Die Studentin

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Die Studentin – Familie Vogel

Autor: Karl Kollar

'Bitte decken sie heute den Frühstückstisch für vier Personen!' Das kleine Schild auf dem Tisch im Esszimmer fiel Frauke sofort ins Auge. Sie hatte sich wie jeden Sonntag den Wecker gestellt, denn Hegels waren eifrige Kirchgänger, und sie hatte die selbst gewählte Aufgabe, sich um das Frühstück zu kümmern.

Eigentlich mochte sie den Sonntag sehr gern, denn während der knapp zwei Stunden war sie ganz sicher allein im Haus. Hegels hatten den Gottesdienst noch nie versäumt, und die Köchin kam erst ins Haus, wenn das Ehepaar wieder von der Kirche zurück war.

Es sei denn, Hegels entschlossen sich zu einem Essen im Restaurant, was gelegentlich auch vor kam. Dann hatte sie sogar um die vier Stunden, die sie dann das Haus für sich allein hatte. Und sie genoss es. Diese Zeit nutzte sie oft, um das kleine Dachrondell zu besuchen. Sie brauchte zwar fast zwanzig Minuten, um sich an der Leiter hinauf zu ziehen, doch die Aussicht, die sich ihr bot, war es wirklich jedes Mal wert, die Mühsal auf sich zu nehmen. Ansonsten verbrachte sie die Zeit fast immer in Julias Zimmer und genoss von dort den Blick auf die Straßenbahnen.

Doch heute fragte sie sich, für wen das vierte Gedeck sein würde. Um diese Uhrzeit war Besuch gänzlich unüblich.

Wie immer kümmerte sie sich als erstes um den Kaffee. Während sie danach das Geschirr verteilte, dachte sie darüber nach, wie schön es gestern Abend am Bett von Julia gewesen war. Ihre Finger waren immer wieder über Julias wehrlosen Körper geglitten und hatten das ansonsten hilflose Mädchen von Höhepunkt zu Höhepunkt geführt. Es waren zwar nur drei Orgasmen gewesen, die sie Julia spendiert hatte, doch durch die Küsse zwischendurch war es ihr trotzdem als mehr vorgekommen.

»Guten Morgen, Frau Wiesl.« Herr Hegel kam zusammen mit seiner Frau in das Esszimmer. »Wir wollten sie gestern Abend nicht mehr wecken.«

Frauke erwiderte den Gruß. »Wie war die Hochzeit?«

»Die Hochzeit eines Oberengels ist immer etwas Besonderes.« Frau Hegel begann mit schwärmerischer Stimme zu erzählen. »Schon vor der Kirche ging es los.«

»Entschuldigt bitte, aber könnt ihr das später besprechen?« Herr Hegel intervenierte. »Jetzt sind doch erst einmal andere Sachen wichtig.«

»Ja, natürlich.« Frauke lächelte ein wenig verlegen, dann fragte sie nach den Prioritäten für den heutigen Tag. Spätestens seit dem letztem Abend wusste sie, dass sie auf ihre neue kleine Schwester aufpassen wollte. Es war ihr bewusst, welches Schicksal auf Julia wartete, und heute würde sie einen wichtigen Schritt in die Richtung dazu machen. Sie hatte sich vorgenommen, Julia bestmöglich darauf vorzubereiten.

»Sie werden uns in die Kirche begleiten.« Frau Hegel wusste von Fraukes Vorbehalten, doch diese wollte sie heute nicht gelten lassen.

»Aber...« Frauke zögerte deutlich sichtbar. »Aber ich...«

»Haben sie ein Problem damit?« Herr Hegel mischte sie ein.

»Es ist nur...« Es fiel Frauke schwer, weiter zu sprechen.

»Ja?« Es war nur ein Wort, aber der Ton, in dem Herr Hegel es ausgesprochen hatte, ließ in Frauke jeglichen Widerstand zusammenbrechen.

Trotzdem zögerte die Dienerin noch einen Moment. »Nein, es ist alles in Ordnung.« Sie holte tief Luft. »Ich werde es machen.«

»Danach werden wir noch zusammen Essen gehen.« Frau Hegel blickte Frauke bestimmt an. » Sie werden uns auch dorthin begleiten und mit uns essen.«

»Sehr wohl, Frau Hegel.« Fraukes Stimme zitterte, als sie antwortete, weil sie es hasste, wenn sie von all den Leuten angestarrt wurde. Doch dann wurde sie sich wieder ihrer Rolle und ihrer Aufgaben bewusst. »Sie wollen sicherlich wissen, wie es gestern mit Julia gelaufen ist.« Sie berichtete von dem sehr harmonischen Verlaufs des Samstags, lediglich die Zeit auf der Terrasse ließ sie aus. Und das Erkunden der Geheimgänge erwähnte sie ebenfalls nicht. »Wir haben die Liste komplett abgearbeitet.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu, dass Julia die Nacht geradezu begeistert im Lackbett verbracht hätte.

»Das ist sehr gut.« Frau Hegel machte einen sehr zufriedenen Eindruck. »Das wird uns für später sehr nützlich sein.«

»Jetzt sollten sie unseren Engel wecken.« Herr Hegel ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Ich warte solange.«


Auf dem Weg zu Julias Zimmer musste Frauke immer wieder an den vergangenen Abend denken, an dem sie das so unschuldige und hilflose Mädchen in den siebten Himmel führen und dort begleiten durfte. Ihr selbst war diese Art der Erlösung schon länger unmöglich gemacht worden, doch ihrer 'kleinen Schwester' wollte sie dieses Vergnügen auf jeden Fall gönnen.

»Gehen sie erst einmal allein hinein.« Frau Hegel blieb vor der Tür stehen. »Ich komme dann nach.«

Frauke verzichtete darauf, nach dem Warum zu fragen. Sie betrat den Raum und ging leise zu Julias Bett. Sie schien noch fest zu schlafen. Die Dienerin beugte sich zu ihr hinunter und streichelte ihr zärtlich durch das Gesicht. »Julia, aufstehen!«

»Wie spät ist es denn?« Julia hatte die Augen noch halb geschlossen.

Frauke nannte die Uhrzeit.

»So früh am Sonntag weckst du mich?« Die Studentin klang noch sehr verschlafen.

Frauke stand neben dem Bett und lächelte etwas verlegen.

So nach und nach wurde Julia wach. »Es gibt also einen Grund für das frühe Aufstehen?«

Frauke räusperte sich. »Hegels werden heute einen Gottesdienst besuchen, und sie wollen uns mitnehmen.«

»Ach ja, die Kirche.« Julia versuchte sich aufzurichten. »Warum sagst du das nicht gleich?« Doch dann bemerkte sie die Riemen, mit denen sie noch an das Bett fixiert war. »Machst du mich bitte los?«

»Aber gern.« Frauke wusste, dass Frau Hegel fast in Hörweite stand. »Ich frage mich, ob es wirklich nötig ist, dich so festzuschnallen. Du bewegst dich doch ohnehin kaum.«

»Mich stört es nicht.« Julia lächelte verlegen. »Wie lange bist du gestern noch bei mir geblieben?«

»Ich bin erst gegangen, als du schon fest geschlafen hast.« Frauke blickte unwillkürlich zum Fenster.

Julia folgte dem Blick und lächelte kurz, doch dann wurde sie ernster. »Warum bist du nicht geblieben? Es ist doch genug Platz.«

»Das darf ich nicht.« Frauke seufzte innerlich. Wie gern wäre sie schon jetzt diesem Wunsch nachgekommen. »Ich muss in meinem Zimmer schlafen.«

»Warum?« Julia wartete, bis die Riemen alle geöffnet waren, dann schwang sie sich aus dem Bett und blickte abwechselnd auf ihr Nachthemd und auf Frauke.

»Das würdest du jetzt nicht verstehen.« Frauke kniete sich vor Julia nieder und öffnete ihr das Nachthemd. »Ich werde es dir später einmal erklären.«

»Na dann...« Julia wartete, bis die Dienerin ihre Arme befreit hatte, dann sprang sie auf und rannte ins Bad.


Als sie wieder in ihr Zimmer kam, hörte sie als erstes eine andere Stimme.

»Ich wollte mich erkundigen, wie sie mit der Lack-Bettwäsche zurechtgekommen sind?« Frau Hegel stand neben Frauke am Fenster und blickte hinaus. Sie drehte sich erst um, als sie ihre Frage ausgesprochen hatte.

»Es war wundervoll.« Julia musste einen Moment überlegen. »Ich weiß gar nicht mehr, was real war und was ich geträumt habe.« Ihre Stimme zeigte, wie sehr sie von der Nacht beeindruckt war.

»Das ist schön zu hören.« Frau Hegel verließ ihren Platz am Fenster und ging zu Julias drittem Schrank. Sie öffnete ihn, griff hinein und holte die Uniform der Engel heraus. Dann ging sie zum Bett und reichte sie Julia.

Julia schluckte. »Was soll denn das?« Sie blickte auf die Bluse wie sprichwörtlich das Kaninchen auf die Schlange.

Frau Hegel gab sich verwundert. »Ich dachte, sie haben sich mit der Uniform vertraut gemacht?« Sie blickte vor allem Frauke an und runzelte die Stirn.

Julia erkannte ihren Fehler sofort. »Ja, das haben wir gemacht.« Sie wollte nicht, dass Frauke für etwas kritisiert wurde, an dem sie gar nicht schuld war. »Mir war nur nicht bewusst, dass es schon so schnell Ernst werden würde.«

»Sie haben Recht, Julia. Wir sind ein wenig unfair.« Sie setzte sich auf das Bett und bat Julia, näher zu treten. »Wir würden uns sehr freuen, wenn sie uns heute in die Kirche begleiten würden.«

»In der Uniform der Engel?« Julia sprach ihre Gedanken aus, auch in der Hoffnung, vielleicht noch etwas mehr Informationen über diese besondere Kleidung zu bekommen. »Mit diesen komischen Handschuhen?«

»Genau, mit den Kirchenhandschuhen«, korrigierte Frau Hegel.

»Ja, natürlich.« Julia zitterte am ganzen Körper. Schließlich rang sie sich zu einer Antwort durch. »Ich habe ein wenig Angst vor dem Unbekannten.« Irgendwie spürte sie, dass sie ihre Bedenken äußern durfte.

»Das verstehe ich sehr gut.« Frau Hegel streichelte ihr zärtlich über den Kopf. »Frauke wird die ganze Zeit an ihrer Seite sein.« Sie drehte sich kurz zum Fenster, wo die Dienerin immer noch stand und nach draußen blickte. »Nicht wahr, Frau Wiesl?«

Frauke musste schlucken, bevor sie eine Antwort geben konnte. »Ja, natürlich, Frau Hegel.« Es fiel ihr schwer zu antworten, denn sie wusste, was es in der Folge für sie bedeuten sollte. Sie würde sich in der Kirche nicht in eine der letzten Reihen setzen können, wie sie es sonst bei ähnlichen Gelegenheiten tat. Stattdessen würde sie in der Nähe von Hegels sitzen müssen, in der dritten oder vierten Reise, wo sie jeder sehen konnte. Doch warum sollte Julia sich jetzt schon umziehen? Frauke fand es insgeheim nicht gut, dass ihre 'Schwester' schon so früh am Morgen gequält wurde. Sie beschloss, einzugreifen. »Warum soll Julia denn jetzt schon die Uniform tragen? Sie wollen doch schließlich noch frühstücken?«

»Ach, gut dass sie mich daran erinnern.« Frau Hegel lächelte verlegen. »Ich habe es ihnen beiden noch nicht gesagt. Wir werden gleich nach dem Gottesdienst ins Goldene Lamm fahren und dort zu Mittag essen.«

Frauke und Julia blickten sich an. Keine von ihnen beiden sagte etwas.

»Frauke, es ist wichtig, dass sie Julia vorher schon einmal beim Essen beobachten können, auch um festzustellen, wo sie noch Schwierigkeiten mit der Uniform hat« Sie blickte die Dienerin eindringlich an. » Sie werden ihr dann bitte unauffällig helfen.«

Julia und Frauke blickten sich erneut an. Beide waren überrumpelt von dieser Nachricht.

»Aber ich bin in der Bluse gefangen«, keuchte Julia. »Ich kann nur die Unterarme bewegen.«

»Das wissen wir.« Frau Hegel strich sich durch die Haare. »Genau deswegen machen wir jetzt beim Frühstück auch die Probe, ob sie es schaffen, mit der Bluse würdevoll zu essen. Schließlich möchten wir uns im Goldenen Lamm nicht blamieren.«

So langsam begannen Julia und Frauke die ganze Tragweite der Mitteilung zu erkennen.

»Sie haben sich ja gestern mit der Bluse und dem Rock vertraut machen können.« Frau Hegel erinnerte daran, dass sie diesen Punkt auf der Liste als erledigt abgehakt hatten. »Ich würde mich sehr freuen, wenn sie auch diesen Platz von Carolin einnehmen könnten.«

Ohne dass sie es steuern konnte, begann Julia zu stöhnen. »Ich hatte mir das doch etwas anders vorgestellt.«

»Natürlich haben wir vollstes Verständnis, wenn sie nein sagen.« Die Vermieterin holte tief Luft. »Aber ich denke, sie wollen mich und vor allem meinen Mann nicht enttäuschen. Wir würden dann sicherheitshalber noch etwas zum Umziehen mitnehmen, denn in der Kirche werden sie die Uniform sicher trotzdem tragen können, oder?«

Julia begriff, dass sie die Flucht nach vorn ergreifen musste. Sie blickte noch einmal kurz zu Frauke, dann drehte sie sich wieder zu ihrer Vermieterin und räusperte sich. »Frau Hegel, ich werde versuchen, Carolins Weg vollständig zu gehen.«

»Das freut mich sehr.« Frau Hegel erkannte, dass sie und ihr Mann auf ganzer Linie gewonnen hatten. Sie beschloss, gleich nachzufassen. »Wie sind sie gestern mit dem Korsett zurecht gekommen?«

»Ganz gut.« Julia wusste nichts Besseres zu sagen. Schließlich hatte sie überhaupt keine vergleichbaren Erfahrungen. Sie senkte ein wenig den Kopf.

»Zwei Zentimeter haben noch gefehlt«, ergänzte Frauke. »Und ich glaube, es hat dir gar keine Probleme bereitet.«

»Das ist ein sehr guter Wert.« Frau Hegel war sichtlich zufrieden. »Und die zwei Zentimeter schaffen sie bestimmt auch noch.«

Julia hob etwas zweifelnd den Kopf.

»Sie können das Korsett ja auch tragen, wenn sie in der Uni sind.« Frau Hegel lächelte. »Was sie darunter tragen, sieht ja keiner.«

»Ja, das stimmt.« Julias Augen begannen zu leuchten. Sie wandte sich an Frauke. »Du wirst mich einschnüren. Jeden Tag einen halben Zentimeter mehr.« Sie strahlte über das ganze Gesicht.

Doch dann glitt kurz ein Schatten über ihr Gesicht, denn sie fragte sich, warum es wohl wichtig war, dass sie das Korsett ganz schließen konnte. Für die Bluse war es nicht notwendig. Aber sie hütete sich, danach zu fragen, denn es war ihr klar, dass sie von der Zukunft im Moment noch nicht so viel wissen wollte. Jetzt galt es erst einmal, Hegels im Gottesdienst und beim nachfolgenden Essen keine Schande zu machen. Denn soviel hatte sie schon begriffen - die Uniform, die sie trug, war nur für Eingeweihte als eine solche zu erkennen.


Gleich nach dem Frauke ihr die Bluse geschlossen hatte, sah Julia, dass Frau Hegel einen Schlüssel in der Hand hatte, und sie erkannte ihn als den Schlüssel, der mit 'Bluse' beschriftet war. Mit einer Gänsehaut sah sie, dass Frau Hegel ihr den Reißverschluss der Bluse verschloss und sie damit quasi endgültig in der Kleidung einsperrte. Danach hängte sie den Schlüssel wieder in den Kleiderschrank und wandte sich an Frauke. »Sie holen ihn nach dem Frühstück, falls wir ihn brauchen.«

Julia schluckte, als sie die ganze Tragweite des Geschehens erkannte. Sie war in der Bluse gefangen und nicht mehr in der Lage, sie selbst auszuziehen. Selbst wenn die Ärmel es ihr erlauben würden, an den Reißverschluss hinzureichen, wäre sie doch nicht in der Lage ihn zu öffnen, weil er soeben verschlossen wurde.

Dass ihr Rock gleich darauf ebenso verschlossen wurde, nahm sie schon fast nicht mehr wahr. Irgendwie schien es einfach dazu zugehören. Immerhin erlaubte der Rock der Engel ihr wesentlich mehr Beinfreiheit, als sie in Carolins sonstigen Röcken hatte.

»Nun, dann können wir ja zum Frühstück gehen.« Auch die Stimme von Frau Hegel klang jetzt etwas angespannt.

Julia schluckte erneut. Die Pflichten begannen also sofort. Sie hatte eigentlich auf einen ganz entspannten Sonntag gehofft, doch jetzt lief es offensichtlich ganz anders.

* * *

Patricia Vogel betrat traurig ihr Zimmer. Ihr Blick fiel sofort auf die Uniform der Engel, die schon bereit zum Anziehen an ihrem Kleiderschrank hing. Gerade hatte sie sich von ihrem Freund Peter Behrens verabschiedet, sie waren eben im Streit auseinander gegangen.

Peter hatte schon wiederholt von ihr verlangt, dass sie mit diesen albernen Ritualen aufhören und sich stattdessen ihm ganz hingeben solle. Doch sie wehrte sich dagegen, traute sich jedoch nicht, ihm die ganze Wahrheit zu sagen.

»Na, ist er weg?« Ihre Mutter Martha Vogel betrat ihr Zimmer. »Ich habe Heinrich so lange abgelenkt.«

»Ja, er ist gegangen.« Patricia seufzte tief.

»Ihr habt immer noch nicht darüber gesprochen?« Martha sprach ihre Vermutung aus. »Wann wirst du es ihm endlich sagen?«

»Was meinst du?« Patricia blickte auf. »Soll ich Vater von Peter berichten oder Peter von den Engeln?«

»Du hast es ihm auch noch nicht gesagt?« Martha war erstaunt. »Weiß er, dass du den Keuschheitsgürtel tragen musst?«

»Das weiß er.« Sie seufzte erneut. »Aber da ich im Moment noch über den Schlüssel verfüge, nimmt er es mit Humor.« Sie holte tief Luft. »Zwei Mal hat er mich auch schon mit der Fernbedienung verwöhnt.« Sie wurde ein wenig rot dabei. »Ich habe mich danach bei ihm revanchiert.«

»Das will ich gar nicht wissen.« Die Mutter lächelte. »Und in zwei Wochen? Was wird dann sein?«

»Ich weiß es nicht. Es ist alles so aussichtslos.« Patricia begann zu weinen. »Vater wird ihn nie akzeptieren. Und ich will ein Engel werden, aber das wird er auch nicht akzeptieren.«

Die Mutter seufzte jetzt auch. »Ich habe Heinrich schon mehrmals darauf angesprochen, aber er will mit der Familie Behrens überhaupt nichts zu tun haben.« Sie holte tief Luft, denn sie wusste, dass sie etwas Wichtiges fragen musste. »Wird er dich noch lieben, wenn sie dich verschlossen haben?«

»Das hoffe ich doch.« Die Tochter blickte auf. »Es würde mir sonst das Herz brechen.«

»Übrigens, Elisabeth hat heute angerufen.« Sie berichtete von dem Anruf von Frau Hegel. »Sie bringen ihren Engel mit, und ich soll dich darauf vorbereiten.«

»Was?« Patricia war verwundert. »Ich dachte, sie haben keine Tochter.«

»Es ist auch nicht ihre Tochter.« Die Mutter holte tief Luft. »Es muss keine Tochter sein, so steht es in der Satzung. Sie muss nur bereit sein, sich dem Bund auszuliefern.« Sie streichelte die Hand ihrer Tochter. »So wie du es bist.«

»Das war ich, bevor ich ihn kennen lernte.« Sie seufzte. »Jetzt ist es anders.«

»Was meint er dazu?« Martha streichelte ihrer Tochter über den Kopf. »Du wärst ja bei weitem nicht der einzige Engel, der schon vergeben wäre.«

»Ich weiß. Aber er hält gar nichts davon.« Sie seufzte wieder. »Hoffentlich ist es nicht so eine Schnepfe wie diese Tara. Die hält sich echt für den geborenen Oberengel.«

Die Mutter verdrehte ebenfalls die Augen. Tara Wintrop war ebenfalls eine Anwärterin auf die Engel und war schon mehrfach durch seltsame Aktionen aufgefallen. »Ich kenne Hegels Engel zwar noch nicht, aber ich weiß, dass es eine seiner Studentinnen ist.«

»Aber verwandt ist sie mit Hegels nicht?« Patricia wischte sich die Augen aus.

»Soweit ich weiß, nicht.« Sie reichte ihrer Tochter ein Taschentuch. »Aber das muss sie ja auch nicht sein für einen Engel.«

»Ich weiß, das sagtest du schon.« Sie nahm das Taschentuch dankbar entgegen.

»Du hast ihm schon alles von deiner Unterwäsche gezeigt?« Die Mutter strich ihr über die Wange.

»Ja, aber ich habe ihm noch nicht gesagt, dass ich den Schlüssel abgeben muss.« Wieder kam ein großer Seufzer von Patricia. »Er wird mich verlassen, ganz sicher.«

»Was macht dein Haltungstraining?« Die Mutter versuchte eine Ablenkung.

»Mach dir keine Sorgen.« Die Tochter hob ihren Kopf. »Sobald ich das Korsett spüre, rasten meine Muskeln quasi ein. Ich muss dann einfach richtig dastehen.« Sie lächelte ihre Mutter an. »Ohne High Heels wäre es allerdings wesentlich schwerer.«

»Ich weiß, mein Schatz, ich weiß.« Die Mutter seufzte. »Aber es zeichnet einen guten Engel aus.«

»Warum musste ich auch ausgerechnet ihm über den Weg laufen?« Sie begann wieder zu weinen. »Es ist so ungerecht.« Sie stampfte mit dem Fuß auf.

Es klopfte an der Tür, und gleich darauf trat Herr Vogel ein. Dass seine Tochter gerade weinte, schien ihn nicht zu interessieren. »Noch zwei Wochen, und dann wird mein Traum war. Meine Tochter wird ein Engel.«

Patricia blickte auf. »Ich beginne die Ausbildung.« Sie klang empört. »Ob ich ein Engel werde, steht bei weitem noch nicht fest.«

»Aber aber, mein Schatz, du wirst mich doch nicht enttäuschen.« Er holte tief Luft. »Herr Behrens würde bestimmt vor Neid zerplatzen, wenn er wüsste, was wir schaffen werden.«

»Ja, bestimmt.« Wieder floss eine Träne über Patricias Wange.

Mit dem Vater von Patricias Freund verband ihn schon seit Jahren eine gut gepflegte Feindschaft. Eigentlich würde einer Verbindung der beiden Familien durch eine Heirat nichts im Wege stehen, doch die beiden väterlichen Sturköpfe konnten sich nicht dazu durchringen, ihren Kindern jeweils den Segen zu geben. Irgendwie schienen sie es beide als persönliche Niederlage zu betrachten. Deswegen hatten sie ihren Kindern jeden Kontakt zueinander verboten. »Sein Sohn wird nachher vermutlich auch in der Kirche sein. Wehe, du setzt dich auch nur in die Nähe von ihm.«

Frau Vogel informierte ihren Mann über Julia und dass eine Nähe von ihr und Patricia mehr als gewünscht wäre. »Immerhin werden die beiden eines der Paare bilden. Und nur, wenn sie gut zusammenhalten, haben sie überhaupt eine Chance.«

»Na, dann muss ich mir ja keine Sorgen machen.« Er streichelte seiner Tochter über den Kopf. »Und du wirst sicher alles geben, da bin ich mir ganz sicher.«

Patricia hatte so viel auf den Lippen liegen, doch sie brachte es einfach nicht über das Herz, ihre Worte auszusprechen. Sie wusste, dass sie damit ihrem Vater das Herz breche würde, denn das hätte ihre Botschaft bewirkt. Sie schluckte alle ihre Worte ungesagt hinunter und nickte nur.

* * *

Julia und Frauke waren auf dem Weg ins Esszimmer. Vorher hatten sie sich noch die Umhänge angeschaut, die zur Uniform gehörten. Es galt, für Julia die passende Größe zu finden. Die Studentin hatte es sich nicht nehmen lassen, sich mit dem Umhang im Spiegel zu betrachten. Ihr Anblick erinnerte sie an Sherlock Holmes, so wie er immer dargestellt wurde. Auf einmal hörten sie Frau Hegel fluchen.

»Was ist denn passiert?« Frauke klang recht besorgt, als sie das Esszimmer betrat. Sie hoffte, beim Tischdecken keinen groben Fehler gemacht zu haben.

»Ach, eigentlich nur eine Kleinigkeit.« Frau Hegel blickte verlegen auf den großen Fleck mitten auf der Tischfläche. »Ich habe das Milchkännchen umgeworfen.« Es war ihrer Stimme anzuhören, dass sie ihr Missgeschick bedauerte.

»Oh je.« Frauke wusste nicht so recht, was sie antworten sollte.

»Helfen sie mir schnell, eine neue Tischdecke aufzulegen?« Frau Hegel war zur Kommode gegangen und hatte schon eine neue Decke herausgenommen.

»Aber gern.« Frauke begann, das Geschirr zusammenzustellen.

»Julia, könnten sie schon einmal den Kaffee aus der Küche holen? Ich habe schon alles bereit gestellt, sie müssen ihn nur noch umschütten.« Frau Hegel schlug die Decke auseinander. »Frauke wird mir hier helfen.«

»Aber gern.« Julia wollte ihrer Vermieterin helfen, das Missgeschick zu vertuschen. Dass alles nur inszeniert war, um sie abzulenken, erkannte sie nicht. Dafür war sie viel zu aufgeregt.


Erst als sie in der Küche war, fiel Julia auf, dass sie ja eigentlich die Bluse mit den festgenähten Ärmeln trug. Doch sie wollte sich nicht die Blöße geben, deswegen den Auftrag abzulehnen. Sie blickte sich um und sah die Glaskanne in der Kaffeemaschine stehen. Daneben stand die schmucke Kaffeekanne aus weißem geblümtem Porzellan.

Julia schaute sich kurz die Porzellankanne an und erkannte, dass diese mit heißem Wasser gefüllt war - sicherlich um sie damit auf Temperatur zu bringen. Sie musste also das heiße Wasser ausgießen und dann den Kaffee aus der Glaskanne umfüllen. Das wäre nicht der Rede wert gewesen, wenn sie nicht diese besondere Bluse würde, die ihr einen Großteil ihres Bewegungsfreiraum weg nahm. Andererseits war ihr auch versichert worden, dass die Bluse aus einem sehr robusten Stoff gemacht war und auf keinen Fall reißen würde, selbst wenn sie sie heftig belasten würde.

Julia entschied sich dazu, einmal eine Trockenübung zu machen. Es kam ihr zwar etwas lächerlich vor, doch sie wollte vermeiden, dass sie erst beim Umfüllen feststellte, dass sie die Kanne gar nicht halten konnte und sich der frisch gebrühte und lecker duftende Kaffee auf dem Fußboden wiederfand. Außerdem hoffte sie, gleichzeitig ein sehr gutes Gefühl dafür zu bekommen, wie viel Freiraum ihr die Bluse bei ihren Bewegungen noch lassen würde.

Und zu ihrer eigenen Überraschung kam sie damit sehr gut zurecht. Nur manchmal brauchte es eine Handbewegung mehr.


Fast stolz trug sie die Kanne ins Esszimmer, wo Frauke und Frau Hegel dabei waren, den Tisch wieder zu decken.

Erst jetzt realisierte sie, dass der Tisch für vier Personen gedeckt war. Sie blickte Frauke kurz an, doch die Dienerin war zu abgelenkt, um den Blick zu bemerken.

Es störte sie überhaupt nicht, dass sie von Hegels mehr und mehr als Tochter behandelt wurde. Im Gegenteil, sie empfand eine Geborgenheit, die sie sonst nur aus ihrer frühen Kindheit kannte.


Herr Hegel kam ins Esszimmer und ließ seinen Blick über den Tisch gleiten, erst dann setzte er sich auf seinen Platz. »Ich freue mich sehr, dass sie sich zu diesem kleinen Test entschlossen haben.«

Julia zuckte nur mit den Achseln und lächelte ihren Professor bescheiden an. Sie verzichtete darauf zu erwähnen, dass sie gefühlt keine Wahl hatte.

»Trauen sie sich ruhig, die Ärmel zu belasten.« Herr Hegel lächelte ihr aufmunternd zu. »Der Stoff wird nicht reißen oder Ähnliches. Sie können sich in der Bluse ganz sicher fühlen.«

Julia lächelte verlegen. Eine Antwort darauf wusste sie nicht, dafür war sie viel zu sehr von der Situation gefangen.

»Im Restaurant werden sie es bestimmt noch etwas einfacher haben, aber Brötchen mit Messer und Gabel zu essen, ist einfach unsinnig.« Frau Hegels Miene zeigte, dass sie ebenfalls sehr stolz zu sein schien.

Julia wurde mit jeder einzelnen Bewegung sicherer. Sie bestrich sich ihr Brötchen wie immer, und sie hatte auch nur wenig Schwierigkeiten, davon wie sonst auch abzubeißen. Schließlich verkündete sie mit stolzer Stimme, dass Hegels nichts zum Umziehen mitnehmen müssten.

»Packen sie trotzdem etwas ein.« Herr Hegel hatte sich an Frauke gewandt. »Man weiß ja nie.«

Julia wollte den Mund aufmachen, um zu widersprechen, doch Fraukes warnender Blick bewirkte, dass sie ihre Antwort ungesagt hinunterschluckte. Sie ärgerte sich ein wenig über das mangelnde Vertrauen ihres Professors, doch sie beschloss es sportlich zu nehmen. Sie würde ihnen keinen Anlass bieten, sich umziehen zu müssen, und ihr Ehrgeiz war gleich doppelt angestachelt. Dadurch, dass sie von dem bequemen Ausstieg für sie wusste, war sie mehr als bemüht, ihn auf keinen Fall in Anspruch zu nehmen.

Außerdem machte es ihr insgeheim Spaß, auf diese Weise im Mittelpunkt zu stehen. Und sie war sehr gespannt auf die andere Uniformträgerin, die Frauke ihr gestern angekündigt hatte.

»Eigentlich ist es schade, dass sie heute die Uniform tragen.« Herr Hegel lächelte seltsam hintergründig. »Ich hätte sie auch gern in Carolins Lieblingskleidung für das Wochenende gesehen.« Er seufzte. »Aber da der Tag gestern ausgefallen ist, müssen wir das verschieben.«

»Ich denke, wir müssen uns da keine Sorgen machen«, ergänzte seine Frau. »Ich bin mir sicher, dass es ihnen gefallen wird.«

Julia realisierte erst nach einem Moment, dass er die Lackkleidung meinte. Sie blickte kurz etwas unsicher zu Frauke. »Ich habe gestern bis auf die Uniform nur Lack getragen.« Dies brachte ihr immerhin einen anerkennenden Blick von Herrn Hegel ein.

»Falls ihnen das Extra-Umziehen keine Mühe macht, können sie ja morgen so gekleidet zum Frühstück kommen.« Er lächelte Julia an.

»Lust hätte ich schon.« Julia lächelte verlegen.

»Es gäbe noch etwas, was wir endlich besprechen sollten.« Herr Hegel richtete sich auf. »Wenn sie das strenge Nachthemd tragen, können sie die Alarmklingel ja gar nicht bedienen.«

Julia lächelte verlegen. »Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.«

»Wir hatten Angst, dass sie eventuell aus dem Bett herausfallen würden.« Er hoffte insgeheim, dass Julia die Dünne des Eises nicht bemerken würde. »Ich denke, wir müssen sie nicht festschnallen, denn sie scheinen einen sehr ruhigen Schlaf zu haben.«

Julia erkannte, dass ihr wieder ein großes Stück Vertrauen mehr entgegengebracht wurde. »Für Notfälle kann ich ja aus dem Zimmer hopsen.«

»Würden sie sich das wirklich zutrauen?« Frau Hegel schien in diesem Moment ernsthaft besorgt. »Wir möchten nicht, dass sie sich verletzen.«

»Ich kann es ja etwas üben.« Julia lächelte etwas unsicher.

»Nehmen sie sich bitte nicht zu viel vor.« Herrn Hegels Stimme klang ernst.

»Versprochen.« Julia lächelte ihren Vermieter an, dann blickte zu Frauke. Sie fragte sich, ob sie sich schon traute, danach zu fragen. Doch dann verwarf sie ihren Gedanken und verzichtete darauf, zu fragen, ob Frauke in ihrem Zimmer schlafen könne.

Immerhin hatte sie gerade erst ihre Gefühle für Frauke entdeckt, und sie war sich nicht sicher, ob es Gefühle zwischen zwei Schwestern oder zwei Liebenden waren - so erotisch, wie sie sie letzte Nacht in den Schlaf gestreichelt hatte. Sie war geradezu verliebt, ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr gekannt hatte. Und es war noch zu neu, als dass sie sich schon wirklich darauf verlassen wollte.

»Sind sie auch bereit, die Kirchenhandschuhe zu tragen?« Herr Hegel hatte es in einem Tonfall formuliert, der Julia aufhorchen ließ. »Immerhin hat Carolin in der Kirche sie immer getragen.«

»Nun dränge Julia doch nicht so.« Frau Hegel unterbrach ihren Mann. »Sie wird das machen, zu dem sie bereit ist.«

Julia war erleichtert, an dieser Stelle von Seiten ihrer Vermieterin Schützenhilfe zu bekommen. Sie war sich wirklich noch nicht sicher, ob sie den Mut aufbringen würde, den diese Handschuhe erforderten. »Bis wann muss ich mich entscheiden?«

»Wir werden sie fragen, wenn wir bei der Kirche angekommen sind.« Frau Hegel streichelte ihr über das Haar. »Im Auto sollten sie sie besser nicht tragen. Es reicht, dass sie die Bluse tragen. Im Falle eines Unfalls sollten sie noch in der Lage sein, selbst die Tür zu öffnen.«

»Okay, einverstanden.« Julia lächelte verlegen.

»Frauke, fragen sie Julia bitte beim Aussteigen, wie sie sich entschieden hat.« Natürlich wusste sie, dass Julia die falschen Schuhe tragen würde, doch dies wollte sie ihr jetzt noch nicht sagen. Wenn sie den Tadel von fremden Leuten bekommen würde, würde er viel stärker wirken. Im besten Fall würde Julia dann von selbst damit anfangen, und ihr Ehrgeiz würde dadurch noch mehr angestachelt.

* * *

»Ihr wollt euch bestimmt noch umziehen.« Der Vater von Patricia erhob sich und ging zur Tür. »Ich werde im Salon auf euch warten.«

Frau Vogel stellte ihre Tasse weg und wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, dann wandte sie sich an ihre Tochter. »Patricia, Hegels haben noch einmal angerufen.«

»Es geht um ihr Opfer?« Patricia blickte kurz ihrem Vater hinterher.

»Bitte lass den Spott.« Martha holte tief Luft. »Sie wird deine Partnerin werden, das haben die Oberen so festgelegt. Also sei froh, dass du sie schon vorher kennenlernen darfst.«

Patricia seufzte. »Das wird ihm aber nicht gefallen.«

»Das mag sein, aber da müssen wir jetzt durch.« Sie griff zu einem Blatt Papier, welches neben ihr lag. »Hegels bitten dich, dich ganz speziell zu verhalten, damit du das richtige Vorbild für ihren Engel bist.« Sie reichte ihrer Tochter den Zettel. »Hier, das solltest du berücksichtigen, wenn du damit einverstanden bist.«

Patricia warf einen Blick auf die Liste. »Eigentlich ist ja alles ganz harmlos.«

»Sie würden es dir auch bezahlen, wenn du Wert darauf legst.« Die Mutter gab wieder, was Hegels ihr gesagt hatten.

»Sie sollen ihr Geld behalten.« Patricia grinste. »Ich soll also die ganz brave und verschwiegene Tochter geben?«

»Wäre das so schwer?« Frau Vogel glaubte, bei ihrer Tochter einen gewissen Unterton gehört zu haben.

»Alles, was mich von ihm trennt, ist schwer.« Sie seufzte, dann legte sie die Liste wieder auf den Tisch. »Aber wenn ich sie als Teampartnerin bekomme, wäre es dann nicht besser, wenn ich sie gar nicht erst anlüge?«

»Ja, das ist langfristig sicher besser.« Die Mutter lehnte sich zurück. »Aber musst du denn überhaupt lügen?«

»Naja, es geht um unsere gemeinsame Zukunft.« Patricia seufzte erneut. »Wir werden sehr eng zusammenarbeiten müssen.«

»Hegels bitten dich ja nur darum, bei den Engeln noch nicht ins Detail zu gehen.« Sie warf noch einmal einen Blick auf die Liste. »Im Zweifel weißt du es einfach noch nicht.«

»Och man, nicht noch eine Baustelle.« Das Mädchen stöhnte laut. »Vater muss ich einen braven Engel vorspielen und meinem Freund das freie junge Mädchen. Und was soll ich ihr vorspielen?«

»Wie wäre es mit der Wahrheit?« Frau Vogel blickte ihre Tochter liebevoll an. »Du freust dich doch auch schon darauf, ein Engel zu werden.«

»Du hast ja recht.« Trotzdem seufzte sie.

»Und wenn du jetzt Hegels Bitte beachtest und bei den Details noch etwas schwammig bleibst, dann ist doch alles in Ordnung.« Sie hoffte, überzeugend genug zu sein.

»Meinst du wirklich?« Es war Patricia anzuhören, dass ihr die erste Begegnung mit ihrer zukünftigen Teampartnerin nicht gleichgültig war.

»Außerdem wirst du Julia sehr beeindrucken, wenn sie dich mit Schleier und Perle erleben kann.« Die Mutter lächelte.

»Ja, darauf freue ich mich schon.« Patricia lächelte ebenfalls. Doch dann glitt ein Schatten über ihr Gesicht.

Ja, sie hatte sich bereit erklärt, in den Gottesdiensten die ganze Zeit die Perle zu tragen, und sie hatte dafür auch schon lange geübt. Ihre Kiefermuskeln waren die Haltung mittlerweile gewöhnt, und eine Stunde mit der Perle im Mund machten ihr nichts mehr aus. Etwas belustigt dachte sie an die Anfänge, als sie nicht einmal zehn Minuten ausgehalten hatte.

Aber war es wirklich richtig, ihrer zukünftigen Teampartnerin so eine Komödie vorzuspielen?

* * *

»Dieser Mantel und der Hut gehören ebenfalls noch zu der Uniform.« Frau Hegel stand im Flur neben Julia und hielt ihr die Sachen hin. »Das hatten sie ja schon ausgesucht.«

Julia nahm sich beide Kleidungsstücke in die Hand, doch dann stutzte sie. »Das geht doch gar nicht.« Sie blickte Frau Hegel verwundert an. »Ich trage doch die Bluse.« Sie verzichtete darauf zu erwähnen, dass sie ihre Arme kaum noch bewegen konnte.

Trotzdem nahm sie sich kurz die Zeit, um sich beides etwas genauer anzusehen. Der Mantel sah ganz normal aus, dachte sie sich, doch dann stutzte sie. Der Mantel, den sie eigentlich zur Miete tragen sollte, hatte auch 'ganz normal' ausgesehen.

Doch dann fiel ihr ein, dass sie die Besonderheit dieses Mantels auch schon kennengelernt hatte. Er war so gearbeitet, dass die festgenähten Ärmel der Bluse wirklich nicht störten, weil die eigentlichen Ärmel des Mantels erst dem Ellenbogen begann. Sie war fasziniert. Diesen Mantel musste sich jemand ausgedacht haben, der sich mit der Bluse auskannte.

Der Hut hingegen hatte eindeutig etwas Altmodisches, insbesondere weil er mit einem Schleier oder etwas Ähnlichem verziert war.

»Frauke wird ihnen sicher helfen.« Frau Hegel lächelte, dann drehte sie sich zu der Dienerin um und blickte sie auffordernd an.

»Geht das überhaupt mit der Bluse?« Julia hatte einen normalen Mantel im Kopf, und bei dem würden die festgenähten Ärmel stören. Sie äußerte dies.

»Das ist ein Spezialmantel.« Frauke nahm Julia beides aus der Hand. »Aber zuerst solltest du dir den Hut aufsetzen.« Sie setzte Julia den Hut auf und befestigte anschließend das Hutband unter ihrem Kinn.

»Mit Hutband?« Julia war verwundert. »Wie altmodisch.« Kaum dass sie es ausgesprochen hatte, bereute sie ihre Worte. Doch zu ihrer Erleichterung nahm davon keiner Notiz.

»Der Hut muss gut sitzen, denn sie werden den Sitz in der Kirche nicht mehr verändern können.« Die Stimme von Herrn Hegel klang wichtig.

Julia zuckte zusammen, als sie die Stimme ihres Professors hörte. Sie murmelte ein 'Entschuldigung'.

»Und das Band bewirkt, dass er auch bei Wind nicht davon fliegt«, ergänzte Frau Hegel.

»Bitte machen sie sich auch mit dem Mantel vertraut, damit wir uns der Kirche nicht blamieren.« Herr Hegel blickte seine Studentin ernst an.

Julia war von der plötzlichen Strenge der Situation überrumpelt. »Was ist das Besondere an dem Mantel?« Sie lächelte Frauke verschüchtert an. Sie hatte zwar schon eine Ahnung, doch dies verdrängte sie.

»Die Ärmel beginnen erst am Unterarm«, erklärte Frau Hegel. »Und damit es nicht auffällt, hat er diese doppelten Umhänge über der Schulter wie bei Sherlock Holmes oder den Damen-Zauber-Mänteln aus Harry Potter.«

Julia lächelte. »Raffiniert.« Sie drehte sich zu Frauke und blickte sie erwartungsvoll an.

Frauke lächelte ein wenig verlegen, während sie Julia in den Mantel half. »Zuknöpfen auch?« fragte sie, während sie noch dabei war, ihre Gefühle zu sortieren. Einerseits freute es sie, dass sie Julia auf diesem Weg begleiten durfte, und genauso war sie sehr froh darüber, wieder einmal das Haus verlassen zu dürfen.

Doch das Ziel der Fahrt bereitete ihr Sorgen. Zum einen kannte sie die Grünwalder, und wann immer sie in der Vergangenheit in der Kirche gewesen war, hatten die Leute sie gemieden. Keiner wollte neben ihr sitzen, auch wenn die Kirche auch noch so voll war. Sie hatte es immer als besonders demütigend empfunden, auch wenn sie den wahren Grund für das Verhalten natürlich kannte. Und deswegen konnte sie es ihnen auch nicht übel nehmen.

Und dann sollte Julia heute den anderen Engel kennenlernen, und Frauke wusste, wie eng die Bindung zwischen diesen beiden Frauen sein würde, wenn die Pflichten der Engel einmal begonnen hatten. Vor allem letzteres bereitete ihre große Sorgen, denn sie fürchtete, dass dieses Mädchen die zarte Bande, die sie zu ihrer 'Schwester' geknüpft hatte, gleich wieder zerreißen würde.

»Dann können wir gehen?« Die Stimme von Herrn Hegel riss Frauke aus ihren Gedanken.

»Einen Moment noch.« Frau Hegel griff noch einmal zur Garderobe und reichte Frauke eine Strickjacke. »Nehmen sie sich die Schürze ab und ziehen sie sich bitte dies über.«

»Danke, Frau Hegel.« Frauke war über die Jacke sehr erleichtert, denn sie versteckte einen Großteil ihres so demütigenden Dienstbotenkleides. Und auch wenn viele aus der Kirchengemeinde ihren Status kannten, war sie doch um jeden Blick dankbar, der ihr erspart blieb.

Es kam nicht oft vor, dass Hegels sie mit in die Kirche nahmen, und wenn, dann setzte sie sich gern in die allerletzte Reihe und hielt den Kopf die ganze Zeit gesenkt. Dort hatte sie ihre Ruhe, und nur wenige Leute drehten sich nach hinten zu ihr um. Doch heute würde es anders sein, das hatte sie im Gefühl.


Die Fahrt zur Kirche dauerte nicht lange, und gleich nachdem Herr Hegel auf dem kleinen Parkplatz vor dem Gotteshaus den Motor abgestellt hatte, drehte er sich zu Frauke und Julia um. »Es wäre jetzt Zeit für die Kirchenhandschuhe. Aber schnallen sie sich erst ab.«

Frau Hegel ergänzte. »Wäre es nicht besser, wenn sie erst aussteigen?« Sie klang etwas nervös, denn es war schon etwas her, seit sie dies das letzte Mal gemacht hatten.

Frauke und Julia blickten sich kurz an.

»Dann los.« Julia war insgeheim sehr gespannt darauf, ihren verbliebenen Bewegungsspielraum zu erkunden. Und da ihr mehrmals versichert wurde, dass der Stoff der Bluse nicht reißen würde, war sie inzwischen auch mutig genug, ihn für etwas mehr Freiraum zu belasten. Sie löste den Sicherheitsgurt, dann öffnete sie die Tür und stieg aus.

Frauke wartete schon auf sie und reichte ihr einen kleinen Spiegel. »Möchtest du noch einmal dein Äußeres kontrollieren?«

Verwirrt nahm Julia den Spiegel entgegen. »Warum denn das?«

»Wenn du erst die Handschuhe trägst...« Frauke setzte den Satz nicht fort.

Julia legte sonst eigentlich wenig Wert auf ihr Erscheinungsbild, doch hier erkannte sie sofort, dass es für ihre Gasteltern anscheinend sehr wichtig war. Sie hielt sich den Spiegel vor das Gesicht und blickte scheinbar interessiert hinein. Sie wollte ihn schon wieder abgeben, als sie auf einmal im Spiegel ein Mädchen erkannte, das den gleichen Mantel und den gleichen Hut trug wie sie selbst. Sie war offensichtlich mit ihren Eltern unterwegs.

»Was ist jetzt?« Fraukes Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Die Handschuhe warten auf dich.«

Frau Hegel stand daneben. »Sie ist nervös, drängen sie sie nicht.«

»Nein, das ist es nicht.« Julia keuchte ein wenig. »Ich glaube, ich habe gerade das andere Mädchen gesehen.«

»Ja, sie haben Recht.« Frau Hegel blickte in die Richtung, in die Julia geschaut hatte. »Dort kommt die Familie Vogel.« Sie hob kurz die Hand für einen ersten Gruß. »Jetzt sollten sie sich aber die Handschuhe anziehen lassen.«

»Ja, natürlich.« Sie streckte Frauke ihre Hände entgegen und blickte fasziniert zu, wie ihre Haut unter dem schwarzen Stoff verschwand. Gleich darauf sah sie zu, wie die Dienerin ihr die Riemen um die Handgelenke schloss.

Wieder war Julia fasziniert, denn obwohl es nur ein kleines schwarzes Stoffbündel war, das Frauke aus ihrer Tasche geholt hatte, bewirkte es doch eine erhebliche Steigerung ihrer Hilflosigkeit. Sie konnte jetzt so gut wie nichts mehr selbst machen.

Als sie sich danach wieder umblickte, war Familie Vogel anscheinend schon in der Kirche verschwunden.

»Seid ihr fertig?« Herr Hegel bemühte sich, nicht ungeduldig zu klingen. »Es wird Zeit, dass wir auch zu unserem Platz gehen.«

Die Blicke aller richteten sich auf Julia, und als diese dies realisierte, wurde sie rot. »Ich bin fertig.« Sie hob ihre Hände ein wenig, um die Handschuhe zu zeigen. 'Und jetzt ziemlich hilflos', fügte sie Gedanken dazu.

Frau Hegel legte ihr den Arm um ihre Taille. »Lassen sie uns gehen.«

Julias Augen hatten für einen kurzen Moment Probleme, sich an den dunklen Innenraum zu gewöhnen. Er war für eine Kirche eher klein, und sie fragte sich, welcher Religionsgemeinschaft Hegels wohl angehören wurden. Es war auf keinen Fall das prachtvolle Innere einer katholischen Barockkirche, so wie sie es von daheim her kannte.

Daheim! Julia seufzte, und sie versuchte sich daran zu erinnern, wann sie dort zuletzt in der Kirche gewesen war. Es musste schon länger her sein.

Frau Hegel führte sie zielstrebig in die dritte Bank von vorn. »Dieser Bereich wird für die Kirchenvorsteher freigehalten.«

Julia erkannte beim in die Bank setzen, dass sie jetzt genau neben dem Mädchen saß, das sie gerade noch wegen ihrer Uniform gemustert hatte.

* * *

Patricia war sehr angespannt. Eben hatte Hegels zukünftiger Engel neben ihr Platz genommen und blickte sich vorsichtig um.

Die ersten Male hatte sie neben der Uniform nur den Schleier getragen, dann kamen die Handschuhe dazu, und seit einem Monat trug sie hier in der Kirche, aber auch nur hier, in der Öffentlichkeit eine Perle im Mund. Natürlich wusste sie schon lange, dass es eigentlich ein Ballknebel war, doch sie mochte diesen verklärenden Begriff viel lieber.

Anfangs war sie noch sehr aufgeregt gewesen, und erst als sie realisiert hatte, dass sie trotzdem gar keiner beachtete, wurde sie nach und nach etwas entspannter.

Doch diesmal war es noch einmal etwas anderes. Heute war sie das Vorbild für einen anderen zukünftigen Engel, und zu ihrer eigenen Überraschung empfand sie das als sehr aufregend.

Es lag natürlich auch an ihrer eigenen Situation. Sie trug die verschlossene Kirchenuniform und die so hilflos machenden Handschuhe, dazu trug sie auch noch einen Ball im Mund, den sie sich auch nicht mehr entfernen konnte.

Sie fragte sich, ob sie eher Schadenfreude oder Faszination empfand. Es reizte sie, ein junges unbedarftes Mädchen auf den gleichen Weg zu führen, wie sie ihn schon gegangen war und den das Mädchen noch gehen musste.


Julia blickte vorsichtig, aber fasziniert auf das Mädchen neben sich. Sie trug den gleichen Hut wie sie selbst, nur dass bei ihr der fast blickdichte Schleier vor ihrem Gesicht hing und ihr Antlitz verbarg.

Sollte sie etwa eine Perle im Mund tragen? Irgendwie war es sehr naheliegend, doch andererseits hatte auch erhebliche Zweifel.

Doch etwas war ihr auch klar. Dieses Mädchen war ihr nur ein paar wenige Schritte voraus. Sie fragte sich, ob sie nächste Woche auch mit dem Schleier hier sitzen würde. Und auch, welchen Grund der Schleier haben würde. Ob sie wirklich eine Perle darunter verstecken würde?

Julia schallt sich einen Narren. Der Schleier würde sicher eine andere Bedeutung haben. Es schien ihr doch sehr ungehörig, mit einer Perle im Mund einen Gottesdienst zu besuchen.

Dass eine Frau in der Kirche im Gegensatz zu den Männern ihr Haupt zu bedecken hatte, schienen hier einige der Damen auch zu berücksichtigen. Dennoch war ihre Sitznachbarin die einzige, die einen Schleier vor dem Gesicht trug. Und dennoch schien keiner der anderen Gottesdienstbesucher davon Notiz zu nehmen.

Auf einmal wurde es Julia klar. Hegels waren bestimmt jede Woche in der Kirche, und genauso trug dieses Mädchen jede Woche ihren Schleier. Dabei war sie sich sicher, dass sie ihr Gesicht draußen noch unverhüllt gesehen hatte.


Es fiel Julia auf, dass sie von Patricia beim Singen der Lieder nichts hörte. Sie saß anscheinend neben ihren Eltern, und ihre Mutter hielt ihr das Gesangbuch. Warum machte sie das, wenn ihre Tochter doch nicht mitsang?

Insbesondere während der Predigt nutzte Julia die Position direkt neben Patricia aus, um sie ausgiebig zu betrachten und auch durch den Schleier hindurch zu schauen.

Zuerst machte sie den schwarzen Riemen aus, der über ihre Wange lief. Bald darauf entdeckte sie auch, dass das Mädchen den Mund weit geöffnet hatte, denn sie erkannte die Konturen, die ihr Lippenstift auf ihren Lippen markierte. Sie trug anscheinend wirklich eine Perle im Mund, und der Schleier verbarg das.

Julia bekam eine Gänsehaut, denn ihr wurde auf einmal klar, dass sie spätestens nächste Woche auch auf diese Weise im Gottesdienst sitzen würde. Und zu ihrer eigenen Überraschung freute sie sich darauf.

Doch dann überkamen sie Zweifel. Der Gottesdienst dauerte fast eine Stunde, und es gab für das Mädchen keine Möglichkeit, wie sie sich selbst die Perle hätte abnehmen können. War sie selbst wirklich schon so weit, die Perle schon eine ganze Stunde zu tragen, tragen zu können?

Immer wieder blickte sie offen oder heimlich zu dem faszinierenden Mädchen und ließ dabei ihre Gedanken kreisen. Vom Gottesdienst selbst bekam sie kaum etwas mit.

Eigentlich wusste Julia, wie sie sich im Gottesdienst zu benehmen hatte. Doch ihre Nachbarin und vor allem die Handschuhe, die sie trug, wirbelten ihre Gedanken ständig durcheinander. Sie wusste, dass sie eigentlich den Worten der Pfarrerin folgen sollte, doch stets war sie in Gedanken bei ihren Händen und sie fragte sich, ob sie das richtige tun würde und ob ER es befürworten würde.

Hegels hatten es nicht gesagt, aber sie spürte, dass sie das Tragen der Perle unter dem Schleier auch von ihr erwarteten. Und zwar schon nächste Woche. Sie wusste, dass sie jede freie Minute nutzen musste, um es zu trainieren und ihre Muskeln an die Haltung zu gewöhnen. Denn sie wollte Hegels auf keinen Fall nicht enttäuschen.

Sie hatte ja auch schon genügend Hinweise zum Training bekommen. Sie dachte darüber nach, dass sie alle zehn Minuten die Perle in den Mund nehmen wollte, und sie gleich danach wieder ablegen würde. Immer nur für ein paar Minuten. Sie überlegte sogar, ob sie die Perle nicht vielleicht in der Uni tragen konnte, doch sie verwarf den Gedanken schnell wieder. Das würde nur unnötige Fragen geben, die sie sich lieber ersparen wollte.

Sie hatte sich eigentlich vorgenommen, dem Gottesdienst aufmerksam zu folgen, doch immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Teils zu der verhüllten Gestalt neben ihr, dann zu ihren Händen, die sie fast blasphemisch vor sich gefaltet hielt. Auch das ausdrucksvolle Spiel der Orgel beeindruckte sie. Doch um was es im Gottesdienst ging, das konnte sie hinterher nicht sagen.

Es war ihr immer noch nicht klar, welche Religionsgemeinschaft sich hier versammelt hatte. Doch es war zumindest nicht die Katholische Kirche, denn die kannte sie noch aus ihrer Kindheit. Doch da sie nie besonderen Wert darauf gelegt hatte, war es ihr letztendlich egal.

Einmal beobachtete sie, dass Patricia sich nach hinten umblickte. Julia war dem Blick gefolgt, und auch sie sah den jungen Mann, der den Blick lächelnd erwiderte. Doch dann wurde Patricia von ihrem Vater ermahnt, und sie blickte wieder nach vorn.

Eigentlich war es eine belanglose Szene, doch Julia bezog daraus eine wichtige Information. Es war anscheinend für einen Engel möglich, einen Freund zu haben. Und dass es sich um Patricias Freund handeln musste, erkannte Julia daran, dass sie das Leuchten in den Augen trotz des Schleiers erkannt zu haben glaubte - welches erst erlosch, als ihr Vater sie zurechtzuweisen schien.

Später entdeckte sie noch ein Detail, was ihr bisher auch entgangen war. Sowohl ihr Mantel als auch der Mantel von Patricia hatten auf der Schulter einen Engel aufgenäht. Wieder in genau dem gleichen hellblauen Farbton wie der Mantel selbst, so dass diese Verzierung erst auf den dritten Blick auffiel.

Erst nach einer gewissen Zeit entdeckte sie auf dem Kragen des Mantels ebenfalls einen aufgestickten Engel, nur dass dieser noch etwas kleiner war als der auf der Schulter.

Frauke hielt ihr das Gesangbuch, doch Julia ahnte, dass sie beim nächsten Mal nicht mehr in der Lage sein würde, so deutlich mitzusingen, wie sie es jetzt tat.

An die Handschuhe hatte sie sich äußerst schnell gewöhnt, jetzt störte es sie überhaupt nicht mehr, dass sie durch sie zu einer bestimmten Haltung gezwungen wurde. Dass Patricia neben ihr noch ein beträchtliches Maß hilfloser als sie selbst war, machte ihr keine Angst, sondern weckte eher ihren Ehrgeiz. Denn das war der Gesamteindruck, sie fühlte sich in der Kirche und in der Gegenwart von Hegels und Patricias Familie sehr geborgen.

Nach dem Segen verspürte Julia zunächst den Impuls, aufstehen zu wollen, doch da weder Hegels noch Vogels diesbezüglich Anstalten machten, blieb auch die Studentin sitzen.

Sie fragte sich, ob sie jetzt die Handschuhe ablegen durfte, doch zwei Sachen hielten sie davon ab. Zum einen hatte sie bei einem kurzen Blick zu ihrer Nachbarin gesehen, dass auch diese ihre Handschuhe weiter trug. Und zum anderen erkannte sie, dass es nicht in ihrer Macht lag, sich die Handschuhe selbst auszuziehen. Sie würde dafür in jedem Fall Hilfe brauchen.

An ihrer Nachbarin konnte sie sich ein Bild davon machen, wie sie selbst wohl aussehen durfte, und sie war von dem Anblick sehr angetan. Es sah so brav und unschuldig aus, und von den vielen Einschränkungen dieser Kleidung war überhaupt nichts zu erkennen.

Auf einmal sah Julia, wie sich Patricias Schleier zu bewegen schien, und sie blickte sofort zu ihrer Sitznachbarin. Ihre Mutter hatte sich zu ihrer Tochter herüber gebeugt und machte etwas in ihrem Gesicht. Julia konnte aber nicht erkennen, was sie dort machte.

Gleich darauf hatte sie ein Taschentuch in der Hand und schien ihrer Tochter den Mund abzuwischen, dann steckte sie etwas Rotes in ihre Tasche. Als letztes klappte sie ihr den Schleier hoch und steckte ihn am Hut fest.

Patricia blickte sich verstohlen um und gab sich erleichtert, als sie realisierte, dass fast keiner diese Szene beobachtet hatte. Nur zu Julia schaute sie kurz und gab sich dabei etwas verlegen.

Julia kam es vor, als hätte sie die Szene heimlich beobachtet - dass sie speziell für sie so abgesprochen und arrangiert war, darauf kam sie nicht.

Deutlich war noch der Abdruck des Riemens auf Patricias Wange zu sehen, und Julia fühlte sich in ihrem Verdacht aufgrund ihrer Beobachtungen mehr als bestätigt. Patricia hatte während des Gottesdienstes eine Perle getragen und dies mit dem Schleier vor den anderen Teilnehmern verborgen. Aber warum? Julia ahnte, dass sie die Antwort darauf so bald noch nicht bekommen würde.

Doch etwas anderes überlagerte gleich darauf ihre Gedanken. Sie selbst trug auch so eine Uniform mit einem aufgestickten Engel, und auch ihr Hut hatte einen Schleier zum Herunterklappen. Es war ihr mittlerweile klar, dass sie spätestens nächsten Sonntag wie Patricia auch dem Gottesdienst mit der Perle im Mund zu folgen hatte. Und sie wusste in diesem Moment wirklich nicht, ob sie sich darauf freuen oder ob sie Angst davor haben sollte.

Auf der einen Seite freute sie sich darauf, doch andererseits hatte sie auch Zweifel, ob sie bis dahin überhaupt genug Zeit zum Trainieren haben würde.

Insgeheim malte sie sich schon aus, bei welchen Gelegenheiten sie sich die Perle in den Mund stecken konnte, damit sich ihre Muskeln an die Haltung gewöhnen konnten, ohne dass ihr ihrer jeweiligen Umgebung auffallen würde.

Die Vorlesungen in der Uni dauerten zwar lange, aber sie würde sich dann ewig Fragen ihrer Kommilitonen aussetzen und das wollte sie auf keinen Fall.


Obwohl schon fast alle Gottesdienstbesucher gegangen waren, blieben Hegels und Vogels noch in den Bänken sitzen. Erst als die letzten Töne des Nachspiels verklungen waren, machten sie Anzeichen sich zu erheben.

Julia hatte sich ein wenig in der Kirche umgesehen, doch sie konnte an den modernen Backsteinwänden nicht wirklich Gefallen finden. Zu sehr vermisste sie das scheinbar barocke Innere der Dorfkirche, mit dem sie aufgewachsen war.

»Wir würden sie gern vorstellen.« Frau Hegel beugte sich an Frauke vorbei sich zu Julia. »Sind sie dazu bereit?«

Julia erkannte, dass Frau Hegel eine Antwort von ihr erwartete, doch sie wusste im diesem Moment überhaupt nicht, was sie antworten sollte.

Frauke bemerkte Julias Zögern, und statt einer Antwort ergriff sie ihre Hände und hielt sie fest.

Erst Fraukes Geste gab der Studentin den Mut, wieder einen Schritt auf dem ihr immer noch unbekannten Weg zu gehen. »Ja, ich bin bereit.« Und sie verzichtete darauf, darüber nachzudenken, wem sie nun vorgestellt werden sollte.


Patricia war ihrer Mutter gefolgt und bat sie, ihr noch einmal den Schleier zu richten. »Ich glaube, er fällt hinten herunter.« Dabei blickte sie auch kurz zu ihren Vater, als wolle sie sich dafür entschuldigen, dass sie ihm in der Folge den Rücken zudrehen würde.

Julia erkannte sofort, was der wahre Grund dieser kleinen Geste war. Patricia stand nun so, dass sie unbeobachtet von ihrem Vater ihrem Freund ein paar kurze Blicke zuwerfen konnte.

Natürlich hatte auch ihre Mutter längst erkannt, was der wahre Grund für diese kleine Eitelkeit war, und deswegen versuchte sie, möglichst lange an dem Schleier herum zu fummeln. Innerlich zerriss es ihr das Herz, denn sie wusste, in welcher Zwangslage sich ihre Tochter befand. Doch es gab nichts, was sie tun konnte, um ihr ihre Probleme zu erleichtern.

Julia beobachtete diese kleine und sehr kurze Szene trotzdem sehr aufmerksam, weil sie spürte, dass dieses Mädchen ihr nur ein paar wenige Schritte voraus war. Doch sie wollte noch gar nicht darüber nachdenken, wo sie in wenigen Tagen sein würde und wie sich ihr Leben, seit sie bei Hegels war, schon verändert hatte.

Sie ließ ihren Blick unauffällig über die Menge streifen, weil sie Frauke suchte. Sie entdeckte sie erst nach kurzer Zeit, weil diese sich schon nahe an die Ausgangstür zurückgezogen hatte und den Blick zu Boden gerichtet hielt. Nur ab und zu hob sie ihren Kopf und blickte kurz zwischen Patricia und ihr hin und her. Dabei war ihre Miene sehr verärgert, ohne dass Julia dafür ein Grund einfallen wollte.


Frauke war gleich zum hinteren Teil der Kirche gegangen, weil sie wusste, dass sie dort relativ unbeobachtet bleiben würde. Nur wenige Gottesdienstbesucher verirrten sich an diese Stelle, die meisten gingen zielstrebig zum Ausgang. Innerlich war sie wild aufgewühlt. Was hatte Julia nur mit diesem anderen Mädchen zu tun?

Sie standen so vertraut zusammen, dass es tief in Frauke kochte. Und nur mit viel Mühe schaffte sie es, sich zu beherrschen. Immer wieder musste sie an die vergangene Nacht denken, an denen sie mit ihren Fingern allein Julia so viele Höhepunkte spendiert hatte.

Auch an die zärtlichen Küsse musste sie immer wieder denken. Und auch an Julias leuchtende Augen.

Und jetzt? Was war das bloß mit diesem anderen Mädchen?

Natürlich war ihr klar, dass Patricia den Gottesdienst geknebelt verbringen musste. Sie schmunzelte, denn es musste in diesem Zusammenhang natürlich 'mit der Perle' heißen.

Von den Sorgen, die Patricia plagten, wusste sie allerdings nichts, und das Mädchen gab sich alle Mühe, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.


Als sie aus der Reihe trat, sah sie, dass Herr Hegel schon bei der Familie Vogel stand und sie zusammen zu ihr herüber blickten. Als sie näher kam, nahm sie sofort seine vertraute Stimme war.

»Das ist Julia, unser baldiger Engel.« Herr Hegel machte in diesem Augenblick einen sehr stolzen Eindruck. »Sie ist außerdem eine meiner besten Studentinnen.«

»Hallo Julia.« Die Familie Vogel begrüßte die Studentin, machten jedoch keine Anstalten, ihr die Hände zu reichen.

Im aller ersten Moment wunderte sich Julia darüber, denn sie hatte eigentlich die Peinlichkeit erwartet, diesen Gruß nicht erwidern zu können. Doch dann fiel ihr Blick auf die Tochter der Familie, und ihr wurde klar, dass Vogels die Bedeutung dieser Kirchenhandschuhe kennen mussten und sie deswegen ebenfalls nicht in Verlegenheit bringen wollten.

Hätte sie genauer hingesehen, dann wäre ihr sicher aufgefallen, dass Herr und Frau Hegel einen sehr stolzen Eindruck machten. Es kam ihr schon vor, als würde sie hier vorgeführt und gemustert, doch sie wusste nicht, welchen Zweck das haben sollte. Ihre Bedenken wegen den Kirchenhandschuhen hatte sie über Bord geworfen und wegen der 'Uniform' fühlte sie eine gewisse Verbundenheit zu dem anderen Mädchen.

»Entschuldigen sie bitte, Frau Vogel?« Eine Frau aus der Gemeinde war an sie herangetreten und reichte ihr ein Blatt Papier. »Das hier wäre die Einladung für den nächsten Basar, wenn sie sich das einmal ansehen möchten.«

Frau Vogel nahm das Papier entgegen und steckte es ein. »Ich werde sie dazu anrufen.« Sie wandte sich wieder ihrem Mann zu.

Patricia verdrehte innerlich die Augen. Sie fragte sich immer wieder, ob es ihre Mutter mit ihrem Engagement in den diversen Grünwalder Vereinen nicht übertrieb. Sie war Mitglied im Kirchenvorstand, stand mehreren karitativen Vereinen vor und finanzierte das Laientheater sowie das lokale Streichorchester, in dem ihre Tochter auch Geige spielte.

Natürlich hatte sie ein abgeschlossenes Jurastudium mit Doktortitel und beriet manchmal ihre Freundinnen bei juristischen Problemen. Doch wenn man sie nach ihrem Beruf fragte, war die Antwort stets 'Hausfrau'.

Patricia seufzte innerlich. Der Name 'Vogel' hatte Gewicht in Grünwald und bedingt durch den Beruf ihres Vaters auch in München. Es gab nur wenige Juristen am Gericht, die so einen großen Einfluss hatten.

Es waren große Fußstapfen, in die sie jetzt so nach und nach zu treten hatte. Und überall am Wegrand lauerten Fettnäpfchen, die nur auf einen Fehltritt von ihr warteten.

Das bisher größte Vergehen war ihr hier in der Kirche passiert, und sie hatte danach noch lange damit zu kämpfen, um ihr Ansehen wieder zu gewinnen.

Sie war damals noch ganz unerfahren und trug so wie jetzt Julia das erste Mal die Kirchenhandschuhe. Frau Reger war nicht nur die Pfarrerin hier in der Gemeinde, sie war auch schon mit Vogels eng befreundet. Doch was Patricia damals nicht wusste, sie war auch im Bund ein sehr hohes Tier. Heute musste sie über ihren damaligen Fehltritt lächeln, doch damals war sie noch sehr unerfahren gewesen. Sie hatte die Nähe falsch gedeutet und hatte die 'Oberpriesterin' gebeten, ihr die Handschuhe abzunehmen. Natürlich hat die Pfarrerin ihr nicht geholfen, aber hat sie auch weder bestraft noch gepetzt.

Erst später hat sie erfahren, dass sie mit dieser Frage ihr Ansehen als zukünftiger Engel vollständig verspielt hatte und es ganz mühsam wieder gewinnen musste. Natürlich hatte Frau Reger sie nie wieder auf den Fehler angesprochen, doch die Blicke, die sie ihr gelegentlich zu warf, stachen ihr direkt ins Herz. Denn es war für einen Engel etwas ganz Ungehöriges, ein Mitglied des Bundes um Befreiung zu bitten. Noch dazu jemand mit so einem hohen Amt.


»Und sie meinen, dass sie das noch schaffen?« Herr Vogel blickte Julia musternd an. Es war kein abschätziger Blick, doch Julia spürte trotzdem seine Zweifel.

»Julia trainiert fleißig, und deswegen wird sie es schaffen.« Herr Hegel blickte sehr stolz auf seine Studentin.

Julia schaffte es nicht, dem Blick standzuhalten, zu groß war ihr schlechtes Gewissen, obwohl es objektiv dafür überhaupt keinen Grund gab. Lediglich die Zweifel von Herrn Vogel hatten gereicht, um ihren Ehrgeiz für die kommende Woche noch einmal drastisch zu steigern. Sie blickte zu Patricia, doch als sie sah, dass die Tochter ihren Blick zu Boden gerichtet hatte, beschloss sie, das gleiche zu tun.

»Das sind also die beiden stolzen zukünftigen Engel.« Die Stimme der Pfarrerin bewirkte, dass Julia ihren Blick wieder erhob.

»Patricia kennst du ja schon.« Herr Hegel antwortete der Pfarrerin. »Und das ist Julia Sommer.« Er machte eine präsentierende Handbewegung. »Sie ist außerdem meine fleißigste Studentin.«

»Willkommen in Grünwald. Ich bin Nicole Reger, die Pfarrerin dieser Gemeinde.« Sie deutete Julia gegenüber eine kurze Verbeugung an und blickte gleich danach auf ihre Hände.

Julia erkannte an dieser kleinen Geste, dass sie ebenfalls über die besonderen Handschuhe Bescheid wusste. Sie war erleichtert, dass ihr dieses Fettnäpfchen ebenfalls erspart geblieben war. Sie hob den Kopf leicht an und stellte sich ebenfalls vor. Sie musterte die Pfarrerin nur kurz, weil sie nicht unhöflich sein wollte, aber sie erkannte, dass sie deutlich älter als Frau Hegel sein musste.

»Aber eines muss ich ihnen sagen.« Frau Reger blickte kurz zu Herrn Hegel, dann wandte sie sich wieder Julia zu. »Ihre Haltung stimmt überhaupt nicht. Das sollten sie unbedingt noch trainieren, sonst sehe ich schwarz.«

Julia gab es einen Stich, und sie blickte noch einmal auf Patricias Gestalt. Jetzt sah sie die Unterschiede sofort. Der Oberkörper war gerade, und die Schultern waren nach hinten gedrückt, und als sie einmal nach unten blickte, fiel ihr auf, dass Patricia Schuhe mit sehr hohen Absätzen trug.

Sie nahm sich vor, mit Frauke und Frau Hegel darüber zu reden. Tief in ihrem inneren war ihr Stolz verletzt, und es gefiel ihr auch nicht, dass Hegels sich wegen ihr rechtfertigen mussten. Langsam senkte sie ihren Kopf.

»Sie ist ja erst eine knappe Woche bei uns.« Frau Hegel versuchte eine Verteidigung.

»Naja, sie müssen es ja wissen.« Es klangen sehr viele Zweifel in der Stimme der Pfarrerin mit. »Ist sie denn wenigstens schon geschützt?«

»Der Gürtel wird am Montag geliefert.« Frau Hegel streichelte Julia über den Kopf. »Bis dahin passen wir besonders auf sie auf.«

Julia begriff schon, dass es hier um sie ging, doch sie hatte keine Ahnung, vor was sie denn geschützt werden sollte. Andererseits traute sie sich auch nicht, nachzufragen. Dass die Antwort von Frau Hegel doppeldeutig war, erkannte sie in diesem Moment auch nicht. Zu tief war sie in diesem Moment von der Antwort der Pfarrerin getroffen. Sie war jetzt schon die zweite Person, die ihre Eignung anzweifelte und ihr zudem schon aufgezeigt hatte, an was es bei ihrem Auftritt vor allem noch mangelte.

Sie senkte ihren Blick noch tiefer und wäre am liebsten in den Boden versunken. Es tat ihr insgeheim sehr weh, dass sie Hegels so enttäuschte. Zuerst hatte sie Angst gehabt, sich mit ihrer Uniform zu blamieren, doch jetzt ging es genau in die entgegengesetzte Richtung. Sie glaubte immer mehr zu spüren, dass sie bei weitem noch nicht würdig war, die Uniform jetzt schon tragen zu dürfen. Und dabei war sie bis vor kurzem noch sehr stolz darauf gewesen.

Auf einmal spürte sie eine Berührung an ihrer Schulter. Sie drehte sich verwundert um. Patricia stand neben ihr und hatte sie mit der Schulter angestupst.

»Mach dir keine Gedanken, das hört sich nur so schlimm an.« Sie lächelte leicht.

Julia blickte auf und sah, dass der Abdruck des Riemens immer noch nicht ganz aus Patricias Gesicht verschwunden war. »Du hast eben so eine Perle getragen?« Ihre Stimme war sehr leise, gerade so, dass Vogels Tochter sie verstehen konnte.

Patricia schmunzelte insgeheim. Genau mit dieser Frage hatte sie gerechnet. »Ja, das musste ich.«

»Aber warum?« Julia hatte im Moment zwar größere Sorgen, doch dies interessierte sie trotzdem.

»Julia fragt mich, warum ich die Perle tragen musste.« Sie blickte abwechselnd ihre Eltern und die Pfarrerin herausfordernd an. In Wirklichkeit war sie unsicher, wie viel sie von dem, was sie schon wusste, wirklich sagen durfte. So versuchte sie mit der Frage eine Ablenkung.

»Das haben sie ihr auch noch nicht gesagt?« Frau Regers Blick verfinsterte sich. »Ich glaube wirklich nicht...« Doch dann hielt sie inne. »Sie müssen es ja wissen.« Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Wie wäre es, wenn Patricia euch nächsten Sonntag besuchen kommt?« Herr Vogel blickte seine Tochter liebevoll an. »Dann könnt ihr alles im Detail besprechen.« Gleichzeitig deutete er damit aber auch an, dass er weitere Fragen in dieser Richtung jetzt nicht mehr hören wollte.

Julia war nicht mehr zu einer Antwort fähig. Sie versuchte, ihren knallroten Kopf zu verbergen, was ihr aber überhaupt nicht gelang.

»Du bist jederzeit willkommen.« Frau Hegel drehte sich zu Patricia. »Und ihr werdet euch viel zu erzählen haben, da bin ich sicher.« Sie schmunzelte.

Julia war in diesem Moment sehr eingeschüchtert und blickte einige Zeit nur noch auf ihre Handschuhe. Sie wagte mittlerweile nicht mehr zu fragen, wann sie diese wieder ablegen dürfe. Immerhin realisierte sie, dass Patricia ihre Handschuhe auch noch trug. Noch dazu machte sie einen sehr zufriedenen Eindruck, so als würde sie wissen, dass ihr nichts passieren konnte, und dass sie die Handschuhe doch bei passender Gelegenheit ablegen durfte.

Sie hob kurz ihren Kopf und schaute in Richtung von Frauke, doch sie sah in ihrer Miene immer noch so etwas wie Eifersucht. Sie spürte, dass es falsch wäre, sie jetzt um Hilfe bitten zu wollen.

»Unsere Köchin wird verärgert sein, wenn wir zu spät zum Essen kommen.« Die Familie Vogel leitete die Verabschiedung ein. »Wir müssen dann gehen.«

Frau Hegel erklärte Julia kurz die Geste, mit der sich zwei Engel voneinander verabschieden. Gleich darauf konnte die Studentin ihre gefalteten Hände auf die Hände von Patricia legen und kurz aufeinander drücken. »Ich freue mich auf nächste Woche«, flüsterte sie dabei. Sie vermied es, in diesem Moment zu Frauke zu blicken.

»Wir sollten uns dann auch auf den Weg machen.« Auch Herr Hegel drängte langsam zum Aufbruch. »Der Tisch ist für halb Eins reserviert.«

Julia erinnerte sich an die Pläne des Tages. Sie wollten das Mittagessen in einem Restaurant einnehmen. Insgeheim war sie erleichtert, als sie sah, dass ihre Schritte sie wieder in Richtung Auto führten. Denn dort würde sie ihre Handschuhe wieder loswerden, hoffte sie zumindest.

Und so war es dann auch. »Und wie sind sie damit klar gekommen?« Frau Hegel machte sich daran, die Handschuhe zu öffnen, als sie das Auto erreicht hatten.

Julia hatte zunächst Probleme mit der Stimme, so angespannt war sie. Sie räusperte sich mehrfach. »Es war eigentlich ganz einfach und harmlos.« Sie vermied es in diesem Moment allerdings, nach der Zukunft zu fragen. Insbesondere betraf dies die Frage, ob sie nächste Woche auch die Perle tragen würde. Denn insgeheim kannte sie die Antwort schon.

* * *

Heute morgen hatte sie das Frühstück in der Uniform eigentlich als Schikane empfunden, auch wenn sie sich nicht dazu geäußert hatte. Jetzt erkannte sie auf einmal, welchen Zweck es hatte, auf diese Weise zu frühstücken. Sie waren jetzt in einem offensichtlichen Nobelrestaurant, und Julia war schwer bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Dass die Bluse ihre Bewegungsfreiheit so drastisch einschränkte, sollte keiner bemerken.

Ihr Vertrauen in Hegels wuchs, und sie beschloss für sich, auf den ersten Blick unsinnige Sachen und Befehle doch auszuführen, weil sie offenbar meistens doch einen tieferen Sinn hatten. Sonst hätte sie zum Beispiel nicht gewusst, ob sie mit der Uniform essen konnte. Doch jetzt fühlte sie genügend Sicherheit, um ihren verbliebenen Freiraum geschickt auszunutzen oder gegebenenfalls unauffällig um Hilfe zu bitten. Denn auch sie selbst hatte das Interesse daran, Hegels nicht noch einmal zu blamieren.

Allerdings war sie das ganze Essen über sehr angespannt, so dass sie es überhaupt nicht genießen konnte. Auch hatte sie die vielen Blicke bemerkt, die ihnen zugeworfen wurden, und sie wusste nicht ob diese ihr galten, oder doch eher Frauke in ihrem Dienstbotenkleid, von dem trotz der darüber gezogenen Strickjacke noch viel zu sehen war.

»Was haben sie wirklich mit mir vor?« Julia wusste nicht, ob sie die Öffentlichkeit des Nobelrestaurants zu dieser Frage nutzen durfte, doch es lag ihr viel zu sehr auf der Seele. »Warum das alles?« Sie verzichtete auf eine Aufzählung der Sachen, zu denen sie laut der anderen Personen aus dem Gottesdienst nicht in der Lage wäre.

»Sollten wir uns wirklich in ihnen getäuscht haben?« Herr Hegels Stimme klang auf einmal sehr ernst. »Wir dachten bisher, dass sie bereit sind, Carolins Weg zu gehen.«

Julia war alarmiert. Diesen Ton benutzte ihr Professor nur, wenn er etwas ganz Wichtiges sagte. Doch noch wusste sie keine Antwort.

»Sie hatte bisher mit dem Mantel, mit der Lackkleidung und auch mit dem Handschuh keine Probleme. Selbst das strenge Nachthemd scheint ihnen gefallen zu haben.« Er holte tief Luft. »Warum also jetzt dieses Zögern?«

Julia kam ernsthaft ins Grübeln. »Es ist richtig, das hat mir alles sehr gut gefallen. Selbst der Gottesdienst war aufregend.« Sie senkte leicht den Kopf. »Aber hinterher waren da so viele Zweifel, dass ich es nicht mehr schaffen würde. Und ich würde gern wissen, was ich überhaupt schaffen soll.«

»Wie sie sicherlich begriffen haben, haben wir nicht mehr viel Zeit.« Frau Hegel hoffte, dass es die richtigen Worte sein würden. »Und natürlich könnten wir ihnen jetzt sofort sagen, was sie noch alles lernen müssen, wenn sie Carolins Weg bis zum Ende gehen möchten.«

»Aber?« Julia fühlte, dass noch eine zweite Antwort kommen würde.

»Aber dann würden sie ständig an die Sachen denken, die noch vor ihnen liegen.« Frau Hegel versuchte ein vorsichtiges Lächeln. »Und diese Gedanken würden ihnen ihren Weg verstellen.«

»Stellen sie sich einmal vor, sie würden jetzt schon wissen, was sie noch alles bis zum Ende ihres Studiums lernen müssten«, ergänzte der Professor. »Würde sie das eher anspornen oder abstoßen?«

Trotz ihrer Anspannung musste Julia lachen. »Ja, das sehe ich ein.«

»Und das Ziel des Ganzen dürfte ihnen auch schon klar sein.« Frau Hegel lächelte trotz ihrer inneren Anspannung. »Carolin wollte ein Engel werden.«

Julia war insgeheim erleichtert, weil die Diskussion wieder auf ein sachliches Niveau gehoben wurde. »Okay, ich will gar nicht mehr wissen, was ich noch alles lernen muss. Ich vertraue ihnen.« Sie lachte. »O Gott, das klingt furchtbar kitschig.« Doch dann stutzte sie. »Eine Frage hätte ich allerdings doch.«

»Und die wäre?« Herr Hegel spürte, dass sie so gut wie gewonnen hatten.

»Wird es einen Punkt geben, an dem ich nicht mehr zurück kann?« Wobei Julia sich in diesem Moment gar nicht ausmalen wollte, was das genau bedeuten würde.

»Nein, diese Möglichkeit wird es immer geben.« Herr Hegel wurde wieder so ernst wie zu Beginn des Gespräches. »Wenn es ihnen reicht, sie genug haben oder es gar nicht mehr ertragen, dann können sie alles jederzeit abbrechen und uns verlassen.«

»Alles andere wäre ja ein Verbrechen, wenn wir sie gegen ihren Willen festhalten würden«, ergänzte Frau Hegel. Sie räusperte sich. »Es ist richtig, viele Sachen von Carolin sind sehr restriktiv. Aber sie sollten sich stets bewusst sein, dass ein Wort von ihnen genügt, und sie werden von allem befreit werden.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Allerdings müssen sie dann auch unser Haus verlassen.«

»Aber bitte verwechseln sie das nicht mit dem Notsignal, insbesondere wenn sie die Perle tragen.« Herr Hegel sprach wieder etwas sanfter. »Wenn sie mit etwas ernste Schwierigkeiten haben, dann werden wir darüber reden und gegebenenfalls nach Alternativen suchen.«

»Wir akzeptieren ihre Bitte auf Abbruch auch erst dann, wenn sie mindestens eine Nacht darüber geschlafen haben.« Sie lächelte weiter. »Wir möchten sicher sein, dass sie es auch wirklich ernst meinen.«

»Was muss ich denn als nächsten lernen? Darf ich das schon erfahren?« Julia wollte sich verständig zeigen und trotzdem ihrer Neugier nachgeben.

»Das trifft sich gut, dass sie das fragen.« Frau Hegel griff zu ihrer Handtasche. »Wir wollten sie jetzt ohnehin fragen, ob sie bereit wären, sich am Donnerstag auf das Pferd zu setzen.« Sie holte ein Foto aus ihrer Tasche und zeigte es Julia. »Wir würden es heute noch zusammen mit Frauke aufbauen, und sie könnten dann bis Donnerstag das Sitzen darauf üben.«

Julia blickte auf das Foto, und was sie sah, erschreckte sie nur im ersten Moment. »Das sieht spannend aus.« Sie keuchte. Auf dem Foto saß ein Mädchen auf einer Art Ständer, auf dem ein bananenförmiger Sattel angebracht war. Deutlich war zu sehen, dass die Beine des Mädchens festgeschnallt waren und das sie einen Monohandschuh trug.

»Wir haben nur dieses eine Bild.« Frau Hegel holte tief Luft. »Diesen Donnerstag würden wir von ihnen erwarten, dass sie nur darauf sitzen.«

Julia erkannte, dass der Satz noch weiter gehen würde. »Und nächste Woche?«

»Dann wäre es schön, wenn sie auch den Handschuh dazu tragen würden.« Sie blickte noch einmal auf das Foto.

Julia folgte dem Blick. »Danke für den Ausblick. Ich werde beides üben.«

»Apropos üben.« Herr Hegel trank einen Schluck aus seinem Glas. »Ich habe sie bei den Vorlesungen beobachtet. Sie schreiben selten etwas mit.«

»Ja, das ist richtig.« Julia spürte auf einmal ein schlechtes Gewissen. »Es steht ja alles in ihrem Skript.«

»Ich dachte mir, dass sie dann vielleicht etwas üben könnten?« Er lächelte leicht.

»Was soll ich denn üben?« Julia hatte keine Ahnung, was ihr Professor meinen könnte.

Er räusperte sich. »Wenn sie die Arme hinter die Lehne halten und dann die Hände falten, dann könnten sie für den Handschuh trainieren.«

Julia war verwundert. »Ich soll mit dem Handschuh üben? In der Uni?« Es kam ihr sehr befremdlich vor.

Er lächelte. »Ich sagte nicht 'mit dem Handschuh', ich sagte 'für den Handschuh'.«

Julia erkannte erst jetzt ihren Fehler und wurde rot. »Ja, das werde ich machen.« Sie war erleichtert, schon einen ersten Hinweis auf die nötigen Trainings erhalten zu haben.

Doch auf einmal war da ein anderer Gedanke. Ein ganz anderer Gedanke. Sie hatte den Verdacht, dass Hegels ihr mit den Mietbedingungen ein Falle gestellt hatten. Und in die war sie nun hinein getappt.

Doch bisher war sie mit den Bedingungen mehr als einverstanden, und insgeheim war sie auch nicht wirklich besorgt über die Zukunft. Insbesondere wenn sie an die erste Nacht im strengen Nachthemd dachte, fühlte sie sich in ihren Ansichten mehr als bestätigt. Die Orgasmen, die sie da bekommen hatten, waren besser als alles, was sie zuvor jemals erlebt hatte. In ihrem Unterbewusstsein ahnte sie, dass es davon noch mehr geben würde.

Außerdem wusste sie, dass sie von ganz oben beobachtet wurde. Carolin saß sicher auf irgendeiner Wolke und schaute ihr auf dem Weg zum Engel zu. Julia war sich sicher, dass sie ihr für den Weg, der vor ihr lag, die Daumen drückte. »Du wirst das schaffen, Julia.« Den Satz glaubte sie in ihrem Kopf zu hören.

Natürlich hatte sie längst erkannt, dass Hegels sie brauchten, um die Ziele zu erreichen, die sie eigentlich mit Carolin schaffen wollten. Auch deswegen fühlte sie sich diesen Zielen erst recht verpflichtet. Entsprechend wuchs auch ihr Ehrgeiz, denn sie empfand mittlerweile sogar eine gewisse Verbundenheit zu Hegels.

Sie fühlte sich sehr geborgen aufgenommen und von allen akuten Problemen befreit, wenn sie nur bereit war, ein Engel zu werden. Sie wusste zwar immer noch nicht, was genau ein Engel war, doch sie war entschlossen, sich dieser Herausforderung zu stellen. Ein wenig aus Dankbarkeit Hegels gegenüber, vor allem aber, weil sie viele Sachen machen musste, die sie selbst sehr erregend empfand.

Eben noch durfte sie Patricia kennenlernen, ein faszinierendes Mädchen, welches ebenfalls auf dem Weg zu einem Engel war. Und dass sie sie in einem Gottesdienst kennenlernen durfte, erhöhte das Vertrauen in ihre Situation.

Sie fühlte sich als etwas Besonderes, als sie jetzt in diesem noblen Restaurant ihr Gericht genoss. Und sie war auch erleichtert darüber, dass kaum jemand von ihren Restriktionen Kenntnis nahm, die sie doch beträchtlich in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkten. Sie war dankbar, dass ihre Vermieter ihr so viel zutrauten, und sie war entsprechend bemüht, Hegels auch nicht zu enttäuschen.

Ihr gefiel der Gedanke sehr, durch ihre Bluse eingeschränkt zu sein und dennoch so würdevoll zu essen. Sie hatte weder mit der Vorspeise, einer sehr leckeren Suppe, noch mit der Hauptspeise oder auch dem Nachtisch irgendwelche Probleme. Sie hatte sich einfach an die eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten gewöhnt und nahm sie als gegeben hin. Letztendlich gefiel es ihr, in der Uniform etwas Besonderes zu sein, auch wenn es nicht sichtbar war.

Sie genoss die Blicke, die sie von Frauke bekam. Sie spürte, dass sie als ihre 'große Schwester' auf sie aufpasste und jederzeit bereit war, ihr mit dem Essen zu helfen, falls sie doch Probleme haben sollte. Gleichzeitig erinnerte sie sich aber auch an die Nacht, in der sie sie so zärtlich gestreichelt hatte.


Nur für einen kurzen Moment fühlte sie sich von Hegels ausgenutzt. Sie musste nur an die vergangenen Nächte denken und sie wusste sofort wieder, dass sie so ein Hochgefühl schon lange nicht mehr erlebt hatte. Die Nacht voller Orgasmen war etwas Außergewöhnliches gewesen, und doch wusste sie, dass sie es noch oft erleben würde. Zu deutlich waren die Zusammenhänge, als dass sie diese ignorieren konnte. Und sie fühlte, dass sie für alles nur einen sehr geringen Preis zahlen musste. Eigentlich war es sogar umsonst, wenn sie die Bedingungen für ihre Miete in Betracht zog.

Es war ihr auch mittlerweile klar geworden, dass Carolin anscheinend begonnen hatte, ein Leben in Fesseln zu führen, auch wenn dieser Begriff bisher nie so deutlich gesagt wurde. Natürlich war ihr durchaus bewusst, was die runden Kugeln in ihrem Mund, die von Hegels so liebevoll Perlen genannt wurden, wirklich waren. Doch ihr gefiel der Gedanke, und deswegen war sie bereit, alle diese Spiele mitzuspielen. Auch weil sie wusste, dass sie kaum eine Alternative dazu hatte.

Lediglich das Tagebuch zweifelte sie nicht an. Für sie stand es fest, dass Carolin auf einem sehr seltsamen Weg gewesen war, aber sie war auf dem Weg unterwegs. Und sie selbst war fest entschlossen, diesen Weg für sie zu gehen.

Immer wieder musste sie an die Badewanne denken, die sie gestern im Keller gesehen hatte, und die ihre Phantasie so drastisch angeregt hatte. Carolin schien schon eine gewaltige Menge an Routine entwickelte zu haben, was das Tragen des Handschuhs betraf. Anders war es nicht zu erklären, dass im Keller eben diese Badewanne stand, die es ermöglicht hätte, den Handschuh auch beim Baden zu tragen. Natürlich konnte das kein normaler Handschuh sein, denn das Leder hätte sicher in dem Badewasser gelitten. Er wäre sicher aus Stoff oder vielleicht sogar aus Plastik. Und natürlich mit Klettverschlüssen, denn die Metallverschlüsse würden in dem Badewasser auch leiden.

Doch am Traurigsten war, dass die Badewanne gar nicht mehr zu ihrem Einsatz gekommen war.

Das machte Julia wirklich melancholisch, wenn sie daran dachte. Sie hätte gern einige Fragen zu Carolin gestellt, doch sie hatte beim letzten Mal erlebt, wie betroffen Herr Hegel und seine Frau diesbezüglich reagiert hatten. Deswegen beschränkte sie sich darauf, im Haus ihre Beobachtungen zu machen und daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Dafür war ihr Frauke eine große Hilfe.

Julia blickte auf und traf wie zufällig den Blick der Dienerin. Sie war sich über ihre Gefühle und die der Dienerin überhaupt nicht mehr im Klaren. Eigentlich waren die Rollen fest verteilt, Frauke war die Dienerin und sie selbst die Studentin und Mieterin. Und doch verband sie mittlerweile so etwas wie ein schwesterliches Band, auch wenn sie sich erst eine knappe Woche kannten.

Genauso erinnerte sie sich so gern an die zärtlichen Hände von Frauke, die sie in ihrem so hilflos machenden Nachthemd nach allen Regeln der Kunst verwöhnt hatte und sie genau so von Höhepunkt zu Höhepunkt getrieben hatte wie am Abend zuvor. Es waren diesmal zwar nur drei Orgasmen gewesen, doch bedingt durch die körperliche Nähe zu Frauke empfand sie sie als mindestens genauso schön. Außerdem durfte sie sie auch immer wieder die zärtlichen Küsse spüren, die Frauke ihr gegeben hatte.

»Sind sie damit einverstanden?« Die Worte ihres Professors rissen sie aus ihren Gedanken.

Julia realisierte, dass er ihr wohl eine Frage gestellt hatte, doch sie war noch so sehr in Gedanken, dass sie nicht wusste, was er gefragt hatte. Sie blickte etwas unsicher auf dem mittlerweile abgeräumten Tisch umher.

»Mein Mann fragt, ob sie uns noch auf einem Sparziergang begleiten würden.« Frau Hegel wiederholte die Frage ihres Mannes. »Sie und Frauke.«

Julia wollte noch etwas zögern, weil sie schon lange begriffen hatte, dass Frauke lieber die Öffentlichkeit mied. Doch dann trafen sich ihre Blicke, und das Leuchten in den Augen von Frauke zeigte Julia, dass sich die Dienerin offensichtlich auf diesen Spaziergang freute.

Sie konnte über das Motiv für diese Freude nur spekulieren, doch sie wusste, dass sie dem ganzen Vorhaben unbedingt zustimmen musste. Instinktiv ahnte sie, dass sie dann vielleicht mit Frauke allein sein könnte, und Hegels würden vermutlich vor ihnen oder hinter ihnen gehen. Dann könnte sie sich auch ungestört mit Frauke unterhalten. Denn unter anderem wollte sie ihr erklären, dass die Eifersucht bezüglich Patricia ganz unbegründet war.


Julia wunderte sich etwas, dass Hegels sich einfach erhoben und das Restaurant verließen. Offensichtlich hatten sie schon gezahlt, oder es gab eventuell sogar andere Regelungen. Selbst letzteres würde sie nicht mehr in Erstaunen versetzen.

Sie lächelte, als Frauke ihr den Mantel zum Anziehen reichte. Insgeheim war ihr dieser Mantel sogar lieber als der enge Ledermantel, denn dieser Mantel zeigte den wenigen Eingeweihten ihren noch so ungewohnten Status. Sie hatte einen Engel auf der Schulter, aber trotzdem kam es ihr so vor, als würde sie dieses Rangabzeichen noch gar nicht zu Recht tragen. Doch sie wusste nicht, wen sie wegen ihrer Zweifel fragen könnte.

Natürlich trug auch Patricias Erscheinung im Gottesdienst dazu bei, vor allem weil Patricia ebenfalls diese Uniform tragen durfte. Und sie freute sich schon sehr auf nächsten Sonntag, wenn Vogels Tochter zu Besuch kommen würde. Sie hatte schon viele Fragen.

Doch dann hielt sie in ihren Gedanken inne. Wie viel würde sie wirklich von ihrer Zukunft wissen wollen? Schließlich machte Patricia, die ihr sicher ein paar Schritte voraus war, einen sehr zuversichtlichen und vor allem glücklichen Eindruck. Es gab also anscheinend nichts zu fürchten, und das beruhigte Julia sehr.


»Dieses Gebäude wollte ich ihnen zeigen. Es müsste ihnen bekannt vorkommen.« Herr Hegel zeigte unauffällig mit der Hand auf das Grundstück, an dem sie gerade vorbei gingen.

Julia musste nicht lange überlegen, denn sie erkannte diese Jugendstil-Villa sofort. Der Vater von Herrn Hegel hatte dieses Gebäude gebaut, und sein Sohn benutzte es als Beispiel für viele seiner Vorlesungen. »Ja, natürlich erkenne ich es.« Julia war fasziniert, die Beispiele aus dem Lehrbuch jetzt quasi 'live' zu sehen.


»Haben sie dieses Haus auch gebaut?« Es war Julia aufgefallen, dass Hegels für ein weiteres Haus auf ihrem Weg ebenfalls besonderes Interesse hegten.

»Nein, das nicht.« Frau Hegel lächelte. »Hier wohnen Vogels. Ich will mal kurz sehen, ob sie daheim sind.« Sie verschwand auf dem Grundstück und kam kurze Zeit wieder zurück. »Wir könnten sie kurz besuchen, aber Patricia muss trainieren, lassen sie ausrichten.«

»Möchten sie?« Herr Hegel blickte Julia fragend an, und es wurde deutlich, dass er auch ein 'Nein' von ihr akzeptiert hätte.

Julia lächelte erleichtert und neugierig zugleich. Es war ihr positiv aufgefallen, dass ihre Meinung noch etwas zählte. Und natürlich reizte es sie, zu erfahren, wie Patricia ihr Training wohl gestalten würde.


Sie mussten nur um die Ecke gehen und schon standen sie auf einer weitläufigen Terrasse.

Frau Vogel lächelte. »Ich habe ihr Bescheid gegeben, sie kommt gleich vorbei.« Dann wandte sie sich an Frau Hegel. »Hast du ihr gesagt, dass Patricia heute keine Fragen mehr beantworten kann?«

»Nein, das habe ich nicht.« Frau Hegel lächelte. »Aber das wird Julia gleich selbst merken.«

Aus dem Hausinneren waren Schritte zu hören, zuerst leise, dann wurden sie lauter. Schließlich war Patricias verlegenes Gesicht zu sehen. Sie blickte sich schüchtern um, bevor sie die Terrasse betrat.

Julia erkannte sofort, dass sie ein Perlennetz trug, und auf den zweiten Blick sah sie auch, dass ihre Arme in der Lederhülle eines Handschuhes verpackt waren. »Du trainierst?« Sie blickte das Mädchen fasziniert an.

Patricia nickte nur.

»Ich muss das auch dringend trainieren.« Sie warf einen Blick zu Hegels, die es sich allerdings gerade erst auf den bequem aussehenden Gartensesseln gemütlich machten.

»Ihr drei Mädchen möchtet euch vielleicht etwas abseits setzen.« Frau Vogel blickte auf drei Gartenstühle, die etwas abseits auf dem grünen Rasen standen.

Sie hatte es freundlich und nett formuliert, doch Julia verstand sofort, dass es eigentlich ein Befehl war. Erst jetzt erkannte sie, dass zwei der Stühle eine Lehne für eine Handschuhträgerin hatten. Sie war fasziniert. Vogels waren offensichtlich sogar auf Besuch eines Engels eingestellt.

Sie stellte einen Vergleich zu den Möbeln bei Hegels her - dort gab es meistens nur ein entsprechendes Möbel. Oder Patricia hatte noch eine Schwester, das würde die zwei Stühle ebenfalls erklären.

Patricia führte ihre Gäste zu den Stühlen, und obwohl sie offensichtlich nicht reden konnte, strahlte sie doch eine gewisse Autorität aus, die bewirkte, dass Frauke und Julia sich auf die beiden anderen Stühle setzen. Und obwohl die Studentin keinen Handschuh, wählte sie doch den Stuhl, der die gleiche Lehne hatte wie der Stuhl von Vogels Tochter.

»Gefällt es euch bei uns im Garten?« Patricia blickte ihre zukünftige Partnerin lächelnd an.

Julia war mehr als verwundert. Zum ersten Mal erlebte sie ein Mädchen, welches mit einer Perle im Mund trotzdem noch reden konnte. Es klang lediglich so, als würde sie mit vollem Mund reden. 'Gefällt es euch bei uns im Garten' glaubte Julia verstanden zu haben, und weil sie sich nicht sicher war, wiederholte sie die Frage. Sie war erleichtert, als Patricia danach nickte.

»Ja sehr.« Julia war mehr als verwundert. »Warum bist du so gut zu verstehen?«

Patricia lächelte um den Ball in ihrem Mund. »Das nennt sich die Perlensprache.«

Julia blieb verwundert. »Ich dachte, die Perlen wären dazu da, für Ruhe zu sorgen?«

Sowohl Patricia als auch Frauke mussten lachen. Vogels Tochter blickte Frauke mit verdrehten Augen an.

Frauke lächelte. »Ich erkläre dir das, wenn wir daheim sind.«

Eine Hausangestellte kam aus dem Haus. »Wünschen die Damen etwas zu trinken?«

Patricia blickte einmal zum Himmel.

»Ein Wasser?«, übersetzte die Angestellte.

Sie nickte. Julia und Frauke schlossen sich an.

Julia war fasziniert von der Art, mit der Vogels Tochter kommunizierte. Immer stärker wuchs die Ehrfurcht vor dem besonderen Leben, welches ein Engel anscheinend zu führen hatte, und das offensichtlich noch vor ihr lag.


Als die Angestellte die Getränke brachte, war für Patricia ein Strohhalm dabei, und sie hatte gar keine Probleme, ihre Lippen am Ball entlang um den Halm zu schließen.

Julia blickte sie verwundert an. Sie war mehr als fasziniert. Sie selbst nahm einen normalen Schluck Wasser und blickte doch immer wieder auf den Strohhalm. Patricia musste sich immer nur ein wenig zu ihrem Glas hinunter beugen, um einen Schluck nehmen zu können.

Tatsächlich spielte Patricia hier nur Theater. Sie tat nur so, als wäre es für sie eine Selbstverständlichkeit, mit der Perle im Mund zu trinken. Tatsächlich folgte sie nur dem Wunsch Hegels, die sie gebeten hatten, Julia das Leben eines Engel näher zu bringen. Und dazu gehörte eben, dass sie den Eindruck erweckte, die Perlen wären etwas ganz normales im Alltag eines Engels.

Sie selbst hatte Zweifel bezüglich dieses Anliegens, denn natürlich konnte sie so nicht wirklich trinken. Sie wäre nicht in der Lage, das Wasser hinunter zu schlucken. Stattdessen würde es über kurz oder lang aus ihrem Mund heraus tropfen. Und natürlich würde es Julia bestimmt nach einiger Zeit auffallen, dass ihr Glas nicht leerer werden würde.

Auf der anderen Seite hatte sie eine gewisse Freude daran, ein unbedarftes Mädchen auf diese Weise an das Leben der Engel heranzuführen.

»Und wie lange musst du trainieren?« Julias Blick zeigte immer mehr ihrer Faszination.

Doch zu ihrer Überraschung schüttelte Patricia den Kopf.

Julia musste nicht lange überlegen. »Wie lange möchtest du trainieren?«

Patricia lächelte zur Antwort, dann nickte sie zwei Mal langsam mit dem Kopf.

»Zwei Stunden?« Julia versuchte eine Übersetzung ihrer Gesten.

Vogels Tochter nickte und ihre Augen strahlten dabei.

»Und wie lange hast du schon?« Erst als sie es ausgesprochen hatte, fiel Julia ein, dass Patricia so schwer antworten konnte.

Das Mädchen deutete wieder ein langsames Nicken an und blieb auf der Hälfte stehen.

Julia verstand diesmal sofort, was ihr Gegenüber sagen wollte. »Eine halbe Stunde?«

Wieder nickte Patricia.

Julia war sichtlich fasziniert.

»Schade, dass du die Gesten noch nicht kannst.« Frau Vogel kam zu den drei Mädchen auf den Rasen.

»Gesten?« Julia horchte auf.

»Ja. Die Gesten«, wiederholte Frau Vogel. »Wenn die Engel unter sich sind, dann können sie sich auf diese Weise sehr gut verständigen.«

»Das klingt ja sehr interessant.« Julia hatte Mühe, ein Keuchen zu unterdrücken.

»Du weißt vermutlich noch nichts davon«, vermutete Frau Vogel.

»Nein.« Julia schüttelte den Kopf.

»Ja, richtig.« Die Mutter von Patricia lächelte. »Das lernen die Engel auch immer erst nach der ersten Prüfung.«

Julia blickte Patricia verwundert an. Woher kannte Vogels Tochter dann schon diese Gesten, fragte sie sich insgeheim. Doch sie wagte es nicht, diesbezüglich eine Frage zu stellen.

Frau Vogel hatte den Blick bemerkt. »Ich habe meiner Tochter schon einiges von meinem eigenen Wissen beigebracht. Aber mach dir deswegen keine Sorgen. Du wirst noch genug Zeit bekommen, um alles Wichtige zu lernen.«

Insgeheim war Julia immer faszinierter von dem kommenden Leben und Alltag der Engel. Es gab sogar Gesten, mit denen sich die Engel untereinander verständigen konnten, wenn sie mal die Perlen trugen.

»Die Perlensprache wäre natürlich auch ein Mittel, aber dabei riskiert man, das Engelsnektar verloren geht«, fügte sie geheimnisvoll hinzu.

Wieder musste Julia ungläubig schauen.

»Merke dir die Frage für nächste Woche.« Patricias Mutter lachte, als sie das Gesicht der Studentin sah. Sie drehte sich um und ging wieder in Richtung Terrasse.

»Einen wunderschönen Garten habt ihr.« Julia fühlte sich an den elterlichen Hof erinnert. »Geht er auch bis zum Wald hinüber?«

»Wald?« Frauke runzelte die Stirn.

Patricia stand auf und machte mit dem Handschuh eine Bewegung.

Frauke übersetzte. »Ich glaube, wir sollen ihr folgen.«


Sie gingen durch einige Meter dicht aneinander gepflanzter Bäume. Erst an einem Zaun blieb Patricia stehen. Sie machte einen stolzen Eindruck.

Julia blickte sich um. Auf dem Nachbargrundstück war offensichtlich ein Gärtner beschäftigt, der gerade seine Arbeitsgeräte weglegte und näher zu kommen schien. Zuerst nahm sie es als ganz selbstverständlich war, erst spät fiel ihr ein, dass heute eigentlich Sonntag war.

»Peter, was machst du denn hier?« Sie war verwundert, ihren Freund auf der anderen Seite des Zauns stehen zu sehen, noch dazu in einem Aufzug, den sie einem Jurastudenten kurz vor dem zweiten Staatsexamen nicht zugetraut hätte.

Peter Behrens lächelte. »Ich jobbe beim Nachbarn als Gärtner. Dann kann ich in deiner Nähe sein.« Er strahlte bis über beide Ohren. »Du hast Besuch?«

Patricia nickte. Auch in Gegenwart ihres Freundes versuchte sie, ihre Perlensprache auf das Notwendigste zu reduzieren.

»Aber sie ist kein Engel?« Peter musterte Julia, Frauke schien er zu kennen.

»Noch nicht.« Julia antwortete selbst. Und sie hörte sich sehr stolz dabei an.

»Och Mädels, warum liefert ihr euch denn so aus?« Er verdrehte die Augen. »Was ist daran so interessant?«

Patricia verdrehte ihrerseits ebenfalls die Augen. So deutlich wie sie konnte, versuchte sie eine Antwort. »Das besprechen wir heute Abend. Komm um acht Uhr wieder, dann habe ich Zeit für dich. Meine Eltern werden in der Oper sein.« Sie war hin und her gerissen. Sie freute sich einerseits über ihren Freund, andererseits wusste sie, dass er sie beim Trainieren störte. »Lass uns jetzt bitte in Ruhe.«

Zu Julias Überraschung gab sich Peter damit zufrieden und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

»Ich glaube, wir müssen dann auch wieder gehen.« Frauke deutete auf die Terrasse, wo sich Hegels anscheinend gerade verabschiedeten.


Julia hatte angenommen, der Sonntagsausflug wäre damit schon vorbei, doch sie hatte sich getäuscht. Hegels führten sie und Frauke noch in ein kleines Café.

»Haben sie sich gut mit Patricia unterhalten?« Herr Hegel blickte sie interessiert an.

Frau Hegel ging dazwischen. »Winfried! Du kannst doch die jungen Leute nicht einfach so aushorchen.«

»Eine Frage hätte ich schon.« Julia fühlte sich ermutigt. Sie zählte auf, was ihr bei Patricia so alles aufgefallen war.

»Ja und?« Herr Hegel lehnte sich zurück.

»Wird das alles auch von mir erwartet?« Ein wenig Angst lag in ihrer Stimme.

Statt einer Antwort machte ihr Professor etwas, dass er noch nie gemacht hatte. Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. »Ich bin mir ganz sicher, dass sie das schaffen werden. Nicht weil sie mich nicht enttäuschen wollen, sondern weil sie sehr ehrgeizig sind.« Er drehte sich zu seiner Frau. »Ich habe es dir doch gesagt. Wenn sie einmal das ganze Bild erkannt haben wird, dann wird sie mit Begeisterung bei der Sache sein.«

Julia war sehr fasziniert. Sie versuchte, den Gedanken zu folgen. »Wenn sie mir gesagt hätten, dass Patricia mit Handschuh und Perlennetz im Garten umher läuft, dann hätte ich ihnen das nie geglaubt. Und doch sah sie so glücklich aus.«

Er ließ ihre Hand wieder los. »Und glauben sie mir, sie ist es auch, und sie freut sich sehr auf ihre Zukunft.«

»Warum verschwenden wir hier Zeit?« Julia hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich müsste dringend trainieren.«

Frau Hegel lächelte. »Oh, Geduld gehört aber auch zu den Tugenden eines guten Engels. Und glauben sie mir, sie werden noch genügend Zeit zum Trainieren haben.«

»Haben sie sich eigentlich gestern einen konkreten Trainingsplan ausgearbeitet?« Herr Hegel lehnte sich wieder zurück.

»Nein, dazu hätte ich ja wissen müssen, was ich noch alles lernen muss.« Sie konnte nicht verhindern, dass in ihrer Stimme ein Vorwurf mitklang.

Herr Hegel lachte. »Da haben sie natürlich recht. Außerdem gibt es noch so viel zu lernen, dass es eigentlich sogar gleichgültig ist, wann sie was lernen.«

Es war Julia nicht klar, ob er mit dieser Aussage ihr Studium oder ihren Weg zum Engel meinte. Doch letztendlich spielte es auch keine Rolle. Sie würde viel lernen müssen.

»Aber sie sollten auch regelmäßig ihre Pausen im Auge behalten. Frauke wird sie sicher gern an die eine oder andere Pause erinnern.« Er drehte sich zu der Dienerin. »Nicht wahr, Frau Wiesl?«

Frauke nickte verlegen, denn sie war etwas in Gedanken. Sie hatte bisher gedacht, Julia würde sich mit Patricia anfreunden und sie ihr wegnehmen. Deswegen fühlte sie vor allem Eifersucht. Doch gerade eben hatte sie offensichtlich den Freund von Vogels Tochter kennengelernt und hatte schnell realisiert, dass Patricia ihr Herz schon verschenkt hatte. Ihre Augen hatten immer dann besonders geleuchtet, wenn sie den vermeintlichen Gärtner angesehen hatte.

Doch sie war sich nicht sicher, ob Julia das ebenso erkannte hatte. Denn als Engel und vor allem als ihre Patricias Partnerin würde sie noch sehr viel Zeit mit dem so faszinierenden Mädchen verbringen. Frauke beschloss für sich, weiterhin um Julia zu kämpfen.

Sie war sich noch immer sehr unsicher über ihre Beziehung zu Julia. Sie war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine Beziehung war. Denn bisher hatte sie ihr nur etwas von einer kleineren Schwester erzählt. Und Frauke war zwar fasziniert von ihren Gefühlen, als sie Julia letzte Nacht so zärtlich von Orgasmus zu Orgasmus gestreichelte hatte. Doch es kam ihr auch immer noch etwas unfair vor, weil Julia sich überhaupt nicht dagegen wehren konnte.


»Und was ist für das Haltungstraining alles wichtig?« Julia war sich nicht sicher, ob sie es wirklich schon wissen wollte, doch sie fühlte, dass die Gelegenheit günstig war. Im Studienalltag gab es sonst für solche Gespräche kaum Zeit.

»Wollen sie das wirklich schon wissen?« Herr Hegel blickte seine Studentin nachdenklich an. »Wir dachten, dass sie sich erst einmal mit dem Pferd vertraut machen sollten.«

»Ja, aber wenn ich weiß, was noch alles kommen wird, dann kann ich es auch kombinieren.« Julia wusste in diesem Moment nicht, woher sie den Mut nahm, ihrem Professor zu widersprechen.

»Wir möchten sie nicht überfordern, aber wenn sie meinen, dass sie die einzelnen Sachen kombinieren können, dann werden wir ihnen gern dabei helfen.« Er lächelte. »Das liegt ja in unser beider Interesse.«

»Und was ist nun alles wichtig?« Julia spürte, dass sie quasi 'gewonnen' hatte.

»Nun, vor allem ist ein größeres Korsett wichtig.« Frau Hegel kam ihrem Mann zu Hilfe.

»Größer?« Julia runzelte die Stirn.

Frau Hegel lachte. »Ja, 'größer' ist wohl die falsche Vokabel. Das neue Korsett wird länger sein und von den Schultern bis zur Hüfte reichen.«

Julia realisierte erst jetzt, dass Patricia in der Kirche seltsam gerade gesessen hatte. Sie äußerte dies. »Gehört das auch zur Haltung dazu?«

»Ja, das sehen sie richtig.« Die Frau des Professors nickte. »Die Haltung eines Engels muss zu jeder Zeit perfekt sein, vor allem aber im Gottesdienst.«

»Das stimmt so nicht.« Der Professor widersprach seiner Frau. »Aber bei uns in der Gemeinde wäre es von großem Vorteil, weil die Pfarrerin...« Er hielt inne und wurde ein wenig rot. Eine Reaktion, die sie so bewusst das erste Mal bei ihrem Professor bemerkte.

Seine Frau kam ihm zu Hilfe. »Ein Engel sollte immer eine gute Haltung haben.« Und als sie Julias verwunderten Blick sah, sprach sie weiter. »Sie werden die Zusammenhänge bald erkennen.« Dabei blickte sie kurz und verstohlen zu ihrem Mann.

»Und natürlich sind auch Schuhe mit hohen Absätzen wichtig.« Frauke war der Meinung, dass Julia nun genug gelitten hatte.

»Aber gerade damit müssen sie vorsichtig sein, damit es nicht zu körperlichen Schäden kommt.« Herrn Hegel waren diese Aspekte nicht geheuer, doch er wusste, wie wichtig sie waren.

»Warum das?« Julia konnte sich mit dem Thema High Heels bisher auch nicht wirklich anfreunden.

»Die Muskeln gewöhnen sich sonst an die Haltung, und das ist nicht gut.« Frau Hegel hoffte, die richtigen Argumente zu finden. »Zumindest in der Anfangsphase sollten sie immer wieder zwischen hohem und flachem Absatz wechseln.«

»Aber dann kann ich den Handschuh nicht tragen.« Julia hatte sofort erkannt, dass es hier wie beim Rockreißverschluss war, den sie im Handschuh nicht bedienen konnte.

»Oh, Carolin hatte für dieses Training noch ein Hilfsmittel.« Frau Hegel war über den Verlauf des Gesprächs sehr erleichtert.

»Einen Schuhlöffel?« Julia konnte sich zwar nicht vorstellen, wie dieses Gerät ihre etwas seltsamen Probleme lösen konnte, doch sie wollte zeigen, dass sie versuchte, mitzudenken. Ihr fielen wieder die hohen Absätze an Patricias Schuhen ein, die sie im Garten bewundert hatte.

»Nein, in die andere Richtung gedacht.« Frau Hegel schmunzelte. »Sie hatte Pantoffeln mit hohen Absätzen. Die lassen sich einfach abstreifen und genauso einfach kann man wieder hinein schlüpfen, ohne die Hände zu Hilfe nehmen zu müssen.«

Julias Augen begannen zu leuchten. »Ist ja praktisch und so gut durchdacht.«

»Es sollen ja keine unnötigen Schikanen sein.« Herr Hegel war erleichtert, dass dieses Thema besprochen war.

Julia gab sich ebenfalls erleichtert. »Mir wäre ganz recht, wenn sie mir wenigstens signalisieren könnten, welche Zeiträume ich schaffen muss.«

»Machen sie sich darüber keine Sorgen.« Frau Hegel sah sie liebevoll an. »Wir sind der Meinung, dass es mit der verbleibenden Zeit durchaus zu schaffen ist, auch wenn Frau Reger diesbezüglich anderer Meinung ist.«

»Und wenn ich einfach gehe?« Julia fragte sich, wo sie den Mut her nahm, diese Frage zu stellen.

»Das ist das Risiko, welches wir zu tragen haben.« Herr Hegel lehnte sich zurück, um scheinbar Gelassenheit zu zeigen. Tatsächlich war er hoch angespannt. » Sie haben sicher schon realisiert, dass sie unsere letzte Möglichkeit sind, unser Ziel zu erreichen. Das soll sie jetzt aber bitte nicht unter Druck setzen.«

»Jetzt bist du aber unfair, Winfried.« Seine Frau widersprach ihm. »Genau damit setzt du doch Frau Sommer unter Druck.«

Julia musste sich erst räuspern, bevor sie weiter sprechen konnte. »Ich werde mein Bestes geben. Wenn sie scheitern sollten, soll es nicht an mit mir liegen. Ich werde alles lernen, was nötig ist.« Sie holte tief Luft. »Wenn ich es richtig verstanden haben, dann geht es um einen Zeitraum von Wochen?«

»Es nutzt wohl nicht, es ihnen vorenthalten zu wollen.« Herr Hegel lächelte trotz seiner Anspannung. »Am Sonntag in zwei Wochen wollen wir sie vorstellen. Wenn sie einmal angenommen wurden, dann haben sie mit allen anderen neuen Mädchen genügend Zeit zum Trainieren.«

»Okay«, Julia hatte Schwierigkeiten, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. »Das heißt, ich muss die nächsten zwei Wochen verstärkt arbeiten und trainieren.«

»Das würden wir von ihnen erwarten.« Frau Hegel lächelte ebenfalls. »Und natürlich sind wir der Meinung, dass sie es auch schaffen könnten, sonst hätten wir das gar nicht angefangen.«

Julia spürte auf einmal eine Vertrautheit, die für sie noch ganz ungewohnt war. »Wissen sie, was mir am meisten Schwierigkeiten bereitet?« Sie wurde rot, und es wurde deutlich, dass es ihr schwer fiel, weiter zu reden. »Die Sachen erregen mich.« Sie hoffte, nicht deutlicher werden zu müssen, da ihr das Thema eher peinlich war. »Es tut mir leid, dass ich meinen Körper nicht so unter Kontrolle habe, wie ich das gern möchte.«

Herr Hegel gab sich in diesem Moment sehr sensibel. »Ich mag nicht nachfragen, weil ich spüre, dass ihnen das Thema unangenehm ist. Doch ich kann sie beruhigen.« Er lächelte vorsichtig. »Es gibt keinen Grund zur Sorge, wirklich nicht.«

»Im Gegenteil, diese Reaktionen sind bei den Engeln sogar sehr erwünscht.« Frau Hegel streichelte Julia vorsichtig über den Kopf. »Sie brauchen diesbezüglich kein schlechtes Gewissen haben.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Und ich kann ihnen versichern, dass sie wirklich gut auf Carolins Weg unterwegs sind.«

»Zumindest wenn sie im Haus sind, dürfen sie sich gern gehen lassen und ihren Gefühlen freien Lauf lassen.« Herr Hegel blickte zu Boden. »Und da sie ohnehin die Perlen tragen werden, werden wir es kaum mitbekommen.«

Julia musste einen Moment überlegen, um zu erkennen, wie dieser Satz gemeint war. Schließlich lächelte sie. »Das könnten sehr interessante Zeiten werden.«

»Ein Engel zeigt nicht, wenn er einen Höhepunkt hat. Er versucht es zu verbergen.« Herr Hegel hob langsam wieder den Kopf. »Dafür sind sie ja schon bestens geeignet.«

»Wie meinen sie das?« Julia war der besondere Tonfall aufgefallen.

Erst jetzt bemerkte Herr Hegel, dass er sich verplappert hatte. »Ich glaube, Frau Wiesl hatte so etwas erwähnt.« Er wandte sich an Frauke. »Nicht wahr? Sie hatten so etwas angedeutet.«

Frauke hatte die Bedrängnis von Herrn Hegels ebenso bemerkt. Und sie war bemüht, ihrem Dienstherrn eine Brücke zu bauen. »Sie schläft so ruhig, dass wir sie in dem Nachthemd gar nicht festschnallen müssen.«

Julia stand der Mund auf. »Ich hatte mir die Engel ganz anders vorgestellt.« Sie machte ein sehr verblüfftes Gesicht.

»Jetzt sind sie hoffentlich nicht enttäuscht?« Frau Hegel hatte Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken.

»Nein, natürlich nicht.« Julia holte tief Luft. »Aber ich bin sehr gespannt auf die anderen Engel. Wie ist das mit Patricia? Gilt das auch für sie?«

»Ja, natürlich«, bestätigte Herr Hegel. »Das gilt auch für Vogels Tochter.«

»Aber sie hat doch einen Freund.« Julia war sehr begierig dabei, möglichst viel über die Engel zu erfahren.

»Patricia wird einmal ein sehr guter Engel werden.« Herr Hegel gab sich zuversichtlich. »Ihr Vater ist sehr stolz auf seine Tochter. Und ich denke, sie werden ihr eine gute Partnerin werden.«

Julia bemerkte in ihrer Aufregung nicht, dass er die Frage nach dem Freund gar nicht beantwortet hatte. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf Frauke. Und sie glaubte, bei ihr eine gewisse Erleichterung erkannt zu haben.

Herr Hegel blickte demonstrativ auf seine Uhr. »Ich denke, wir sollten dann langsam aufbrechen.« Er gab der Bedienung ein Zeichen. »Sie wollen ja schließlich noch das Pferd ausprobieren.«

Frauke freute sich insgeheim schon darauf, denn auf dem Pferd sitzen war eine der wenigen Sachen, die ihr keine Probleme bereitet hatten. Außerdem war sie sehr erleichtert darüber, dass Patricia schon einen Freund zu haben schien und vor allem, dass Julia dies auch erkannt hatte. Doch ob sie ihre Eifersucht unter Kontrolle haben würde bei dem zukünftigen engem Kontakt zwischen den beiden neuen Engeln, dass wusste sie nicht.


Auf dem Weg zum Auto gingen Frauke und Julia nebeneinander. Beide waren immer noch sehr beeindruckt von der Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit, mit der Patricia aufgetreten war. Und selbst Frauke, die wusste, dass Patricia zum Teil nur eine Komödie spielte, hatte Schwierigkeiten zu sagen, welcher Teil vom Auftritt von Vogels Tochter echt war und was gespielt. Sie hatte insgeheim den Eindruck, dass Patricia den Auftritt sehr genossen hatte. So gesehen war alles echt.

»Patricia sah sehr glücklich aus.« Julia gab ihren Eindruck wieder. »Man konnte es richtig spüren, wie sehr sie sich auf die Engel freute.«

»Aber wir wissen immer noch nicht, was die Engel genau sind.« Frauke sagte in diesem Moment die Wahrheit, denn auch bei ihr selbst war es nie zu einer Vorstellung oder zu Kontakt mit anderen Engeln gekommen. Und das lag nicht einmal an ihrem besonderen Status.

»Ja, das ist wohl wahr.« Julia seufzte. »Aber so glücklich wie sie war, kann es nichts schlimmes sein. Sie hat sich ja sogar mit ihrem Freund getroffen.«

»Sie scheint ihn vor ihren Eltern verstecken zu müssen«, spekulierte Frauke. »Was wird sich wohl heute Abend in ihrem Zimmer abspielen?«

Julia lächelte zunächst nur, doch dann blieb sie stehen. »Wirst du mich heute Abend wieder ins Bett bringen?«

Frauke blieb ebenfalls stehen und drehte sich zu Julia. »Wenn du möchtest, dann gern.«

»Kannst du nicht einmal die ganze Nacht bei mir bleiben?« In der Stimme der Studentin lag viel Sehnsucht.

»Da müsste ich Hegels fragen.« Frauke wollte in diesem Moment ein 'Nein' unbedingt vermeiden.

»Ich würde beim Erwachen sehr gern in deine Augen blicken.« Julia hatte in diesem Moment ihre Intelligenz abgeschaltet und ließ nur noch ihre Gefühle sprechen. »Es bedeutet mir sehr viel.«

»Wir könnten Hegels fragen, was sie davon halten.« Frauke holte tief Luft. »Aber zu viel Hoffnung solltest du dir nicht machen.« Sie seufzte deutlich. »Ich kann meinen Gürtel nicht ablegen, und du wirst Deinen morgen bekommen.«

»Das macht mir nichts aus.« Sie beugte sich vor, und ihr Mund suchte die Lippen von Frauke. »Du bist nicht nur meine Schwester.«

Frauke seufzte leise, als sie Julias Lippen auf den Ihren spürte.


»Frau Wiesl, so geht das nicht.« Herr Hegel hatte sich zu dem Paar umgedreht. »Sie dürfen nicht so weit zurück bleiben, sonst bekommen sie Ärger.«

»Ja, natürlich.« Frauke ließ von Julia ab. »Wir müssen weiter gehen.«

Julia seufzte nur. Sie wusste nicht, was aufregender war. Der spontane Kuss oder der faszinierende Auftritt von Patricia.

»Das meinte ich nicht.« Herr Hegel gab sich Mühe, freundlich zu klingen. »Wenn sie eine Pause brauchen, dann sagen sie es. Wir warten gern.«

Frauke war über die Worte mehr als verwundert. »Es stört sie überhaupt nicht, dass Julia und ich...« Sie sprach nicht weiter.

»Nein, warum sollte es uns stören?« Frau Hegel hatte sich ebenfalls umgedreht. »Im Gegenteil, es freut uns, wenn Julia eine Vertraute hat. Sie dürfen das auch gern zeigen. Wir müssen nur ihre sonstigen Verpflichten im Auge behalten.«

»Sie haben wirklich nichts dagegen?« Frauke war vor Verblüffung wie gelähmt. Erst eine Berührung an ihrer Hand weckte sie wieder auf. Sie blickte nach unten.

Julia hatte ihre Hand ergriffen. Sie fühlte sich von Hegels Worten sehr ermutigt und ahnte, dass es Zeit für ein Zeichen war. Sehr erfreut stellte sie fest, dass Frauke auf ihr Angebot einging und ihre Hand fest um Julias Hand geschlossen hatte.

Den Rest des Weges gingen sie schweigend, aber Hand in Hand.


Julia wusste, dass die Fahrt zurück zu Hegels nicht allzu lange dauern würde, trotzdem wartete sie mit ihrer Frage, bis Herr Hegel losgefahren war. »Könnten sie mir noch einmal sagen, was ich alles tun kann, um meine Haltung zu verbessern?« Sie wollte zeigen, dass sie der Tadel der Pfarrerin getroffen hatte, und dass es keine weitere Aufforderung von Hegels mehr brauchen würde.

»Ich bin froh, dass sie von sich aus nachfragen.« Herrn Hegels Stimme zeigte deutlich seine Erleichterung. »Wir hätten ihnen das Ganze nur schlecht befehlen können.«

»Vor allem weil es zu Beginn zumindest eher unangenehm ist«, ergänzte Frau Hegel.

Julia schluckte kurz. »Und auf was muss ich alles achten?«

Die Frau des Professors zählte auf: »Gerade stehen, die Schultern zurücknehmen und den Oberkörper vorstrecken.« Sie lächelte. »Es gibt aber für alles geeignete Hilfsmittel.«

Julia grinste Frauke an. »Warum überrascht mich das jetzt nicht?«

Als Antwort ergriff die Dienerin wieder Julias Hand.

»Lassen sie mich raten.« Julia hatte ein deutliches Lächeln in der Stimme. »Ich trage den Handschuh für die Haltung der Schultern und die High Heels für die Gesamthaltung und die Körperstreckung.«

»Der Handschuh wäre optimal, aber es gäbe auch Geradehalter, die Öffentlichkeitstauglich sind.« Der Professor grinste. »Mit dem Handschuh möchte ich sie nicht in der Uni sehen.«

Frau Hegel drehte sich kurz nach hinten. »Wenn sie dazu noch so ein Korsett tragen, wird es insgesamt einfacher.«

»Dann haben sie mich ja schon gut vorbereitet«, schmunzelte Julia.

»Es darf dann nur etwas strenger ausfallen als das für die Uniform«, ergänzte Frau Hegel.

»Es scheint, als haben wir mit ihnen wirklich großes Glück gehabt.« Herr Hegel musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Nur kurz versuchte er einen Blick in den Rückspiegel. »Ich glaube, mit ihnen könnten wir unsere Ziele wirklich noch erreichen.«

Julia machte den Mund auf, um ihn gleich danach wieder zu schließen. Sie lächelte verlegen. »Nein, ich will noch nichts über die Zukunft wissen. Ich hoffe nur, es wird so bleiben, wie es jetzt ist.«

»Das können wir ihnen nicht versprechen.« Frau Hegel lächelte. »Aber ich denke, sie könnten glücklich werden.«

»Und wenn sie heute noch das Pferd bei sich im Zimmer aufbauen und damit ein wenig den Umgang üben, dann wären wir auch glücklich.« Herr Hegel setzte den Blinker, um auf ihr Grundstück einzubiegen. »Wir würden uns sehr freuen, wenn sie es schaffen würden, am Donnerstag darauf zu sitzen.«

»Das Pferd ist wichtig für die Engel.« Julia sprach ihre Gedanken aus, während sie versuchte, den Sicherheitsgurt zu lösen. Doch sofort wurde sie wieder an die Bluse erinnert, die die dafür nötige Bewegung etwas erschwerte. Doch schließlich konnte sie mit einem stolzen Lächeln die Tür öffnen. »Wo finde ich das Pferd?«

Insgeheim wunderte sich Julia, dass sie den Wunsch Hegels für sich überhaupt nicht in Frage stellte. Sie hatte sofort erkannt, wie hilflos sie auf dem Pferd sein würde. Und sie hätte sich eigentlich auch dagegen wehren müssen, auf so eine provokante Art sitzen zu müssen. Doch irgendetwas tief in ihrem Inneren sagte ihr, dass alles in Ordnung war und dass kein Grund zur Besorgnis bestand.

»Meine Frau, Frau Wiesl und ich werden ihnen beim Transportieren und beim Aufbauen helfen.« Herr Hegel sprach etwas lauter, damit er außerhalb des Autos gehört werden konnte. »Doch zuvor möchten sie sich bestimmt umziehen.« Er stieg aus und suchte den Blick der Dienerin. »Sie helfen ihr bitte mit der Uniform.«

»Und für das Pferd wäre es gut, wenn sie sich so etwas wie eine Leggings aussuchen«, ergänzte Frau Hegel. »Den Rock können sie auf dem Pferd nicht tragen.«

»Verständlich«, lächelte Julia. Insgeheim fragte sie sich, was der Tag wohl noch alles an aufregendem Neuen bringen würde.

* * *

»Und, was hast du dir ausgesucht?« Frauke hatte sich wieder die weiße Schürze umgelegt. Eigentlich hätte sie sie den ganzen Tag ohne Ausnahme tragen müssen, deswegen war sie Hegels sehr dankbar, dass sie ihr in der Kirche und beim Essen diese Demütigung erspart hatten.

Julia blickte auf den kleinen Stapel auf ihrem Schreibtisch, den sie dort schon bereit gelegt hatte. »Ob ich das wohl auch kombinieren könnte?« Sie zeigte die weiße Lackbluse und das dunkelblaue Top aus dem gleichen Material. »Ich weiß nicht, ob das für das Pferd passt.«

»Das Mädchen auf dem Foto trug auch noch einen Handschuh.« Frauke blickte auf die Bluse und runzelte die Stirn.

»Aber heute ist Sonntag, und da wollte ich nicht einfach nur ein T-Shirt tragen.« Julia erkannte, dass sie sich zwischen Eleganz und dem faszinierenden Handschuh entscheiden musste. Die Blusenärmel würden von dem Handschuh zerknittert werden, und das wollte sie vermeiden.

»Heute sollst du ja erst einmal das Sitzen auf dem Pferd üben.« Fraukes Miene entspannte sich ein wenig. »Jetzt soll ich dich bestimmt erst einmal von der Uniform befreien?«

Julia nickte. »Der Gedanke, in meiner Kleidung eingesperrt zu sein, hat etwas Faszinierendes.« Doch dann blickte sie sich irritiert um. »Wo ist eigentlich das Pferd?«

»Du kannst es wohl nicht erwarten?« Frauke trat näher und öffnete Julia die Bluse.

Julia nickte verlegen.

»Die Teile dafür sind noch im Keller.« Frauke sah zu, wie sich Julia langsam aus der Bluse schälte und sich gleich darauf den Rock öffnete. »Frau Hegel wartet auf uns. Wir bauen es gemeinsam auf.«

»Warum sagst du das nicht gleich?« Julias nachfolgende Bewegungen zum Aus- und Anziehen waren wesentlich schneller.


Schließlich stand sie mit strahlenden Augen vor der Dienerin. »Ich bin bereit, gehen wir?«

»Einen Moment noch.« Frauke hatte noch ein kleines Anliegen. »Wenn wir den Keller betreten, dann lass dir bitte nicht anmerken, dass du die Badewanne schon kennst.« Frauke war sich im Nachhinein nicht mehr sicher, ob sie Julia den Keller überhaupt hätte zeigen dürfen.

Julia blickte verwundert auf. »Kann ich machen.« Sie fühlte, dass Frauke so etwas wie ein schlechtes Gewissen hatte, doch sie wollte es nicht hinterfragen.

Aber ihre Gedanken beschäftigten sich sofort wieder mit dem so außergewöhnlichen Alltag von Carolin. Sie sah sich selbst in der Wanne sitzen, mit einem Handschuh aus durchsichtigem Plastik und mit Klettverschlüssen verschlossen. Und vor dem Bad kniete ihre große Schwester und verwöhnte ihren jetzt wehrlosen Körper.

Doch dann musste sie über sich selbst lächeln. Sie hatte den Handschuh insgesamt nur wenige Male getragen, in Summe höchstens zwei bis drei Stunden, schätze sie nachdenklich. Es war gewiss nicht angebracht, jetzt schon drüber nachzudenken, den Handschuh rund um die Uhr tragen zu wollen.


Als sie den ihr schon bekannten Kellerraum betrat, musste sie sich gleich doppelt wundern. Sie hatte sich am Samstag zwar nicht groß umgeschaut, doch ein Pferd wäre ihr doch sofort aufgefallen. Die zweite Überraschung bestand darin, dass die bewusste Badewanne jetzt mit einem Stofftuch bedeckt war. Julia war insgesamt erleichtert, weil sie so nicht in Verlegenheit kommen konnte, sich zu verraten.

»Hier bin ich.« Frau Hegel stand an einem der Regale. »Sie sehen aber schick aus, Julia. Ich sehe, dass sie unserem Rat gefolgt sind.« Im Treppenhaus hatte sie ihr noch einmal ausdrücklich mitgeteilt, dass sie sich heute etwas aussuchen sollte, bei dem sie die Beine frei hatte. 'Ich hatte es schon gesagt, aber von der Pflicht, den Rock zu tragen, sind sie heute befreit', hatte sie noch hinzu gefügt.

»Danke.« Julia blickte an sich herunter. Eigentlich wäre eine schicke Anzughose zu der Bluse passender gewesen, doch Carolin schien nur ganz wenige Hosen zu haben. Außerdem hatte Frauke ihr die Leggings schon heraus gelegt, und sie wollte sie diesbezüglich auch nicht enttäuschen.

»Wir müssen eine dieser zwei Platten nach oben bringen.« Sie zeigte auf das Regal neben sich, an dem zwei dicken runde Stahlplatten lehnte. Deutlich zu erkennen waren die Gummileisten, die die Platten jeweils als äußeren Ring umgaben. »Wir können sie rollen. Und im Treppenhaus wird mein Mann auch mit anfassen, wenn ich ihn rufe.«

Rings um die Platten waren einige Grifflöcher vorgesehen und in der Mitte war ein Loch mit Gewinde, wie Julia mit ihrem geschulten Blick sofort erkannte. »Zu viert sollten wir das schaffen.«

Neben der Platte lag noch eine längliche Tasche. »Das sind die Tragestangen.« Sie lächelte. »Ich habe das schon zusammen gepackt.«

Zu dritt drehten sie die schwere Platte in Richtung Tür. Julia schätzte das Gewicht der Platte zwischen vierzig und fünfzig Kilo.

»Ach Julia, nehmen sie sich bitte noch eine Mondensichel mit.« Sie zeigte auf ein anderes Fach im Regal, dann drehte sie sich zu der Dienerin. »Frauke, wissen sie, wo die kleine Standfläche ist?«

Frauke ging zu einem anderen Regal und holte eine Holzscheibe hervor, die Durchmesser von einem knappen dreiviertel Meter hatte. Auch hier gab es ein Loch in der Mitte.

Julia war vor das Regal getreten, auf welches Frau Hegel gezeigt hatte und blickte sich um. Doch sie sah nichts, was sie mit dem genannten Wort in Übereinstimmung bringen konnte. »Ich weiß nicht, was sie meinen.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Vor ihrer Nase liegen zwei bananenförmige Apparate, nur größer.« Frau Hegel hatte Mühe, ihre Nervosität nicht zu zeigen. »Das sind die Modensicheln.«

Jetzt erkannte Julia die Form auch wieder. Sie hatte diesen seltsamen Sattel schon auf dem Foto gesehen. »Welche soll ich nehmen? Eine von diesen Mondensicheln hat ein Loch.« Natürlich hatte Julia schon verstanden, dass sie auf diesen seltsam geformten Sattel sitzen würde, trotzdem gefiel ihr dieser verklärende Begriff sehr gut.

»Nehmen sie bitte den ohne Loch« Frau Hegel keuchte leicht.

»Und wofür ist das Loch?« Julia wusste im Nachhinein nicht mehr, warum sie diese Frage gestellt hatte.

»Das willst du jetzt noch nicht wissen, glaube mir.« Frauke schaffte es nicht, ihr Grinsen zu verbergen.

Julia verdrehte die Augen. Sie hatte das Foto noch gut in Erinnerung, und sie hatte natürlich auch den Sattel erkannt, den sie jetzt in der Hand hatte. Und das Loch war genau an der Stelle zu ihrer... Sie wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. »Du hast recht, das will ich gar nicht wissen.« Sie verdrehte die Augen, auch weil sie sich sicher war, dass sie um das zweifelhafte Vergnügen nicht herumkommen würde. »Zumindest noch nicht«, ergänzte sie verlegen.


»Okay, das hatte ich mir schlimmer vorgestellt.« Frau Hegel blickte erleichtert auf die runde Stahlplatte, die jetzt in Julias Zimmer an der vorgesehenen Stelle lag. Immerhin hatte sie nur einmal kurz Pause machen müssen.

Trotzdem war allen die Erleichterung anzusehen. »Ich denke, wir erholen uns noch einen Moment und dann beginnen wir mit dem Aufbau. Danke Winfried« Sie gab ihrem Mann zu verstehen, dass sie den nächsten Teil ohne ihn machen wollten.

In diesem Moment kündigte das Geräusch einer Tram deren Ankunft an. Frauke und Julia wechselten kurz den Blick.

»Geh ruhig.« Julia hatte natürlich sofort erkannt, was Frauke bewegte, obwohl sie Mühe hatte, ihre Ungeduld unter Kontrolle zu halten. Doch ihr Körper signalisierte auch ihr, dass sie nach dem Bewegen der schweren Platte eine Erholung nötig hatte.

Frau Hegel blickte der Dienerin hinterher, als sie zum Fenster ging, sagte aber nichts. Erst als die Tram wieder abgefahren war, erhob sie sich und ging zur Tasche, die noch auf der Standplatte lag.

Julia nahm dies als Signal, ebenfalls aufzustehen. Sie hatte gesehen, dass Frau Hegel sowohl das Foto als auch eine Anleitung mitgebracht hatte. Sie wurde nervöser.

»Es mag zwar auf den ersten Blick lächerlich erscheinen, aber wir sollten uns genau an die Anleitung halten.« Frau Hegel versuchte, ihre Sorgfalt zu begründen. »Immerhin ist das ein ungewöhnliches Möbel, und wir sollten es sorgfältig aufbauen.«

Julia nahm die Anleitung in die Hand und sah sie sich kurz an. Es waren nur wenige Teile zusammen zu fügen, doch da sie sich nachher diesem Gerät anvertrauen musste, wollte sie die Anleitung zumindest einmal gesehen haben.

Sie wollte sie schon wieder weglegen, als ihr auf einmal der untere Rand auffiel. Dort war so etwas wie ein Hersteller angegeben. Und dort stand es wieder: ARCANVM ANGELARVM. Doch was Julia noch viel mehr faszinierte, diesmal war dazu eine Adresse abgegeben. Werkstatt, Im Burghof 4, 86655 Harburg / Schwaben.

Sie versuchte, sich diese Adresse einzuprägen, auch wenn noch überhaupt nicht wusste, was dies zu bedeuten hatte. Sie blickte kurz zu Frau Hegel und als sie sah, dass diese schon ein Rohr aus der Tasche genommen hatte, legte sie die Anleitung wieder weg.

»Dies ist die wichtigste Stange.« Sie begann sie in das Loch in der Grundplatte einzuschrauben. »Die sollte gut festgeschraubt sein.«

Julia kam näher und erst jetzt erkannte sie, dass es kein Rohr war, sondern eine massive runde Eisenstange mit einem Durchmesser von vier Zentimetern. Oben war ebenfalls ein Gewinde angebracht und kurz darunter befand sich ein Loch von zirka einem Zentimeter. Die Studentin erkannte den Zweck dieses Loches erst, als sie sah, dass Frau Hegel eine kurze Stange hindurch geschoben hatte. Damit hatte sie eine bessere Hebelwirkung, um die senkrechte Stange möglich fest in der Standplatte zu verankern.

»Und da kommt noch der Sattel drauf?« Julia blickte auf den bananenförmigen Gegenstand, der schon in Reichweite lag. »Das ist doch viel zu hoch?« Sie wunderte sich ein wenig.

Doch Frau Hegel ließ sich dadurch nicht aus dem Konzept bringen. »Warten sie es ab.« Sie lächelte, dann holte sie die nächste Stange aus der Tasche. »Diese Stange ist die zweitwichtigste.«

Julia sah, dass die Stange in der Mitte einen größeren Ring hatte, der genau auf die senkrechte Stange passte. »Das ist für meine Beine?« Eigentlich war es eine rhetorische Frage, denn so viel Stangen waren auf dem Foto auch nicht zu sehen.

»Das ist richtig.« Frau Hegel lächelte, während sie sich auf die Bodenplatte kniete. »Diese Stange muss sorgfältig befestigt werden, denn sie wird einmal ein Großteil ihres Gewichtes tragen.«

Julia trat näher, denn sie hatte im unteren Drittel der Stange eine Art seltsame Verzierung gesehen. Doch jetzt erkannte sie, dass es schlangenförmig angeordnete Vertiefungen waren, die es ermöglichten, die waagerechte Stange in jeder gewünschten Höhe zu fixieren. Zu ihrer Überraschung wurde die waagerechte Stange aber noch nicht festgeschraubt.

»Wir setzen zuerst die Mondensichel darauf, und wenn sie Platz genommen haben, werden wir die Stange an ihre Größe anpassen.« Frau Hegel hatte den fragenden Blick bemerkt.

»Fehlt nicht noch die Standplatte?« Frauke trat näher und hatte die runde Holzscheibe in der Hand.

»Richtig, Frau Wiesl.« Frau Hegel hielt inne. »Die Platte muss noch drauf.«

Erst jetzt erkannte Julia, dass die senkrechte Stange im unteren Teil etwas dicker war. Und so wie sie es vermutet hatte, konnte die Holzplatte dort festgeschraubt werden.

»Die Platte wird nur zum Aufsteigen benötigt.« Frau Hegel erklärte die Zusammenhänge.

Julia hatte sich in der Zwischenzeit den Sattel zur Hand genommen und streichelte ihn zärtlich. Er war sehr weich gepolstert, und doch war unter dem Polster stabiles Material zu fühlen, Julia vermutete Holz.

»Die Sichel bitte einfach erst einmal auf das Rohr stecken. Wir schrauben sie erst später fest. Erst einmal muss sie noch drehbar sein.« Frau Hegel war noch dabei, an der Holzplatte ein paar Schrauben anzuziehen.

Julia zitterte, als sie die Sichel langsam auf die Stange steckte. Schon jetzt sah sie sich in Gedanken darauf sitzen und ihre Hände waren im Handschuh gefangen, genau wie auf dem Foto.

»So schnell geht das nicht.« Frau Hegel unterbrach Julias Gedanken. »Sie müssen sich erst noch die dazugehörigen Stiefel anziehen.« Sie wandte sich an Frauke. »Haben sie die Stiefel herausgesucht?«

»Hier sind sie.« Frauke reichte Julia die Stiefel, die sie zuvor bereitgestellt hatte.

»Was... Was sind denn das für Stiefel?« Julia keuchte heftig.

»Das sind sogenannte Ballettstiefel«, erklärte Frau Hegel.

»Damit gehst du auf Zehenspitzen.«, ergänzte Frauke.

»Jetzt machen sie Julia bitte keine Angst.« Frau Hegel hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. »Julia wird damit nur ganz wenige Schritte gehen müssen.«

Julia blickte verwirrt zwischen Frau Hegel und Frauke hin und her.

»Sie sollen sie auf dem Pferd tragen, weil sie für die richtige Haltung sorgen.« Frau Hegel war von Julia fasziniert. »Denn ansonsten ist es sehr schwer, sich darauf zu bewegen.«

»Ob ich das wohl einmal ausprobieren dürfte?« Julia war sich nicht sicher, ob sie das überhaupt fragen durfte, denn es hätte den Eindruck erwecken können, sie wolle nur das Sitzen auf dem Pferd noch etwas hinauszögern.

»Wichtig ist, dass sie fest geschnürt werden, damit sie einen guten Halt bieten.« Sie bat Julia, sich auf ihr Bett zu setzen.


Julia hatte die Augen geschlossen, deswegen fühlte sie nur, wie sich das Leder der Stiefelschäfte langsam um ihre Beine legte. Frau Hegel und Frauke hatte sich jeweils ein Bein vorgenommen, und so konnte Julia spüren, wie sich der Druck auf beide Waden langsam erhöhte.

Eigentlich war sie über die Stiefel in der allerersten Sekunde entsetzt gewesen. Doch da sie schon viele zunächst erschreckende Sachen kennenlernen durfte, die sich im Nachhinein als sehr schön erwiesen, hatte sie für sich beschlossen, auch diesen mörderischen Stiefeln eine Chance zu geben.


»Ich würde gern ein paar Schritte damit gehen.« Julias Stimme zitterte deutlich. Sie war zwar nur selten auf High Heels unterwegs, doch sie war auch neugierig. Und wenn auch die Haltung ungewohnt war, so machte es insgesamt doch einen sehr sicheren Eindruck.

»Wir werden sie auf jeden Fall begleiten und Frauke wird sie stützen.« Frau Hegel reichte Julia die Hand und zog sie langsam vom Bett hoch.

Julia zitterte heftig, weil ihre Muskeln ganz ungewohnte Belastungen spürten. Doch schon nach wenigen Schritten spürte sie eine gewisse Sicherheit. »Du kannst locker lassen«, wandte sie sich an Frauke. »Ich glaube, ich habe den Bogen heraus.«

Doch Frau Hegel intervenierte. »Sie halten sie bitte weiterhin fest.«

Julia keuchte ein wenig, denn sie hatte sich nicht gegen ihre Vermieterin aufbegehren wollen.

»Jetzt ist erst einmal das Pferd wichtig.« Frau Hegel musste zu ihrer eigenen Überraschung Julia erst wieder an ihre Pflichten erinnern.

»Ach ja, das Pferd.« Julia keuchte noch lauter.

»Warten sie, wir helfen ihnen hinauf.« Beide reichten Julia die Hand.

Doch das runde Brett, auf das Julia steigen musste, war zu hoch. Selbst mit normalen Schuhe wäre ein Aufsteigen nur sehr schwierig möglich.

»Wir haben etwas vergessen.« Frau Hegel bat Frauke, Julia weiter festzuhalten. Sie griff zunächst zu der kleinen Zeichnung, doch von dort bekam sie keinen weiteren Hinweis. Auf einmal glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. »Wir haben den Hocker vergessen.« Sie ging zur Tür. »Warten sie, ich hole ihn schnell.« Gleich darauf waren eilige Schritte auf der Treppe zu hören, die langsam verklangen.


Julia blickte Frauke verwundert an. »Jetzt bin ich wohl die große Schwester.« Sie lächelte. Die Absätze der Stiefel bewirkten, dass sie nun fast zwanzig Zentimeter größer erschien.

Frauke lächelte, während sie Julia festhielt. »Du siehst wirklich rattenscharf aus in diesen Stiefeln.« Unbewusst zog sie Julia etwas zu sich heran.

»Ich muss jetzt richtig zu dir hinunter schauen.« Julias Stimme wurde leise. Die ungewohnte, aber sehr reizvolle Nähe zu Frauke tat ihr übriges.


Natürlich hatte Frau Hegel schon lange erkannt, dass sie zwischen Julia und Frauke etwas anbahnte, und dass sie mehr verband als nur schwesterliche Gefühle. Sie begrüßte es, denn es war gut, wenn Julia durch möglichst viele Emotionen an ihr Haus gebunden sein würde.

Dass sie den Hocker vergessen hatte, ärgerte sie nur zu Anfang, denn sie hatte erkannt, dass sie ihre beiden Mädchen so in einer sehr reizvollen Umgebung allein lassen musste. Deswegen ließ sie sich auf dem Rückweg auch Zeit.

Leise öffnete sie die Tür zu Julias Zimmer. Sie lächelte, als sie die beiden Frauen in einen intensiven Kuss versunken entdeckte. Sie schloss die Tür wieder so, wie sie sie geöffnet hatte und ging zurück zum Treppenhaus. Sie ging ein paar Stufen hinunter, um dann mit schnellen und lauten Schritten zurück zu kehren. Sie wollte sich einfach bemerkbar machen, bevor sie den Raum betrat.

Denn das zarte Pflänzchen Liebe zwischen Frauke und Julia passte sehr gut in ihre Pläne.


Mit dem Hocker war es für Julia sehr einfach, auf die Holzscheibe zu kommen. Trotzdem hielt Frauke weiterhin ihre Hand.

»Passen sie bitte auf, die Mondensichel kann sich noch frei drehen.« Sie bat Julia, sich jetzt langsam darauf niederzulassen. »Sie werden gleich sehen, warum das so ist.«

Wie schon zuvor musste Julia auch hier auf der Plattform nur wenige Schritte machen, bis sie den Sattel zwischen ihren Beinen hatte und sich langsam darauf niederlassen konnte. Zu ihrer eigenen Überraschung war er wirklich sehr weich gepolstert und bot auch eine optimale Sitzmöglichkeit, wenn man einmal von der ansonsten sehr demütigenden Position absah.

Julias Atem ging heftiger. Es lag aber weniger am Sattel, sondern an ihrer inneren Anspannung. Es war sehr aufregend, Carolins Leben und ihren Pflichten näher zu kommen. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, dieses Sitzen auf dem 'Pferd' hatte sie sich schlimmer vorgestellt.

»Jetzt müssen wir die untere Stange auf Julias Körpergröße einstellen.« Frauke blickte zu Frauke. »Nehmen sie sich bitte den Schraubenschlüssel.«

Julia blickte fasziniert nach unten.

Frau Hegel hob die Stange soweit an, dass sie sich ungefähr auf Höhe von Julias Fußgelenken befand, dann drehte sie die Stange, bis sie in einem Loch der senkrechten Stange festzuschrauben war. »Wir machen sie immer zwei Löcher höher, dann können sich die Engel ein wenig mit den Füßen abstützen.« Sie drehte die Stange noch ein wenig, dann gab sie Frauke die Anweisung, die Stange festzuschrauben. »Julia, merken sie sich: Ihre Position ist die Nummer 14.«

Julia nickte leicht, doch es war ihrem Blick anzusehen, dass sie mit dieser Information noch überhaupt nichts anzufangen wusste. »Nummer 14«, wiederholte sie zitternd.

»Es wird später von den Engeln erwartet, dass sie ihr Pferd selbst aufbauen.« Frau Hegels Stimme klang sentimental. »Und fast alle Engel haben auch darauf bestanden.«

Julias Miene hellte sich ein wenig auf. Trotzdem blieb sie angespannt.

»Jetzt kommt die Halterung für die Stiefel.« Frau Hegel ging wieder zu der Tasche und nahm zwei seltsam geformte Gegenstände heraus. »Auch die müssen auf ihre Größe eingestellt werden, aber das müssen sie in der Regel nur einmal machen.«

Julia erkannte, dass sie sowohl aus Leder als auch aus Metall bestanden.

»Wenn sie erlauben, würden wir das jetzt gleich für sie machen.« Frau Hegel blickte Julia fragend an.

»Ja, bitte.« Julia war mehr als verwundert.

»Ich führe ihr Bein jetzt einmal an die Stange heran.« Frau Hegel legte ihre Hand um Julias Fußgelenk. »Frauke, würden sie Julia im Sattel soweit drehen, dass ihre Füße bei den Stangenenden sind?«

Frauke trat an Julia heraus, fasst sie an die Schulter und drehte sie wie gewünscht.

Gleich darauf fühlte Julia, wie ihr Bein nach außen gezogen wurde. Frau Hegel schnallte das merkwürdige Gerät um Julias Stiefel. Es hatte entfernt Ähnlichkeit mit einem Steigbügel und hatte letztendlich die gleiche Funktion. Es erlaubte der Trägerin, sich im Sattel zu erheben und ihr gesamtes Gewicht vom Schritt auf die Stiefel zu verlagern.

»Wir nehmen Position Nummer vier.« Frau Hegel blickte Frauke ermutigend an, dann begann sie, den Steigbügel an der Stange festzuschrauben und danach um Julias Stiefel zu schnallen.

Die kleine runde Grundfläche des Steigbügels hatte nach oben gebogene Ränder und erlaubte es so, das ganze Gewicht der 'Reiterin' zu tragen. Dadurch, dass die Platte ein wenig geneigt war, glich sie auch die schräge Beinhaltung des jeweiligen Mädchen aus.

Gleich darauf hatte auch Frauke Julias anderes Bein befestigt.

»So, das war es schon.« Frau Hegel erhob sich.

Julia räusperte sich. Trotz ihrer Anspannung war ihr etwas aufgefallen. »Sagten sie nicht, dass der Sattel auch noch festzuschrauben ist?«

»Ach ja richtig.« Frau Hegel ließ sich von Frauke den passenden Schraubenschlüssel geben. »Normalerweise ist der schon fixiert.« Sie beugte sich zum Sattel hinab und zog die entsprechende Schraube an. Dann trat sie einen Schritt zurück.

»Du siehst toll aus.« Es war Frauke anzusehen, wie sehr beeindruckt sie von Julias Sitzen auf dem Pferd war.

»Wie gefällt es ihnen?« Frau Hegels Stimme wurde ein wenig leiser.

»Nun ja...« Julia zögerte etwas. »Ungewohnt, aber schön.« Sie fühlte sie ermutigt, einmal ihre Beine zu belasten und drückte sich etwas aus dem Sattel hoch.

»Ah, das funktioniert also auch.« Frau Hegel ging in Richtung des Spiegels. »Aber lassen sie sich dabei nicht von Männern beobachten. Die sehen das nämlich gar nicht gern.«

Julia wunderte sich etwas, doch um eine Frage zu formulieren, war sie nicht in der Lage.

»So ist es möglich, die Stiefel in der Halterung mit dem ganzen Körpergewicht zu belasten.« Sie lächelte verlegen. »Das haben wir den Männern schon früh als Zugeständnis abgetrotzt.

Julia hörte dem Dialog fasziniert zu. Es schien, dass sich hier die Frauen gegen die Männer verschworen hätten.

»Und was genau bewirkt das?« Frauke war in diesem Moment ein wenig eifersüchtig auf den Sattel, der im Gegensatz zu ihr in Zukunft Julias Heiligstes ausgiebig würde berühren dürfen.

»Naja, so können wir unseren Schritt etwas entlasten, ohne dass es die Männer sehen.« Sie wandte sich wieder an Julia. »Deswegen solltest du auch darauf achten, dass du deine Beine leicht anwinkelst, wenn du festgeschnallt wirst.«

»Versuche ich mir zu merken.« Julia blickte verwundert zu Frau Hegel. Erst jetzt realisierte sie, dass ihr Spiegel durch ein Tuch verhängt war.

»Sie möchten sicher wissen, wie sie aussehen.« Mit einer theatralischen Geste zog Frau Hegel das Tuch herunter.

Julia musste den Kopf weit drehen, um sich im Spiegel sehen zu können, und doch gefiel ihr das, was sie sah, sehr gut. Unwillkürlich legte sie ihre Arme auf den Rücken und nahm die Haltung ein, die sie für den Handschuh brauchte.

»Den Handschuh brauchen wir heute aber noch nicht.« Frau Hegel lächelte, und sehr viel Stolz mischte sich in ihren Blick. »Ich sage dann meinem Mann Bescheid, dass sie schon soweit sind.« Sie verließ mit eiligen Schritten das Zimmer. Gleich darauf waren ihre Schritte auf der Treppe zu hören.

Langsam tauchte Julia wieder in der Realität auf. »Wie sehe ich aus?« Sie kümmerte sich sonst eher weniger um ihr Aussehen, doch in diesem Moment war es ihr wichtig, wie sie ihrem Professor unter die Augen treten würde. »Bitte, ich möchte mich noch einmal kämmen.« Sie drehte sich zu Frauke.

Doch ihre Bitte wurde von Frauke ganz ignoriert. Stattdessen schob sie sich den Hocker zurecht und stieg darauf. Jetzt konnte sie Julia wieder direkt in die Augen sehen. »Erstens bist du auch so wunderschön.« Sie streichelte der Studentin über den Kopf. »Und zweitens habe ich eine bessere Idee.«

Zuerst versuchte Julia noch, sich gegen die Zärtlichkeiten zu wehren, doch dann schlang auch sie ihre Arme um Fraukes Körper, und beide versanken im Reich der Liebe.


»Ich bin mir sicher, dass sie sich wieder küssen werden.« Frau Hegel war mit ihrem Mann bis an die Zimmertür geschlichen. Jetzt flüsterte sie nur noch.

»Dann sollten wir sie doch besser nicht stören?« Herr Hegel hatte sich der Lautstärke angepasst.

»Ich habe dich aber angekündigt.« Sie wartete noch einen Moment, dann klopfte sie deutlich an die Tür.

Es dauerte einige Zeit, bis sie ein 'Herein' hörten. Langsam traten sie ein.


Julia hielt den Atem an, als sie ihren Professor eintreten sah. Sie war sich nicht sicher, in welcher Rolle er ihr nun begegnete. War ihr immer noch ihr Lehrbeauftragter, war er ihr Vermieter oder war er gar der Vater von Carolin? Oder gab es noch eine Rolle, die sie bisher noch gar nicht kennengelernt hatte. Sie beschloss, vorsichtig zu lächeln.

»Ich bin sehr beeindruckt, Frau Sommer.« Er blieb ungefähr zwei Meter vor ihr stehen und ließ seinen Blick an ihr hinauf und hinunter wandern. »Sie machen eine sehr gute Figur.«

»Was sagst du zu den Stiefeln, Winfried?« Frau Hegel war sichtlich stolz auf ihre Mieterin.

»Ja, das gefällt mir annehmend gut.« Er nahm sein Portemonnaie zur Hand und holte einige Scheine heraus. »Wir haben ihnen ja Taschengeld für ihre Leistungen versprochen. Wären sie zunächst mit 400 Euro einverstanden?«

»Wofür ist das?« Ohne dass sie es wollte, runzelte Julia die Stirn.

»Ist es ihnen zu wenig?« Herr Hegel war verwundert. »Soviel haben sie diese Woche ja doch noch nicht geleistet.«

»Nein!« Julia war verlegen. »Ich meine nur, weil ich mir nur 150 ausgerechnet hatte.«

»Sie bringen sehr gute Leistungen, sind sehr engagiert und zeigen Ehrgeiz. Das möchten wir belohnen.« Er blickte sich im Zimmer um. »Ich lege es ihnen auf den Schreibtisch.«

»Danke!« Julia war fast sprachlos. Für so einen Betrag hätte sie früher fast ein Jahr jobben müssen.

Herr Hegel ging die wenigen Schritte zum Schreibtisch und legte die Scheine wie angekündigt auf die Schreibfläche. »Ich freue mich insbesondere, dass sie mit den Ballettstiefeln so gut zurecht kommen.«

»Oh, das stimmt so nicht.« Julia wollte es Richtig stellen. »Ich bin erst wenige Schritte damit gegangen.« Sie hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. »Aber es fühlt sich sehr aufregend an, auch wenn ich noch sehr wackelig damit unterwegs bin.«

»Das freut mich sehr.« Herr Hegel ging wieder zur Position des Pferdes zurück. »Ich freue mich, dass diese Stiefel in unserem Haus endlich wieder getragen werden.«

Julia hatte die Fragen schon auf der Zunge, doch dann erinnerte sie sich an ihre ersten Versuche, sich nach dem Leben von Carolin zu erkunden, und sie schluckte ihre Fragen ungesagt hinunter. Aber sie merkte sich, dass Hegels Tochter anscheinend oft auf diesen Mörderstiefeln unterwegs gewesen war.

»Sie sollten aber darauf achten, dass sie diese Stiefeln nicht zu lange tragen. Sie sind sehr ungesund.« Frau Hegel äußerte ihre Bedenken. »Für kurze Momente kann man sie tragen, wenn der Auftritt besonders beeindruckend sein soll. Aber für längeres Tragen sind sie wirklich nicht geeignet.«

»Es sei denn, sie müssen ihre Füße nicht belasten«, ergänzte Herr Hegel und blickte seine Frau etwas verwundert an.

»Auf dem Pferd lassen sie sich ganz einfach tragen.« Julia lächelte.

»Und das ist das Wichtigste.« Herr Hegel lächelte. »Wann kommt der Gürtel?«

»Er soll morgen geliefert werden«, antwortete seine Frau.

»Haben sie sich schon entschieden?« Er drehte sich wieder zu Julia.

»Winfried, du bist schon wieder unfair.« Frau Hegels Stimme zeigte, wie erbost sie über den Versuch ihres Mannes war. »Julia weiß doch noch gar nicht, wie es sich anfühlt. Lass ihr die Chance, es auszuprobieren.«

»Ja okay. Verzeihen sie, Julia. Manchmal geht die Begeisterung mit mir durch.« Er blickte sich um. »Das Pferd steht so etwas ungünstig.«

Julia war insgeheim erleichtert, dass das Thema Gürtel jetzt noch nicht erörtert werden musste.

»Warum denn das?« Frau Hegel war verwundert.

»Frau Sommer muss sich weit drehen, um sich dort zu sehen.« Herr Hegel drehte den Kopf so, als wolle er die dafür nötige Haltung zeigen.

»Ja das stimmt.« Frau Hegel lächelte. »Aber direkt von vorn würde ich auch nicht empfehlen.«

»Und warum denn das nicht?« Julia war verwundert.

»Sie möchten vielleicht sehen, wie sie demnächst den Handschuh tragen.« Frau Hegels Lächeln ging in ein Schmunzeln über.

»Ja, das ist richtig.« Julia strahlte. »Das würde mich sehr interessieren.«

»Aber wir warten mit dem Drehen des Pferdes, bis sie abgestiegen sind.« Frau Hegel blickte kurz zu Frauke, die etwas unbeteiligt am Fenster stand und hinaus blickte.

»Ja, natürlich.« Julia lächelte verlegen. »Aber ich glaube, das liegt nicht in meiner Entscheidung.«

»Entschuldigung, sie haben natürlich recht. Wir werden ihnen dann gern herunter helfen. Aber vorher hätte ich noch eine Überraschung für sie.« Herr Hegel lächelte verlegen, dann wandte er sich an Frauke. »Frau Wiesl, haben sie das vorbereitet, um dass ich sie gebeten habe?«

Frauke drehte sich etwas verlegen um. »Ja, das habe ich gemacht.«

»Dann holen sie es bitte.« Herr Hegel blickte kurz zu Julia.

»Gern, Herr Hegel. » Frauke deutete einen Knicks an, dann verließ sie das Zimmer. Seit Julia im Haus war, schien er sie anders zu behandeln, zumindest kam es Frauke so vor.


Obwohl Julia nie ein Instrument gespielt hatte, erkannte sie doch auf den ersten Blick, dass Frauke einen sehr robusten Notenständer herein trug.

»Was soll denn das?« Frau Hegel war sehr verwundert. Es wurde deutlich, dass er dies nicht mit seiner Frau abgesprochen hatte.

»Ich möchte natürlich auch nicht, dass sie ihr Studium vernachlässigen.« Herr Hegel blickte etwas verlegen zu seiner Frau. »Ich dachte mir, dass sie dann mit diesem Ständer auch noch für ihr Studium lernen könnten, wenn sie auf dem Pferd sitzen.«

Julia strahlte auf einmal über beide Ohren. »Vielen Dank. Das hat mir wirklich Sorgen bereitet.«

»Wir möchten sie beide dann heute Abend zum Abendessen zu uns einladen.« Frau Hegel blickte ihrerseits zu ihrem Mann. »Frauke, sie sind ausdrücklich mit eingeladen.«

Auch Herr Hegel wandte sich an die Dienerin. »Sie lassen Julia maximal noch eine halbe Stunde darauf sitzen. Sie können sie ja etwas wegen der Prüfungen abfragen.«

Frauke hatte nicht den Mut zum Widerspruch, schließlich hatte sie das schon am Samstag gemacht. Ein kurzer Blick zu Julia zeigte ihr, dass diese das Gleiche dachte. Doch dann kam von ihr ein kurzes Nicken und Frauke bestätigte den Auftrag.

»Sie kommen dann bitte selbst ständig zum Abendessen.« Frau Hegel blickte kurz auf das Bett, wo Lackrock noch lag. »Es wäre schön, wenn sie sich wieder den Rock anziehen könnten.«

Julia hatte mit der Antwort etwas Probleme. Sie musste sich erst räuspern. »Das werde ich machen.«

»Haben sie für den Abend schon etwas vor?« Frau Hegel blickte die beiden Damen erwartungsvoll an.

»Nein, bisher eigentlich nicht.« Julia zuckte mit den Schultern und blickte kurz zu Frauke.

»Wir haben auf der Hochzeit einen ganz wichtigen Tipp für das Anlegen des Handschuhs bekommen und den würden wir gern einmal ausprobieren.« Frau Hegel gab sich ein wenig verlegen. »Natürlich nur, wenn sie damit einverstanden sind.«

Julia holte sich die Bestätigung von Frauke in Form eines kurzen Nickens, bevor sie selbst ebenfalls zustimmte.

»Es geht um eine Methode, wie der Druck auf die Arme besser verteilt werden kann«, erklärte Frau Hegel.

»Und wie die Schnürung auf jeden Fall ganz geschlossen werden kann«, ergänzte Herr Hegel.

Julia zuckte kurz zusammen. Es war für sie immer noch ungewohnt, wenn ihr Professor sich mit den Aspekten der Engel befasste. Doch wie schon so oft empfand sie diesbezüglich kein Misstrauen.

»Wir wollten sie erst bitten, uns einmal den Handschuh beim Abendessen vorzuführen, aber wir wollen sie nicht unnötig demütigen.« Frau Hegel versuchte ein versöhnliches Lächeln. »Ich glaube, Frauke hat sich gestern sehr liebevoll um sie gekümmert.«

Julia sprach ihre Gedanken aus. »Es wäre aber keine Demütigung.« Wieder blickte sie zu Frauke. »Im Gegenteil, es hat uns beiden sehr viel Spaß gemacht.

»Es freut mich zu hören, dass sie so darüber denken.« Er holte tief Luft. »Ich glaube, wir haben mit ihnen wirklich großes Glück gehabt.«

Julia spürte die eigentliche Frage, obwohl er sie nicht gestellt hatte. »Ich will mir alle Mühe geben, um ihnen Carolin zu ersetzen.«

»Das ist schön zu hören.« Herr Hegel lächelte. »Sie sollten aber immer im Hinterkopf haben, dass wir sie zu nichts zwingen und sie jederzeit gehen könnten.«

»Das weiß ich.« Julia atmete ebenfalls schwer. »Aber im Moment ist es einfach nur schön, und ich freue mich sehr auf die Engel.« Letzteres war die pure Wahrheit.

Ohne dass es ihr wirklich bewusst war, brachte sie die Engel mit Vergnügen in Verbindung. Zu deutlich waren die einzelnen Hinweise, als dass sie sie in Gänze ignorieren konnte. Und die Orgasmen, die sie bisher in den Fesselungen erleben durfte, waren gigantisch. Sie fragte sich, ob sie schon jetzt nach diesen besonderen Erlebnissen süchtig war. Sie sehnte sich schon sehr nach der Nacht, wenn Frauke sie wieder von Orgasmus zu Orgasmus treiben würde. Oder sie würde sich wieder diesem Vibrator ausliefern, der sie zugleich so intensiv verwöhnt und gefoltert hatte.

»Das freut mich sehr.« Herr Hegel wandte sich zur Tür. »Sie kommen dann bitte herunter zum Abendessen.« An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Elisabeth, kommst du bitte? Lassen wir die jungen Leute allein.« Er zwinkerte übertrieben mit den Augen.


»Lass mich die Stiefel bitte noch einen Moment tragen.« Julia keuchte, als sie mit Fraukes Hilfe vom Pferd herab gestiegen war. »Ich möchte mich an das Gefühl gewöhnen.«

»Du weißt, dass sie ungesund sind, wenn man die Füße auf diese Weise belastet.« Frauke gab sich in diesem Moment etwas besorgt.

»Ja das weiß ich.« Julia verdrehte die Augen. »Aber zwei, drei Schritte schaden bestimmt nicht.« Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch, auf dem immer noch die Geldscheine lagen: Vier Fünfziger und zwei Hunderter. »So viel Geld auf einen Haufen.« Ihre Stimme war leise, als sie darüber nachdachte, wie lange sie früher dafür hätte arbeiten müssen. Selbst daheim auf dem Bauernhof war Geld eher selten. »Ich weiß noch gar nicht, was ich damit anfangen soll.«

»Also ich müsste nicht lange überlegen.« Frauke grinste. »Ich würde sofort shoppen gehen.«

»Ja, das würde sich wohl anbieten.« Julia war auf einmal etwas nachdenklich. »Aber ich glaube, ich werde es nicht sofort ausgeben. Oder nur einen Teil davon.« Irgendwie wusste sie, dass es viele Gründe des Scheiterns gab, und dann würde sie das Geld sicher gut brauchen können. Und natürlich war ihr klar, dass sie es nur einmal würde ausgeben können. Immerhin war sie schon einmal sehr erleichtert, dass sie auf diesen seltsamen Stiefeln so gut zurecht kam. Davor hatte sie insgeheim sehr viel Angst gehabt.

Frauke war ein wenig neidisch, denn sie selbst hatte mit den Stiefeln heftige Probleme gehabt. Julia hingegen schien damit gar keine Probleme zu haben. Die Dienerin fragte nach den Gründen.

»Weißt du, ich habe früher immer vom Ballett geträumt. Auf dem Hof daheim habe mich oft auf den Dachboden geschlichen, wo eine große Scherbe eines zerbrochenen Spiegel stand. Dort habe ich das geübt, was ich für Spitzentanz hielt.« Sie lachte über die im Nachhinein sehr kindlichen und naiven Vorstellungen ihrer Kindheit.

»Hattest du denn dafür die passenden Schuhe?« Frauke wunderte sich noch mehr.

»Nein, die hatte ich nicht.« Julia schmunzelte. »Aber ich habe mir damals ein Brett unter die Fußsohle gebunden. Es sah bestimmt schrecklich aus und so richtig funktioniert hat es auch nicht. Aber ich war damals sehr glücklich.«

»Ich bin sehr stolz auf dich.« Frauke lächelte. 'Und ein wenig neidisch', fügte sie in Gedanken noch hinzu.

»Warum denn das?« Julia drehte sich zu Frauke um, nach dem sie ein paar wenige Schritte gegangen war. Natürlich immer in Reichweite von Schreibtisch oder Wand, um sich abstützen zu können.

»Du schaffst das alles mit einer Leichtigkeit, die atemberaubend ist.« Fraukes Stimme ließ viel Sehnsucht durchschimmern.

»Und du hast es nicht geschafft?« Sie horchte auf. »Vermute ich das richtig?«

»Ja, das siehst du richtig.« Frauke seufzte. »Ich bin schon sehr früh gescheitert.«

»Du wolltest auch ein Engel werden?« Julia erkannte auf einmal die Zusammenhänge.

»Es wurde mir als Alternative angeboten. Und ich dachte, dass es eine sehr gute Gelegenheit wäre.« Doch dann fiel ein Schatten über ihr Gesicht. »Entschuldige bitte, aber über den folgenden Teil möchte ich nicht reden.«

Julia fiel der Stimmungswechsel in dieser Situation sofort auf, und sie wusste auch, dass sie nicht nachbohren durfte. »Wo hast du denn meinen Rock?« Es waren nur noch wenige Schritte bis zu ihrem Bett.

Frauke war erleichtert, das Julia nicht nachfragte. »Hier ist er.« Sie hob ihn vom Bett auf.

»Oh je, ich bin blind, ich habe ihn wirklich nicht gesehen.« Sie stutzte. »Ob ich wohl die Leggings gleich anbehalten kann?«

»Probieren wir es aus. Ein wenig Zeit haben wir ja noch, bis sie uns zum Abendessen erwarten.« Doch dann zögerte sie. »Der Rock wird dadurch aber noch enger und das Gehen dürfte sehr mühsam werden.«

»Ach ja richtig, das Abendessen. Da war ja noch was.« Sie grinste. »Und was den Rock betrifft: genau das wollte ich ausprobieren.« Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und streckte die Stiefel in die Luft. »Hilfst du mir bitte beim Ausziehen?«

»Aber gern.« Frauke lächelte.


»Wieder ganz geschlossen.« Frauke war verwundert, als sie Julia half, die Reißverschlüsse zu schließen. »Hast du noch nie darüber nachgedacht, unter dem äußeren Rock zu schummeln?«

»Doch, das habe ich, aber so fühlt es sich einfach schöner an.« Sie lächelte. »Vor allem, weil ich mich hier nicht so schnell bewegen muss.«

»Du überrascht mich immer wieder.« Frauke war sichtlich fasziniert. »Ich glaube fast, es gefällt dir, hier gefangen zu sein.«

»Ich bin hier nicht gefangen.« Sie klang ein wenig empört. »Sie sagen, dass ich jederzeit gehen kann.«

»Aber du wirst nicht gehen.« Frauke senkte den Kopf. Ihre Stimme wurde leiser. »Da bin ich mir ganz sicher.«

»Ach so meinst du das.« Julia grinste. »Ja, da könntest du allerdings recht haben. Carolin hat mich gefangen. Sie ist es, die mich nicht mehr los lässt.«

Frauke hielt den Atem an und war ein wenig enttäuscht, denn eigentlich hatte sie eine andere Antwort erwartet.


»Danke, meine Damen, das war sehr lecker.« Herr Hegel wischte sich den Mund ab. »Danke, Julia, dass sie uns Gesellschaft geleistet haben.«

Julia war ein wenig verlegen. »Kein Problem.« Sie blickte unwillkürlich zur Uhr.

»Haben sie heute Abend noch etwas vor?« Er hatte den Blick bemerkt.

»Ich wollte die Unterlagen für morgen noch einmal durch gehen.« Doch dann hielt sie inne, denn ihr war der besondere Unterton dieser Frage aufgefallen. »Sie hatten doch schon gesagt, dass sie noch den Handschuh ausprobieren wollen.«

Seine Frau kam ihm zur Hilfe. »Wir haben am Samstag eine neue Schnürtechnik für den Handschuh kennengelernt, und die würden gern einmal ausprobieren.«

»Und dafür brauchen sie mich.« Julia gab sich Mühe, es nicht als Frage klingen zu lassen. Sie hatte sich eigentlich auf einen romantischen Abend mit Frauke gefreut, doch sie wollte ihren Gastgebern diesen Wunsch auch nicht abschlagen. Unwillkürlich blickte sie zu Frauke, doch die Dienerin hielt ihren Kopf gesenkt.

»Es dauert maximal eine halbe Stunde, dann entlassen wir sie in den Sonntagabend.« Frau Hegel war bemüht, ihre Neugier noch nicht zu zeigen.

»Es sei denn, es gefällt ihnen, und wir sitzen dann noch ein wenig gemütlich zusammen.« Herr Hegel blickte zu Frauke. »Sie bitte auch, Frau Wiesl.«

Frauke blickte verwundert auf. Julia im Handschuh war ein Anblick, den sie sich trotz ihrer Sehnsucht nicht entgehen lassen wollte. »Wir bleiben gern.«

Es fiel Julia nur neben bei auf, dass Frauke schon wieder 'wir' gesagt hatte. Sie blickte noch einmal zu ihrer 'Schwester', und erst als diese ebenfalls nickte, erklärte Julia ihre Bereitschaft. »Aber wir reden nicht über das Studium, oder?«

»Versprochen, das wird kein Thema sein.« Herr Hegel lächelte erleichtert. »Dann gehen wir jetzt ins Wohnzimmer. Ich habe den Kamin schon angezündet.«


Das leise knisternde Kaminfeuer nahm Julia sofort gefangen. Sie blickte sich kurz um. Auf dem niedrigen Tisch lagen schon einige Handschuhe bereit. Obwohl sie noch nicht viele Handschuhe gesehen hatte, fielen ihr sofort die leeren Schnürleisten auf. Daneben erkannte sie kleine Metallzangen, zwei Lederriemen und einige Schnüre.

Herr Hegel saß schon in dem Sessel in der Nähe des Kamins und bat Julia, sich auf das Sofa zu setzen. »Meine Frau kommt gleich, sie muss nur noch etwas holen.«


Doch zuerst kam Frauke in den Raum. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie über die unerwartete Einladung sehr verunsichert war.

»Nehmen sie Platz, Frau Wiesl.« Herr Hegel zeigte auf das Sofa neben Julia. »Ich habe sie dazu gebeten, damit sie meiner Frau eventuell zur Hand gehen können. Dann sind wir auch schneller fertig. Ich glaube, das liegt auch in ihrem Interesse.«

Während Frauke sich auf den gezeigten Platz setzte, glaubte sie ein Zwinkern bei Herrn Hegel entdeckt zu haben. Sie war sich aber immer noch nicht sicher, ob sie der Gesamtsituation trauen durfte.

Sie warteten schweigend.


Kurze Zeit später betrat auch Frau Hegel das Wohnzimmer. »Wir haben gestern einen Hinweis auf einen Artikel in der neuesten Rundschau bekommen. Sie haben uns freundlicherweise eine Kopie gemacht.« Sie reichte Julia die zwei Seiten. »Schauen sie sich das bitte einmal an, und dann sagen sie uns, ob sie dazu bereit sind.«

Julia nahm die Blätter in die Hand und begann sich darin zu vertiefen. Der Artikel erstreckte sich über eineinhalb Seiten und war mit zwei Fotos illustriert. Ein Foto zeigte eine Handschuhträgerin von hinten in Großaufnahme. Zu erkennen waren aber nur der Handschuh und die langen blonden Haare.

Das andere Foto zeigte eine Detailaufnahme, bei der gezeigt wurde, wie die Fixierung der Schüre mit den Metallklammern zu machen war.

In der Kopfzeile stand der Julia schon vertraute Schriftzug 'ARCANVM ANGELARVM' und unten auf der Seite gab es die klein gedruckte Angabe: Ausgabe 32 Januar-April. Julia rechnete nach und erkannt, dass es wohl drei Ausgaben pro Jahr gab. Und der Bund der Engel war mindestens zehn Jahre alt, denn so lange erschien schon die Zeitung. Sie war insgeheim sehr fasziniert darüber, dass dieser 'Bund der Engel' sogar ein eigenes Magazin herausgab.

»Das Mädchen behauptet, dass sich der Handschuh so besser tragen lässt, weil so der Druck der Schnürung gleichmäßig verteilt ist.« Frau Hegel holte tief Luft. »Und weil angeblich weniger Schnur gebraucht wird, lässt sich der Handschuh auch schneller anlegen.« Es waren einige Zweifel in ihrer Stimme zu hören.

»Und ich werde ihnen dabei helfen, das herauszufinden?« Julia hatte ein leichtes Zittern in ihrer Stimme.

»Wenn sie so nett wären...« Herr Hegel legte den Arm auf die Rückenlehne. »Es kommt ihnen ja auch zugute.«

»Worauf warten sie noch?« Julia blickte kurz von dem Artikel auf.

»Das Mädchen hat noch einige Tipps in den Artikel geschrieben, sehen sie hier.« Frau Hegel zeigte auf eine Stelle in dem Artikel.

Julia vertiefte sich in die angedeutete Stelle. Schließlich hob sie wieder ihren Kopf. »Von mir aus können sie mir die Ellenbogen gern aneinander binden. Es ist einzusehen, dass sie am Anfang länger brauchen, und ich die Kraft zum Aneinanderdrücken der Arme nicht habe.« Sie gab die Argumentation aus dem Artikel noch einmal wieder.

»Sie wären also damit einverstanden?« Herr Hegel blickte zwischen Julia und seiner Frau hin und her.

»Ja klar.« Julia nickte. »Ich bin sehr gespannt auf neue Erfahrungen.«


»Frauke, sie helfen mir bitte.« Frau Hegel drehte sich zu der Dienerin.

»Sehr gern, Frau Hegel.« Frauke blickte Julia kurz, aber intensiv an. Sie hätte sich den Artikel selbst auch gern einmal angesehen, doch im Moment beanspruchte Frau Hegel ihre Aufmerksamkeit.

»Beginnen sie bitte mit den beiden Hilfsriemen. Erst den Riemen unterhalb der Ellenbogen und dann oberhalb der Handgelenke.« Sie wandte sich an Julia. »Ich hoffe, sie haben Verständnis dafür, dass ich diese Hilfsriemen brauche. Wenn ich ihnen den Handschuh schnell anlegen könnte, dann würden wir diese zusätzliche Prozedur nicht brauchen.«

Julia hatte Probleme mit der Antwort. Sie musste sich erst räuspern. »Das ist kein Problem.« Fasziniert sie sah, wie Frauke sich zwei Riemen in die Hand nahm und ihre Arme auf dem Rücken fixierte.

»Worin besteht eigentlich die Neuigkeit beim Schnüren?« Frauke fand es insgeheim etwas lächerlich.

»Die Schnürung wird in fünf Abschnitte eingeteilt.« Frau Hegel hatte Mühe, ihre Anspannung nicht zu zeigen. »Und jeder Abschnitt wird mit einer dieser Klammern gesichert.«

Jetzt erkannte auch Frauke die Zusammenhänge. »Ja das stimmt. Das könnte funktionieren.«

»Meistens öffnete sich der untere Abschnitt wieder, wenn die oberen Abschnitte gemacht werden. Mit den Klammern soll sich das verhindern lassen.« Frau Hegel warf noch einmal einen Blick auf den Artikel. »Es klingt sehr plausibel, und deswegen möchte ich das jetzt einmal ausprobieren.«

»Die Handschuhe haben zwanzig Löcher auf jeder Seite.« Frauke hatte einen der bereitliegenden Handschuhe in die Hand genommen. »Wie teilen wir das auf?«

»Wir ziehen immer fünf Löcher fest und fixieren die Schnur nach dem vierten Loch.« Es wurde deutlich, dass Frau Hegel sich gut vorbereitet hatte.

Herr Hegel hatte zu dem Glas Rotwein gegriffen, dass neben ihm auf dem kleinen Tischchen stand. Er lächelte. »Ich denke, ihr Frauen kommt ohne mich zurecht.« Es wurde deutlich, dass er mit den Details nichts zu tun haben wollte. »Aber das Ergebnis würde ich gern in Augenschein nehmen.«

Seine Frau lächelte ihm kurz zu. »Wir müssen noch ausmessen, welche Größe für sie am geeignetsten ist.«

»Was wird denn dabei gemessen?« Julia hatte große Mühe, ihre zunehmende Erregung unter Kontrolle zu halten. Sie wollte unbedingt vermeiden, in Gegenwart ihres Professors in seinem Wohnzimmer einen Orgasmus zu bekommen.

»Der Armumfang und die Armlänge werden berücksichtigt.« Frau Hegel holte das Maßband, welches sie schon bereit gelegt hatte.

»Haben sie denn so viele Größen vorrätig?« Julia versuchte sich etwas abzulenken.

»Von den schwarzen Handschuhen gibt es viele. Ein paar davon haben uns Vogels geliehen.« Frau Hegel begann, Julias Arme zu vermessen. »Aber ich glaube, sie können ohnehin eine Standardgröße tragen.«

»Ich bin etwas verwundert über den Aufwand.« Julia bereute den Satz, kaum dass sie ihn ausgesprochen hatte.

»Wenn sie es Sorgfalt nennen würden, dann würde ich ihnen sogar zustimmen.« Herr Hegel regte sich in seinem Sessel. »Der Handschuh lässt sich ja nur dann lange tragen, wenn er optimal sitzt.«

»Ja, das ist einzusehen.« Im ersten Moment wollte Julia fragen, mit welchen Zeitspannen sie denn zu rechnen hätte, doch dann schluckte sie ihre Worte ungesagt hinunter. Sie hatte schon realisiert, dass es eine Art Selbstschutz war, wenn sie über die Zukunft nicht zu viel wusste.

Und noch etwas hatte sie zwischen den Zeilen erfahren. Es gab die Handschuhe wohl in verschiedenen Farben, und Schwarz war wohl die Farbe, die es am häufigsten gab.

»Frauke, suchen sie bitte einen 17/7er heraus.« Frau Hegel legte das Maßband wieder weg.

Julia nahm es zur Kenntnis. »Geht es dann endlich los?« Doch gleich darauf ärgerte sich, weil sie so etwas ungeduldig klang.

»Na, na, Frau Sommer!« Frauke hatte ein Lächeln in der Stimme. »Wer wird denn da so ungeduldig sein?«

»Entschuldigung.« Julia hatte ihren Fauxpas erkannt, sie lächelte verlegen. »Ich glaube, ich kann im Moment ohnehin nichts tun, was es beschleunigen würde.«

»Doch, das können sie durchaus«, widersprach Frau Hegel. »Es würde uns sehr helfen, wenn sie ihre Arme ganz ruhig halten und immer sofort das machen, was wir von ihnen wünschen.«

»Ja, Frau Hegel.« Julia war verlegen. »Ich werde es versuchen.«

»Wie fangen wir an?« Frauke stand neben Julia und hatte den Handschuh in der Hand.

»Das ist also ein 17/7er.« Julia versuchte, ihre Nervosität zu verbergen.

»17 bezieht sich auf die Länge der Arme, und 7 auf den Umfang.« Frau Hegel sprach ein wenig leiser.

»Konfektionsgrößen sind das aber nicht.« Julia versuchte einen Scherz, um sich etwas die Anspannung zu nehmen.

»Das kommt darauf an. Im Bund sind die allgemein üblich.« Sie drehte sich zu Frauke. »Schieben sie ihr den Handschuh bitte über die Arme und ziehen ihn dann bis zu den Schultern hoch, soweit, wie es geht.«

Frauke kam der Aufforderung nach.


Julia spürte, wie sich das Leder langsam, aber quasi unerbittlich um ihre Hände legte.

»Sie melden sich sofort, wenn es irgendwo weh tun sollte?« Herr Hegel schien irgendwie die Aufsicht führen zu wollen.

Die Stimme ihres Professors riss Julia aus ihren Gedanken. »Ja, natürlich.« Sie räusperte sich. »Aber bis jetzt ist es ein angenehmes Gefühl.«

»Dann brauche ich jetzt die erste Klammer.« Sie blickte sich um. »Winfried, kannst du mir die anreichen?«

Er stand auf, griff sich die Klammern vom Tisch und trat näher. »Es braucht offenbar sechs Hände, um ihnen den Handschuh anzulegen.« Er lächelte.

Julia war die Nähe ihres Professors sehr unangenehm. Sie zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. »Das Studium ist wohl leichter.«

»Das würde ich so nicht sagen, aber ich bewundere ihre Art, wie sie bereit sind, neues auszuprobieren.« Er lächelte ebenfalls. »Das wird ihnen auf ihrem weiteren Weg als Architektin sehr helfen.«

»Winfried, wir hatten doch gesagt, dass der Job jetzt kein Thema sein sollte.« Frau Hegel blickte ihren Mann leicht vorwurfsvoll an.

»Ja, du hast recht. Entschuldige bitte, mein Schatz.« Er blickte auf Julias Arme. »So sieht das also aus?« Er sah fasziniert zu, wie seine Frau die erste Klammer an die Schnürung anbrachte. »Wie lange muss die jetzt darauf bleiben?«

»Darüber schweigt die Autorin des Artikels.« Frau Hegel schien den Inhalt gut zu kennen. »Aber ich denke, mindestens bis die zweite Klammer angebracht ist. Aber den unteren Riemen müssen wir jetzt lösen.«

»Man braucht also immer mindestens zwei Klammern?« Frauke schaute ebenfalls sehr interessiert auf den Handschuh.

»Sieht so aus.« Frau Hegel lächelte.

»Wie viele haben wir?« Der Professor blickte auf die Kammern, die er in seinen Händen hielt und zählte selbst nach. »Es sind fünf. Damit könnte der ganze Handschuh geschlossen werden und gesichert werden.«

Julia hielt die Luft an. Sie war deutlich irritiert über das Interesse ihres Professors an dem Handschuh, doch es gab nichts, was sie dagegen unternehmen konnte. Sie beschloss, es einfach über sich ergehen zu lassen.


»Wie fühlt es sich an, Julia?« Die Stimme von Frau Hegel durchbrach die konzentrierte Stille.

»Sehr gut. Es trägt sich sehr angenehm.« Erst jetzt stutzte sie. »Sind sie schon fertig?«

»Das war die letzte Klammer, und die Schnürung ist ganz geschlossen.« Frau Hegel informierte Julia über den Zustand des Handschuhs.

»Nirgends ist ein Spalt zu sehen.« Frauke war mehr als fasziniert.

»Dann bringen wir jetzt noch die Halteriemen an.« Frau Hegel ging wieder zum Tisch.

»Halteriemen?« Julia war verwundert.

»Die halten den Handschuh oben.« Frau Hegel nahm sich die Riemen vom Tisch. »Wenn sie sich viel bewegen, würde er sonst vermutlich nach unten rutschen.«


Julia verzichtete auf die Frage, wie lange sie jetzt so verbleiben musste. Sie wusste, dass Hegels auf ihre Gesundheit achteten und dafür sorgen würden, dass sie den Handschuh nicht zu lange trug.

»Wie geht es ihnen?« Herr Hegel war sichtlich an Julia und ihren Armen interessiert.

»Es fühlt sich schön an.« Julias Stimme war leise.

»Es sieht auch schon aus.« Fraukes Stimme war ebenfalls leise.

»Setzen sie sich doch bitte.« Er zeigte auf den Sessel mit der Aussparung in der Mitte der Rückenlehne.

Julia schluckte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie wieder einen großen Schritt auf Carolins Weg gegangen war. Sie ging zu dem Sessel und ließ sich langsam hinein sinken.

»Sitzen sie bequem?« Herr Hegel blickte sie aufmerksam an.

»Oh ja, das ist sehr angenehm.« Julia war sichtlich irritiert, sich auf diese Weise mit ihrem Professor zu unterhalten.

»Wie sind sie mit dem Pferd zurecht gekommen?« Es wurde deutlich, dass er echtes Interesse zeigte.

»Naja, ein echtes Pferd wäre mir lieber.« Julia lächelte verlegen.

»Hatten sie daheim Pferde auf dem Hof?« Frau Hegel hatte sich jetzt auch gesetzt.

»Ja, aber das waren nicht unsere eigenen Tiere.« Julia wurde etwas sentimental. »Meine Eltern haben sich etwas dazuverdient, indem sie die Unterkunft vermietet haben.«

»Sind sie auch auf ihnen auch geritten?« Frau Hegel trank einen Schluck aus ihrem Glas.

»Nein, eigentlich nie.« Julia klang sentimental. »Obwohl es mich sehr gereizt hätte. Aber es waren eben die Pferde der Kunden. Aber es war sehr schön, sich um sie zu kümmern.«

»Sie vermissen sie?« Herr Hegel zeigte ebenfalls Mitgefühl.

»Oh ja. Aber noch mehr die Kühe.« Sie dachte wehmütig an Rosalie, die sie als Kälbchen sogar selbst aufziehen durfte. So eine innige Bindung hatte sie sonst zu keinem, weder Mensch noch Tier.

»Und wie war es in der WG?« Herr Hegel wechselte das Thema. »Das war bestimmt eine große Umstellung.«

»Oh ja, das war es. Allein der tägliche Streit ums Bad.« Sie lachte trotz ihrer Anspannung. An die Zeit der Wohngemeinschaft dachte sie eigentlich nicht so gern zurück, denn es war eine Zeit der Planlosigkeit. Sie war vor allem aus Trotz in die WG gezogen. Weil sie von der drohenden Verlobung fliehen wollte, aber auch weil es die einzige Möglichkeit war, ihren Traum einer Architektin weiter zu verfolgen.


Herr Hegel blickte auf die Uhr. »Ich denke, es ist Zeit.« Er gab Frauke ein Zeichen. »Frau Wiesl, würden sie Julia bitte den Handschuh wieder abnehmen?«

»Ein schönes Gefühl, wenn die Anspannung langsam nachlässt.« Julia lächelte. Es war nicht ganz klar, ob sich ihre Äußerung auf die Situation oder den Handschuh bezog.

»Und wie hat es ihnen gefallen?« Frau Hegel lächelte. »Ein wenig Feedback würde uns schon interessieren.«

»Bei ihnen fühlt sich der Handschuh ganz anders an als bei Frauke.« Julia machte ein paar der Gymnastikübungen. »Bei ihnen baut sich der Druck langsamer und gleichmäßiger auf.«

»Von mir aus können sie sich dann zurück ziehen.« Herr Hegel nahm ein kleines Kästchen von dem Tisch und reichte es Frauke. »Ich glaube, das wollen sie benutzen.«


»Was hast du noch von Herrn Hegel bekommen?«, fragte Julia, als ihre Zimmertür ins Schloss gefallen war.

»Lass dich überraschen.« Frauke grinste bis über die Ohren. »Jetzt sieh zu, dass du dich umziehst und im Bad fertig wirst.«

Julia lief mit für ihre Verhältnisse schnellen Schritten zum Bett. Schon auf dem Weg dahin begann sie sich auszuziehen.

»Ich lege dir schon einmal das Nachthemd zurecht.« In Frauke reifte langsam ein Plan.

Obwohl sie wusste, dass Frauke auf sie wartete, ließ sie sich im Bad Zeit. Sie realisierte mindestens zwei Straßenbahnen. Doch da sie von Fraukes Sehnsucht wusste, hatte sie diesbezüglich kein schlechtes Gewissen. Außerdem ahnte sie, dass Frauke etwas für sie vorbereitet hatte, und dass wollte sie noch etwas hinauszögern.


»Schau mal, was ich hier habe?« Frauke hielt den kleinen Kasten in der Hand, den sie vorhin von Herrn Hegel bekommen hatte.

»Was ist das?« Julia gab sich bewusst naiv, obwohl sie die Antwort schon wusste. Schließlich hatte Frauke ihr wieder den Schmetterling angelegt, bevor sie sie in das Nachthemd gesperrt hatte.

»Das wirst du gleich erleben.« Fraukes Miene wurde auf einmal ernst. »Wer hat vorhin gesagt, dass es sich besser anfühlt, wenn ich es nicht mache?«

Julia brauchte einen Moment, um die ganze Situation zu begreifen. »Ich glaube, da hat wohl jemand eine Strafe verdient.« Sie versuchte, ein verlegenes Gesicht zu machen.

»Und ob, mein Fräulein, und ob.« Frauke setzte sich auf das Bett. »Und den Gute-Nacht-Kuss gibt es erst danach.« Sie nahm das Kästchen in die linke Hand, hielt es so, dass Julia es gut sehen konnte und mit einem teuflischen Grinsen drückte sie auf den grünen Knopf.