es war ein seltsames Gefühl, so ganz fremdbestimmt sich bewegen zu müssen.«

Ohne das es irgendwie abgesprochen war, erhoben sich beide und gingen langsam wieder ins Wohnzuimmer. Auf dem Weg erzählte Sabrina weiter.

»Die Ärzte entschieden sich dann, mir mehr Freiheiten zu geben. Ich durfte mich pro Tag bis zu zehn Minuten selber bewegen, ganz ohne Maschinen, aber immernoch in dem Geschirr. Irgendwie waren da wohl ein paar Gelenke zum Auf- und zuschließen oder so.«

Sie hatten gerade das Arbeitszimmer verlassen.

»Der Chefarzt hatte mir ein Genesungsheft gebracht. Ich sollte hierin die Minuten aufschreiben, in denen ich mich bewegt hatte. Doch wir haben es anders genannt, es war stets mein 'Minutenbuch'.«

Sie machte wieder eine Pause.

»Die Einträge in dem Heft wurden immer mehr... Und etwas ganz besonderes war es, als ich dann mal einen Arm oder ein Bein ganz ohne Schienen bewegen durfte.«

Andrea hatte den Eindruck, das ihre Gänsehaut immer größer wurde.

»Dann kam ich nach Hause. Nein, nicht nach Haus... Sondern zu meiner Tante. In mein elternhaus, das hätte ich nicht verkraftet. Meine Tante tat alles, um mir bei meiner Genesung zu helfen. Sie hat sogar das Schienensystem einbauen lassen, obwohl das ihr Haus ziemlich verschandelt.«

Andrea lächelte. Sie waren mittlerweile bei den Sesseln angelangt und beide setzen sich wieder hin.

»Ich durfte mittlerweile bis zu einer Stunde auf den Beinen sein, aber ich durfte sie nicht über Gebühr belasten. Deswegen gibt es diesen doofen Schlitten. Er wirkt wie ein Sicherheitsgurt im Auto. Wenn ich zu schnell dran ziehe, dann blockiert er. Ich konnte nur schleichen, aber es war für mich Freiheit pur.«

Der Kaffee war mittlerweile kalt geworden und draußen schneite es nach wie vor.

»Meine Tante hat mir dann ermöglicht, die Ausbildung zur Journalistin fortzusetzen. Ich durfte alles von hier aus machen, die Lehrer kamen ins Haus. Aber es war nicht einfach, dabei nicht sprechen zu dürfen.«

Als sie weitersprach, spürte Andrea, das die Stimme etwas nachdenklicher wurde.

»Einige Wochen vor der Abschlußprüfung bin ich dann alle Schienen losgeworden. Auch meinen Kiefer durfte ich wieder bewegen. Ich konnte mich ganz auf die Prüfung konzentrieren.«

Endlich traute sich Andrea mal wieder eine Frage zu stellen. »Und wie hast Du bestanden.«

Sabrina strahlte: »Eine Eins Plus mit Bravour und fünf Sternchen.« Sie grinste. Doch dann wurde ihre Stimme etwas traurig.

»Doch nach den Prüfungen bin ich schleichend immer trauriger geworden. Sämtlicher Druck durch die Prüfung war weg und eingeschränkt war ich auch nicht mehr. Ich wurde immer unglücklicher, meine Leistungen ließen sehr nach. Es fiel meiner Tante sofort auf, doch auch sie wußte sich keinen Rat.«

Andrea hielt fast den Atem an.

»Bis mir eines Tages beim Rumstöbern einer meiner alten Beinschienen in die Hände kam. Ich legte sie mir wieder an und in dem Augenblick wußte ich was mir fehlt. Ich wollte wieder die Einschränkungen spüren, ich wollte es spüren, die Kontrolle wieder abgeben.«

Sie machte eine Pause.

»Ich habe es zunächst heimlich gemacht, immer wenn ich was zu schreiben hatte. Und es war so, das ich mit den Schienen immer wesentlich besser war als ohne. Zuerst habe ich das nicht erkannt und meine Tante war bloß erstaunt über meine schwankenden Leistungen. Doch dann ist sie mir eines Tages auf die Schliche gekommen.«

Sabrinas Augen strahlten.

»Meine Tante hat zunächst überhaupt nicht gewußt, was ich wollte, doch ich konnte es ihr erklären. Ich wollte wieder eingeschränkt sein in meiner Freiheit, wieder das Minutenbuch führen, noch viel genauer... Vielelicht sogar die Kontrolle ganz abzugeben. Und dabei aber viel schreiben.«

Ihre Augen strahlten. Sie machte wieder eine bedeutsame Pause und holte tief Luft.

»Und dann machte meine Tante mir einen Vorschlag.«