Die Studentin

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Die Studentin – Probleme mit der Miete

Autor: Karl Kollar

In der Nacht musste Julia Immer wieder an das Tagebuch mit so dem traurigen Schluss denken. Sie hatte zwar nur die letzten drei Seiten gelesen, doch sie ahnte unbewusst, dass sie damit den wichtigsten Teil des Tagebuchs erwischt hatte.

Immer wieder grübelte sie über das, was sie jetzt wusste. Carolin war anscheinend an einer schweren Krankheit gestorben, denn anders konnte sie sich die letzte Seite nicht erklären. Offensichtlich hatte sie noch Gelegenheit gefunden, so etwas wie ein Testament zu hinterlassen. Und Julia fühlte sich den Worten aus dem Tagebuch sehr verpflichtet. Sie würde sich nach Carolins Aufgabe erkundigen, und sie würde auch diesen Gürtel tragen wollen, auf den Hegels Tochter sich offenbar so gefreut hatte.

Heute abend würde sie bei Hegels sein und sie hatte sich fest vorgenommen, ihre Vermieter nach den Sachen ihrer Tochter zu fragen. Auch auf die Perlen, die so scheinbar unauffällig auf dem Schreibtisch lagen, war sie neugierig.


Frauke schloss leise die Tür zum Geheimgang hinter sich. Schon vor einiger Zeit hatte sie sich etwas Öl besorgt und den Mechanismus zum Öffnen geölt, bis sich die Tür ohne Quietschen öffnen ließ. Genauso hatte sie die Kamera, die das Zimmer von Carolin beobachtete, unauffällig so gedreht, dass ein schmaler Streifen an der Ostwand nicht im Bild war. So konnte sie sicherstellen, dass sie nicht entdeckt wurde, wenn sie wieder einmal in das Zimmer mit der besten Aussicht auf die Straßenbahn nutzen wollte.

Auch den Geheimgang, den sie vor einiger Zeit entdeckt hatte, hatte sie mühsam von allen Spinnenweben befreit und geputzt, damit sie sich nicht durch Schmutz auf dem Kleid verraten würde, wenn sie sich wieder einmal durch den schmalen Gang in das Zimmer schleichen würde.

Bei einem kurzen Blick zum Bett sah es für Frauke aus, als würde Julia noch schlafen, und das ermutigte Frauke, mit ihrem Vorhaben weiter zu machen.

Normalerweise ließ sie die Tür offen stehen, damit sie auch wieder durch den Geheimgang verschwinden konnte. Doch jetzt hatte sie Angst, dass die neue Mieterin die Tür entdecken und verraten könnte, deswegen hatte sie die Tür geschlossen, denn sie konnte das Zimmer immer durch die normale Tür verlassen. Nur das Klacken des Mechanismus war zu hören, als sie die Tür langsam zu drückte.


Das leise und doch deutlich hörbare Klicken hatte Julia aus ihren Gedanken gerissen. So wie sie es vom elterlichen Bauernhof her kannte, hielt sie die Augen weiterhin geschlossen, doch innerlich war sie sofort hell wach und alle ihre Sinne waren geschärft. Sie hörte das leise aber heftige Atmen und sie ahnte, dass sich diese komische Dienerin wieder in ihr Zimmer geschlichen hatte.

Sie öffnete leicht ihre Augen, doch als sie die Gestalt von Frauke am Fenster stehen sah, schloss sie ihre Augen sofort wieder. Der Blick aus dem Fenster musste der Dienerin viel bedeuten. Auch gestern stand sie, während sie eigentlich auf ihre Bemühungen mit dem Nachhemd gewartet hatte, die ganze Zeit am Fenster und blickte hinaus. Julia hatte erst angenommen, sie würde wegblicken, doch dann war ihr aufgefallen, dass Fraukes Körper sich immer dann etwas versteifte, wenn das Geräusch einer Straßenbahn zu hören war.

Wieder zeigte das Brummen an, dass eine Tram vorbei fuhr, und Julia öffnete vorsichtig ihre Augen. Jetzt war es ganz deutlich sichtbar, und sie glaubte sogar einen Seufzer von Frauke gehört zu haben.

Julia wusste, dass sie nur einen Versuch haben würde. »Sie schauen den Straßenbahnen nach?«

Mit der Tram hatte sie nur geraten, doch durch Fraukes Reaktion wusste sie sofort, dass sie richtig lag.

»Von diesem Zimmer hier hat man den besten Blick.« Frauke fühlt sich ertappt.

»Aber warum?« Julia versuchte sich aufzurichten, doch sofort spürte sie die Restriktionen des sogenannten Nachthemdes. »Es sind doch nur Straßenbahnen.«

»Das verstehst du nicht.« Zu Julias Erstaunen klang die Dienerin sehr wehmütig.

»Erklären sie es mir trotzdem?« Julia hakte nach.

»Ich möchte nicht darüber reden.« Es war deutlich zu sehen, dass sie sich schämte. Einerseits wollte sie ihre Sehnsucht nicht offenbaren, andererseits wollte sie es sich auch nicht mit Julia verderben, denn der Blick auf das Verkehrsmittel war ihr wirklich wichtig.


In diesem Moment klopfte es und Frau Hegel trat ein. »Was machen sie denn hier?«, fragte sie sofort, als sie Frauke erblickte.

»Julia hatte geklingelt.« Frauke blickte kurz, aber mit einem sehr flehenden Blick zum Bett.

Die Studentin erkannte sofort die Gelegenheit. »Ich wollte von Frauke wissen, was es mit den Bällen auf dem Schreibtisch auf sich hat.« Es war ihr klar, dass sie so eine gute Gelegenheit hatte, um sich mit der Dienerin anzufreunden. Denn eine innere Stimme sagte ihr, dass es nicht gut wäre, sie als Feindin zu haben.

Frau Hegel blickte misstrauisch zwischen Julia und Frauke hin und her. Mit dieser Aussage hatte sie nicht gerechnet. »Ich wollte sie nur daran erinnern, dass wir heute etwas früher frühstücken.« Sie verließ das Zimmer.


Frauke drehte sich langsam zum Bett. »Danke, dass du mich nicht verraten hast.«

Julia blickte Frauke lange an. »Jetzt möchte ich aber auch wissen, was es mit den Perlen auf sich hat. Bitte helfen sie mir dabei?«

Auf einmal glitt ein Lächeln über Fraukes Gesicht. »Aber nur unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?« Julia war erleichtert, dass ihr Vorgehen anscheinend richtig war.

Die Dienerin streckte die Hand aus. »Ich bin Frauke, bitte sage 'Du' zu mir.«

Julia hatte die drohende Peinlichkeit der Situation sofort bemerkt und versuchte, ihr jetzt entgegenzusteuern. Sie blickte etwas verwundert auf die ausgestreckte Hand und begann sich unter der Bettdecke zu bewegen. »Ich fürchte, ich kann dir die Hand nicht reichen.« Das 'Dir' hatte sie besonders betont.

Jetzt bemerkte auch Frauke ihre Fehler. Sie setzte ihr breitestes Lächeln auf und strahlte Julia an. »Du bist faul. Du willst dich nur nicht anstrengen.«

Julia zuckte zusammen. Hatte sie die Situation doch falsch gedeutet?

Doch dann sah sie das breite Lächeln von Frauke und sie beschloss, das kleine Spiel mitzuspielen. »Ich bitte dich um Entschuldigung, Frauke. Ich werde mich anstrengen.« Es reizte sie, einmal die Grenzen ihres Nachtgefängnisses auszutesten. Außerdem ahnte sie, dass das Nachthemd sehr robust gemacht war.

Frauke war von der Antwort verblüfft, doch dann zog sie ihre Hand zurück und blickte sehr gespannt auf das Bett. »Na dann mach mal.« Es lag ein deutliches Lächeln in ihrer Stimme.

Als Julia mit den ersten Bewegungen anfing, fielen ihr die Spiele ihrer Kindheit wieder ein. Es war oft vorgekommen, dass ihre Brüder, um Ruhe vor ihr zu haben, sie einfach in ihre Bettdecke eingewickelt und sie dann auf ihr Bett gelegt hatten. So nach und nach konnte sie ihre Erinnerungen daran abrufen, und sie machte die Bewegungen, die sich schon damals als sehr effektiv erwiesen hatten.

In diesem Moment war erneut eine Straßenbahn zu hören und Frauke drehte sich nach kurzem Zögern wieder zum Fenster. Während sie der abfahrenden Tram nachblickte, hörte sie hinter sich die keuchende Julia.

Das Keuchen wurde immer heftiger und es klang nach großer Anstrengung. Doch Frauke wusste aus eigener Erfahrung, wie sicher das Nachthemd war. Als sie selbst in dieser Position befand, war sie in dem Nachthemd völlig hilflos.


Auf einmal streckte Julia ihr die Hand entgegen. »Bitte, es geht doch.« Sie keuchte noch heftig.

Frauke war verblüfft. »Wie hast du denn das geschafft?« Sie blickte Julia verwundert an und reichte ihr die Hand. Nur nebenbei bemerkte sie, dass Julia sehr ins Schwitzen gekommen war.

Julia lächelte verlegen. »Darüber möchte ich nicht reden.«

»Na, dann sind wir ja quitt.« Frauke blickte sehr fasziniert auf den so reizvoll verpackten Körper, der schwitzend und keuchend vor ihr stand. »Ich glaube, du möchtest jetzt ins Bad.«

Julia war immer noch dabei, wieder zu Atem zu kommen. Die Bettdecke hatte sie mit gezielten Bewegungen sehr schnell wegstoßen können, und dabei erinnerte sie sich an die Zeit mit ihren Brüdern, die ihr, um Ruhe vor ihr zu haben, öfters die Beine zusammen gebunden hatten. Natürlich hatte sie sich als die kleine Schwester davon nicht entmutigen lassen, und so war sie ihren Brüdern einfach hinterher gehopst.

Mit einem Lächeln dachte sie daran, dass ihr das früher einmal überhaupt nichts ausgemacht hatte. Jetzt hatten die fünf Meter bis zu Frauke sie schon völlig außer Atem gebracht.

Doch etwas anderes hatte sie noch viel mehr fasziniert. Sie hatte wirklich alle ihre Kraft aufgewandt, um sich in dem Nachthemd zu bewegen, doch sie hatte nicht geschafft, es auch nur irgendwo zu beschädigen. Es war auch kein einziges Mal so etwas wie das Geräusch von Stoff zu hören, der zerreisst. Julia erkannte so langsam, dass sie in dem Nachthemd wirklich gefangen war.

Doch selbst diese Erkenntnis bewirkte bei ihr keine Angst, sondern vermittelte ihr eher Wohlbefinden. Und die kleine Sportübung von eben zeigte ihr, dass sie sich trotz der aller Strenge noch bewegen konnte, wenn auch sehr mühsam. Beim Springen bestand immer die Möglichkeit, dass sie umfallen würde, doch sie war immer noch sehr geübt darin, ihr Gleichgewicht zu halten. Es gab auch noch die andere Methode, sich mit beiden Füßen auf dem Boden fortzubewegen, doch damit kam sie nur Millimeterweise voran.


»Ich mache dir jetzt das Nachthemd auf und helfe dir heraus.« Frauke erwähnte noch, dass sie dann etwas zum Anziehen für Julia heraussuchen würde.

Julia blickte sie kurz an. Sie war zunächst ein klein wenig empört, weil sie durchaus in der Lage war, sich selbst um ihre Kleidung zu kümmern, doch dann erkannte sie, dass dies eine weitere gute Gelegenheit war, dem Leben von Hegels Tochter näher zu kommen. »Was hat Carolin denn so getragen?«

»Ich lege dir ein paar Sachen heraus, dann kannst du dir etwas aussuchen.« Frauke stutzte einen Moment. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, sie würde sie sich um Julias Kleidung kümmern. »Aber du kannst natürlich auch gern selbst noch in den Schränken stöbern.«

* * *

Als Julia aus dem Bad kam, war Frauke verschwunden, aber es lagen wie angekündigt eigene Kleidungstücke auf dem Bett. Zudem standen bei den ersten beiden Schränken die Türen auf. Auf den ersten Blick sah es aus, als würden auf dem Bett zwei Ensemble der gleichen Art liegen. Julia erkannte sofort den dunkelblauen Rock und eine hellgelbe Bluse.

Doch als sie an das Bett trat, erkannte sie, dass die Materialien beider Ensembles unterschiedlich waren. Zudem sah sie, dass Frauke offenbar Botschaften in Form von kleinen Zetteln hinterlassen hatte. 'Zum Frühstück' stand auf dem einen und 'Zur Uni' auf dem anderen.

Julia wunderte sich zunächst und fragte sich, warum sie zwei gleiche Kombinationen noch einmal wechseln sollte. Doch dann fiel ihr Blick auf das Frühstücksensemble, und auf einmal war sie elektrisiert. Das Glänzen des Materials hatte sie bisher gar nicht wahrgenommen, doch jetzt erkannte sie es deutlich: Das Frühstücksensemble war aus Lack. Sie nahm sich Rock und Bluse in die Hand und schon auf den ersten Blick erkannte sie die hochwertige Verarbeitung. Sie kam ein wenig ins Grübeln. Carolin hatte eine sehr faszinierende Garderobe, und die war bestimmt nicht billig gewesen. Sie fragte sich, wer Carolin wohl gewesen war. Es reizte sie immer stärker, mehr über die Tochter zu erfahren.

»Kommst du zurecht?« Frauke steckte den Kopf zur Tür herein. Sie hatte Probleme, ihren Blick abzuwenden, als sie sah, dass Julia in Unterwäsche vor dem Bett stand und auf ihre Vorschläge blickte.

Julia hob langsam ihren Kopf und drehte sich zur Tür. »Hast du Carolin noch kennengelernt?«

Frauke musste verneinen. Sie lächelte insgeheim, denn in diesem Moment sagte sie wirklich die Wahrheit. Doch dann erinnerte sie sich an die Absprachen mit Hegels. »Sei aber vorsichtig, wenn du nach ihr fragst. Besonders der Professor ist da sehr empfindlich.«

»Danke für die Warnung.« Julia verdrehte ein wenig die Augen, denn Fraukes Hinweis kam für sie ein wenig zu spät. Doch sie wollte noch etwas anderes fragen. »Hat sich Carolin immer nach dem Frühstück noch einmal umgezogen?«

»Das weiß ich nicht.« Frauke überlegte, was abgesprochen war. »Aber ich glaube, im Haus war Carolin fast immer mit ihrem Lieblingsstoff unterwegs.«

»Nach draußen traue ich mich damit aber nicht.« Julia seufzte ein wenig. Es reizte sie schon sehr, sich schon wieder in das so faszinierend glänzende Material zu hüllen.

»Das soll bei Carolin auch so gewesen sein.« Frauke improvisierte ein wenig. »Deswegen habe ich dir auch Beides heraus gelegt.« Sie machte eine Pause. »Aber wie schon gesagt, es sind nur Vorschläge.« Sie zeigte auf die beiden geöffneten Schränke.

»Aber es gefällt mir.« Dermaßen ermutigt griff Julia zu der Lackbluse und hob sie hoch. Das Zittern ihrer Hände versuchte sie tapfer zu ignorieren.


»Wird sie darauf eingehen?« Frau Hegel blickte neugierig auf die Dienerin, die gerade langsam die Treppe herunter kam.

»Ich denke schon.« Frauke gab einen kurzen Überblick über die Ereignisse. »Sie machte einen sehr faszinierten Eindruck. Ich habe ihr geraten, ihren Mann nicht nach Carolin zu fragen.«

»Das ist gut so, danke Frauke.« Frau Hegel nahm einen kleinen Block zur Hand. »Ich notiere das als Pluspunkt.« Sie schien sich eine Notiz zu machen. »Aber was wollten sie wirklich in Julias Zimmer?«

Frauke erstarrte mitten im Schritt. »Ich möchte nicht darüber reden.«

Sie wusste, dass sie sehr viel riskierte, wenn sie ohne Erlaubnis das Zimmer betrat. Doch ihre Sehnsucht war nicht minder groß, und sie wusste, dass sie sich weiterhin in Julias Zimmer schleichen würde. Denn mit dem von ihr entdeckten Geheimgang war dies problemlos möglich.

»Bitte gefährden sie unser Vorhaben nicht.« Sie blickte die Dienerin lange an. »Natürlich haben wir nichts dagegen, wenn sie sich mit Julia anfreunden und sie sie dann in ihr Zimmer einlädt.« Sie zeigte auf das Esszimmer. »Und jetzt servieren sie bitte den Kaffee.«

»Sehr wohl, Madame.« Frauke machte einen Knicks der Erleichterung, denn trotz der Ermahnung hatte sie sich eben einen Pluspunkt verdient.

Sie hätte tausend Antworten im Kopf gehabt. Es wäre ihr Recht, in das Zimmer zu gehen, denn sie stand bisher jeden Abend in Carolins Zimmer, und sie musste schon gestern darauf verzichten. Sie liebte den Blick zur Straßenbahn, die für sie den Weg in die Freiheit darstellte, doch sie schluckte all ihre Worte herunter. Seufzend akzeptierte sie es, dass ihr die täglichen Traumstunden damit gestrichen waren. Jetzt blieb ihr nur noch, auf die leichten Vibrationen zu achten, wenn die Tram vorbei fuhr. Frauke konnte mittlerweile allein durch das Geräusch sagen, ob die Tram stadteinwärts oder stadtauswärts unterwegs war.


Julia war fast schwindelig, als sie vor dem großen Spiegel stand und sich langsam die Bluse zuknöpfte. Sie legte sonst nicht so viel Wert auf ihr Äußeres, und sie war auch eher selten geschminkt. Natürlich hätte sie sich gern schick angezogen und auch geschminkt, doch es gab zwei Gründe, warum sie schweren Herzens darauf verzichtete.

Zum einen kannte sie es von daheim überhaupt nicht, und den Kühen im Kuhstall war es herzlich egal, ob sie nun rote Lippen hatte oder sich ein leichtes Rouge aufgetragen hatte. Sie lief daheim viel lieber in den einfachen Stallklamotten herum. Ein weiterer Grund war, dass sie für die anderen Jungbauern nicht attraktiv aussehen wollte. Denn auch wenn sie den Stalldienst nicht ungern machte, wusste sie doch, dass dies nicht ihre Zukunft war.

Der andere Grund war, dass gute Kosmetika und schicke Kleidung stets Geld kosteten und davon hatte sie bisher nur sehr wenig.

Immer wieder strichen ihre Finger über den so wunderbar glatten Stoff, und sie sah fasziniert, wie sich das Sonnenlicht auf ihrer Bluse spiegelte.

Fast schon volltrunken ging sie wieder zum Bett und hob den Rock hoch. Er war verglichen mit der Bluse viel schwerer und Julia legte ihn wieder auf das Bett. Sie hatte eine Idee, warum er so schwer war, und diesem Verdacht wollte sie zunächst nachgehen. Außerdem liebte sie es, den Stoff mit den Händen zu fühlen.

Erst als sie den Taillenreißverschluss öffnete, erkannte sie, warum der Rock so schwer war. Er war doppellagig gearbeitet, und sie sah auf den ersten Blick, dass der innere Rock ein Humpelrock war, denn die Seitenteile waren mit einem langen und recht robust aussehenden Reißverschluss zu verschließen.

Julia keuchte, als sie sich jetzt langsam auf das Bett setzte. Schon jetzt sah sie sich in Gedanken, wie sie den langen Reißverschluss langsam zuziehen würde. Und dieser Rock würde ihre diesbezügliche Entscheidung sogar nach außen verbergen, sei es, dass sie in der Uni nicht zeigen wollte, dass der Rock ganz geschlossen war oder umgekehrt bei Hegels, dass sie ihn eben nicht geschlossen hatte. Doch letzteres hatte sie wirklich nicht vor, im Gegenteil, sie freute sich schon darauf, dass ihre Beine in der faszinierenden Hülle gefangen sein würden.

Doch dann fiel ihr ein, dass sie den Lackrock in der Uni gar nicht tragen durfte, und ihr Blick fiel auf den zweiten Rock, der ziemlich ähnlich aussah. Dieser war aus normalem Jeansstoff gefertigt, und nur die Dreifach-Nähte verrieten, dass auch er sicher sehr robust gearbeitet war.

Julia stutzte einen Moment. Ob dieser Rock wohl auch doppelt gearbeitet war? Sie legte den Lackrock neben sich und griff sich den Rock aus Stoff. Doch schon beim Hochheben fand sie ihren Verdacht wegen des Gewichtes bestätigt. Auch dieser Rock war doppelt gearbeitet, und auch hier war ein sehr robust aussehender Reißverschluss über die ganze Länge eingearbeitet.

Julia ließ sich für einen Moment auf das Bett zurückfallen. Das würde ein sehr spannender Tag werden.


»Kommen sie zurecht?« Frau Hegel steckte ihren Kopf zur Tür herein. »Wir warten mit dem Frühstück auf sie.« Sie gab sich Mühe, ihre Stimme freundlich klingen zu lassen, dennoch schwang ein kleiner Vorwurf mit.

Julia zuckte zusammen. »Natürlich, Frau Hegel.« Sie legte den Jeans-Rock beiseite und griff sich das Pendant aus Lack. Sie hätte das Anziehen gern genossen und den Reißverschluss ganz langsam zugezogen, doch jetzt spürte sie, dass sie sich besser beeilen sollte.

Beim Verlassen ihres Zimmers blickte sie sich noch einmal um, und ihr Blick fiel auf den Schreibtisch, auf dem noch immer diese rätselhaften Perlen lagen. Doch dafür war jetzt keine Zeit mehr. Julia seufzte.

Sie hatte sich vorgenommen, Carolins Röcke immer ganz zu schließen, auch wenn sie nicht in der Nähe von Hegels war. Einerseits wollte sie Vertrauen aufbauen und sie wollte sich an die Wünsche und Leidenschaften von Hegels Tochter halten. Andererseits fand sie in dem Rock eine ungeheure Geborgenheit, und sie mochte das Gefühl, wenn sie um jeden Zentimeter kämpfen musste und der Rock ihr bei jedem Schritt ihre neuen Grenzen aufzeigte. Denn vor allem vermittelte ihr der Rock eine Art von Geborgenheit, die sie bisher nicht kannte.

* * *

Julia hatte ein schlechtes Gewissen, als sie mit kleinen aber eiligen Schritten der Einladung zum Frühstück nach kam. Sie konnte gar nicht sagen, was der Grund war, doch sie spürte, dass sie noch nicht ganz Hegels Erwartungen entsprach und das wurmte sie. Außerdem war sie noch nie in so faszinierender Lackkleidung unterwegs gewesen, und auch deswegen war sie sehr unsicher, weil sie immer noch das Gefühl hatte, etwas Falsches zu tun. Solch eine Kleidung war für eine Bauerntochter einfach ungehörig, vor allem wenn es sich um den zweitgrößten Hof des Dorfes handelte.

Doch zu ihrer großen Erleichterung hatten Hegels zunächst ein ganz anderes Thema. Sie waren zu einer Hochzeit eingeladen und jetzt beratschlagten sie, was man denn wohl einem jungen Mädchen und Oberengel wohl schenken konnte.

Julia war sich sicher, dass sie sich wegen des 'Oberengels' verhört hatte, doch sie traute sich nicht, diesbezüglich nachzufragen.

»Ah, da sind sie ja, Julia« Herr Hegel war extra noch einmal aufgestanden. »Dann können wir ja anfangen.«

Die Erkenntnis, dass Hegels offensichtlich auf sie gewartet hatten, verstärkte Julias schlechtes Gewissen. »Ich bitte um Entschuldigung, ich kann in dem Rock noch nicht so schnell gehen.«

»Carolin ist immer ein klein wenig früher losgegangen, damit sie rechtzeitig da war.« Obwohl Herr Hegel sehr liebevoll gesprochen hatte, fast etwas sentimental, empfand es Julia als einen deutlichen Tadel. Sie nahm es sich sehr zu Herzen. Tief in ihrem Inneren und eher unbewusst begann sie, sich mit den ihr auferlegten Restriktionen zu arrangieren.

Auf die Frage, über was sich ein Mädchen in ihrem Alter freuen wurde, musste sie mit den Schultern zucken. »Ich bin bestimmt nicht repräsentativ, aber im Moment würde ich mich über Geld freuen. Studiert sie noch?« Das Wort Oberengel hatte sie zwar gehört, doch sie konnte es nicht einordnen. Sie erinnerte sich lediglich daran, dass sie beim Durchblättern des Tagebuchs öfters das Wort 'Engel' gesehen hatte. Sie wurde immer neugieriger auf das kleine Buch.

Frau Hegel kam Julia zur Hilfe. »Ich glaube, sie spart auf einen LKW-Führerschein. Wenn wir ihr ein paar Fahrstunden schenken?« Sie blickte dabei ihren Mann lächelnd an.

Julia hatte größere Schwierigkeiten, die Worte LKW und Oberengel in einen Zusammenhang zu bringen. »Was ist eigentlich ein Oberengel? Ich habe den Begriff noch nie gehört.« Julia merkte, dass die Frage ein Fehler war, denn gleich nach dem sie sie ausgesprochen hatte, setzte Stille ein.

»Hat Carolin darüber nichts in ihrem Tagebuch erwähnt?« Frau Hegel hatte insgeheim mit dieser Frage gerechnet. »Ich glaube, sie strebte dieses Amt auch an.«

Ohne dass es von Frau Hegel wirklich beabsichtigt war, wuchs Julias schlechtes Gewissen, und sie nahm sich vor, so schnell wie möglich alles über Hegels Tochter zu erfahren. Und sie war sich sicher, dass sie ihr nacheifern wollte. Sie würde sich der Aufgabe stellen, zu der Carolin nicht mehr gekommen war.

Sie wusste, dass sie mit Hegels nicht darüber reden konnte, doch sie fühlte sich als die Erbin von Carolin. Und sie war sich sicher, dass sie ihre Vermieter nicht enttäuschen würde, so schwer es auch werden würde. Doch im Moment war es fast zu einfach. Es hatte gereicht, diese mehr als faszinierende Kleidung anzuziehen, und mit jeder ihrer Bewegungen fühlte Julia, dass sie auf den Spuren von Carolin unterwegs war.

Bisher hatte sie nur zwei der drei Schränke geöffnet, und vor allem der zweite Schrank offenbarte faszinierende Kleidung. Sie fragte sich, was wohl im dritten Schrank sein würde. Doch bisher hatte sie es nicht geschafft, ihn zu öffnen. Die anderen beiden Schränke waren einfach nur aufzuziehen, doch der dritte Schrank schien sich zu weigern, denn auch wenn Julia noch so sehr zog, blieb er geschlossen.

Doch sie wollte sich auch nicht die Blöße geben, wegen so einer Lappalie Frauke oder gar Hegels zu belästigen. Sie würde schon noch herauskriegen, wie der Schrank zu öffnen war. Dnen insgeheim fühlte sie , dass sie dort einige Antworten auf die Fragen finden würde, die sie im Moment noch nicht zu stellen wagte.

* * *

»Wo hat Carolin die Perlen denn getragen?« Julia ahnte, dass so eine Perle im Mund sicher genauso wenig für die Öffentlichkeit geeignet war wie die Lackkleidung.

»Haben sie die Perlen schon ausprobiert?« Herr Hegel wischte sich den Mund ab. In seiner Stimme klang ein leichter Vorwurf mit.

Julia legte das letzte Stück ihrer Semmel kurz auf den Teller. »Zuerst habe ich mich nicht getraut... Und dann war keine Zeit mehr.«

»Etwas anderes.« Herr Hegel wechselte das Thema. »Elisabeth, reichst du mir bitte mal meine Geldbörse.«

Julia blickte etwas unsicher auf den Tisch.

»Sie haben gestern ja gleich zwei Sachen von Carolin getragen und das hat uns sehr gefreut.« Er nahm das Portemonnaie entgegen, öffnete es und nahm 40 Euro heraus. Er legte die Scheine neben Julia auf den Tisch.

»Aber so lange habe ich den Rock doch gar nicht getragen.« Julia hatte insgeheim schon ausgerechnet, wie viel Geld ihr gemäß der Taschengeldliste zustehen würde, doch sie hatte sich nicht getraut, dieses auch einzufordern.

»Sehen sie es auch als Dankeschön an.« Herr Hegel legte die Börse vor sich auf den Tisch. »Außerdem waren sie gestern schon so mutig mit der Lackhose.«

Julia lächelte dankbar und war trotzdem immer noch verlegen, weil sie gestern die Hose einfach vergessen hatte.

»Wie sind sie mit dem Rock zurechtgekommen?« Frau Hegel schenkte noch einmal Kaffee nach.

Julia zögerte mit der Antwort.

»Seien sie bitte ehrlich.« Herr Hegel blickte sie interessiert an. Er hatte bewusst mit sehr liebenswürdiger Stimme gesprochen.

»Der Reißverschluss ist immer wieder aufgegangen.« Julia blickte beschämt vor sich auf den Tisch.

»Sehen sie sich bitte den Anfasser noch einmal genauer an.« Frau Hegel lehnte sich mit der Kaffeetasse in der Hand zurück. »Eigentlich müsste der Verschluss in jeder Position fixierbar sein. Carolin wollte das so haben.«

Herr Hegel seufzte. »Es war teuer.«

Julia holte tief Luft. »Ich möchte mir das Taschengeld für den verriegelten Rock verdienen, das ist immer hin vier mal so hoch.«

»Wissen sie was?« Frau Hegel stellte ihren Tasse wieder ab. »Sie geben uns ihr Ehrenwort und versprechen uns, dass sie den Rock immer nur dann öffnen, wenn es wirklich nötig ist.«

»Zum Beispiel, wenn sie Treppen steigen müssen oder noch schnell die Tram erwischen müssen«, ergänzte ihr Mann.

»Ja, das werde ich machen.« Julia musste schlucken, als sie begriff, wie viel Vertrauen ihr entgegen gebracht wurde. Doch dann fragte sie, was sie dazu bringen würde, sich selbst und ganz freiwillig in den strengen Rock einzusperren. Es war dieses besondere Gefühl der Enge, welches sie dann verspürte.

»Könnte man nicht auch eine Art Siegel anbringen?« Die Frage von Herrn Hegel war im Vorhinein so nicht ausgemacht, doch sie lag nahe.

»Das könnte man schon machen«, antwortete seine Frau. »Aber erstens ist das höchst unpraktisch, wenn man mal ein dringendes Bedürfnis hat, und außerdem vertrauen wir ihnen. Sie werden uns nicht enttäuschen.« Sie blickte Julia in diesem Moment ernst an.

Julia schluckte. »Natürlich, Frau Hegel.« Sie ließ sich die Worte noch einmal kurz durch den Kopf gehen. »Ich werde den Reißverschluss nur öffnen, wenn ein ernster Grund vorliegt.« Sie sagte es in einem sehr feierlichen Ton.

»Für das Einsperren in die Kleidung gibt es bessere Möglichkeiten.« Frau Hegel lächelte Julia an. »Carolin hatte da ein paar ganz raffinierte Ideen.«

Julia nahm den Inhalt dieses Satzes nur nebenbei wahr.

»Wie gefällt ihnen ihre jetzige Kleidung?« Herr Hegel ließ seinen Blick kurz über den Körper seiner Studentin gleiten.

Julia senkte den Kopf und wurde etwas leiser. »Sehr faszinierend.«

»Das ist schön, Julia. Das ist schön.« Er lächelte. »Carolin hat diese Kleidung immer sehr gern getragen.«

»Sehen sie sich ruhig in ihren Schränken um und trauen sie sich auch, sich die Sachen selbst auszusuchen.« Frau Hegel bekräftigte die Worte ihres Mannes.

Julia trank ihren Kaffee aus. »Ich wollte mich noch einmal für die Jahreskarte bedanken.« Sie war mehr als erleichtert, dass ihre sonst ziemlich große Sorge jetzt verschwunden war. Einmal war sie schon beim Schwarzfahren erwischt worden, und die Strafe hatte ihren Etat für das lange Wochenende komplett aufgebraucht. Seit dem hatte sie jeden Monat auf die nächste Monatskarte gespart.

»Wie ich schon gestern sagte, sie können doch nichts dafür, dass wir hier draußen wohnen.« Herr Hegel wischte sich den Mund ab. »Die Karte gehört einfach zur Wohnung dazu.«

»Wenn wir schon die Straßenbahn direkt vor dem Haus haben.« Frau Hegel lächelte.

»Sie denken daran, dass sie gemäß des Mietvertrages ihren heutigen Abend mit uns zu verbringen haben?« Herr Hegel wollte Julia an den Pflichtabend erinnert wissen.

»Natürlich.« Julia nickte vorsichtig. »Wie wird der Abend denn ablaufen?«

»Wir sitzen einfach zusammen und sie erzählen uns etwas von sich.« Herr Hegel lächelte zuversichtlich. »Von ihrer Kindheit und von daheim.

»Ja, das kann ich machen.« Julia konnte nicht verhindern, dass sie das Gesicht verzog.

Frau Hegel hatte Julias Reaktion bemerkt und war innerlich alarmiert. Sie wollte für den Abend keine schlechte Stimmung haben und beschloss für sich, dass Thema Eltern und Kindheit lieber doch nicht anzusprechen. Sie versuchte eine Ablenkung. »Aber bitte keine Fachgespräche, mein lieber Winfred.«

»Versprochen, Elisabeth.« Herr Hegel lächelte. »Versprochen.«

»Suchen sie sich bitte etwas Schönes aus Carolins Schrank aus.« Frau Hegel begann, das Geschirr zusammenzustellen. »Sie wissen ja jetzt, was sie gern getragen hat.«

»In einer halben Stunde fährt die Tram.« Herr Hegel stand auf und gab Frauke, die ins Zimmer gekommen war, ein Zeichen. »Sie können abräumen.«

* * *

Während sie sich für den Tag fertig machte, behielt Julia die ganze Zeit die Uhr im Blick. Sie hätte sich gern noch etwas in den Schränken umgesehen und vielleicht auch die Perlen probiert, doch sie erkannte bald, dass dafür die Zeit nicht reichen würde.

Fast hätte sie vergessen, sich das Tagebuch einzustecken. Sie wollte es unbedingt so schnell wie möglich lesen, und in den heutigen Vorlesungen würde sich das leicht machen lassen.

Seufzend zog sie sich die Lackkleidung aus und schlüpfte in die Kleidung, die Frauke ihr schon heraus gelegt hatte. Obwohl es ein wenig ihren Stolz verletzte, war sie über Fraukes Vorschlag doch sehr erleichtert, denn sie fragte sie, ob sie wirklich den Mut aufgebracht hätte, sich schon am dritten Tag in Lack zu zeigen. Gedankenverloren strich sie noch einmal über den so faszinierend glatten Stoff.

* * *

'Lies mich bitte.' Irgendwie schien das kleine schwarze Buch die ganze Zeit zu rufen. Julia glaubte fast, die Stimme von Carolin zu hören, die durch das Tagebuch zu ihr sprach. Sie war durch das Vertrauen, welches Hegels ihr schon nach so kurzer Zeit entgegen brachten, sehr geehrt, und sie entnahm dem auch eine gewisse Verpflichtung, es nicht zu missbrauchen.

Als sie den Hörsaal betrat, steuerte sie entgegen ihrer sonstigen Vorlieben gezielt die letzte Reihe an, was sich im späteren Verlauf allerdings als Fehler erwies. Ihre Hand zitterte, als sie das Buch aus ihrer Tasche nahm, und sofort begann sie darin zu lesen.

Die ersten Seiten enthielten viel Belangloses - die Sorgen eines Teenagers, die erste Liebe, Krach mit den Eltern und ähnliches. Doch dann wechselte der Stil und die Schreiberin schien so nach und nach ins Schwärmen zu kommen. Es war immer häufiger von Engeln und einer ganz bestimmten Aufgabe die Rede und ein Begriff tauchte wiederholt auf: 'ARCANVM ANGELARVM'.

Julia vermutete, dass es Latein sein könnte, doch das hatte sie nie gelernt.

»Was liest du denn da?« Eine ihrer Kommilitoninnen stand neben ihr und zeigte auf eine Stelle in dem Tagebuch. »Das Geheimnis der Engel?«

Julia blickte sich erstaunt um und sah, dass sich einige ihrer Mitstudentinnen um sie gestellt hatten. »Was macht ihr denn hier?«

»Wenn sich unsere Streberin in die letzte Reihe setzt, dann muss es einen Grund dafür geben.« Das blonde Mädchen lachte und wiederholte ihre Frage. »Was liest du denn da so Spannendes, dass du uns nicht einmal bemerkst?«

Julia wollte im ersten Moment das Tagebuch zuklappen, doch dann hielt sie inne. »Du kannst das lesen: 'ARCANVM ANGELARVM'?« Die eigentliche Frage ignorierte sie allerdings.

»Das ist Latein in der alten Schreibweise und bedeutet eben 'das Geheimnis der Engel' oder so ähnlich.« Das Mädchen erklärte Julia die Übersetzung aus dem Lateinischen.

»Danke.« Julia konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme etwas ungehalten war. »Und jetzt lasst mich bitte weiter lesen.« Sie sah, dass in diesem Moment die nächste Vorlesung begonnen hatte.

Wenn Julia bisher noch ein paar Zweifel wegen Hegels Tochter gehabt hatte, war sie jetzt, wo sie das Tagebuch las, vollkommen überzeugt, dass es Carolin wirklich gegeben hatte, und sie hatte wegen ihrer diesbezüglichen Gedanken ein schlechtes Gewissen. Natürlich standen viele Belanglosigkeiten in dem Buch, doch gerade das ließ in Julia das Gefühl wachsen, dass sie tatsächlich das Tagebuch von Hegels Tochter in den Händen hielt.

Gegen Ende ungefähr ab den Seiten aus dem April war immer wieder von einer Aufgabe die Rede, die Carolin zu erledigen hatte und einer Verpflichtung, der sie sich zu stellen hatte. Die Vorbereitungen dazu wurden von der Schreiberin immer konkreter beschrieben, und ging es soweit, dass sie sogar das Maßnehmen für einen Gürtel beschrieb. Auch das Tragen eines Handschuhs wurde immer häufiger erwähnt.

Julia hielt kurz inne und sah in Gedanken vor sich die besonderen Möbel, die es überall im Haus gab. Sie war sehr neugierig, etwas mehr über diesen besonderen Handschuh zu erfahren, auch wenn sie noch keine Ahnung hatte, worum es sich dabei wirklich handelte.

Und immer wieder gab es Bezüge zu einer Gemeinschaft und Erwähnungen von Engeln. Einmal erwähnte Carolin sogar, dass sie die Engel gehört hatte. Julia dachte im ersten Moment an einen besonders heftigen Orgasmus, wie sie ihn letztens beim Spaziergang gehabt hatte, doch dann wurde es ihr beim Weiterlesen klar, dass Hegels Tochter anscheinend einen Chor gehört hatte, denn sie sprach über die einzigartige Verteilung der Stimmen. Und dass sie sich schon darauf freute, dort mitsingen zu dürfen.

Sie erwähnte auch, dass sie den Handschuh jetzt schon einige Stunden tragen konnte, bevor es begann weh zu tun, und dass sie sehr zuversichtlich war, ein guter Engel werden zu können.

Julia verstand die Bezüge immer weniger, doch im Unterbewusstsein reifte in ihr langsam ein ganz bestimmter Gedanke: Sie wollte aus Dankbarkeit für die tolle Aufnahme für Hegels ein guter Ersatz für ihre Tochter werden. Sie wollte versuchen, sie über den Verlust hinweg zu trösten.

Ein wenig wunderte sie sich, dass Carolin fast nie ihre besondere Kleidung erwähnte, bis auf eine Stelle, als sie einmal das kleine Dachrondell erwähnte, weil sie sich beim Hochklettern ihre schöne Lackbluse zerrissen hatte. Insgesamt gewann Julia den Eindruck, dass Carolin mit ihrem besonderen Leben sehr glücklich gewesen sein musste. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als sie von ihrer Krankheit erfuhr, und dass sie offenbar nicht mehr lange zu leben hatte.

Ein dicker Kloß steckte in Julias Hals, als sie wieder die letzte Seite aufschlug und wiederholt die Zeilen las, die sie als Carolins Testament interpretierte.

Ja, sie würde sich Carolins Aufgabe stellen, was auch immer es sein würde. Sie wollte so ein Engel werden, im Chor mitsingen und auch den Gürtel und den Handschuh tragen, auch wenn sie nicht wirklich wusste, auf was sie sich einlassen würde. Selbst die Warnung, die Carolin offenbar bekommen hatte, schreckte sie nicht ab. Wenn sie sich einmal für die Aufgabe entscheiden würde, gäbe es kein Zurück mehr, dann müsse sie das Vorhaben vollständig durchführen.

Stellenweise hatte Julia geglaubt, mit Engel könnte Carolin schon ihre Krankheit gemeint haben, doch dann verwarf sie den Gedanken wieder, denn mit Erwähnung der Krankheit änderte sich fast alles in dem Buch und die wackelige Schrift der letzten Seiten ließen Julia vermuten, dass es der Tochter nicht leicht gefallen sein musste, die letzten Seiten zu schreiben.


Julia war sehr in das Buch vertief und bemerkte nicht einmal, dass sie Vorlesung schon lange aus war. Nur allmählich realisierte sie die Stille um sich herum und nur langsam betrat sie wieder die Wirklichkeit.

Sie steckte sich das Buch wieder in ihre Tasche, und während sie langsam zum Ausgang ging, reifte in ihr ein Plan. Sie würde an Carolins Stelle treten, egal wie schwer es auch sein würde. Sie würde den Gürtel tragen wollen und den Handschuh und sie würde ein Engel werden wollen. Sie wusste nur noch nicht, wie sie Hegels gegenüber ihre Wünsche äußern sollte.

Auf dem Weg zum Uniportal formte sich in ihren Gedanken ein Plan. 'Ich möchte das für Carolin machen. Ich möchte ihre Aufgabe vollenden.' Sie sah so nebenbei auch eine sehr gute Gelegenheit, sich bei Hegels für die so freundliche Aufnahme zu bedanken.

Und sie wollte auch wissen, was 'ARCANVM ANGELARVM' wirklich bedeutete.

* * *

Stolz verließ Julia die Verkaufsstelle des MVV in der Poccistraße. Sie hatte genau das Modell einer Straßenbahn bekommen, welches sie sich vorgestellt hatte. Gestern hatte sie gesehen, dass es neben Fahrkarten auch die Möglichkeit gab, einzelne Modelle der Fahrzeuge zu erwerben.

Julia hatte sich für eine der modernen Straßenbahnen entschieden, und das erste Taschengeld reichte sogar noch für ein kurzes Stück Schiene, so dass sich das Modell sogar richtig aufstellen ließ. Sie wollte es Frauke schenken, denn offenbar liebte sie es, den Straßenbahnen nachzublicken.


In einem Anflug von Sentimentalität stieg sie an ihrer alten U-Bahnstation noch einmal aus und ging den vertrauten Weg zu ihrer alten Wohnung, aus der sie erst vor wenigen Tagen ausziehen musste, weil sie sich die Miete nicht leisten konnte und ihre Freundin zu ihrem Freund gezogen war.

»Schön, dass ich dich hier treffe, Schwesterherz.« Auf einmal stand Michael, der jüngste ihrer fünf Brüder vor ihr. Er allein wusste, wo sie vor ihrem Umzug nach Grünwald gewohnt hatte, auch weil sie den Kontakt zur Familie nicht ganz abbrechen wollte. Einmal hatte er sie schon in ihrer kleinen Studenten-WG aufgesucht und hatte sie über den Tod des Opas informiert. Erst jetzt, als er ihr über den Weg lief, fiel Julia ein, dass sie ihren Bruder noch gar nicht über ihren neuen Wohnsitz informiert hatte.

»Ich muss dir unbedingt etwas mitteilen. Gut, dass ich dich hier treffe.« Ihr Bruder blickte sie sorgenvoll an. »Sei ja vorsichtig.« Er wusste von Julias Lage und hatte als einziger der Brüder immer zu ihr gehalten.

Julia wollte sich entschuldigen. »Ich wohne jetzt in ...«

Doch ihr Bruder unterbrach sie. »Wenn ich es nicht weiß, dann kann ich es nicht ausplaudern.«

Julia stutzte. Eigentlich kannte sie ihren Bruder gut. »Was ist passiert?«

Michael holte tief Luft. »Leos Vater ist gestorben, kurz nachdem er den Hof übergeben hat.«

»Ja und?« Doch dann stutzte sie. »Ich sollte ihn heiraten.«

»Genau... Und jetzt suchen sie dich.« Michael blickte an ihr herunter.

»Warum, sie kennen doch meine Einstellung.« Julia verstand die Zusammenhänge noch nicht.

»Ja schon.« Der Bruder holte noch einmal tief Luft. »Aber jetzt will Leo sich seine Frau holen, und er steht bei uns auf der Matte. Wir hätten uns an das gegebene Versprechen zu halten.«

»Ich habe nichts versprochen.« Julia stöhnte ein wenig, weil sie dieses Argument schon so oft gebraucht hatte.

Er verdrehte die Augen. »Du weißt genau, wie ich das meine.«

»Und was heißt das jetzt?« Julia trippelte nervös auf der Stelle.

»Sie suchen dich.« Es war Michael unangenehm, weiter zu sprechen. »Sie wollen zu ihrem Wort stehen.«

»Das ist aber nicht mein Problem.« Julia gab sich empört.

»Ich weiß. Deswegen bin ich ja auch gekommen, damit ich dich warnen kann.« Michael lächelte. »Und deswegen will ich auch gar nicht wissen, wo du jetzt wohnst, dann kann ich es nicht versehentlich ausplaudern.«

Julia war gerührt. »Danke Michael.«

»Du studierst noch?« Der Bruder versuchte das Thema zu wechseln.

Julia war darüber sehr dankbar. »Drei Semester muss ich noch.«

»Und dann?« Michael blickte auf die Uhr.

»Dann bin ich Innenarchitektin«, antwortete Julia mit stolzer Stimme.

»Und keine Bäuerin«, ergänzte ihr Bruder.

»Ganz bestimmt keine Bäuerin.« Sie lächelte, doch dann wurde sie nachdenklich. »Wie geht es denn den Kühen?«

»Es geht allen gut.« Michael lächelte. »Ich glaube, sie vermissen dich. Du warst gern im Stall.«

»Ja, die Tiere kennen keinen Hochmut.« Die winzige Spitze übersah Julia. »Was macht Waldi, der Hund?« Sie gingen langsam die Treppe zur U-Bahn hinab.

Die Miene des Bruders verzog sich. »Wir mussten ihn einschläfern lassen.«

Julia war für einen Moment ebenfalls traurig. Doch dann hellte sich ihre Miene auf. »Er hatte ein schönes Leben auf dem Hof und musste sicher nicht lange leiden.«

»Ja, so sehe ich das auch. Wann sehe ich dich mal wieder?« Er fühlte die Unruhe, die Julia ergriffen hatte.

»Das weiß ich noch nicht.« Doch dann glitt ein Grinsen über ihr Gesicht. »Vielleicht auf Leos Hochzeit.«

Michael blickte seine Schwester verwundert an. »Aber nicht als die Braut, oder?«

»Ganz sicher nicht.« Die U-Bahn fuhr ein. »Ich muss dann weiter.« Sie umarmte ihren Bruder noch einmal, dann sprang sie in die U-Bahn und suchte sich einen Platz, so dass sie ihn nicht mehr ansehen konnte. Sie wollte nicht, dass er ihre Tränen sah.

* * *

Die spontane Begegnung mit ihrem Bruder hatte Julia doch mehr mitgenommen, als sie es sich selbst eingestehen wollte. Sie hatte auf der ganzen Fahrt mit der U-Bahn mit den Tränen zu kämpfen, und nur langsam wurde ihr klar, was sie gerade von ihrem Bruder erfahren hatte. Ihre Brüder würden nach ihr suchen. Und sie konnten hartnäckig sein, dass wusste sie aus eigener Erfahrung.

Jetzt stand sie an der Haltestelle der Straßenbahn und wartete auf die Linie Richtung Grünwald.

Als die Tram kam, musste Julia lächeln, denn es war genau die Tram, die sie von ihrem ersten Taschengeld als Modell gekauft hatte.

Während sie einstieg und sich einen Platz suchte, dachte sie an Frauke, und sie hoffte, dass sich die Dienerin über das Geschenk freuen würde. Sie fragte sich, ob sie wieder in ihrem Zimmer stehen und aus dem Fenster sehen würde, wie sie es jetzt schon mehrmals beobachten konnte.

Julia wusste immer noch nicht, warum die Tram für Frauke so wichtig war, doch sie hoffte, dass sie ihr mit dem Modell eine Freude machen würde.


Doch es kam ganz anders. Als Julia wieder in ihrer Wohnung war und ihre Tasche ausgepackt hatte, nahm sie sich den kleinen Karton mit ihrem Geschenk und machte sich auf, um Frauke zu suchen.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch nicht wusste, wo Fraukes Zimmer war. Sie sah Frau Hegel im Treppenhaus, ging auf sie zu und fragte sie nach Fraukes Zimmer.

»Was wollen sie denn von ihr?« In der Stimme ihrer Vermieterin schwang ein wenig Misstrauen mit. Doch dann ging sie zu der Treppe nach oben und rief kurz den Namen der Dienerin.

Als Frauke kurz darauf erschien, sagte sie ihr, dass Julia nach ihr gefragt hätte.

Die Dienerin kam die Treppe herunter und ging langsam auf die Studentin zu. »Was möchtest du?«

»Damit du nicht immer an mein Fenster kommen musst.« Julia überreichte ihr den kleinen Karton, bei dem durch eine Klarsichtfolie der Inhalt zu sehen war.

Statt einer Antwort brach Frauke in Tränen aus und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

»Sie wissen, dass sie kein Geschenk annehmen dürfen?« Frau Hegel war näher gekommen.

Julia fiel wortwörtlich die Kinnlade herunter. Sie schluckte und blickte ihre Vermieterin mit Tränen in den Augen an. »Habe ich etwas falsch gemacht?«

Frau Hegel erkannte die Gesamtsituation und musste nur kurz überlegen. »Frau Wiesl darf keine Geschenke annehmen. Aber natürlich kann ich sie nicht daran hindern, das kleine Modell in ihrem Zimmer aufzustellen.«

»Danke, Frau Hegel.« Julia und Frauke sagten es fast gleichzeitig, dann blickten sie sich überrascht an und mussten lachen.

Schließlich wurde Julia ganz mutig. »Ich weiß aber nicht, wo dein Zimmer ist.« Sie blickte zwischen Frauke und Frau Hegel hin und her.

Es brauchte erst eines aufmunternten Blicks von Frau Hegel, dann drehte sich Frauke um und ging wieder in Richtung Treppenhaus. »Na, dann komm mal mit.« Sie drehte sich noch einmal zu Julia um. »Wir werden einen schönen Platz für deine Straßenbahn finden.« Das Wort 'deine' hatte sie besonders betont.


Als sie die Treppe hinauf ging, fiel ihr ein, dass sie schon einmal hier oben gewesen war, als Herr Hegel ihr ganz stolz seine kleine, aber gut sortierte Bibliothek gezeigt hatte.

»Das ist ist mein Reich.« Ein Anflug von Stolz lag in Fraukes Stimme, als sie die Tür öffnete.

Julia war insgeheim entsetzt. Der Raum war kleiner als ihr Badezimmer und maß gerade mal neun Quadratmeter. Ein Bett, ein Tisch mit einem Stuhl und ein Schrank, mehr befand sich nicht darin, aber mehr hätte auch nicht Platz gefunden.

Sie schluckte und schwieg, denn sie ahnte, dass jedes Wort von ihr überheblich und beleidigend gewesen wäre.

»Ich dachte mir, dass wir sie auf die Fensterbank stellen, was meinst du?« Frauke blickte Julia mit einer Miene an, die Julia fast das Herz zerrissen hatte. Sie fühlte, dass sie es mit dem kleinen Modell wirklich voll getroffen hatte und sie gab sich Mühe, ihren Triumpf nur im Stillen zu genießen.

Sie musste sich erst räuspern, bevor sie sprechen konnte. »Du bist aber trotzdem immer in mein Zimmer eingeladen, wenn du aus dem Fenster sehen möchtest.« Es war Julia aufgefallen, dass das einzige sehr kleine Fenster nach Westen hinaus ging, und damit war kein Blick auf die Straßenbahnlinie möglich.

Julia überlegte, ob sie nach dem Grund fragen sollte, warum Frauke keine Geschenke entgegen nehmen durfte, doch sie ahnte, dass die Antwort wahrscheinlich schmerzhaft ausfallen würde und deswegen verzichtete sie darauf. Wenn Frauke bereit war, darüber zu reden, dann würde sie es schon merken.

»Ich möchte dir Danke sagen, dass du das Modell hier aufstellen möchtest.« Frauke fiel das Sprechen schwer. Es gab so viel, was sie gern gesagt hätte, doch sie wusste, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen war. Doch sie wollte sich wenigstens für den so schönen Ausweg, den Frau Hegel vorgeschlagen hatte, bedanken. Denn natürlich kannte sie den Grund für diese strenge Regelung.

Auf einmal war ein Klingeln zu hören, und Frauke drehte sich sofort zur Tür. Erst dann realisierte sie, dass Julia noch im Raum war. »So hört es sich an, wenn ich gerufen werde.«

Julia verkniff sich die Antwort, denn sie wusste, dass alles, was sie sagen würde, verletzend wirken würde. Langsam ging sie Frauke hinterher.

* * *

Frau Hegel wählte die Nummer, und als abgehoben wurde, fragte sie nach Herrn Buchelberger. »Elisabeth hier.«

»Was gibt es?« Der Beamte seufzte leise. Ein Aufruf aus Grünwald konnte eigentlich nichts Gutes bedeuten.

»Es geht um die Regelung, dass Frauke keine Geschenke annehmen darf.« Frau Hegel hatte sich einen kleinen Plan zurecht gelegt.

»Und was ist damit?« Herr Buchelberger hatte mit der Unterbringung von Frauke bei Hegels seine Kompetenzen schon fast überdehnt.

Frau Hegel erzählte ihm von dem Geschenk, welches die neue Mieterin ihrem Schützling machen wollte. »Ich bin natürlich eingeschritten.«

Natürlich wusste auch Herr Buchelberger, dass hier auch immer die Komponente Mensch mitspielte. Er war über die rührende Geste zwar angetan, aber dienstlich durfte er es nicht dulden.

Frau Hegel beschrieb, was sie schließlich getan hatte und erläuterte ihre Argumentation. »Ich kann Julia schließlich nicht verbieten, ihr Eigentum in Fraukes Zimmer zu platzieren.«

Der Beamte runzelte hörbar die Stirn, doch dann gab er nach. »Okay, wenn du das so siehst. Danke, dass du mich informiert hast.«

»Ich glaube, dass sich zwischen Julia und Frauke so etwas wie eine Freundschaft anbahnt.« Sie gab ihre Beobachtungen weiter. »Ich denke, dass Julia einen guten Einfluss auf Fraukes weitere Entwicklung haben könnte.«

»Warum nicht.« Herr Buchelberger machte eine Notiz in die Akte. »Halte mich auf dem Laufenden.« Er verabschiedete sich.

* * *

Julia schloss die Tür hinter sich, dann ging sie langsam zu ihrem Bett und ließ sich in die Kissen fallen. Mit dem Blick nach oben an die Decke ging sie die Ereignisse des bisherigen Tages noch einmal durch. Es war so viel passiert, und so viele unterschiedliche Eindrücke waren auf sie eingeströmt. Fraukes trostloses Zimmer und die Tatsache, dass sie nicht einmal Geschenke annehmen durfte, machte sie traurig.

Dann war da das Tagebuch, das sie jetzt endlich ganz gelesen hatte. Was mochte es wohl mit diesen Engeln auf sich haben, mit dem Handschuh und dem Gürtel? Und vor allem, was war Carolins Aufgabe, die sie laut dem Tagebuch nicht mehr erfüllen konnte?

Und dann war da auch noch die überraschende Begegnung mit ihrem Bruder, der ihr wichtige Neuigkeiten vom elterlichen Hof überbracht hatte. Sie ließ sich noch einmal die Worte von Michael durch den Kopf gehen. Ihre Brüder würden sie suchen und wollten sie mit Gewalt auf den elterlichen Hof zurückholen, damit die Familie zu dem schon vor Ewigkeiten gegebenen Versprechen stehen konnte.

Zum Glück war sie immer schon die Schnellste gewesen, und sie würde es auch diesmal schaffen, im Notfall ihren Brüdern davon zu laufen.

Doch dann fiel ihr Blick auf den Mantel, der noch über dem Stuhl hing. Auf einmal erkannte sie das Problem. Sie hatte sich dazu verpflichtet, nahezu immer den Mantel zu tragen und sie wusste mittlerweile, wie hilflos sie darin war. Hilflos und langsam. Sie wäre eine leichte Beute für ihre Brüder.

Auf einmal ergriff sie Panik. Sie sprang vom Bett auf und suchte sich aus den wenigen Papieren, die sie besaß, den Mietvertrag heraus. Dort stand es schwarz auf weiß: Sie hatte bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Mantel zu tragen. Damit würde sie für ihre Brüder ein leichtes Opfer sein.

Sie durfte den Mantel nicht tragen, wenn sie nicht riskieren wollte, dass sie zurück auf den elterlichen Hof geholt werden würde.

Langsam wurde ihr klar, was dies in Konsequenz bedeutete. Sie wäre nicht in der Lage, ihre Miete zu zahlen. Und das nicht einmal zwei Tage nach ihrem Einzug.

Noch einmal wog sie ihre Möglichkeiten ab. Wenn ihre Brüder sie finden würden, dann würden sie sie auf den elterlichen Hof zurückbringen. Denn die Heirat mit dem Erben des größten Hofes im Dorf war sehr wichtig. Und mit dem Mantel würde sie ihnen auch nicht mehr davonlaufen können.

Bis vor kurzem gab es nur das vage Versprechen, über das Julia sich schon oft genug geärgert hatte, doch jetzt mit dem Tod des alten Bauern war die Lage auf einmal viel brisanter. Es stand die Familienehre auf dem Spiel, und Julia wusste, dass ihre Brüder keine Ruhe geben würden.

Langsam reifte in ihr ein Gedanke. Sie musste ihr Paradies wieder aufgeben, denn jetzt gab es Gründe, warum sie die bisher scheinbar so einfachen Bedingungen nicht mehr erfüllen konnte.

Sie ging zum Schrank, und während sie ihre Koffer herausnahm, dachte sie mit viel Wehmut daran, was sie alles aufgeben musste. Und viele von den Sachen hatte sie noch nicht einmal ausprobieren können.

Auf einmal fiel ihr das Tagebuch wieder ein und die Tränen schossen ihr in das Gesicht. Sie würde auch Carolin verraten, und dies tat ihr besonders weh.

Sie ging zum Bett und unter Tränen legte sie die Koffer aufs Bett, dann öffnete sie und begann, ihre wenigen Habseligkeiten in den Koffer zu packen.


»Elisabeth, kommt bitte einmal schnell her.« Herr Hegel war ungewöhnlich aufgeregt.

»Was ist denn, Winfred?« Elisabeth war gerade damit beschäftigt, mit Frauke Wäsche zusammenzulegen.

»Das musst du dir ansehen.« Herr Hegels Stimme zitterte. »Sie packt.« Er zeigte auf den kleinen Überwachungsmonitor. »Ich wollte eigentlich nur die Aufzeichnungen von letzter Nach durchsehen, da habe ich die Koffer auf dem Bett liegen sehen.«

»Ich gehe sofort zu ihr und werde mit ihr reden.« Frau Hegel war entsetzt. »Sie hat bisher so vielversprechend reagiert. Sie muss unbedingt bleiben.« Ihre Stimme zeigte eine ungewohnte Entschlossenheit.


»Julia, was denn los mit ihnen?« Frau Hegel öffnete langsam die Tür zum Zimmer ihrer Mieterin. »Sie wollen doch nicht etwas ausziehen?«

»Ich... Ich kann... « Julia war vor lauter Schluchzen fast nicht zu verstehen. »Ich kann meine Miete nicht zahlen.«

»Jetzt setzen sie sich erst einmal und erzählen mir, was passiert ist.« Frau Hegel fragte sich, wo das glückliche Mädchen geblieben war, dass gerade noch Frauke die Tram überreicht hatte.

»Der Vater ist gestorben und jetzt muss ich ihn heiraten, weil ich den Mantel trage.« Julia schluchzte wieder.

»Jetzt mal langsam und von vorn. Ihr Vater ist gestorben?« Frau Hegel reicht Julia ein Taschentuch.

Julia wischte sich durch das Gesicht, dann holte sie tief Luft. »Ich wurde schon früh dem Leo versprochen. Das ist der Sohn vom Nachbarhof.«

Nach und nach gelang es Frau Hegel, Julia die ganze Geschichte zu entlocken, obwohl die Studentin immer wieder von Schluchzen unterbrochen wurde.

»Sie haben Angst, dass ihre Familie sie entführen und auf den Hof zurückholen könnte.« Frau Hegel versuchte, das was sie eben gehört hatte, noch einmal zusammenzufassen.

»Wenn ich den Mantel oder den Rock trage, dann kann ich nicht weglaufen.« Langsam beruhigte sich ihre Stimme. »Und der Mantel ist doch Bestandteil meiner Miete.«

»Bitte bleiben sie bei uns.« Frau Hegel war ehrlich besorgt. »Ich rede mit meinem Mann, und wir finden eine andere Lösung. Wir ändern den Mietvertrag.«

»Das würden sie tun?« Julia wischte sich die neuen Tränen weg.

Frau Hegel sah auf einmal eine Chance. »Haben sie sich schon in Carolins Schränken umgesehen?«

Julia verneinte.

»Dort finden wir sicherlich etwas, was sie als Ersatz tragen können. Ich werde gleich mit meinem Mann darüber reden, und heute Abend besprechen wir das. Bitte packen sie wieder aus.« Frau Hegel stand auf. »Wir machen gleich einen Spaziergang durch Grünwald und dazu möchten wir sie einladen.«

Julia blickte mit ängstlichem Gesicht auf.

»Zu zweit werden wir wohl auf sie aufpassen können. Sie müssen nichts befürchten.« Frau Hegel ging langsam zur Tür. »In zehn Minuten?«

Julia schluchzte noch einmal, dann nickte sie und stand ebenfalls auf.


»Frauke, wir machen jetzt einen Spaziergang mit Julia, und ich möchte, dass sie mitkommen.« Frau Hegel wusste, dass ihre Dienerin nur sehr selten nach draußen kam. »Sind sie einverstanden?«

»Ja, gern.« Es war heute schon die zweite schöne Abwechslung in ihrem sonst so traurigen Leben. »Darf ich mir noch meine Jacke holen?« Frauke freute sich sehr, zusammen mit Frau Hegel draußen sein zu dürfen.

»Wir gehen in zehn Minuten los.« Frau Hegel nickte, dann ging sie kurz ins Arbeitszimmer, um ihren Mann von den Ereignissen zu berichten.

»Was hast du jetzt vor?« Herr Hegel runzelte die Stirn. »Ist jetzt ihre Anmeldung in Gefahr?«

»Ich denke nicht.« Frau Hegel lehnte sich an den Türrahmen. »Der Rock lässt sich ja auch ohne den engen Unterrock tragen, und es gibt ja auch noch den leichten Mantel.«

»Ist das wirklich zielführend?« Herr Hegel sah nachdenklich aus. »Wenn wir ihr statt dem strengen Mantel das strenge Nachthemd geben?«

»Das ist eine gute Idee.« Frau Hegel grinste. »Und in der aktuellen Situation wird sie es gar nicht ablehnen können.« Sie gab ihm einen Kuss. »Manchmal kannst du auch ganz schön hinterhältig sein.«

* * *

Julia war insbesondere von dem großen fast parkähnlichen Garten beeindruckt, der sich auf der Südseite des Hauses erstreckte, auch weil er sie an ihre frühe Jugend erinnerte. Es war so ganz anders als ihre bisherige Wohnung bei ihrer Freundin, bei der es nicht einmal einen Balkon gab. Wenn sie einmal für sich sein wollte, musste sie mit der U-Bahn in den englischen Garten fahren. Und jetzt hatte sie gefühlt den halben englischen Garten vor der Terrasse.

»Wie viel Kühe haben sie denn auf dem Hof?« Frau Hegel begann das Gespräch gleich nachdem sie das Grundstück verlassen hatten.

Julia war noch nicht in der Lage zu antworten. Zu sehr schlugen die Gefühle in ihr Purzelbaum. Gerade hatte Frauke sie in ihren Mantel eingesperrt, nachdem Frau Hegel ihr versichert hatte, dass sie zu zweit auf Julia aufpassen würden. Und als die Dienerin nach und nach die Reißverschlüsse zuzog und Julia die zunehmende Enge spürte, hatte sie trotz allem Mühe, einen leichten Anfall von Panik zu unterdrücken.

Das Beinteil des Mantels war gar nicht geschlossen, nur die Arme wurden vom Mantel fest an ihren Körper gepresst. Sie war viel zu sehr in ihren Gedanken versunken, sonst wären ihr Fraukes leuchtende Augen aufgefallen, als sie sie langsam in den Mantel einsperrte.

Frau Hegel wiederholte ihre Frage.

Langsam realisierte Julia, dass sie antworten musste. »Oh, es sind so an die Zwanzig. Und bestimmt sind wieder ein paar Kälbchen dabei.« In ihrer Stimme klang etwas Wehmut mit.

»Die Tiere haben sie bestimmt gern gemocht.« Frau Hegel versuchte, sich in die Situation hineinzuversetzen.

»Ja, sie sind so unschuldig, und sie nehmen einen so, wie man ist.« Julia senkte ein wenig den Kopf, zumindest so weit, wie es das Halskorsett des Mantels zuließ.


Sie gingen einige Schritte schweigend weiter.

»Frau Hegel?« Julias Stimme war auf einmal etwas leiser.

»Ja, Julia?« Der Vermieterin war der veränderte Tonfall natürlich aufgefallen.

»Was passiert heute Abend?« In ihrer Stimme klangen sowohl Sorge als auch Vorfreude mit.

»Nichts, was ihnen Sorgen bereiten müsste.« Frau Hegel war bemüht, Julias Angst zu zerstreuen.

Sie gingen weiter.

Julia schwieg einige Zeit, denn sie versuchte, abzuwägen. »Frau Hegel, darf ich sie etwas zu ihrer Tochter fragen?« Ihre Stimme klang dabei bewusst vorsichtig.

»Was möchten sie denn wissen?« Frau Hegel war nicht minder nervös, und sie rief sich die zurechtgelegte Geschichte wieder ins Gedächtnis.

»Sie haben mir ja das Tagebuch gegeben.« Julia holte tief Luft. »Sie erzählt dort vom Gürtel und vom Handschuh und davon, dass sie eine Aufgabe gehabt hätte, zu der sie nicht mehr gekommen wäre.«

»Ja?« Frau Hegel wusste noch nicht, ob Julia die auf diese Weise gelegte Spur schon aufgenommen hatte.

»Ich möchte gern diesen Gürtel für sie tragen und den Handschuh auch.« Es kostete Julia einige Kraft, dies auszusprechen. Sie hoffte insgeheim, dass sie Hegels damit eine Freude machen würde.

»Willst du dir das wirklich antun?« Frauke klang verwundert.

Hinter Julias Rücken bekam die Dienerin einen ermahnenden Stupser von Frau Hegel.

Frauke seufzte darauf hin. Damit hatte sie bestimmt einen ihrer Pluspunkte wieder verspielt.

Frau Hegel hoffte, dass sie Julias Stimmung richtig einschätzte. »Sie wissen aber schon, das Carolin einen Keuschheitsgürtel bekommen sollte?«

Julia war genauso verunsichtert, wie Frau Hegel es erwartet hatte.

Sie machte Julia ein Angebot: »Sie können ihn einfach mal ausprobieren, ob er ihnen auch zusagt. Da steht keine Verpflichtung dahinter.«

Doch dann ließ sie durchblicken, dass sie sich zusammen mit ihrem Mann sehr darüber freuen würden, wenn ihre Mieterin sich dazu bereit erklären würde, den Gürtel zu tragen. »Der Gürtel hat für sie natürlich auch einige Vorteile. Er wird sie beschützen, wenn sie den Handschuh tragen.«

Sie wandte sich an ihre Dienerin. »Frauke, wie wäre es, wenn sie morgen Julia ihre 'Ausrüstung' zeigen?«

Frau Hegel legte den Arm um Julia. »Ich möchte, dass sie wissen, auf was sie sich einlassen.« Damit ging sie natürlich ein gewisses Risiko ein, doch sie war sich sicher, dass Julia sich davon nicht abschrecken lassen würde. »Und wenn sie damit einverstanden sind, dann kann Frauke auch gleich bei ihnen maßnehmen.«

»Aber den Handschuh kann ich nicht vorführen.« Frauke lächelte verlegen.

»Ja, das ist richtig.« Frau Hegel lächelte wissend. »Aber ich kann ihnen einige Fotos zeigen, damit sie wissen, um was es sich bei dem Handschuh handelt.«

»Ja, das wäre schön.« Julia hatte Mühe, ihre Begeisterung zu verbergen. Doch dann erinnerte sie sich wieder an ihre Familie. »Aber was machen wir mit der Miete? Ich hatte ihnen gesagt, dass ich den Mantel nicht tragen kann.«

»Dann gibt es einfach etwas weniger Taschengeld.« Frau Hegel dachte daran, dass Julias deutlich erkennbarer Ehrgeiz für sie teuer werden könnte.

»Wenn das möglich wäre?« Julia äußerte, dass sie nur höchst ungern ausgezogen wäre. »Ich will auch den Gürtel und den Handschuh tragen.«

Frau Hegel lächelte. »Ihr Eifer in allen Ehren, doch das sollten sie erst dann entscheiden, wenn sie wissen worum es sich handelt.«

Sie drehte sich zu Frauke und flüsterte leise: »Wenn sie es schaffen, dass Julia den Keuschheitsgürtel und den Keuschheits-BH tragen möchte, dann bekommen sie Pluspunkte für einen ganzen Monat.«

Frauke musste heftig schlucken, denn insgeheim hatte sie Mitleid mit der Mieterin.

»Ist der Handschuh eigentlich so etwas Besonderes?« Julia äußerte ihre Verwunderung darüber, dass es für nur wenige Minuten schon irre viel Taschengeld geben würde.

Frauke räusperte sich. »Ich habe es nicht geschafft, ihn zu tragen.« Sie streichelte Julia über die Wange. »Aber du könntest es schaffen.«


So langsam ließen Julias Sorgen wieder nach. »Mir gefällt die Lackkleidung sehr.« Sie erzählte, dass sie sich in Münchens Nobeleinkaufsmeile einmal bei einem Geschäft die Nase plattgedrückt hatte, weil im Schaufenster eine Lackhose ausgestellt war. »Aber die war unerschwinglich, über 1000 Euro.«

»Ja, Träumen ist schön.« Frauke klang auf einmal sehr sentimental.

»Im Haus dürfen sie anziehen, was sie möchten.« Frau Hegel hoffte, dass sie mit den Größen für Julia richtig geraten hatte.

Julia überlegte, ob sie zu dem dritten Schrank etwas fragen sollte, doch ihre Intelligenz verbot ihr, sich diese Blöße zu geben. Sie wollte am Wochenende selbst herauskriegen, wie der Schrank zu öffnen war. »Carolin hatte eine Aufgabe, zu der sie nicht mehr gekommen ist. Ich möchte sie fortführen.« Irgendwie fühlte sie sich dazu verpflichtet.

Frau Hegel erkannte, dass sie offensichtlich im Tagebuch die richtigen Worte gefunden hatte. »Jetzt schauen sie erst einmal, ob sie mit dem Gürtel und dem Handschuh zurecht kommen. Und wenn das so ist, dann können wir noch einmal über die Aufgabe reden.«

Frauke war von Julias Ehrgeiz sichtlich begeistert. »Du wirst das schaffen, da bin ich mir sicher.« Sie fühlte sich auf einmal wie die Verbündete von Hegels und nicht mehr wie ihre Gefangene.

* * *

Als sie das Haus wieder betraten, war Julia sehr erleichtert, weil sie mit den Sorgen wegen ihrer Familie auf offene Ohren gestoßen war, und weil die Verpflichtung mit dem eigentlich sehr faszinierenden Mantel aus dem Weg geräumt war.

Dabei bedauerte Julia dies sogar, denn sehr gern dachte sie an den Moment zurück, als sie so streng in den Mantel eingesperrt war und dabei einen Orgasmus bekommen hatte. Etwas, das sie fast von den Beinen gerissen hätte.

Doch auf der anderen Seite war da die Angst vor ihren Brüdern, und sie kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sie wirklich entführen würden, wenn sie wüssten, wo sie sich aufhielt.

Gedankenverloren öffnete sie den zweiten Kleiderschrank und suchte nach möglichen Kleidungsstücken für den Abend mit Hegels, doch sie wollte auch nicht den ganzen Schrank durchwühlen. Aber ein Fach zog sie besonders an, und ihre Hand zitterte, als sie einen Stapel Bettwäsche in der Hand hielt. Das Aufregende war, dass sowohl Bettbezug und Kopfkissen, als auch das Laken aus Lack waren. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie den Stapel wieder an seinen Platz legte.


Sie empfand Hegels gegenüber eine große Dankbarkeit. Auch der Kontakt zu Frauke war schon besser geworden. Heute Morgen hatte Frauke ihr faszinierende Kleidung vorgeschlagen, sie überlegte, ob sie sie wohl auch jetzt um Rat fragen könnte?

Ob sie wohl nach ihr klingeln dürfe? Eigentlich war es ja kein Notfall.

Als Frauke hereinkam und etwas mißmutig schaute, sank Julias Herz in die Hose. Doch sie wollte ihr Vorhaben durchziehen. »Kannst du mich beraten, was ich für den Abend bei Hegels anziehen soll?«

Fraukes Miene erhellte sich sofort, denn sie sah auch für sich eine Möglichkeit, sich ein paar Pluspunkte zu verdienen. Jeder Pluspunkt, der von Herrn Buchelberger anerkannt wurde, war ein Tag weniger ihrer Strafe. »Kein Problem, ich lege dir etwas heraus.« Sie ging zum zweiten Schrank und machte die Türen auf. Dann griff sie recht zielstrebig hinein.

Julia blickte verwundert auf den Stapel, der sich jetzt auf ihrem Bett häufte. »Das soll ich alles anziehen?« Besonders war sie darüber verwundert, dass Frauke wirklich nur Lacksachen herausgelegt hatte. Scheinbar auch noch viel zu viele.

»Ich zeige dir, wie es geht.« Sie trat an das Bett und hielt als erstes einen dunkelroten Anzug in die Höhe, so wie Julia ihn noch nie gesehen hatte.

»Was ist denn das?« Julia äußerte ihr Erstaunen.

»Das ist ein sogenannter Catsuit.« Frauke öffnete den Reißverschluss. »Du könntest mir einen Gefallen tun.«

»Und der wäre?« Julia wollte nicht sofort 'Ja' sagen.

»Sage bitte bei Hegels, dass ich dir das zusammengestellt habe, dann bekomme ich vielleicht ein paar Pluspunkte.« Sie blickte Julia flehend an.

»Und was ist mit den anderen Sachen?« Julia hatte schon erkannt, dass der Catsuit fast ihren gesamten Körper bedecken würde.

»Damit allein kannst du dich bei ihnen aber nicht blicken lassen.« Frauke lächelte. »Das ist eher so etwas wie eine zweite Haut. Es sieht fast so aus, als währest du nackt.«

»Du machst mich aber neugierig.« Julia erinnerte sich jetzt, dass sie in manchen Musikvideos doch schon etwas Ähnliches gesehen hatte. Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dass es hier einfach im Kleiderschrank liegen würde.

Frauke griff in den kleinen Stapel. »Du ziehst noch diesen Rock und diese Bluse dazu an.«

Julia begutachtete die Sachen. Der dunkelblaue Rock war wadenlang, und die weiße Bluse reichte bis über die Ellenbogen. Es wäre also ein Stück vom Catsuit noch sichtbar.

»Glaub mir, das wird Hegels gefallen, und es bringt Pluspunkte.« Sie lächelte verlegen. 'Vor allem bringt es mir Pluspunkte', dachte sie bei sich. »Damit wirst du Eindruck machen.«

»Bist du sicher?« Julia hielt sich Rock und Bluse vor den Körper und betrachtete sich vor dem Spiegel. Sie musste zugeben, dass Frauke etwas sehr Geschmackvolles herausgesucht hatte. Wenn der besondere Stoff nicht gewesen wäre, hätte sie so auch zu einem Vorstellungsgespräch gehen können. Die Bluse war hochgeschlossen und sehr schlicht. Und der Rock schwang weit um ihre Hüften, hatte keinen engen Unterrock und war wadenlang, so dass er wirklich brav aus sah.

»Ich habe dir noch ein Paar Stiefel herausgesucht, die kannst du dazu anziehen.« Frauke war angetan von Julias Unschuld.

»Kannst du mir beim Anziehen helfen?« Julia blickte Frauke verlegen an. »Ich weiß nicht, wie ich den Catsuit anziehen muss.«

»Aber gern« Jetzt reizte es Frauke, mehr von Julias Körper zu Gesicht zu bekommen.


Julia betrachtete sich vor dem Spiegel. Von dem roten Catsuit war wirklich nicht mehr viel zu sehen. Lediglich ihre rot bedeckten Unterarme ließen erahnen, was sie wohl darunter tragen würde.

Sie war begeistert von ihrem Outfit, und das eigentlich sehr strenge Büroensemble vermittelte ihr zusätzlich noch eine Spur von Sicherheit. Sie war sich sicher, dass sie Hegels so wirklich gegenüber treten konnte. Lediglich die Stiefel waren etwas zu groß. Doch sie gab sich pragmatisch. »Ich muss ja hoffentlich keine großen Strecken gehen.«

* * *

Julias Nervosität war groß, als sie jetzt in der so aufregenden Kleidung und den ein wenig zu großen Stiefeln langsam die Treppe hinunter ging, um den Abend gemäß ihrer Mietverpflichtung mit ihren Vermietern zu verbringen. Zudem kam ihr schlechtes Gewissen dazu, denn sie hatte sich heute in der Uni viel mehr mit dem Tagebuch beschäftigt, als dem Inhalt der Vorlesungen zu folgen.

Während das Ende der Treppe näher kam, dachte sie darüber nach, was sie Herrn Hegel wohl erzählen könnte. Dabei gingen ihr immer wieder die warnenden Worte von Frauke durch den Kopf, die ihr geraten hatte, nicht von selbst nach Carolin zu fragen. Immerhin fand sie es sehr spannend, dass Hegels Tochter ein Faible für diese so faszinierend glänzende Lackkleidung gehabt hatte. Auch wenn sie schon gewarnt worden war, diese Kleidung wie Carolin auch nur im Haus zu tragen. Doch Julia wollte zumindest fragen, ob sie mit der Kleidung nicht auch in den Garten gehen dürfe. Den Gedanken fand sie sehr reizvoll.

»So müssten sie einmal in der Uni aufkreuzen.« Herr Hegel war extra aufgestanden, als sie das Wohnzimmer betrat. »Ich beglückwünsche sie zu ihrem Mut.«

»Jetzt verängstige unsere Mieterin nicht.« Seine Frau kam aus dem Esszimmer dazu. »Bitte nehmen sie erst einmal Platz.« Sie zeigte auf einen bestimmten Sessel, der Julia schon wegen der besonderen Form der Rückenlehne aufgefallen war. »Dort hat Carolin immer gesessen.«

Julia ging mit vorsichtigen Schritten auf den Sessel zu und nahm langsam darauf Platz. Die besondere Lehne versuchte sie zu ignorieren.

»Ich freue mich, dass sie sich so frei in Carolins Schrank bedient haben.« Frau Hegel blickte ihre Mieterin bewundernd an.

»Frauke hat mir die Sachen herausgesucht.« Julia lächelte ein wenig verlegen. »Ich soll das extra erwähnen, damit sie einen Pluspunkt bekommt.«

Frau Hegel nahm einen kleinen Block zur Hand und schien sich etwas zu notieren. »Das ist gut«, antwortete sie etwas rätselhaft – es war nicht ganz klar, worauf sich die Antwort bezog.

»Sie werden sicher die eine oder andere Frage an uns haben?« Herr Hegel nahm auf dem sehr gemütlich aussehenden Sofa Platz.

Julia wartete noch einen Moment, bis auch Frau Hegel sich gesetzt hatte. »Was hat es mit diesen komischen Lehnen auf sich, die sich in meinem Zimmer hier und im Esszimmer befinden?« Sie drehte sich einmal kurz um, so als wollte sie ihre Worte bekräftigen. »Ich habe schon gehört, dass sie für Carolins Handschuh waren, doch ich kann mir nicht vorstellen, was für ein Handschuh das gewesen sein soll.«

Herr Hegel runzelte die Stirn. »Haben sie als angehende Innenarchitektin keine Idee, was diese besondere Lehne möglich macht?«

Die Studentin legte sich an die Lehne zurück. »Ich könnte dazu einen kleinen Rucksack tragen, und der würde nicht stören.«

»Wie kommen sie denn darauf?« Herr Hegel wollte seine Mieterin noch ein klein wenig zappeln lassen.

»Naja, wir waren früher öfters wandern, und dabei trug ich einen Rucksack.« Sie lächelte ein wenig verlegen. »Ich musste ihn immer abnehmen, wenn ich mich hinsetzen wollte.«

»So falsch liegen sie gar nicht.« Frau Hegel griff zu einem Umschlag, der auf dem Tisch lag.

»Aber eines verstehe ich nicht.« Julia hatte die Bewegung zwar gesehen, aber sie wusste nicht, was kommen würde. »Wie kann man einen Handschuh auf dem Rücken tragen?«

»Wollen wir ihr es schon zeigen, Elisabeth?« Herr Hegel blickte seine Frau fragend an. »Meinst du, dass die Zeit reif ist?«

»Sie müssen uns versprechen, dass sie es nicht lächerlich finden.« Es wurde deutlich, dass Hegels offenbar ein wenig Angst vor dem nächsten Schritt zu haben schienen.

Julia erkannte, dass sie das Andenken an Carolin auf keinen Fall beschädigen durfte.

»Wir haben hier einige Fotos eines anderen Mädchens, welches ebenfalls einen solchen Handschuh trägt.« Frau Hegel öffnete den Umschlag und nahm ein paar Fotos heraus.

»Sie haben sich vielleicht schon gewundert, dass es keine Fotos von Carolin gibt.« Die Stimme von Herrn Hegel zitterte ein wenig. »Sie hat alle Bilder von sich vernichtet, als sie von ihrer Krankheit erfuhr.«

»Es war sicher eine Kurzschlusshandlung, doch als wir es bemerkten, konnten wir es nicht mehr rückgängig machen.« Frau Hegel reichte Julia die Fotos.

»Sie sieht sehr glücklich aus.« Julia betrachtete sich das erste der drei Fotos. Es zeigte ein lächelndes, blondes Mädchen mit strahlenden Augen. Erst beim genaueren Hinsehen erkannte sie, dass von dem Mädchen keine Arme zu sehen waren.

Auf dem zweiten Foto war sie von der Seite aufgenommen, und jetzt war deutlich zu sehen, dass ihre Arme auf dem Rücken in einer blauen Lederhülle steckten.

Auf dem dritten Foto, welches das Mädchen von hinten zeigte, war zu sehen, dass sich ihre Arme auf dem Rücken berührten.

»Jetzt wird mir einiges klar.« Julia keuchte. »Das möchte ich auch machen.« Sie blickte erst nach einiger Zeit von den Fotos auf. »Wenn sie es erlauben«, fügte sie ihren Worten hinzu, denn sie hatte allerdings etwas spät erkannt, dass sie dabei war, in Carolins Fußstapfen zu treten, und sie war sich noch nicht sicher, ob ihren Vermietern das überhaupt recht war.

»Man nennt es auch einen Monohandschuh.« Frau Hegel hatte große Schwierigkeiten, ihre Nervosität zu verbergen.

»Logisch« Julia lachte etwas gezwungen. »Ein Handschuh für beide Arme.« Wieder blickte sie auf die Fotos. »Sie sieht so glücklich aus. Es scheint ihr überhaupt nichts auszumachen.«

»Carolin war auch gern in dem Handschuh unterwegs.« Herr Hegel blickte zu Boden, damit ihn seine leuchtenden Augen nicht verrieten.

»Aber die Hände benutzen ist dann nicht mehr möglich?« Julia hatte es als Frage formuliert, doch eine Antwort erwartete sie eigentlich nicht.

»Es ist ihnen vielleicht schon aufgefallen, dass manche Sachen bei unserer Einrichtung etwas größer als normal sind, zum Beispiel die Klinken an den Türen.« Herr Hegel hielt seinen Kopf weiterhin gesenkt.

»Wenn ich ehrlich bin, nein.« Es wurmte sie ein wenig, dass sie dies als angehende Architektin noch nicht bemerkt hatte.

»So war Carolin, auch wenn sie den Handschuh trug, doch in der Lage, sich im ganzen Haus zu bewegen.« Frau Hegels Stimme zitterte immer noch ein wenig. »Sie schaffte es sogar, die Türen damit aufzuziehen.«

»Ja, unsere Tochter war mit ihrem Lieblingshandschuh schon sehr geschickt.« Er versuchte unauffällig den Druck auf Julia zu erhöhen.

Julia hatte der Ehrgeiz gepackt. »Das möchte ich auch machen.« Sie stand auf, drehte Hegels den Rücken zu und legte ihre Arme auf den Rücken. Die Ellenbogen standen nur einen Zentimeter auseinander. Dann setzte sie sich wieder in den Sessel und lehnte sich zurück. »Es passt.« Sie lächelte und ihre Augen zeigten ein wenig Kampfeslust.

»Warum können sie das?« Herr Hegel war von der Vorführung seiner Mieterin sichtlich beeindruckt.

»Viel Gymnastik und fünf Brüder.« Julia lächelte verlegen. »Als Kinder haben sie mir oft die Arme auf den Rücken gebunden, wenn sie Ruhe vor mir haben wollten. Und damit es nicht so weh tut, habe ich das geübt.«

»Es wird ihnen bestimmt leicht fallen, den Handschuh von Carolin zu tragen.« Frau Hegel gab sich etwas verlegen. »Das wird sehr teuer für uns.«

»Warum das?« Julia nahm ihre Arme wieder nach vorn und lehnte sich an die Rückenlehne an.

»Wegen der Taschengeld-Liste.« Frau Hegel erklärte, dass der Preis für den Monohandschuh eigentlich für eine Anfängerin gedacht war. »Sie schreiben bitte in Zukunft einfach auf, was sie wie lange getragen haben, und wir überlegen uns, wie viel uns das wert ist. Wären sie damit einverstanden?«

»So wichtig ist mir das Geld auch nicht.« Julia erkannte die Problematik sofort. »Aber ich freue mich schon darauf, wenn ich den Handschuh das erste Mal tragen kann.«

»Zum Beispiel mit dem engen Rock.« Die Stimme der Vermieterin war eine Spur leiser.

»Mit dem engen Rock.« Julia wiederholte die Worte mit einem leicht glasigen Blick. In Gedanken malte sie sich gerade aus, was diese Kleidung so alles mit ihr machen würde. Sie begann leise zu stöhnen.

»Julia, wie dick muss die Wand in einem zweistöckigem Familienhaus sein?«

Die Frage ihres Professors riss Julia aus ihren erregten Gedanken. Sie stutzte kurz. »Innen oder außen?«

»Bitte jetzt keine Fachgespräche.« Frau Hegel hatte natürlich erkannt, was ihr Mann tatsächlich mit der Frage bewirken wollte. Insgesamt war sie mit dem Verlauf des Gespräches sehr zufrieden.

Julia nahm noch einmal die Fotos in die Hand. »Sie sieht so glücklich aus.«

»Die Fotos dürfen sie gern behalten.« Frau Hegel lächelte. »Wir haben noch mehr davon.«

»Danke!« Julia strahlte. »Ich hoffe, ich schaffe es auch, dann ebenfalls noch so zu lächeln.«

»Wir sind sicher, dass sie das schaffen werden.« Herr Hegel zeigte ebenfalls Interesse. »Nach dem sie schon so lange trainiert haben.«

»Nur war das für einen ganz anderen Zweck.« Julia lachte. »Nämlich um nicht zu sehr unter meinen Brüdern leiden zu müssen.«

»Erzählen sie uns bitte etwas von daheim. Ist es ein großer Bauernhof.« Herr Hegel lächelte. »Es interessiert uns, wie sie aufgewachsen sind.«

Julia holte tief Luft. »Es war lange eine schöne Zeit, und ich habe mich gern um die Tiere gekümmert. Die Menschen waren mir herzlich egal, vor allem das dumme Gerede der Leute.«

»Heute hat Julia ihren Bruder getroffen.« Frau Hegel griff den Faden auf.

»Gibt es Neuigkeiten von daheim?« Herrn Hegel war der besondere Tonfall seiner Frau aufgefallen.

»Schlechte Neuigkeiten.« Julia senkte den Kopf. »Unser Hofhund, der Waldi, musste eingeschläfert werden.« Es war ihr anzuhören, wie sehr sie die Nachricht getroffen hatte.

»Aber das ist doch nicht alles.« Frau Hegel blickte Julia sowohl fragend als auch aufmunternd an.

Julia seufzte deutlich hörbar. Dieses Thema hätte sie gern ausgespart. »Ich wurde schon sehr früh versprochen. Meine Familie fand es schon immer eine gute Idee, wenn sich die beiden größten Höfe des Dorfes zusammenschließen.« Sie verdrehte die Augen. »Ein Gutes hat es allerdings gehabt. Ich hatte Ruhe vor den anderen Jungs. Dadurch, dass ich versprochen war, hat sich keiner an mich heran getraut.«

»Sie sagten doch auch, dass sie lieber im Stall waren, als auf dem Tanzboden.« Frau Hegel erinnerte an Julias Worte vom Spaziergang.

»Ja, richtig.« Julia lächelte verlegen. »Die Tiere nehmen einen so, wie man ist, und es ist ihnen egal, ob man Lippenstift aufgetragen hat oder Highheels trägt.« Insgeheim hoffte sie noch, dass das Gespräch nicht auf ihre Ängste wegen des Mantels kommen würde, denn sie wusste, dass deswegen ihre Zukunft auf dem Spiel stehen könnte.

»Aber jetzt haben sie Angst vor ihrer Familie.« Frau Hegel berichtete von Julias Verzweiflung vom Nachmittag. »Die Angst ist so stark, dass sie sogar ausziehen wollte.«

»Julia, erzählen sie mir bitte davon.« Herr Hegel klang auf einmal sehr ernst. »Ich glaube, meine Frau hat ihnen schon einen Vorschlag gemacht.«

»Ich habe große Angst, dass sie mich einfach entführen.« Julia holte tief Luft. »Und wenn ich den Rock und vor allem den Mantel trage, dann kann ich nicht vor ihnen weglaufen.«

»Ich muss darauf bestehen, dass sie ihre Miete zahlen, so wie vereinbart.« Herr Hegel gab sich streng. »Wenn es ihnen hilft, werde ich sie zur Uni begleiten. Wir haben doch ohnehin den gleichen Weg.«

Julia blickte entsetzt auf. Sie hatte eigentlich auf ein Entgegenkommen gehofft.

»Ich sehe, dass ihnen das nicht reicht.« Herr Hegel blickte seine Frau an. »Wie lautet denn dein Vorschlag?«

»Wir verlagern die Verpflichtungen ein wenig nach drinnen.« Frau Hegel lächelte Julia ermunternd an. »Sie würden im Haus ab sofort nur noch Carolins Kleidung tragen, am besten nur noch aus dem zweiten Schrank. Und in der Nacht tragen sie das ganz strenge Nachthemd.«

»Und draußen muss ich den Mantel dann nicht mehr tragen?« Julia wollte sicher gehen, dass sie es richtig verstanden hatte. Immerhin wäre sie ab jetzt dazu verpflichtet, im Haus nur noch die so faszinierende Lackkleidung zu tragen. Doch als sie die Mienen ihrer Vermieter sah, legte sie nach. »Zumindest wenn ich allein bin.«

»Ja, so sehen sie das richtig. Draußen tragen sie nur noch die Kleidung, in der sie sich gut bewegen können. Es gäbe da auch eine Jacke, bei der nur die Ärmel ein wenig fixiert sind. Die sollten sie zumindest einmal ausprobiert haben.« Herr Hegel bestätigte ihre Worte. »Es wäre auch gut für sie, wenn sie einen Schutzgürtel tragen würden.«

»So einen, wie Carolin auch einen bekommen sollte?« Julia biss sich auf die Lippen, denn sie wollte Hegels Tochter diesen Abend von sich aus eigentlich nicht erwähnen.« Doch zu ihrer Erleichterung hatten ihre Worte keine der befürchteten Konsequenzen.

»Woher wissen sie das?« Herr Hegel sah seine Frau an. »Du hast ihr das Tagebuch gegeben?«

»Ich wollte, dass sie informiert ist.« Frau Hegel legte ihre Hand auf seine Hand. »Ich hoffe, du bist mir nicht böse.«

»Nein.« Herr Hegel blickte wieder zu Julia. »Sie wären also bereit, einen Gürtel zu tragen?«

Frau Hegel unterbrach ihn. »Du bist unfair, mein Lieber.« Sie blickte Julia kurz an. »Frauke zeigt ihr morgen, um was es sich beim dem Gürtel genau handelt und was die Vor- und Nachteile sind. Und dann wird Julia sich entscheiden.«

Die Studentin nickte. Sie war sehr erleichtert, denn sie hatte befürchtet, dass ihr schöner Traum schon nach zwei Tagen wieder beendet sein könnte.

»Und was Carolins strenges Nachthemd betrifft«, ergänzte Frauke Hegel. »Ich habe Julia vorgeschlagen, dass sie erst einmal eine Nacht darin schläft und sich dann entscheidet, ob sie in Zukunft immer damit übernachten möchte.«

»Das ist ein sehr fairer Vorschlag, Elisabeth.« Herr Hegel drehte sich wieder zu Julia. »Sie werden uns also Morgen sagen, wie sie geschlafen haben. Und dann entscheiden wir, wie wir genau mit ihren Mietbedingungen weitermachen.«

Frau Hegel stand auf, ging zur Tür und drückte dort auf einen Knopf, dann nahm sie wieder Platz.

Nach kurzer Zeit waren Schritte auf der Treppe zu hören und gleich darauf erschein Frauke an der Wohnzimmertür. Ihrer Miene war anzusehen, dass sie es nicht gewohnt war, um diese Zeit noch gerufen zu werden.

»Ah, vielen Dank, Frauke, dass sie um diese Zeit noch gekommen sind.« Frau Hegel blickte kurz zu Julia. »Sie bekommen zehn Pluspunkte, wenn sie unserer Mieterin das strenge Nachthemd zeigen und ihr damit helfen. Julia möchte darin einmal zur Probe übernachten.«

»Ja, Frau Hegel, das werde ich machen.« Frauke freute sich insgeheim darüber, dass sie jetzt noch einen Grund mehr hatte, in Julias Zimmer zu gehen. »Jetzt gleich?«

»Nein«, widersprach Herr Hegel. »Wir wollen uns noch etwas unterhalten.«

»Sie können ja schon mal alles vorbereiten und warten dann in ihrem Zimmer.« Frau Hegel lächelte wissend.

Frauke verbeugte sich und verließ das Wohnzimmer in Richtung Treppenhaus. Insgeheim freute sie sich über den eigentlich so ungewohnten Auftrag, denn er gab ihr Gelegenheit, wieder einmal ausgiebig den Straßenbahnen nachzublicken. Und in der Nacht waren die beleuchteten Wagen besonders lange zu erkennen.

»Ich habe im zweiten Schrank auch Bettwäsche gefunden.« Ihre Stimme zeigte ihre Erregung, ohne dass sie wirklich etwas dagegen machten konnte.

»Natürlich können sie die auch benutzen, wenn sie möchten.« Frau Hegel freute sich insgeheim über Julias Abenteuerlust. »Bitten sie Frauke morgen, dass sie ihnen dabei hilft.« Als sie eine Spur der Enttäuschung in Julias Gesicht sah, setzte sie nach. »Morgen früh möchte ich erst einmal wissen, wie sie mit dem strengen Nachthemd zurechtgekommen sind.«

Julia fühlte sich in ihren Gedanken ertappt. »Natürlich, Frau Hegel.« So langsam ließ ihre Anspannung nach, denn sie begriff, dass der Abend eine ganz andere Wendung nahm, als sie ursprünglich erwartet hatte. Und sie war ebenfalls genauso erleichtert wie fasziniert darüber, dass sie nun geradezu verpflichtet war, diese so spannende Lackkleidung tragen zu dürfen, oder besser tragen zu müssen.

Und doch lag ihr noch etwas auf der Seele, und sie hatte sich vorgenommen, dies heute Abend ebenfalls anzusprechen. Das Tagebuch wurde jetzt schon erwähnt und dennoch war sie sich sehr unsicher, als sie von Carolins letzten Worten berichtete. »Ich fühle mich ihr gegenüber verpflichtet und ich möchte die Aufgabe antreten, zu der sie anscheinend nicht mehr gekommen ist.«

»Das können wir aber nicht von ihnen verlangen.« Herr Hegel gab sich ein wenig schroff. Insgeheim hatte er etwas Skrupel, weil ausgerechnet seine begabteste Studentin diesen Weg gehen wollte. Es hätte Julia vielleicht auffallen können, dass er dieses Mal keine schmerzlichen Gefühle zeigte, sondern sie sich eher neutral gab.

»Das wäre sehr anstrengend für sie und das möchten wir ihnen doch nicht zumuten.« Frau Hegel versuchte einen Tonfall zu treffen, der vor allem Bewunderung vermittelte. »Sie müssten dafür den Handschuh tragen, und eine gewisse Leidensfähigkeit müssten sie auch mitbringen.«

»Darf ich es zumindest einmal probieren?« Julia fühlte sich ihren Vermietern sehr verpflichtet und wenn es etwas gab, was sie für sie tun konnte, dann wäre sie auch bereit, einige Mühen auf sich zu nehmen.

»Wir werden jetzt erst einmal sehen, wie gut sie mit dem Handschuh und dem Gürtel zurechtkommen.« Herr Hegel blickte kurz zu seiner Frau. »Und nächsten Donnerstag, wenn sie wieder bei uns sind, werden wir entscheiden, ob wir ihr Angebot annehmen können. Wären sie damit einverstanden?«

Julia war zum einen sehr erleichtert, weil sie es angesprochen hatte, ohne dass sie damit eine Verärgerung ausgelöst hätte, und zum anderen schienen ihr ab sofort spannende Zeiten bevorzustehen.

»Wir möchten sie dann aus ihrer Verpflichtung, den Abend mit uns zu verbringen, entlassen. Schlafen sie gut mit dem strengen Nachthemd.« Herr Hegel stand auf und reichte ihr die Hand, nachdem sie sich auch erhoben hatte. »Ich wünsche ihnen eine gute Nacht... Und wilde Träume.« Letzteres hatte er etwas leiser gesprochen, fast geflüstert.

»Frauke weiß Bescheid.« Auch Frau Hegel reichte ihr die Hand. »Ich denke, sie werden eine ruhige Nacht haben.«

* * *

Wie sie es erwartet hatte, stand Frauke am Fenster und blickte hinaus. »Ich habe dir schon alles bereit gelegt. Ziehe dich bitte ganz aus, und mache dich für die Nacht fertig.« Gerade war das Geräusch einer abfahrenden Straßenbahn zu hören.

Julia lächelte, dann blickte sie auf das Bett. Sie sah einen flauschigen Bademantel und das Nachthemd. Zumindest vermutete Julia, dass es das Nachthemd war, denn zum einen war es auch glänzender Seide und sah auch so aus, wie das Nachthemd von gestern, nur das dieses hier noch ordentlich zusammengelegt war.


Sie verzichtete darauf, im Bad zu trödeln, denn sie war sehr gespannt auf das neue Nachthemd und wie sich die Strenge äußern würde.

Als Julia aus dem Bad kam, saß Frauke schon auf dem Bett und hatte das Nachthemd auseinander gebreitet. Sie sah gedankenverloren aus, denn sie bemerkte zunächst gar nicht, dass Julia mit dem Bad fertig war.

»Das ist das strenge Nachthemd?« Julia blickte fasziniert auf Frauke, die sich mit dem Nachthemd beschäftigte. »Was macht es so streng?« Obwohl Julia sich mit dem Nachthemd von gestern schon sehr gut arrangiert hatte, war sie gespannt, wie es noch strenger werden konnte.

»Siehst du das hier?« Frauke zeigte Julia einige Nähte auf dem Stoff.

»Es sieht aus wie ein Handschuh.« Julia beugte sich herab, um den Verlauf der Nähte besser sehen zu können.

»Das ist es.« Frauke konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vor Faszination zitterte. »Für jeden Finger ist eine eigene Hülle vorgesehen.«

Julia erkannte sofort, was dies für ihre nächtlichen Spiele bedeuten sollte, doch sie war trotzdem froh, dass der Mantel als Verpflichtung jetzt ausgesetzt war. Und den Preis dafür würde sie gern zahlen.

»Setz dich bitte auf das Bett und strecke die Beine aus.« Frauke stand auf und ließ Julia auf dem Bett Platz nehmen.

Julia streckte ihre Beine aus und sah fasziniert zu, wie Frauke ihre Beine langsam in die Seidenhülle einschloss.

»Jetzt bitte deine Hände.« Frauke blickte Julia etwas verunsichert an. »Diese Handschuhe sind sehr fummelig.«

»Jetzt schon?« Julia war ein wenig verwundert.


Es dauerte einige Zeit, bis jeder Finger seine vorgesehene Hülle gefunden hatte. Beide Mädchen waren konzentriert bei der Sache, und eine gewisse Spannung lag im Raum.

»Bist du bereit?« Fraukes Stimme war auf einmal sehr leise.

»Schließe mich ein.« Auch Julia war von der besonderen Situation sehr gefangen.

Schließlich konnte Frauke das Nachthemd bis zu Julias Schultern hochziehen und schloss dann mit der gleichen Anspannung den langen Frontreißverschluss.

»Ja, das ist wirklich etwas strenger.« Julia lächelte verlegen, doch dann begann sie umher zu hopsen. Zu ihrer beider Überraschung gelang ihr das sehr gut. »Es ist nur etwas schwieriger, weil ich mit den Armen nicht balancieren kann.« Schließlich hopste sie zu ihrem Bett und ließ sich darauf fallen.

Frauke war sichtlich fasziniert. »Mir scheint, man müsste dich wirklich auf dem Bett festbinden, wenn man Ruhe vor dir haben möchte.«

Julia wurde etwas rot. »Meine Brüder haben das auch oft gemacht. Manchmal konnte ich mich vom Bett befreien, dann bin ich ihnen hinterher gehopst, bis ich von Mutter bemerkt wurde. Doch sie hatte meistens so viel zu tun, dass sie nichts unternommen hat.« Julia seufzte. »Wenn ich Glück hatte, bekam ich ein 'Fall nicht hin' von ihr, ansonsten hat sie uns Kinder weitgehend ignoriert.«

Frauke setzte sich neben Julia ans Bett und streichelte sie zärtlich. »Weißt du, dass ich mir immer eine kleine Schwester gewünscht habe, so wie du bist?«

»Ich hätte auch gern eine Schwester gehabt.« Julia seufzte.

»Auf einem Bauernhof aufzuwachsen muss schön sein.« Frauke klang sehr wehmütig. »All die Tiere.«

»Ja, die Tiere sind schön.« Julia seufzte wieder. »Aber du musst auch bei der Ernte helfen.« Sie erzählte, dass sie sich beim Traktorfahren immer einen Hut aufgesetzt hatte, damit die Nachbarn sie für einen ihrer Brüder hielten.

»Du bist Traktor gefahren?« Frauke war erstaunt. »Du kannst Traktor fahren?«

»Ich saß schon mit Vier oder Fünf mit auf dem Bock und durfte zusehen.« Mit leiser Stimme erzählte Julia von ihrem Opa, den sie damals immer begleitet hatte. »Mit acht habe ich das erste mal das Feld bearbeiten dürfen.«

»Mit dem Traktor?« Fraukes Stimme zeigte, wie erstaunt sie darüber war.

»Natürlich durfte ich auf der Straße noch nicht fahren.« Julia lächelte. »Aber die Polizei hat da nie so genau hingesehen. Es war allgemein üblich, dass die Kinder auf dem Hof mithalfen. Spätestens mit der Firmung galt man im Dorf als volljährig, und es schwärzte einen keiner an, wenn man mit dem Traktor vom Feld auf den Hof fuhr.

»Ich bin fasziniert von dir.« Es klang so etwas wie Bewunderung in Fraukes Stimme.

Julia blickte Frauke lange an. »Wie bist du denn aufgewachsen?« Doch als sie sah, wie ein Schatten über ihr Gesicht fiel, bereute sie die Frage.

»Ich glaube, du musst jetzt schlafen.« Frauke war auf einmal sehr verschlossen. Sie wartete, bis Julia sich auf das Bett gelegt hatte, dann legte die Bettdecke über ihren Körper, strich ihr noch einmal die Haare aus dem Gesicht und wünschte ihr dann eine ruhige Nacht mit schönen Träumen.

Gleich darauf war sie aus dem Zimmer verschwunden. Sie hatte nicht einmal erneut aus dem Fenster geschaut, obwohl die Geräusche wieder eine Tram ankündigten.

Julia ärgerte sich ein wenig über Fraukes Reaktion auf ihre Frage, denn sie hatte nach soviel Offenheit ihrerseits ein entsprechendes Entgegenkommen von Frauke erwartet. Doch es schien, als habe sie den wunden Punkt der Dienerin erwischt, denn deren Miene war eindeutig gewesen. Und Julia ahnte, dass bestimmt etwas Trauriges oder zumindest etwas Unangenehmes zu Tage kommen würde, wenn sie weiter bohren würde.

Vielleicht würde Frauke später bereit sein, ein wenig aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. Denn Julia wollte schon wissen, wem sie sich in ihrer Hilflosigkeit anvertraut hatte.


Hier sind noch die Fotos, die Julia gezeigt bekommt.