Die Studentin – Böses Erwachen
Autor: Karl Kollar
»Willst du nicht langsam mal aufstehen?« Frauke stand an Julias Bett und blickte verliebt auf die hilflose Gestalt.
Die Studentin versuchte, sich in dem Nachthemd zu räkeln, doch wie schon in den Nächten zuvor unterband es zuverlässig jede ausufernde Bewegung.
»Haben sie gut geschlafen?« Frau Hegel trat ebenfalls an das Bett.
Julia blinzelte zunächst verwundert, weil sie nicht mit ihrer Vermieterin gerechnet hatte, doch dann erkannte sie die Gelegenheit. »Bitte, ich möchte unbedingt den Schlüssel für den Gürtel abgeben.«
Sowohl Frau Hegel als auch Frauke war sofort klar, dass ihre Mieterin offensichtlich wieder etwas Aufwühlendes geträumt haben musste. Die Dienerin äußerte diesbezüglich eine Frage.
»Nach dem Anlegen des Geschirrs wollte ich den Schlüssel nicht abgeben.« Julia keuchte beim Erzählen. »Und als ich dann die Kühe besucht habe, haben meine Brüder mir aufgelauert, und sie haben ihn mir weggenommen.«
»Haben sich ihre Brüder nicht gewundert, dass sie so seltsame Kleidung trugen?« Frau Hegel fand den Traum insgeheim sehr aufschlussreich und nützlich für ihre eigentlichen Pläne.
»Es war wohl eine schlechte Idee, sich in dem Stahlbikini sonnen zu wollen.« Julia lächelte verlegen. »Den Schlüssel dafür hatte ich um den Hals hängen, weil ich ihn nicht verlieren wollte.«
»Das mit dem Sonnenbad wäre übrigens auch im realen Leben keine sehr gute Idee.« Frau Hegel musste lächeln. »Das Metall würde sich sicher schnell aufheizen, glaube ich.«
Julia schreckte auf. »Oh, danke für den Hinweis.« Sie grinste. »Dann war der Traum ja gleich doppelt lehrreich.« Sie suchte den Blick von Frauke. »Wirst du bitte auf meinen Schlüssel aufpassen?« Sie hatte etwas Verliebtes im Blick. Nur zu gern dachte sie an die letzte Nacht zurück, in der Frauke noch sehr lange mit ihr und der Fernbedienung gespielt hatte. Immer noch glaubte sie, überall die zärtlichen Berührungen der Dienerin zu spüren.
»Jetzt stehen sie bitte erst einmal auf.« Frau Hegel zog die Bettdecke weg. »Das mit dem Schlüssel machen wir nach dem Frühstück und vor Zeugen.« Sie drehte sich zu der Dienerin. »Frauke, helfen sie Julia bitte mit dem Nachthemd?«
Frauke deutete einen übertriebenen Knicks an, dann trat sie an das Bett und griff zum Reißverschluss.
Während das leise Ratschen ertönte, erschauderte es Julia, denn sie hatte eben realisiert, was die Worte ihrer Vermieterin bezüglich der Zeugen bedeuteten. Ihr Professor würde der Zeuge dieser kleinen, aber offensichtlich sehr wichtigen Zeremonie sein. Sie hatte eigentlich nichts dagegen, sich Frauke auf diese Weise auszuliefern, doch dass ihr Professor dabei Zeuge sein sollte, an diesen Gedanken musste sie sich erst noch gewöhnen.
Auf einmal erschrak Julia, denn sie hatte realisiert, dass sie ja auch noch den Schmetterling an so prominenter Stelle trug. Die bislang so kraftvollen Batterien waren jetzt allerdings leer. Doch zu ihrer Erleichterung hatte Frau Hegel sich abgewandt und stand am Tisch, um den abgelegten Keuschheitsgürtel zu untersuchen. »Wie hat er gestern gepasst?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
Julia war so angespannt, dass sie einige Zeit brauchte, bis sie zu einer Antwort fähig war. »Ich habe ihn eigentlich gar nicht gemerkt.« Das war zwar nicht ganz die Wahrheit, doch sie wollte ihre Vermieterin auch nicht unnötig enttäuschen.
Dank Frauke war sie jetzt in der Lage, sich von dem Schmetterling und dem Nachthemd zu befreien. Dankbar schlüpfte danach in den Bademantel, den Frauke ihr gereicht hatte.
»Und sie sind sich sicher, dass sie ihn heute in die Uni tragen wollen?« Noch hatte sie sich nicht vom Tisch weg gedreht.
Julia blickte verwundert auf. »Ich muss doch, oder?«
Frau Hegel bestätigte es etwas verlegen. »Aber es wäre uns schon lieber, wenn sie es nicht nur uns zu Liebe machen.« Sie blickte schaute kurz über ihre Schulter, und als sie Julia im Bademantel sah, drehte sie sich wieder zu ihr hin.
»Machen sie sich diesbezüglich keine Sorgen.« Julia war erleichtert. »Er trägt sich gut. Ich bin zuversichtlich, dass ich den Tag gut überstehen werde.«
»Was ist, wenn sie einmal auf Toilette müssen?« Frau Hegel wollte die wirklich unangenehmen Sachen lieber sofort ansprechen.
»Ich bin vorbereitet.« Sie lächelte. »Ich habe mich mir der Spritze und auch mit dem Notfallset vertraut gemacht. Und ich werde einen Rock tragen.«
Mit der Antwort war Frau Hegel mehr als zufrieden. »Ich wollte sie noch einmal beglückwünschen für den gelungenen Auftritt gestern Abend.«
Julia blickte verwundert auf.
»Draußen, auf dem Rasen.« Frau Hegel lächelte. »Mit den schönen Stiefeln.«
»Ach so«, lächelte Julia. »Ja, am Anfang hatte ich ziemlich Angst, dass ich mit den Stiefeln stolpern würde. Doch dann habe ich gemerkt, dass ich doch gut mit ihnen zurecht komme.«
»Ich freue mich, dass zu hören. Das wird es ihnen in der Zukunft sehr viel einfacher machen.« Den Rest ihrer Gedanken sprach sie allerdings nicht aus. ‚Aber es bleibt schwer genug. Und sie müssen sich noch gegen die anderen Anwärterinnen durchsetzen.‘ Dass Julia die Aufnahme bestehen würde, davon war sie mittlerweile überzeugt.
»Also dann, gehen wir es an.« Julia drehte sich und ging zügig ins Bad.
Frau Hegel wartete, bis sich die Tür des Badezimmers geschlossen hatte. »Ich glaube, sie möchte ihnen den Schlüssel geben.« Sie sprach etwas leiser.
Frauke horchte auf, denn sie hörte einen gewissen Unterton. »Sind sie damit nicht einverstanden?«
»Nun ja, das hatten wir nicht erwartet.« Dieses Mal lief es ein wenig anders als die Male zuvor. »Aber wenn sie sich ihnen anvertrauen möchte, haben wir natürlich nichts dagegen.«
Frauke lächelte. »Ich bin sehr dankbar für das Vertrauen.« Ob sie damit Julia oder Hegels meinte, ließ sie allerdings offen.
Frau Hegel ging zügig zu Tür. »Ich erwarte sie dann beim Frühstück. Sie auch, Frau Wiesl.«
»Sehr gern.« Frauke bedankte sich verwundert für die Einladung.
Julia kam etwas langsamer und voller Respekt aus dem Bad. »Jetzt ist es also soweit.« Sie blickte sich um und war erleichtert, als sie sah, dass sie jetzt mit Frauke allein war.
Frauke spürte Julias Gedanken. »Frau Hegel wartet mit dem Frühstück auf uns.«
Julia trat an den Tisch heran. »Fangen wir an.« Sie versuchte ihre Nervosität nicht zu zeigen, was ihr aber nur leidlich gelang. Sie nahm sich den Gürtel vom Tisch und hielt ihn kurz hoch.
»Was ist los?« Frauke versuchte ihrerseits ein wenig auf das Tempo zu drücken. Unbewusst wollte sie verhindern, dass es sich Julia noch einmal anders überlegen würde.
Doch zu ihrer Erleichterung legte sich Julia den Gürtel mit einer solchen Ruhe und Selbstverständlichkeit an, dass es ihr den Atem nahm. Sie kam nicht umhin, es zu bemerken. »Man könnte meinen, du trägst es schon ewig.«
»Danke.« Julia lächelte. »Ich habe die Handgriffe dazu extra geübt.« Sie blickte suchend umher. »Reichst du mir einmal das Schloss?« Auf dem Tisch lagen einige Schlösser, aber nur ein Schlüssel.
Frauke lächelte ebenfalls. »Aber gern.« Als sie sah, dass Julia den Gürtel mit beiden Händen festhielt, hatte sie auf einmal eine Idee. »Soll ich es gleich anbringen?«
»Das wäre nett.« Julia blickte fasziniert auf den Verschluss des Gürtels.
Frauke trat an Julia heran. Es machte ‚Klick‘. »Das war es schon.«
Julia wandte ihren Blick zum Schlüssel, dann wieder zum Schloss. »Jetzt bin ich eingesperrt.« Es lag eine gewisse Faszination in ihren Worten.
»Aber das war noch nicht alles.« Frauke ging wieder zum Tisch und nahm den Keuschheits-BH in die Hand. Sie lächelte subtil. »Willst du deine Lieblinge noch einmal streicheln?«
Julia griff den Gedanken lächelnd auf. »Aber Frau Wiesl!« Sie gab sich Mühe, um empört zu klingen. »So etwas würde ich doch nie machen.«
Frauke grinste breit. »Na, dann macht dir dieser BH bestimmt nichts aus.«
»Ich freue mich schon, wenn ich damit in die Uni gehe, ehrlich.« Julia blickte fasziniert auf die beiden Stahlhalbkugeln, die sich jetzt über ihre Brüste gelegt hatten. »Bitte ebenfalls verschließen.« Sie blickte Frauke mit glasigem Blick an.
»Aber natürlich.« Frauke griff zum nächsten Schloss, und gleich darauf machte es zum zweiten Mal ‚Klick‘. »Was möchtest du beim Frühstück zum Rock tragen?«
»Es darf ruhig etwas Feierliches sein. Eine weiße Bluse vielleicht?« Julia blickte verzaubert zum Schrank. Doch dann fiel ihr Blick auf den Tisch. »Da liegen noch zwei Ringe und einige Ketten. Sind wir noch nicht fertig?«
Frauke ging zum mittleren Schrank und griff hinein. Sie hielt eine Bluse hoch. »Diese hier?« Erst jetzt realisierte sie die Frage der Studentin. »Das sind die sogenannten Schenkelbänder.«
»Schenkelbänder?« Julia war verwundert. »Wofür sind die denn noch?«
Frauke reichte ihr die Bluse, dann legte sie ihr den Finger auf den Mund. »Du bist immer so neugierig.« Sie lächelte. »Du wirst es noch früh genug erfahren.«
Julia zog sich die Bluse an und griff danach zum Rock, den Frau Hegel schon bereit gelegt hatte. »Du machst es spannend.«
»Ach, diese Dinger sind einfach nur lästig.« Doch dann erinnerte sie sich an ihren eigentlichen Auftrag. »Nein, ‚lästig‘ ist das falsche Wort. Sie verhindern, dass du deine Beine spreizen kannst.«
Julia war gerade dabei, sich den inneren Reißverschluss des Rockes zu schließen. »Aber wenn ich diesen Rock trage, kann ich das doch auch nicht.« Sie war insgeheim immer noch sehr fasziniert davon, auf so eine raffinierte Weise einen Teil ihrer Bewegungsfreiheit zu verlieren, ohne dass es nach Außen auffiel.
»Deswegen sollst du die Schenkelbänder ja auch erst zur Uni anlegen.« Frauke war insgeheim von Julias Ehrgeiz fasziniert. »Und unter dem Rock sind sie für andere Leute unsichtbar.«
»Na dann ist es ja gut.« Julia grinste, dann zog sich den äußeren Reißverschluss zu.
»Können wir dann zum Frühstück gehen?« Frauke klang ein wenig ungeduldig. »Ich habe Hunger.«
»Sehr elegant zusammengestellt. Ich wünsche ihnen einen guten Morgen.« Der Professor begrüßte Julia beim Betreten des Esszimmers. »Wie geht es ihnen heute?«
»Gut, danke.« Julia sah, dass der Tisch heute für vier Personen gedeckt war. Erst jetzt realisierte sie, dass auch Frauke das Esszimmer betreten hatte. »Ihnen auch einen guten Morgen.« Sie nahm auf dem ihrem Stuhl Platz.
»Sie haben sich wegen des Schlüssels schon entschieden?« Er hatte sich Mühe gegeben, einen freundlichen Ton zu benutzen, obwohl ihn das Thema schon sehr interessierte.
Doch seine Frau ging sofort dazwischen. »Winfried, jetzt lass uns doch erst einmal frühstücken.«
Julia war insgeheim erleichtert, dass sie jetzt noch nicht antworten musste. Irgendwie reichte ihr schon der Gedanke, dass ihr Professor über ihre neue stählerne Unterwäsche Bescheid wusste. An dieser Stelle hätte sie sehr gern Privates von den Uni-Sachen getrennt gewusst. Doch darauf hatte sie in dieser Situation keinen Einfluss.
»Greifen sie zu und lassen sie es sich schmecken.« Frau Hegel begann, den Kaffee einzuschenken.
Julia versuchte, ihre Nervosität zu unterdrücken und das Frühstück zu genießen. Doch sie hatte sich die kleine Kette mit dem bewussten Schlüssel um den Hals gehängt, und diese Last wurde scheinbar immer schwerer.
Natürlich wusste sie, dass dies nur Einbildung war, doch es erinnerte sie die ganze Zeit daran, dass sie noch eine für sie sehr wichtige Entscheidung zu treffen hatte. Denn eines war ihr mittlerweile klar geworden – wenn sie den Schlüssel abgab, dann war sie die ganze Zeit in der Uni in ihre Stahlunterwäsche eingeschossen, ohne dass sie es ändern konnte. Sie fragte sich immer wieder, ob sie dazu wirklich schon bereit war.
Doch sie wusste von Hegels Zeitdruck, und wenn es wichtig war, dass sie diesen Gürtel und die anderen Teile tragen können musste, dann wollte sie sich diesem Ziel nicht in den Weg stellen.
Es war ein sehr gemütliches Frühstück gewesen, und Julia hatte die Zeit noch genutzt, um die eine oder andere Frage zu den Gürteln zu stellen. Doch schließlich spürte sie, dass sie das Unvermeidliche nicht mehr länger hinauszögern konnte. Vor allem aber wollte sie sich gegenüber ihrem Professor keine Blöße geben. »Ich bin schon sehr gespannt, wie sich die Beinringe anfühlen wird.« Sie benutzte mit Absicht die falsche Vokabel.
»Sie meinen die Schenkelbänder?« Frau Hegel schaute ihren Mann verwundert an.
Frauke stöhnte etwas. »Die Dinger sind einfach nur lästig.«
»Frau Wiesl, bitte.« Frau Hegel konnte nicht verbergen, dass sie etwas verärgert klang.
»Lassen sie nur, Frau Hegel. Ich glaube, ich habe das auch schon erkannt.« Julia erkannte sofort, um was es ihrer Vermieterin ging. »Trotzdem bin ich sehr gespannt darauf.«
»Worauf wartet ihr noch?« Herr Hegel blickte die drei Damen verwundert an. »Bitte wartet nicht auf mich.« Er wandte sich an seine Frau. »Sind die neuen Verbindungsstücke noch gekommen?«
»Marianne hat es mir gestern noch in die Hand gedrückt.« Sie drehte sich zu Julia, dann holte sie zwei seltsame kleine längliche Gegenstände vom Tisch und reichte sie der Studentin. »Wir haben hier noch eine Neuerung. Sie wollen ja bestimmt in der Uni nicht auffallen.«
Julia betrachtete sie ausführlich, doch sie konnte sich trotzdem keinen Reim darauf machen. »Was ist das?«
»Diese ‚Dinger‘ tragen sie zwischen den Beinen.« Frau Hegel lächelte ein wenig verlegen. »Es sieht zwar etwas seltsam aus, aber dafür wird es beim Gehen keine Geräusche machen.«
Erst als Julia den neidischen Blick von Frauke bemerkte, fiel ihr ein, dass bei der Dienerin oft ein leises metallisches Klirren zu hören war. Sie blickte auf. »Danke.«
»Du bist die Erste, die das Tragen darf. Es ist eine Neuentwicklung und befindet sich noch im Test.« Frauke schloss die Tür zu Julias Zimmer, nachdem sie beide eingetreten waren.
Julia verzichtete darauf zu fragen, vorher Frauke das wusste. »Danke, ich weiß die Ehre zu schätzen.« Es klang ein wenig pathetisch und sie tat sich deswegen auch schwer, ein Grinsen zu unterdrücken. Aber es half ihr, ihre zunehmende Nervosität in den Griff zu bekommen.
»Dann ziehe bitte deinen Rock aus.« Frauke ging zum Tisch. »Ich bereite inzwischen die beiden Bänder vor.«
»Ich bin schon sehr gespannt.« Julias stimme zitterte vor Anspannung.
»Ach, es wird überschätzt.« Frauke versuchte, ironisch zu klingen. Auch sie war von dem Moment und der angekündigten Zeremonie der Schlüsselübergabe fasziniert. Sie verdrängte den Gedanken, dass sie sich schon sehr lange ebenfalls von diesen Bändern quälen lassen musste.
Beim normalen Gehen fielen die Schenkelbänder nicht auf, aber sobald sie an irgendwelche Stufen kam, zeigten ihr die Ringe sofort ihre Grenzen auf. Besonders unbeliebt waren Treppen. Doch sie wagte es nicht, Julia davon etwas zu sagen.
»Und wie geht das jetzt?« Julia stand vor Frauke und strahlte sie an. Sie hatte sich den Rock ausgezogen und trug auch schon die Bluse, die sie in der Uni tragen wollte.
Frauke seufzte, dann nahm sie den ersten der beiden Ringe in die Hand und bat Julia, ihr Bein anzuheben. »Wir müssen sie einmalig auf deine Größe einstellen.«
»Jetzt kannst du dir den Rock anziehen.« Frauke war von dem Arbeiten nahe an Julias magischem Dreieck sehr bewegt. Sie hatte es nicht geschafft, die weiche Haut nicht zu streicheln und hatte zugleich das Zittern der Studentin bemerkt, die sich der Nähe ebenfalls bewusst war.
»Von so etwas habe ich schon immer geträumt.« Julias Stimme war sehr leise. »Ich wusste aber weder, wie es aussieht, noch das es so etwas überhaupt gibt.« Sie griff zum Rock und begann mit dem Anziehen.
»Du siehst faszinierend aus.« Frauke hatte Mühe, Luft zu holen, so sehr hatte sie dieser Augenblick in den Bann gezogen.
»Jetzt kommt der interessante Teil.« Julia stand auf und ließ die Stoffbahnen des Rockes an sich herunter rutschen. »Man sieht wirklich nichts«, bemerkte sie nach einem kurzen Blick in den Spiegel.
»Wie sollte man auch...«, grinste Frauke. »Da müsstest du schon einen Minirock tragen.«
»Das wäre allerdings etwas verwegen.« Julia lächelte. »Im Grunde genommen sieht es so ähnlich aus wie Strumpfbänder.«
Frauke verschluckte sich, dann verdrehte sie die Augen. »So etwas kann auch nur dir einfallen.«
»Ich glaube, Hegels warten auf uns.« Jetzt war es an Julia, an das Ereignis zu erinnern, vor dem sie eigentlich Angst hatte.
Doch dann horchte sie in sich. War es wirklich Angst? Was war eigentlich so schlimm daran, dass ihr Vermieter – und diesmal dachte sie nicht an ihren Professor – über ihren Zustand Bescheid wusste? Im Gegenteil, wenn er es wusste, wann würde er eventuell einmal etwas geduldiger sein, wenn er auf sie würde warten müssen. Sie stand auf und ging zur Tür.
»Was hast du es denn auf einmal so eilig?« Frauke schüttelte den Kopf, dann ging sie ihr verwundert hinter her.
An der Treppe bemerkte Julia das erste Mal ihre neue eingeschränkte Freiheit. Sie konnte ihre Beine nicht mehr spreizen, wie sie es eigentlich wollte. Doch nach einigen wenigen Stufen hatte sie einen Weg gefunden, wie sie die Treppe trotzdem würdevoll meistern konnte.
»Ich dachte, sie wollten sie sich noch die Schenkelbänder anlegen?« Frau Hegel blickte verwundert auf ihre Mieterin, die gerade die Treppe verließ.
»Aber ich trage sie...« Julia war mehr als verwundert.
»Ich bin erstaunt, wie gut sie damit schon umgehen können. Es fällt überhaupt nicht auf.« Frau Hegel empfing Julia schon im Flur. »Kommen sie, mein Mann wartet im Wohnzimmer.«
»Wie geht es ihnen, Julia?« Herr Hegel war aufgestanden und wartete, bis seine Frau mit Frauke ebenfalls eingetreten war.
»Danke, gut.« Julia strahlte. »Ich bin bereit für die Uni.« ‚...und sonstige Schandtaten.‘ fügte sie in Gedanken noch dazu.
Frau Hegel räusperte sich. »Frau Sommer, Frau Wiesl, Winfried.« Sie blickte die angesprochenen Personen jeweils kurz an. »Jetzt kommt ein wichtiger Moment.«
»Nun mache es doch nicht so feierlich.« Herr Hegel fühlte sich sichtlich unwohl.
Doch seine Frau ließ diesen Einwand nicht gelten. »Julia, sie möchten den Schlüssel zu ihrer Unterwäsche abgeben?« Sie blickte ihre Mieterin fragend an.
Julia bestätigte es zögernd. Sie war von der feierlichen Stimmung ebenfalls überrumpelt.
Sie blickte zu Frauke. »Frau Wiesl! Sie sind bereit, auf diesen so wichtigen Schlüssel die nächste Zeit aufzupassen?«
Auch Frauke bestätigte es.
»Julia, dann überreichen sie Frau Wiesl bitte den Schlüssel.« Frau Hegel blickte Julia ermutigend an.
Julia blickte noch einmal an sich herunter, dann griff sie zu der Kette und nahm sie sich ab. Ihre Hand zitterte leicht, als sie Frauke den Schlüssel übergab.
Doch dann geschah etwas, was Julia erbleichen ließ.
Herr Hegel drehte sich zu Frauke. »Wir hatten etwas besprochen...«
Frauke blickte zu Boden, dann reichte sie dem Professor den Schlüssel, den sie gerade erst bekommen hatte.
»Warum denn das?« Julia war entsetzt und hatte sich entsprechend nicht unter Kontrolle.
Frauke hielt ihren Blick weiterhin gesenkt.
»Julia, lassen sie mich das erklären.« Frau Hegel hatte mit genau dieser Reaktion gerechnet. »Mein Mann ist heute die ganze Zeit in ihrer Nähe, und wenn sie mit irgendetwas Probleme haben sollten, können sie ihn sofort um den Schlüssel bitten und müssen nicht warten, bis sie wieder bei Frauke sind.«
Es hatte natürlich noch einen anderen Grund, den Frau Hegel in diesem Moment allerdings nicht äußern wollte. Wenn Julia etwas Negatives passieren sollte, dann sollte sie es möglichst einfach haben, sich von dem Gürtel zu befreien. Es sollten sich auf keinen Fall stärkere Abneigungen bilden können.
»Ja, das ist einzusehen.« Es fiel Julia zwar schwer, diese Gedanken zu akzeptieren, doch die Gründe dafür hatte sie sofort eingesehen. Zumal sie heute auch wirklich fast den ganzen Tag in der Nähe ihres Professors sein würde.
Doch es bewirkte auch noch etwas anderes. Dadurch, dass sie den Schlüssel in ihrer Nähe wissen würde, entwickelte sie schon jetzt einen gewissen Ehrgeiz, den Schlüssel auf keinen Fall benutzen zu wollen.
Frau Hegel schien ihre Gedanken erraten zu können. »Wir glauben es ja auch nicht, aber sollten sie unerwartet Probleme mit dem Gürtel haben, möchte ich sie eindringlich darum bitten, mit meinem Mann zu reden. Ihre Gesundheit ist uns wichtiger als die Engel.« Letzteres war etwas weit hergeholt, doch sie wusste, dass sie gegenüber Julia Druck in einer ganz bestimmten Richtung aufbauen musste.
»Ich danke ihnen.« Julia holte ganz tief Luft. »Und jetzt bin ich bereit für die Uni.«
Frauke wagte es langsam wieder, ihren Kopf zu heben. Trotzdem vermied sie den Blick zu Julia, denn sie fürchtete, sie verraten zu haben. Doch zu ihrer Erleichterung war Julia mit den Gedanken schon bei der Uni. Und in einem musste sie Frau Hegel recht geben – wenn Julia in der Uni war, denn nutzte ihr ein Schlüssel, der um ihren eigenen Hals hing, überhaupt nichts.
* * *
Zur Haltestelle war es nur ein kurzer Weg, trotzdem lag eine gewisse Spannung in der Luft. Herr Hegel hätte Julia gern etwas gefragt, doch er traute sich nicht, zu intim zu werden.
Julia erging es ähnlich. Sie war stolz darauf, endlich alles tragen zu dürfen, und sie hätte sich gern darüber mit jemanden austauschen, doch sie mochte sich ihrem Professor nicht anvertrauen.
»Tragen sie die Schenkelbänder jetzt doch nicht?« Er blieb stehen und wurde ein wenig rot. »Ich frage nur, weil ich nichts davon höre.«
Julia musste unwillkürlich lächeln. »Genau das hat ihre Frau angekündigt. Sie kennt sie sehr gut.« Jetzt wurde auch die Studentin rot. »Es ist ein neues Modell, wurde mir erklärt. Es sind keine Ketten zwischen den Beinen, sondern zwei mit Kunststoff ummantelte sehr flexible Schienen.«
»Ich bin verblüfft, muss ich gestehen.« Er war etwas verlegen. »Wissen sie, in dem Bund dürfen wir Männer nicht alles erfahren.«
Julia war überrascht, denn sie hörte ihren Professor das erste Mal über den Bund reden – bisher hatte er das Thema immer ausgespart.
»Entschuldigen sie bitte, meine Frau sagte mir, ich soll nicht über dieses Thema reden.« Er blickte zu Boden. »Also bitte verzeihen sie meine Neugier.«
Julia spürte das gegenseitige Vertrauen, und langsam begann sie zu begreifen, dass ihr Professor auch nur ein Mann war. Und sie erkannte auch, dass er mehr von den Engeln wusste, als er bisher einzugestehen bereit war. »Sie möchten wissen, was ich darunter trage, aber sie trauen sich nicht zu fragen?« Julia war sich nicht sicher, ob sie die Stimmung wirklich richtig deutete.
Er hielt den Blick weiter zu Boden gesenkt. »Ja und nein.«
Julia war verwundert über die Antwort.
Der Professor holte tief Luft. »Ja, ich würde es gern wissen, und nein, ich darf nicht danach fragen.«
»Wer verbietet es ihnen?« Julias Verwunderung nahm zu.
»Der Bund.« Er verdrehte die Augen. »Sie habe überall ganz strenge Regeln.«
»Seltsam.« Julia schüttelte den Kopf.
»Natürlich würde ich zuhören, wenn sie etwas davon erzählen.« Er blickte auf die Uhr. »Aber ich darf mich nicht aktiv danach erkundigen.«
»Das sind ja seltsame Regeln.« Es fiel Julia schwer, eine passende Antwort zu finden.
»Letztendlich sind alle diese Regeln zu ihrem Schutz.« Er wurde sichtlich nervöser. »Ihrem und all der anderen Mädchen.«
»Andere Mädchen?« Julia horchte auf.
»Können wir das Thema wechseln? Ich habe ihnen schon viel zu viel erzählt.« In diesem Moment kam die Straßenbahn, und sie mussten das Gespräch unterbrechen.
Obwohl es erst die vierte Station war, bekamen sie keinen Platz mehr und mussten stehen. »Bitte sagen sie meiner Frau nichts davon, dass ich mich nach ihrer Unterwäsche erkundigt habe. Wir bekommen sonst großen Ärger.«
Julia war erstaunt, doch sie versprach, über diese offensichtliche Schwäche ihres Professors zu schweigen. Insgeheim war sie erfreut, noch eine neue Seite ihres Professors kennengelernt zu haben.
Sie blickte sich um und fragte sich, ob jemand von ihrer besonderen Unterwäsche Notiz nehmen würde. Doch dann schalt sie sich einen Närrin, denn wenn selbst ihr Professor nichts von den Bändern bemerkte, wie sollten es dann die anderen Passagiere bemerken.
* * *
Herr Buchelberger fuhr mit seinem Dienstwagen vor Hegels Haus, parkte und stellte den Motor ab. Noch einmal nahm er sich die dicke Akte zur Hand und blätterte sie einmal durch. Natürlich kannte er den Inhalt mehr oder weniger auswendig, es diente mehr dazu, seine Nerven zu beruhigen. Es war ihm bewusst, das der nun folgende Teil sicher der Schwierigste war.
Er wusste von dem besonderen Projekt seiner Schwester, und er wollte ihr auf der einen Seite aufrichtig dabei helfen. Andererseits musste er aber auch sicherstellen, dass es zu keiner offiziellen Anzeige von der Seite der Nachbarn kam. Er hatte ihnen sichtbare Konsequenzen versprochen, und noch hatte er keine Idee, wie diese aussehen könnten.
Langsam packte er die Mappe mit den Unterlagen wieder in seine Tasche, dann stieg er aus und verschloss das Auto. Mit zügigen Schritten ging er zu über den gepflasterten Weg zur Haustür.
Seine Schwester erwartet ihn schon. »Grüß dich, Siegfried.« Ihre Miene zeigte, dass sie über die aktuellen Vorkommnisse Bescheid wusste. »Komm herein.«
»Es tut mir leid, dass es so gekommen ist.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Das habe ich nicht gewollt.«
»Ich dachte auch, dass sie zuverlässiger wäre.« Frau Hegel wirkte ebenfalls etwas schuldbewusst. »So lange haben wir sie sonst allerdings auch noch nicht allein gelassen.«
»Ich mache euch ja keinen Vorwurf.« Er ging voran ins Wohnzimmer. »Aber jetzt würde ich mir gern erst einmal die Aussage eurer Studentin anhören.«
»Julia ist noch mit Winfried in der Uni.« Frau Hegel war verwundert. »Im Moment sind wichtige Vorlesungen, glaube ich.«
»Oh, das ist sehr schade.« Er packte die Akte aus und legte sie auf den Tisch, dann stellte er seine Tasche weg und setzte sich auf einen der Sessel. »Ich sehe sie als eine wichtige Zeugin für den Vorfall.«
»Ist es denn überhaupt so wichtig?« Frau Hegel äußerte ihre Zweifel.
»Es ist ernster, als es auf den ersten Blick aussieht.« Herr Buchelberger blätterte in der Akte. »Eure Nachbarn haben sie gesehen, und ich muss sie jetzt unbedingt von einer offiziellen Anzeige abhalten.« Er seufzte. »Ich habe ihnen sichtbare Konsequenzen versprochen, doch ich habe noch überhaupt keine Ahnung, wie die aussehen könnten.«
»Da haben wir dir ganz schön was eingebrockt.« Frau Hegel seufzte ebenfalls, doch dann hatte sie eine Idee. »Du hast uns doch damals die Handschellen zur Verfügung gestellt.« Ihre Stimme zeigte, das sie einen Plan zu haben schien.
»Ja und?« Noch verstand er die Idee seiner Schwester nicht.
»Wenn sie hier mit Handschellen herumläuft, dann wären das doch ‚sichtbare‘ Konsequenzen.« Frau Hegel fand ihre spontane Idee recht gut.
»Aber machen wir es ihr dann nicht zu leicht?« Herr Buchelberger blätterte in der Akte, bis er eine bestimmte Seite gefunden hatte. »Wir hatten ihr damals gesagt, dass sie sich keinen einzigen Ausrutscher leisten darf.« Er lehnte sich zurück. »Eigentlich müsste ich sie sofort nach Neudeck zurückbringen.« (Anmerkung des Autors: Neudeck ist in München die Justizvollzugsanstalt für Frauen und Jugendliche)
»Das kannst du uns nicht antun, nicht jetzt.« Frau Hegel klang deutlich verzweifelt. »Wir sind so kurz vor dem Ziel.«
* * *
Während Julia sonst immer eher recht zügig durch die langen Gänge im Universitätsgebäude ging, war es heute anders. Sie war viel langsamer und vorsichtiger unterwegs. Und das lag nur zu einem geringen Teil an den Schenkelbändern. Letztere behinderten sie nur etwas beim Treppensteigen, und auf Rolltreppen bevorzugte sie es jetzt, lieber stehen zu bleiben.
Obwohl sie wusste, dass es eigentlich unmöglich war, hatte sie Angst, dass jemand ihren neuen Zustand entdecken würde. Dabei spürte sie Gürtel und BH nicht einmal mehr, weil sie so gut saßen und weil sie sich schon daran gewöhnt hatte. Manchmal kam es vor, dass sie sie ganz vergessen hatte und erst, als sich ihre Finger mit ihrem Körper beschäftigten und das Metall berührten, wurde es ihr wieder bewusst.
Sehr viel Selbstbewusstsein hatte sie nach dem ersten Toilettenbesuch gewonnen, als sie sich überzeugt hatte, dass der Gürtel sie auch zumindest beim kleinen Geschäft nicht großartig behinderte. Lediglich das Saubermachen war ein wenig aufwendiger als bisher. So gesehen blieb ihr Alltag fast der gleiche wie bisher.
Sie fühlte sich sehr erleichtert, als sie dies erkannte. Jetzt wusste sie, dass sie durchaus in der Lage war, Carolins Erbe anzutreten.
Doch dann fragte sie sich auch, ob sie nicht ein wenig zu optimistisch war. Das große Geschäft stand ihr noch bevor, und sie wusste immer noch nicht, wie sie damit wirklich umgehen wollte.
* * *
»Frau Wiesl, kommen sie bitte einmal ins Wohnzimmer?« Frau Hegel hatte im Treppenhaus Schritte gehört, und diese konnten eigentlich nur zu Frauke gehören. »Ein Besucher möchte sie sprechen.«
»Jawohl, Frau Hegel.« Frauke wunderte sich ein wenig. Sie kannte eigentlich nur Julia und den Professor, und beide waren in der Uni. Wer würde wohl etwas von ihr wollen? Sie ging zügig die Treppe hinunter.
Als sie das Wohnzimmer betrat, zuckte sie sichtbar zusammen. Der Besuch von Herrn Buchelberger, dem Vollzugsbeamten, konnte nichts Gutes bedeuten.
»Guten Tag, Frau Wiesl.« Er deutete auf den Sessel neben sich. »Nehmen sie doch bitte Platz.«
Frau erwiderte den Gruß und kam der Aufforderung nach. Ihr Blick ließ vermuten, dass sie noch nicht ahnte, was sie erwartete.
»Sie haben am Samstag des Haus verlassen?« Er sprach in einem sehr ruhigen Ton, trotzdem oder gerade deswegen war die Spannung aber deutlich zu spüren.
»Nein, nie, das darf ich noch nicht.« Doch dann hielt sie inne. »Warten sie, ich war mit Julia auf der Terrasse.« Von Julia Erpressung wollte sie noch nichts sagen.
»Obwohl sie wussten, dass sie das nicht dürfen?« Noch blieb seine Stimme im gleichen Tonfall. »Insbesondere, wenn sie allein sind.«
»Aber Julia war bei mir.« Frauke versuchte noch, sich zu verteidigen.
»Die ganze Zeit?« Herr Buchelberger runzelte die Stirn.
»Ja, natürlich?« Sie hatte jetzt schon ein schlechtes Gewissen.
»Wie erklären sie sich dann dieses Foto?« Er griff in die Mappe, holte das von den Nachbarn eingereichte Bild heraus und reichte es Frauke.
Der Dienerin schossen die Tränen ins Gesicht., denn sie hatte auf einmal die Gesamtsituation erkannt. Sie hatte das Haus verlassen, dass war auf dem Foto deutlich zu sehen. Und Julia war im Haus, weil sie ihren Handschuh und das Halskorsett geholt hatte.
Um sich zu rechtfertigen, hätte sie von Julias Erpressung erzählen müssen, die auf einmal von einer Kleinigkeit zu einem großen Problem geworden war. Sie stammelte etwas. »Aber… aber…« Doch dann schwieg sie.
»Frau Wiesl, warum haben sie gegen dieses Verbot verstoßen?« Er bohrte weiter, denn es war für ihn wichtig, das echte Motiv in Erfahrung zu bringen.
»Ich bin doch noch da?« Den wahren Grund wollte sie immer noch nicht äußern, denn damit würde sie Julia in ein schlechtes Licht rücken. Und noch mehr, sie würde Hegels Ziele gefährden. Sie begann langsam zu begreifen, welche beiden schrecklichen Alternativen vor ihr lagen.
»Damit haben sie mich in große Schwierigkeiten gebracht.« Seine Stimme wurde bedrohlich leise.
Frauke blickte verwundert auf.
»Wenn die Nachbarn, die dieses Foto gemacht haben, auf einer offiziellen Anzeige bestehen, dann kann ich meinen Hut nehmen.« Er holte tief Luft. »Und sie wissen, wo sie dann ihre Strafe verbüßen müssen.«
Frauke senkte den Kopf. Zu einer Antwort war sie nicht fähig. Wie gelähmt saß sie da, denn mittlerweile hatte sie die ganze Tragweite des Vorfalls erkannt. Es wurde ihr grausam klar, dass sie sich – wenn überhaupt – nur dann retten konnte, wenn sie Julia anschwärzte.
Sie erkannte, dass sie in einer schrecklichen Situation war. Wenn sie nichts unternahm, dann musste sie zurück nach Neudeck. Und wenn sie Julia verpetzte, dann würde sie die einzige Person, die ihr wirklich etwas bedeutete, verraten. Das sie damit auch Hegels verärgern würde, kam noch hinzu.
Sie seufzte tief. Unabhängig von dem, was sie jetzt machte, sie würde entweder alles kaputt machen, oder sie würde wieder ins Gefängnis müssen.
Und sie war sich nicht einmal sicher, ob sie dort den Keuschheitsgürtel loswerden würde. Immerhin hatten Hegels den Gürtel zur Verfügung gestellt, und es stand zu befürchten, dass sie ihn deswegen nie mehr los werden würde.
»Frau Wiesl?« Nur langsam drangen seine Worte zu ihr.
Die Frage von Herrn Buchelberger riss sie aus ihren Gedanken. »Entschuldigen sie bitte, ich habe nicht zugehört. Was hatten sie gefragt?«
»Eigentlich nichts…« Er hatte bisher vergeblich auf ein Entgegenkommen ihrerseits gewartet. »Aber ich frage mich, wie es jetzt weitergehen soll.«
Frau Hegel betrat den Raum. Auch sie hatte eine sorgenvolle Miene. »Wie sieht es aus? Konntet ihr es klären?«
Obwohl Frauke tief in ihre Gedanken versunken war, war ihr der vertrauliche Ton nicht entgangen. Sie blickte verwundert auf.
Trotz der Anspannung musste Herr Buchelberger lächeln. »Hatte ich ihnen eigentlich gesagt, dass Frau Hegel meine Schwester ist?«
Eigentlich war es als gute Nachricht gedacht, doch es bewirkte genau das Gegenteil – Frauke wurde noch viel verzweifelter. Sie gab sich gar keine Mühe mehr, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie hatte erkannt, dass sie in dieser Konstellation überhaupt keine Chance hatte.
Sie beschloss, die Flucht nach vorn zu ergreifen. »Worauf warten sie noch? Legen sie mir die Handschellen an, und dann nehmen sie mich mit.« Ihrer Miene und besonders ihrem Tonfall war deutlich zu entnehmen, wie verzweifelt sie war.
Doch damit war Frau Hegel nicht einverstanden. Auch sie hatte sich vorgenommen zu kämpfen. »Hast du sie schon gefragt, warum sie das Haus verlassen hat?«
»Das will sie mir nicht sagen.« Er blickte seine Schwester Hilfe suchend an.
Frau Hegel hatte auf einmal eine Ahnung. »Es hängt mit Frau Sommer zusammen?«
Frauke blickte auf, wagte aber keine weitere Regung, denn sie wollte Julia nicht nach wie vor anschwärzen.
»Das ist eure neue Mieterin?« Er holte einen Block und einen Stift aus seiner Tasche und legte sie vor sich auf den Tisch.
Seine Schwester bestätigte es. »Du solltest sie auch befragen, vielleicht ergibt es neue Erkenntnisse.« Es war deutlich zu hören, dass auch Frau Hegel nach einem Strohhalm zum Festhalten suchte.
»Wenn du meinst?« Er blickte auf. »Holst du sie bitte?«
Doch Frau Hegel zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid, aber sie ist noch in der Uni. Das hatte ich dir schon gesagt.«
»Ach ja, richtig. Das ist blöd. Ich muss bald weg.« Insgeheim war er allerdings froh, die notwendige Entscheidung noch etwas hinauszögern zu können.
Es klopfte an der offenen Tür. Die Köchin trat ein. »Frau Hegel, ich wollte sie nur daran erinnern, dass ich am Wochenende frei habe.«
Frau Hegel war über die Unterbrechung nicht erfreut, »Warum denn das?«
»Ich hatte es ihnen doch gesagt.« Die Köchin klang ein wenig verwundert. »Mein Mann und ich sind bei Freunden im Norden eingeladen. Aber ich könnte ihnen Paula schicken.«
»Ja, machen sie das.« Frau Hegel war über die Ablenkung nicht glücklich.
»Waren sie letzten Samstag hier?« Herr Buchelberger blickte auf. »Vielleicht haben sie etwas gesehen?«
Doch die Köchin musste ihn enttäuschen. »Ich habe meine Tochter vorbei geschickt.« Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil dies mit Hegels nicht abgesprochen war.
»Schade.« Er vermied es, seine Schwester anzusehen. »Es hätte ja sein können. Darf ich ihre Tochter vielleicht einmal sprechen?«
»Sie müsste eigentlich schon zu Hause sein.« Die Köchin blickte auf die Uhr an der Wand, dann nannte sie ihm die Adresse.
»Ich danke ihnen für das Angebot. Das liegt ja sogar auf dem Weg.« Alles, was diese unangenehme Entscheidung hinauszögerte, war ihm im Moment sehr willkommen. »Ich würde gern darauf eingehen.«
»Und was wird aus mir?« Frauke sprach in einem Ton, der deutlich zeigte, dass sie sich mit dem drohenden Schicksal einer erneuten Haftstrafe abgefunden hatte.
»Gut, dass sie fragen. Wären sie damit einverstanden, wenn sie bis auf weiteres deutlich sichtbar Handschellen tragen?« Herr Buchelberger wurde ein wenig verlegen. »Ich habe den Nachbarn sichtbare Konsequenzen versprochen.«
»Aber das ist doch nicht alles, oder?« Frauke wollte sich nicht schon wieder einer trügerischen Hoffnung hingeben.
»Ich werde in zwei Tagen wieder kommen und meine Entscheidung bekannt geben.« Auf einmal fiel ihm ein, dass er noch ein Mittel zur Verfügung hatte. »Wie viele Pluspunkte sind bisher angefallen?«
Frau Hegel nannte die Zahl.
»So viele?« Herr Buchelberger blickte seine Schwester verwundert an.
Frau Hegel war entschlossen, ihre diesbezüglichen Entscheidungen zu verteidigen. »Naja, immerhin hat sie uns bei unseren Zielen sehr geholfen.«
»Die Pluspunkte könnten wir als Strafe ebenfalls streichen.« Er dachte laut.
Frauke seufzte nur leise, denn insgeheim hatte sie genau damit schon gerechnet. Auf einmal ging ein Ruck durch ihren Körper, und sie richtete sich auf. »Ich werde alles tun, was sie von mir verlangen. Und wenn sie mich zurückbringen, dann werde ich das akzeptieren.« Es tat ihr zwar irrsinnig weh, ihre ‚kleine Schwester‘ wieder zu verlassen, doch immerhin hatte sie ihr dieses neue Schlamassel zu verdanken. Sie streckte ihre Arme aus. »Bitte legen sie mir die Handschellen an.« Dann senkte sie ihren Kopf und schloss die Augen.
Erst nachdem sie das Klicken des Metalls hörte, fiel ihr ein, dass sie jetzt ihr Kleid nicht mehr würde ausziehen können. Doch das machte ihr in diesem Moment auch nichts mehr aus.
* * *
Julia fiel es heute schwer, der Vorlesung zu folgen. Immer wieder blickte sie sich misstrauisch um, ob nicht vielleicht doch jemand von ihrer neuen Unterwäsche Notiz nahm. Doch zu ihrer Erleichterung wurde sie ignoriert wie eigentlich immer.
Oft verirrte sich ihre linke Hand unter das Pult, wo sie sich an ihre Taille fasste und dabei das so unnachgiebige Eisen spürte.
Sie wollte es immer noch nicht so recht glauben, dass sie jetzt ein großes Stück auf Carolins Weg gegangen war. Sie trug den Gürtel, den Hegels Tochter nicht mehr tragen durfte. Allein schon deswegen fühlte sich jetzt noch viel mehr verpflichtet.
Doch sie wusste auch, dass Hegels noch viel mehr von ihr erwarteten – und sie ahnte, dass alles mit den Engeln zusammen hing, auch wenn sie selbst diese Zusammenhänge noch nicht ganz durchschaut hatte.
Mittlerweile hatte sie auch den Schock verarbeitet, dass ihr Professor im Moment den Schlüssel zu ihrer besonderen Unterwäsche in den Händen hatte. Sie hatte verstanden, dass er ihr so leicht zu Hilfe kommen konnte, bevor es für sie wirklich schwierig oder sogar unangenehm werden würde.
Doch sie war fest entschlossen, diese Notall-Möglichkeit nicht in Anspruch zu nehmen. Wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, wollte sie auf diesen Ausweg verzichten. Und bisher lief es diesbezüglich einfach blendend.
Immer wieder rief sie sich die sehr stolze und doch überhaupt nicht hochnäsige Patricia ins Gedächtnis, und sie bewunderte die Anmut, mit der sie den Handschuh und das Perlennetz öffentlich getragen hatte, ohne dass es jemand beanstandete hätte. Sogar ihr Freund stellte es nicht infrage, sondern nahm es hin, als wäre es nicht zu ändern.
Julia fragte sich, wie ihr Freund darauf reagieren würde, wenn sie denn mal einen bekommen würde. Doch dann unterbrach sie sich in ihren Gedanken, und beschämt dachte sie daran, dass Frauke ihr schon sehr nahe gekommen war, und dass sie dabei war, sich ernsthaft in Frauke zu verlieben.
Bisher hatten sie die äußeren Umstände ein wenig daran gehindert, ihre Gefühle weiter zu entwickeln. Zu sehr war sie bei Hegels gefangen, als dass sie Fraukes Hilfe schon wirklich als Liebe interpretieren konnte.
Belustigt schüttelte sie innerlich den Kopf. Die so zärtlichen Abende auf dem Bett – wenn die keine Liebe waren, was waren sie denn dann? Julia hatte so gewaltige Orgasmen gehabt, wie sie sie bisher nicht gekannt hatte.
Doch dann überkamen sie wieder Zweifel. Es war bestimmt nicht richtig, die Stärke einer Beziehung anhand von Orgasmen zu beurteilen. Wobei sie schon anerkennen musste, dass sich Frauke sehr für sie aufopferte. Und sie war sich auch sicher, dass die Dienerin auch etwas für sie empfand.
Dabei hatte Frauke selbst auch sehr unter einem Keuschheitsgürtel zu leiden. Julia hatte ihn gesehen, und auch, wenn sie immer noch nicht ganz verstanden hatte, warum Frauke so etwas tragen musste, war sie doch erleichtert, dass ihre Freundin ein ähnliches Schicksal wie sie teilte.
Wieder hielt sie inne. War sie wirklich schon ihre Freundin? Oder war sie eine Angestellte von Hegels , die sich nur um sie zu kümmern hatte.
Julia stutzte. Frauke war schon länger bei Hegels, offensichtlich lange bevor sie selbst zu ihnen gekommen war. Sie fragte sich, was bis dahin ihre Aufgabe gewesen war. Sie begegnete Hegels immer noch mit sehr viel Respekt, und auch Hegels behandelten sie sehr formell.
Ihr Professor hatte Julia zwar noch nicht das Du angeboten, doch sie fühlte, dass er ihr näher stand als es bei Frauke der Fall war, obwohl Frauke schon viel länger bei ihnen war. Sie fragte sich, woran das lag.
* * *
Frauke lag in ihrem Zimmer auf dem Bett und dachte über die Ungerechtigkeit der Welt nach. Sie wusste natürlich, dass Julia sie erpresst hatte, denn freiwillig wäre sie nie nach draußen gegangen. Doch andererseits war ihr genauso klar, wie wichtig Julia für Hegels war. Sie, die kleine Dienerin würde es nicht wagen, der Studentin die Schuld für ihr Vergehen zu geben, auch wenn das zumindest aus ihrer Sicht so war.
Sie war völlig erschlagen von der Aussicht, wieder zurück ins Gefängnis zu müssen. Und die Wut auf Julia, die mit so einer Kleinigkeit alles kaputt gemacht hatte, wuchs immer weiter.
Es hatte Frauke schon enorm viel abverlangt, sich auf das Leben bei Hegels einzustellen. Es hatte es sie viel Kraft gekostet – und es war mehr als demütigend, mit dem altmodischen Dienstbotenkleid und vor allem mit dem Keuschheitsgeschirr herum laufen zu müssen. Doch es war immer noch viel viel besser, als im Gefängnis zu sitzen.
Es war ungerecht, einfach nur ungerecht. Sie war wütend, sehr wütend, doch es gab nur eine Person, die sie hätte beschuldigen könnte, und diese Person war Julia.
Auf einmal fiel ihr etwas ein. Wenn sie zurück ins Gefängnis musste, dann würden die gestrichenen Pluspunkte keine Rolle mehr spielen, denn diese galten nur für ihren Aufenthalt bei Hegels. Es war nur ein winziges Detail, doch in ihrer aktuellen Situation tröstete es sie ein wenig.
Das Gespräch mit Herrn Buchelberger hatte sie völlig heruntergezogen. Sie wusste aus ihrer Vergangenheit, dass diesbezügliche Rechtfertigungen nicht viel brachten, insbesondere wenn so eindeutige Beweise vorlagen. Außerdem wusste sie von Hegels Vorhaben und wagte es nicht, Julia zu beschuldigen. Aber all ihre Liebe und Zuneigung zu Julia war mit einem Mal verschwunden.
In dem Gespräch mit dem Vollzugsbeamten hatte er ihr versichert, dass sie eine sichtbare Strafe anzutreten habe, so hätte er es den Nachbarn versprochen. Seufzend blickte sie auf die Handschellen, die sie jetzt auch noch tragen musste. Und das würde nur der Anfang sein.
Frauke war mehr oder weniger verzweifelt. Sie wollte auf keinen Fall ins Gefängnis zurück, doch genauso verbot ihr ihr Ehrgefühl, Julia anzuschwärzen. Sie war sich außerdem sicher, dass es bei ihrer Vergangenheit nur als eine faule Ausrede angesehen werden würde.
Dabei war Julia die einzige Person, die sie hätte entlasten können. Doch sie wagte es nicht, Hegels darüber zu berichten, denn sie wusste, wie sehr Hegels an dem Mädchen hingen. Es war ein furchtbarer, schrecklicher Konflikt.
Wieder seufzte sie tief. Wenn sie bereit gewesen wäre, auf den Blick auf die Straßenbahn zu verzichten, dann hätte sie jetzt diese Probleme nicht. Sie überlegte, ob sie vielleicht Herrn Hegel abpassen sollte. Vor ihm hatte sie Achtung, und vielleicht konnte sie ihm die Wahrheit sagen. Sie hoffte, dass er sie vielleicht verstehen würde.
Doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Der Professor würde sich nie auf ihre Seite stellen. Soweit sie wusste, war er damals gegen diesen besonderen Deal seiner Schwester gewesen. Sie seufzte tief, denn sie erkannte wieder einmal, wie verpfuscht ihr bisheriges Leben doch war.
Sie blickte sich erneut um, und diesmal fiel ihr Blick auf das kleine Modell der Straßenbahn. Auf einmal wusste sie, was sie tun konnte. Mit grimmiger Miene stand sie auf.
Es klopfte an der »Frau Wiesl?«
Frauke hielt in ihrer Bewegung inne. »Ja?«
Die Frau des Professors trat ein. »Ich wollte sie fragen, ob sie mir bei der Wäsche helfen könnten?«
Die Dienerin nickte – im Moment war sie für jede Ablenkung dankbar. Trotzdem hob sie ihre Hände hoch und zeigte ihre neuen Fesseln.
»Das machen wir schon.« Sie hielt einen Schlüssel hoch. »Kommen sie bitte mit.«
Frauke war verwundert. »Sie haben den Schlüssel dafür?« Sie folgte ihr auf den Weg durch das Treppenhaus.
»Das war eine Bedingung meinerseits.« Frau Hegel drehte sich kurz um und lächelte. »Sonst nutzen sie mir ja nichts.«
Frauke blickte sie verwundert an, während sie die Waschküche betraten.
»Bitte erinnern sie mich daran, dass ich sie ihnen wieder anlege, wenn wir hier fertig sind.« Frau Hegel reichte ihr das erste Wäschestück.
Frauke seufzte nur. Trotzdem wollte sie immer noch nicht zugeben, dass sie nur von Julia erpresst worden war. Im Gegenteil, sie gab sich selbst die Schuld. Wenn sie wegen der Straßenbahn nicht so egoistisch gewesen wäre, dann hätte sie jetzt dieses Problem überhaupt nicht.
* * *
»Danke für die Hilfe.« Frau Hegel schloss die Tür zur Waschküche. »Jetzt gehen wir zum Mittagessen.«
Frauke wäre gern allein gewesen, doch sie wagte nicht zu widersprechen. »Sie müssen mir noch die Handschellen wieder anlegen.«
»Gut dass sie mich daran erinnern.« Sie drehte sich um und ging noch einmal in die Waschküche. Gleich darauf kam sie mit den Handschellen in der Hand wieder zurück.
Frauke streckte gehorsam ihre Hände aus.
»Und in der Küche nehme ich sie ihnen wieder ab?« Doch Frau Hegel schüttelte den Kopf. »Das ist doch lächerlich.«
Frauke fasste ein wenig Hoffnung, während sie die Küche betraten. »Meinen sie, es gäbe noch eine Alternative zum Gefängnis?« Zu ihrer Erleichterung war die Küche leer. Die Köchin war mit ihrer Arbeit fertig, und vom Herd her duftete es nach leckerem Eintopf.
»Ich würde gern etwas Positives sagen, aber dann müsste ich lügen.« Sie holte tief Luft. »Ich will ehrlich sein. Ich sehe keine Alternative, wenn wir nicht größeren Ärger bekommen wollen.« Sie begann den Tisch zu decken.
»Ja, so etwas dachte ich mir schon.« Frauke seufzte. »Werden wenigstens die Tage, die ich bei ihnen war, auf meine Strafe angerechnet?« Sie holte das Besteck aus der Schublade.
»Das wird mein Bruder sicher einrichten können.« Sicher war sie sich nicht, doch sie wollte Frauke auch nicht unnötig demütigen. »Warum haben sie eigentlich das Haus verlassen, obwohl sie wussten, dass sie es nicht dürfen?«
»Ich musste es machen.« Frauke war zunächst empört über die Frage, doch dann erkannte sie, was als nächstes kommen würde. Deswegen senkte sie ihren Kopf. »Ich möchte aber nicht darüber reden.« Sie ärgerte sich immer noch sehr über ihren Egoismus. Wenn sie nicht zu den Straßenbahn hätte blicken wollen, dann hätte sie jetzt diese Probleme nicht.
Es war unfair von Julia gewesen, sie auf diese Weise zu erpressen. Doch sie konnte ihr nicht einmal die Schuld dafür geben, denn sie wusste nichts von Fraukes Verbot.
Und wenn sie es erzählt hätte, warum sie nicht nach draußen durfte, dann hätte sie die Gründe dazu nennen müssen. Und dann wäre viel noch viel Schlimmeres zu Tage getreten.
Frau Hegel holte den Topf vom Herd und bat Frauke, sich an den Tisch zu setzen. »Lassen sie es sich schmecken.«
Auf einmal erkannte Frau Hegel, was vermutlich wirklich passiert war, und sie begriff die Lage, in der sich Frauke befand. Sie legte das Besteck weg und ergriff die Hand der Dienerin. »Ich werde mich bei meinem Bruder für sie einsetzen.«
Frauke hob verwundert den Kopf, doch zu einer Frage war sie nicht in der Lage.
»Sie müssen aber auch verstehen, in welcher Lage sich mein Bruder befindet.« Ihre Stimme wurde auf einmal sehr ernst. »Er hat zwar nicht ungesetzlich gehandelt, aber weitab von jeglichen Vorschriften. Wir müssen vor allem die Nachbarn ruhig stellen.«
Frauke war sehr verwundert über die Richtung, die dieses Gespräch nahm.
»Er hat ihnen sichtbare Konsequenzen versprochen.« Frau Hegel holte tief Luft. »Deswegen hatte ich die Idee mit den Handschellen. Es wäre gut, wenn die Nachbarn sie so sehen würden.«
Frauke zögerte. »Sie meinen, dass ich vielleicht doch nicht…«
»Ich möchte ihnen keine falschen Hoffnungen machen.« Sie blickte kurz aus dem Fenster. »Es ist nur ein Strohhalm, und auch nur ein kleiner. Aber wir müssen unbedingt alles tun, um sie von einer offiziellen Anzeige abzuhalten. Spätestens dann müssten sie wirklich zurück.«
»Eigentlich stören die Handschellen ja gar nicht.« Frauke seufzte. »Außerdem trage ich schon so viel Metall am Körper, dass die beiden Ringe auch nicht mehr stören.«
Frau Hegel kam nicht umhin, zu grinsen. »Es tröstet mich, dass sie es mit Humor nehmen.«
»Galgenhumor?« Frauke verdrehte die Augen. »Das mit den Pluspunkten ist sehr ärgerlich. Ich hatte mich schon sehr gefreut.«
»Ich werde diesbezüglich noch einmal mit ihm reden.« Frau Hegel stand auf und begann den Tisch abzuräumen. »Aber versprechen kann ich nichts.«
Frauke seufzte noch einmal, dann griff sie zu den Handschellen und legte sie langsam und etwas traurig um ihre Handgelenke. Sie blickte noch einmal fragend zu Frau Hegel, dann drückte sie sie langsam zu.
* * *
Frauke hatte die gute Gelegenheit sofort erkannt. Frau Hegel war im Ort unterwegs, und sie war allein im Haus und konnte die Rückkehr von Herrn Hegel abpassen. Sie hatte sich Besen und Handfeger bereit gestellt.
Sobald sie ihn auf der Straße kommen sah, griff sie sich den Besen und tat, als würde sie den Flur fegen. So konnte sie ihn abpassen, kaum dass er das Haus betreten hatte.
»Ah, gut dass ich sie gleich treffe, Frau Wiesl.« Er zog sich den Mantel aus und hängte ihn auf die Garderobe. »Ich muss es sofort loswerden.« Er griff in die Hosentasche und zog ein kleines Schlüsselbund mit ebenso kleinen Schlüsseln heraus. »Es brannte geradezu in meiner Tasche.«
Frauke erkannte die Schlüssel sofort. Erst jetzt realisierte sie, dass auch Julia das Haus betreten hatte. In ihr arbeitete es heftig. Wenn sie jetzt keinen Fehler machte, dann konnte sie sich wenigstens ein klein wenig an Julia rächen. Falls es ihr gelingen würde, die Schlüssel tatsächlich in ihre Obhut zu bekommen, dann sollte ihn Julia sie wieder bekommen. Wenn sie schon zurück ins Gefängnis musste, dann soll Julia auch gefangen sein.
Doch die Studentin hatte es eilig. »Ich gehe mich sofort umziehen.« Sie warf Frauke einen sehr verliebten Blick zu, dann ging sie mit schnellen Schritten zur Treppe und schritt hinauf.
Fraukes Augen begannen auf einmal zu leuchten, denn sie hatte die sich ihr darbietende Gelegenheit sofort erkannt. Sie stellte den Besen an die Wand und nahm sich den Schlüsselbund aus seiner Hand. Mit einem diabolischen Lächeln steckte sie sich das Bund in eine der Taschen ihres Kleides.
»Die Verantwortung, ihn nicht zu verlieren, war doch sehr groß.« Er lächelte, doch dann realisierte er die veränderte Stimmung. »Ist etwas passiert? Was ist los? Warum tragen sie Handschellen?«
Doch Frauke sagte zunächst nichts, sondern ging mit eiligen Schritten in Richtung Treppenhaus. Erst als sie schon in der Mitte der Treppe war, drehte sie sich noch einmal zu Herrn Hegel. »Fragen sie ihre Frau.«
* * *
Gut gelaunt betrat Julia ihr Zimmer, und kaum, dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, begann sie, ihre Kleidung zu öffnen und sie auszuziehen. In der Straßenbahn hatte sie schon darüber nachgedacht, was sie jetzt anziehen wollte. Gegessen hatte sie schon etwas in der Stadt, so dass sie sich jetzt ganz auf ihr Lernen und gleichzeitig das Training für die Engel konzentrieren konnte.
Sie ging zum Schrank und blickte fasziniert hinein. In der Öffentlichkeit hätte sie so etwas nie getragen, doch sie entschied sich für den Nacht blauen Rock und ein knall gelbes Top. Die freien Arme waren ihr wichtig, denn sie wollte heute unbedingt noch den Handschuh tragen, und dafür war etwas Langärmeliges eher unpraktisch.
Gut gelaunt und eine leise Melodie summend verließ sie gleich darauf ihr Zimmer und ging fröhlich in Richtung von Fraukes Zimmer. Sie wollte die Dienerin bitten, ihr bei dem Handschuh und dem Pferd zu helfen, und sie war sich sicher, dass es ihr selbst auch Spaß machen würde.
Sie klopfte an der Tür. »Frauke, bist du da?« Dann lauschte sie erwartungsvoll.
»Verschwinde! Ich will dich nie wiedersehen.« Die Stimme der Dienerin war durch die geschlossene Tür deutlich zu hören, und sie klang alles andere als fröhlich.
Julia war zunächst verwundert und glaubte noch an einen Scherz. »Komm, wie soll ich denn sonst lernen und trainieren?« Noch hatte sie es nicht gewagt, die Tür zu öffnen.
»Das ist mir doch egal.« Frauke musste sich keine Mühe geben, um abweisend und verbittert zu klingen.
Julia war sehr verwundert. Bisher hatte sich Frauke ihr gegenüber ganz anders verhalten. Sie öffnete die Tür und trat ein. Die Dienerin saß auf dem Bett, und sie schien geweint zu haben.
»Kannst du mich nicht in Ruhe lassen.« Frauke versuchte vergeblich, ihre Handschellen zu verstecken.
»Du musst mir helfen, mit dem Handschuh und dem Pferd.« Noch hatte Julia nicht erkannt, was in der Zwischenzeit vorgefallen war.
Frauke hielt den Kopf gesenkt. »Ich muss gar nichts.« Sie hatte Schwierigkeiten, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.
»Ich sage Hegels Bescheid, dass du mir nicht helfen willst.« Es war eine leere Drohung, denn sie wusste, dass sie so etwas nie machen würde.
Etwas in Frauke schien zu platzen. Sie hob ihre Arme hoch. »Hier, das habe ich dir zu verdanken. Und übermorgen bringen sie mich weg.« Sie achtete trotz all ihres Ärgers darauf, das Wort ‚Gefängnis‘ nicht auszusprechen.
»Ich verstehe nicht.« Julia war mehr als verwundert.
»Verschwinde und lass dich hier nicht mehr blicken.« Frauke senkte den Kopf.
Julia erkannte, dass sie hier offenbar nichts mehr erreichen konnte. Ziemlich benommen ging sie nach unten ins Wohnzimmer, wo sie ihren Professor vermutete. Doch das Wohnzimmer war leer.
Sie hatte keine Lust, rufend durch das Haus zu laufen, so beschloss sie, wieder in ihre Zimmer zu gehen. Doch sie war sehr verunsichert, weil sie nicht wusste, was sie jetzt machen sollte.
* * *
Als Frau Hegel das Haus betrat, kam ihr Julia sofort im Treppenhaus entgegen. Die Frau des Professors sah sofort, dass sie etwas auf dem Herzen zu haben schien, trotzdem wies sie die Studentin schroff ab. »Ich muss erst meinen Mann sprechen.«
Julia zuckte innerlich mit den Schultern, dann drehte sie sich wieder um und ging zurück.
Frau Hegel fand ihren Mann in seinem Arbeitszimmer. »Ach hier bist du.« Sie schloss die Tür hinter sich.
»Was ist passiert?« Er erkannte die bedrückte Miene seiner Frau sofort.
»Frau Wiesl.« Sie verdrehte die Augen. »Sie macht uns großen Ärger.«
»Ich war von vornherein dagegen.« Seine Antwort zeigte, dass er noch nicht bei der Sache war.
»Bitte«, Frau Hegel klang ungeduldig. »Das hilft uns jetzt auch nicht weiter.«
»Was ist passiert?« Er wiederholte seine Frage.
Frau Hegel brachte ihren Mann auf den neuesten Stand.
Er erbleichte. »Weiß Julia schon davon?«
Frau Hegel verneinte und schüttelte den Kopf. »Sie war bislang bei dir.«
»Stimmt.« Er lächelte verlegen. »Wir sollten sie informieren.«
»Ich gehe sie holen.« Frau Hegel ging zur Tür. »Sie wollte mich auch sprechen.«
»Frau Sommer, kommen sie bitte einmal zu uns?« Frau Hegel traf Julia im Treppenhaus.
»Einen Augenblick, ich muss mir erst den Rock wieder schließen.« Noch war Julia hoch motiviert, und sie hatte sich auch fest vorgenommen, sich von Frauke nicht aus der Bahn werfen zu lassen.
»Das ist jetzt nicht so wichtig.« Frau Hegel drehte sich um. »Kommen sie einfach mit.«
Julia blickte verwundert auf, und etwas zögernd folgte sie Frau Hegel ins Arbeitszimmer. Immer deutlicher wurde ihr klar, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein musste. Doch sie wusste nicht, was sich ereignet hatte.
»Waren sie am Samstag mit Frau Wiesl zusammen auf der Terrasse?« Herr Hegel wartete nicht ab, bis Julia gesetzt hatte.
»Ja.« Julia war verwundert. »War das falsch?«
Doch ihr Professor ging nicht auf die Frage ein. »Und haben sie sie dann allein gelassen?«
»Nein…« Jetzt kam ihre Antwort etwas zögerlich.
»Sicher nicht?« Er hakte nach.
Julia ging in Gedanken den Samstag Nachmittag durch. »Warten sie, ich habe ein paar Sachen zum Trainieren geholt.« Sie machte eine Pause. »Ist das wichtig?«
Er holte tief Luft. »Frau Wiesl darf das Haus nicht verlassen.«
»Warum denn das nicht?« Julias Stimme zitterte.
»Willst du das erzählen?« Er wandte sich an seine Frau.
Frau Hegel erzählte die ganze Geschichte.
Julia Gesicht wurde immer bleicher. »Jetzt verstehe ich alles… und ich bin daran schuld.« Sie versuchte gar nicht erst, ihren kleine Erpressung zu leugnen. Sie berichtete sofort davon.
»Sie haben uns damit großen Ärger verursacht.« Der Professor hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten.
»Das war nicht meine Absicht.« Julias Stimme wurde weinerlich. »Ich dachte, sie würde sich nur zieren.« So nach und nach begann sie die wahre Tragweite ihrer Handlung zu begreifen.
Der Professor räusperte sich. »Bitte gehen sie auf ihr Zimmer.« Er drehte sich kurz zu seiner Frau. »Wir werden uns beraten, und dann werden wir sie rufen.«
Julia erhob sich traurig und ging zügig in Richtung Treppenhaus. Wie schon zuvor verzichtete sie darauf, sich den Rock enger zu machen. Sie wollte jetzt nur noch schnell den Raum verlassen. Am liebsten hätte sie sich in eine Maus verwandelt und versteckt, doch sie wusste, dass sie sich den drohenden Konsequenzen zu stellen hatte.
Als Julia ihr Zimmer betrat und all die Sachen sah, die sie schon für das Training bereit gelegt hatte, musste sie bitterlich weinen. Mit so einer kleinen Geste hatte sie alles kaputt gemacht – und es gab keine Aussicht, es wieder gut machen zu können. Sie ging zu ihrem Bett, schob den Monohandschuh und die Ballettstiefel beiseite und warf sich stattdessen auf das Bett. Sie legte ihren Kopf auf das Kissen und ließ die Tränen laufen.
Doch nach einiger Zeit besann sie sich. Es nutzte weder Frauke noch ihr selbst etwas, wenn sie jetzt in Selbstmitleid zerfloss – erst recht nicht Hegels. Das Ehepaar hatte große Erwartungen in sie gesetzt, und langsam kam sie zu der Überzeugung, dass sie sich trotzdem den vor ihr liegenden den Aufgaben stellen musste.
Sie richtete sich auf und sah sich um. Ihr Blick fiel zunächst auf die Sachen, die sie beiseite geschoben hatte, dann drehte sie ihren Kopf, bis ihr Blick auf das sogenannte Pferd fiel.
Sie musste nur kurz überlegen, dann gab sie sich einen Ruck. Zumindest die Mörderstiefel würde sie sich allein anziehen können. Trotz all des Ärgers, den sie jetzt hatte, fand sie die Stiefel sehr faszinierend. Und sie war entschlossen, zumindest nicht von selbst aufzugeben.
Sie war gerade mit der Schnürung des zweiten Stiefels fertig – es fehlte eigentlich nur noch die Schleife – als es an der Tür klopfte und sie von draußen die Stimme ihres Professors hörte. »Julia, sind sie da?«
»Einen Augenblick, ich komme sofort.« Julia band sich hastig die Schleife, dann stand sie auf. Sie war noch sehr wackelig auf den Ballettstiefeln, doch sie wollte guten Willen zeigen und zwang sich, die wenigen Schritte mit den Stiefeln zu gehen.
Sie hatte eigentlich erwartet, dass sie wieder zu Hegels ins Wohnzimmer kommen sollte, deswegen hatte sie nicht einfach herein gerufen. Doch als sie ihrem Professor öffnete, bat er um Erlaubnis, hereinkommen zu dürfen.
»Meine Frau musste zu einem wichtigen gesellschaftlichen Termin, den sie nicht absagen konnte.« Er versuchte einen neutralen Blick, doch es war ihm anzusehen, dass ihn etwas bedrückte. »Ich habe das noch nie gemacht.«
Julia blickte ihn verwundert an. Die eigentlich offensichtliche Frage stelle sie allerdings nicht.
»Meine Frau meint, ich sollte ihnen beim Training helfen, natürlich nur, wenn sie es überhaupt noch machen wollen.« Er klang sehr verlegen.
Es dauerte einen Moment, bis Julia erkannte, was er damit eigentlich sagen wollte oder besser sagen musste.
»Die Stiefel tragen sie ja schon.« Er machte einen sehr erleichterten Eindruck. »Gerade damit kenne ich mich überhaupt nicht aus.«
»Das Anziehen ist nicht das Problem.« Julia fragte sich, wo sie die Ruhe her nahm. »Mit dem Gehen tue ich mich noch sehr schwer.« Innerlich wollte sie es noch nicht wahrhaben, dass ihr Professor ihr jetzt bei ihrem besonderen Lernvorhaben helfen würde.
»Was möchten sie lernen?« Er sah die Bücher, die Julia offensichtlich schon bereit gelegt hatte.
Julia nannte das Fachgebiet, mit dem sie sich beschäftigen wollte.
»Dann nehmen sie bitte Platz.« Er machte eine einladende Handbewegung in Richtung des Pferdes.
Julia blickte ihn verwundert an.
»Wollten sie nicht auf dem Pferd lernen?« Herr Hegel war recht unsicher.
Julia begann zu zittern. »Meinen sie wirklich?« Sie begann auf einmal, ganz neue Seiten an ihrem Professor zu entdecken. Sie hätten gern den Kopf frei gehabt, um es zu genießen, doch sie musste ständig an Frauke denke, sie sie so schändlich verraten hatte. Sie wurde immer nervöser. Dass ausgerechnet ihr Professor ihr jetzt bei den Übungen half, damit hatte sie schwer zu kämpfen.
»Ich sehe das allerdings das erste Mal.« Er schluckte. »Sie müssen mir sagen, was ich machen muss.«
Julia musste ebenfalls schlucken. Sie selbst hatte auch erst einmal auf dem Pferd gesessen. »Vielleicht wäre es besser, wenn ich den Gürtel dafür ablege.«
Auf einmal wurde der Professor bleich. »Der Schlüssel… Ich…« Er stotterte leicht. »Ich habe ihn Frau Wiesl zurückgegeben.«
Julia kam ins Stolpern, und ihr Professor musste sie festhalten. Tränen schossen ihr in ihr Gesicht. »Das war es… Sie wird ihn mir nie zurück geben.« Sie begann zu weinen. »Ich werde diesen Gürtel für immer tragen müssen.«
Der Professor nahm sie in den Arm und versuchte sie zu trösten. »Jetzt schlafen sie erst einmal darüber, und morgen wird es schon anders aussehen. Wollen wir nicht versuchen, noch ein wenig zu lernen und zu trainieren.«
Julia gab sich einen Ruck. »Sie haben Recht.« Sie wischte sich die Tränen weg und versuchte, sich kämpferisch zu geben. »Ich versuche es trotzdem.« Sie rieb sich noch einmal die Augen. »Ich werde es trotzdem schaffen.« Was sie genau mit ‚es‘ meinte, wusste sie in diesem Moment allerdings selbst nicht.
Sie zitterte deutlich sichtbar, als sie auf das Pferd stieg und sich in Position brachte. Wieder begann sie zu weinen, denn noch in der Uni hatte sie davon geträumt, dass Frauke sie auf dem Pferd fixieren würde. Und dabei hätten sie sicher auch noch etwas Zärtlichkeiten ausgetauscht.
»Mache ich etwas falsch?« Herr Hegel blickte Julia besorgt an.
Julia erkannte, dass sie sich zusammenreißen musste. Sie hatte schon Frauke so gut wie ins Gefängnis gebracht, jetzt wollte sie nicht auch noch ihrem Professor Kummer machen. »Nein, es ist alles in Ordnung.« Sie wischte sich die Tränen weg. »Ich werde mich jetzt beherrschen.«
»Was muss ich als nächstes machen?« Er schaffte es nicht, seine Nervosität zu verbergen.
»Sie müssen mir die Stiefel in den Halterungen festschnallen.« Julia blickte nach unten, um zu sehen, ob erkennbar sein würde, was zu tun war.
Der Professor kniete sich vor das Pferd und schaute kurz auf die Halterung. Er hatte zu seiner eigenen Erleichterung sofort erkannt, was zu tun war.
Gleich darauf konnte Julia beobachten, wie ihr Professor die Stiefel an dem Pferd fixiert. Ohne fremde Hilfe würde jetzt nicht mehr herunter steigen können. Sie war schon jetzt auf dem Pferd gefangen.
Er erhob sich wieder und nahm sich den Monohandschuh vom Bett. »Mit dem Handschuh wird es einfacher, damit kenne ich mich aus.«
Julia war noch sehr in ihren traurigen Gedanken versunken, deswegen realisierte sie nicht sofort, was ihre Professor gerade gesagt hatte.
Auch Herr Hegel hatte zu spät erkannt, was er gesagt hatte. Er wusste nicht, wie es nun weiter gehen sollte, er hoffte sehr das Julia so abgelenkt war, dass er sich aus der Notlage heraus winden konnte.
»Sie haben ihrer Tochter sicherlich oft mit dem Handschuh geholten?« Insgeheim war Julia über diese Wendung erleichtert.
Eigentlich hätte er sich bei diesen Fragen nach dem Leben seiner Tochter traurig pikiert zeigen sollen, doch jetzt war er um den Ausweg sehr dankbar. »Ja, sie hat ihn gern getragen. Natürlich hat sich eigentlich meine Frau um Carolin gekümmert, doch manchmal war ich auch dran.«
Julia war hin und hergerissen. Sie war natürlich immer noch traurig über Frauke, aber gleichzeitig auf fasziniert über die neuen Seiten, die sie an ihrem Professor kennenlernte.
Anfangs legte ihr der Professor nur die Bücher vor, die sie verlangte, doch bald ging es unauffällig in eine Privatvorlesung über. Eine Vorlesung, die wohl für beide Seiten sehr ungewöhnlich war.
* * *
Frauke hatte sich auf ihr Bett gelegt und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Zusätzlich zu dem bisherigen Restriktionen trug sie jetzt auch noch Handschellen, die sie in ihrer Bewegungsfreiheit noch weiter einschränkten. Doch dieses war nicht ihr größtes Problem. Sie wusste, dass es nicht in ihrer Macht lag, die Rückkehr ins Gefängnis zu verhindern.
Ihr Blick fiel auf die Schlüssel zu Julias Keuschheitsgürtel – sie überlegte, was sie damit machen sollte. Im Gefängnis würde sie sicher durchsucht werden. Es wäre sicher besser, wenn sie ihn im Haus verstecken würde. Julia sollte sie nie zurück bekommen. Sie sollte genauso gefangen sein wie sie selbst.
Das Beste würde sein, wenn sie den Schlüssel bei ihrem Schatz verstecken würde.
Auf einmal durchzuckte sie ein Gedanken. Das Geheimversteck – Hegels schienen es nicht eventuell gar zu kennen. Vielleicht könnte sie sich dort verstecken, dann würden sie vielleicht denken, sie wäre geflüchtet und würden im Haus nicht mehr nach ihr suchen.
Sie überlegte, was sie machen konnte, um es nach einer Flucht aussehen zu lassen. Doch das Einzige, was ihr einfiel, war, ihr Kleid auszuziehen. Doch das war ihr aktuell wegen der Handschellen nicht mehrso einfach möglich.
Sie rief sich die alten Heizgänge ins Gedächtnis und überlegte, wo das Risiko gesehen zu werden, am geringsten war und wann. Sie würde erst einmal in ihrem Zimmer bleiben, und erst in der Nacht, wenn alle schliefen, würde sie sich durch Julias Zimmer in ihr Geheimversteck flüchten.
Doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Es wäre besser, wenn sie den Umweg um die Speisekammer machen würde und sich dabei mit ein wenig Nahrungsmitteln eindecken würde. Es könnte sein, dass sie sich ein paar Tage länger verstecken müsste.
* * *
Es klopfte an Julias Tür. Frau Hegel steckte den Kopf zur Tür herein. »Wissen sie, wo mein Mann ist?« Sie sah etwas verwirrt aus. »Er ist weder im Wohn- noch in seinem Arbeitszimmer.«
»Ich bin hier, mein Schatz.« Der Professor drehte sich zur Tür. »Ich helfe Frau Sommer beim Lernen, weil Frau Wiesl nicht da ist.«
»Darf ich dich einmal kurz sprechen?« Frau Hegel sah sehr besorgt aus.
Der Professor hatte seine Frau in hastigen Worten über die jüngsten Ereignisse informiert.
»Bist du verrückt?« Seine Frau war entsetzt. »Jetzt stimmt doch unsere Geschichte nicht mehr.«
»Sie war so sehr durch den Wind, dass ich ihr einfach helfen musste.« Er rechtfertigte seine Entscheidung. »Außerdem glaube ich, dass sie schon so tief drin steckt, dass eigentlich nichts mehr passieren kann.«
»Wenn die Sache mit Frau Wiesl nicht wäre, dann würde ich dir recht geben.« Frau Hegels Stimme zeigte immer noch deutliche Zweifel. »Trotzdem, wir müssen einfach dran bleiben.«
»Und was machen wir jetzt?« Herr Hegel war über die Entwicklungen geradezu erstarrt. »Können wir das jetzt überhaupt noch schaffen?«
»Ich weiß es nicht.« Seine Frau seufzte. »Aber ich denke, wir haben nicht wirklich ein Wahl. Entweder wir versuchen es weiter, oder wir geben gleich auf.«
Herr Hegel schwieg einen Moment. »Und wenn wir uns selbst um sie kümmern. Auf Frau Wiesl dürfen wir glaube ich nicht mehr setzen.«
Frau Hegel lächelte. »Ich hatte mich nur nicht getraut, diesen Gedanken auszusprechen, aber das Gleiche wollte ich vorschlagen. Wir sollten unseren letzten Versuch nicht so einfach abbrechen, solange noch Hoffnung ist.«
»Kannst du mir ihr reden?« Er gab sich ein wenig erleichtert.
»Ich werde es machen.« Sie seufzte erneut. »Ich habe mich nicht getraut, sie mit Frauke allein zu lassen. Ich habe befürchtet, dass sie handgreiflich werden könnte.«
»Meinst du wirklich?« Herr Hegel dachte nach. »Naja, bei ihrer Vergangenheit wäre das nicht ausgeschlossen.«
»Ein Gutes hat es ja.« Sie grinste leicht.
»Was meinst du?« Er war überrascht über die Stimmungswechsel seiner Frau.
»Julia wird im Moment kaum über ihren Gürtel nachdenken.« Sie blickte dabei zu Boden.
Wieder wurde Herr Hegel kreidebleich. »Ich glaube, ich haben einen schlimmen Fehler gemacht.«
Auf Hegel kannte ihren Mann gut genug, um den Ernst der Situation zu erkennen. »Was ist passiert? Was hast du gemacht?«
Er senkte seinen Kopf zu Boden. »Ich habe Frau Wiesl die Schlüssel für den Gürtel zurück gegeben.«
»Oh je…« Frau Hegel seufzte tief. »Die arme Frau Sommer. So bald wird sie nicht mehr aus dem Gürtel heraus kommen.«
»Das passt aber gar nicht in unsere Pläne.« Er seufzte ebenfalls.
»Findest du?« Ein leichtes Grinsen schob sich in ihr Gesicht. »Sie kann jetzt nicht mehr heraus, und sie kann uns nicht dafür verantwortlich machen. Sie selbst hat die Schlüssel an Frau Wiesl gegeben.
Er versuchte den Gedanken weiter zu führen. »Das heißt, sie wird uns auch nicht mehr verlassen?«
»Es passt zwar eigentlich gar nicht, aber dieses Mal sind wir gar nicht schuld. Es war ihre eigene Entscheidung, Frau Wiesl die Schlüssel zu geben.« Frau Hegel grinste deutlich. »Jetzt solltest du wieder zu ihr gehen. Und achte bitte darauf, dass sie die nötigen Pausen macht.« Sie fasste die wichtigsten Sachen noch einmal kurz zusammen. »Ich kümmere mich derweil ums Abendessen und werde euch dann holen, wenn es so weit ist.«
* * *
Das Abendessen mit Julia und Hegels verlief weitgehend schweigend. Die Studentin spürte die ganze Zeit, dass sie etwas gut zu machen hatte. Es tat ihr sehr leid, dass Hegels ihretwegen so viel Ärger hatten. Sie hatte es bisher zwar noch nicht ausgesprochen, doch sie war zu einigen Opfern ihrerseits bereit. Nicht nur, um ihren Fehler wieder gut zu machen, sondern auch, um weiteren Ärger von Frauke fern zu halten, sofern das überhaupt möglich war.
Sie traute sich auch deswegen nichts zu sagen, weil sie die Enttäuschung von Hegels spürte, und sie fühlte sich drastisch an ihren Traum erinnert. Genau dies hatte sie aber auf keinen Fall erleben wollen.
Erst jetzt erkannte sie, wie groß das Opfer war, welches Frauke für sie gebracht hatte, und sie schämte sich für ihren Egoismus. Und sie konnte sich auch nicht damit herausreden, dass sie es nicht gewusst hätte.
* * *
Julia hätte sich nach dem Abendessen eigentlich auf ihr Zimmer zurück ziehen sollen, um dort weiter zu lernen. Doch es ließ ihr keine Ruhe. Mit vorsichtigen Schritten ging sie zur Wohnzimmertür und klopfte. Hegels baten sie herein.
»Was möchten sie, mein Kind?« Frau Hegel klang besorgt.
Unter normalen Umständen hätte Julia sich gegen die Anrede gewehrt, doch heute wollte sie es bewusst übersehen. Sie fühlte tief in sich, dass sie nicht das Recht hatte, hier eine Korrektur zu fordern.
»Ihr kommt sicher ohne mich zurecht.« Herr Hegel machte Anstalten, sich zu erheben.
Doch Julia widersprach sofort. »Bitte bleiben sie bitte, sie müssen das auch erfahren.«
Der Professor setzte sich wieder und lehnte sich zurück.
»Bitte vergessen sie Frau Wiesl.« Frau Hegel ahnte, wie schwach ihre Aufforderung sein würde. »Denken sie bitte an die Aufgabe, die vor ihnen liegt.«
Doch Julia ging überhaupt nicht darauf ein, im Gegenteil, sie war sehr apathisch. Sie fragte nach den Details. »Wer hat das veranlasst?«
»Sie meinen vermutlich die Konsequenzen für Frau Wiesl?« Herr Hegel versuchte, ein wenig Gehalt in die Gedanken zu bringen.
»Es ist mein Bruder.« Frau Hegel gab in kurzen Worten wieder, was genau ausgemacht war.
»Ich muss unbedingt mit ihm reden.« Julia war aufgeregt. »Frauke ist unschuldig.«
»Unschuldig ist sie auf keinen Fall«, antwortete Herr Hegel mit trockener Stimme.
»Doch, das ist sie.« Julia wurde noch erregter. »Ich habe sie erpresst, damit sie das Haus verlässt und mir auf der Terrasse Gesellschaft leistet.« Sie wurde immer verzweifelter. »Ich habe ihr einfach keine Wahl gelassen.«
»Trotzdem«, Herr Hegel versuchte nachzuhaken. »Frau Wiesl hat sich falsch verhalten.«
»Ja, aber sie ist nicht schuld daran.« Julia hatte ihre Stimme nicht mehr unter Kontrolle, sie schrie geradezu. »Wenn jemand bestraft werden muss, dann ich.«
»Das ändert aber an der Lage nichts.« Frau Hegel wartete, bis Julia sich etwas beruhigt hatte, dann erklärte sie die ganzen Zusammenhänge.
»Bitte!« Julia blickte auf. »Ich muss unbedingt mit dem Herrn reden.«
Nach einem intensiven Blickwechsel mit ihrem Mann ließ Frau Hegel sich erweichen. »Ich frage ihn einmal nach einem Termin.« Sie wusste, dass ihr Bruder vielbeschäftigt war.
»Danke, das ist sehr nett.« Julia stand auf und machte eine Verbeugung. Etwas besseres war ihr nicht eingefallen.
»Ich informiere sie, wenn ich etwas erfahren habe.« Frau Hegel griff zum Telefon.
Julia begriff nach einem kurzen Moment, dass sie das Zimmer zu verlassen hatte. Sie drehte sich um und ging in Richtung des Treppenhauses.
In ihrem Zimmer musste sie nicht lange warten, bis Frau Hegel an der Tür klopfte.
Julia öffnete sofort.
»Er erwartet sie morgen in seinem Büro.« Sie reichte der Studentin eine Visitenkarte.
»Vielen Dank, vielen Dank!« Julia bedankte sich überschwänglich. »Sie werden es nicht bereuen.«
»Machen sie sich dann bitte bettfertig.« Frau Hegel blickte kurz auf das Bett mitten im Zimmer.
»Ja, natürlich.« Julia schluckte kurz. »Ich werde wieder das strenge Nachthemd tragen.« Doch in der gleichen Sekunde realisierte sie zwei Sachen. Sie trug unter dem Gürtel keinen Schmetterling, und die aufregenden Spiele mit Frauke würden ebenso nicht mehr stattfinden. Und sie war selbst schuld daran.
Dass Frauke jetzt den Schlüssel zu Keuschheitsgürtel hatte, wäre eigentlich nur ein lustiges Detail gewesen, wenn da nicht das Wissen wäre, dass sie ihn sicher mit ins Gefängnis nehmen würde. Mit etwas Galgenhumor dachte sie daran, dass sie gerade erst die wichtigen Handgriffe für die jeweiligen Notfälle im Bad geübt hatte. Doch sie hatte nicht erwartet, dass es so schnell ernst werden würde.
Doch dann trat sie gedanklich einen Schritt zurück. Sie wollte Carolin auf ihrem Weg folgen, und ein wichtiger Schritt dazu war der Gürtel, den sie jetzt trug. Und zwar zu Bedingungen, die so streng waren, dass es ihr den Atem nahm.
Doch dann brach ihr Gedankengerüst zusammen. Es nutzte nichts, es sich schön denken zu wollen. Sie hatte es versaubeutelt, und dem musste sie sich jetzt stellen, mit allen Konsequenzen.
Wieder begann sie zu weinen. Natürlich wusste sie, dass ihre Tränen niemandem nutzten, aber es tat gut, sich den Kummer von der Seele zu weinen.
Sie wischte sich die Tränen weg und trat den Weg ins Bad an. Sie wusste, dass es heute umständlicher sein würde, doch sie war fest entschlossen, sich diesbezüglich keine Blöße zu geben. Sie wollte sich den Herausforderungen stellen.
»Ah, sie sind schon so weit?« Frau Hegel war nach Julias Aufforderung eingetreten. Sie lächelte, als sie Julias Zustand auf dem Bett entdeckte.
»Ich schaffe es nicht allein.« Julia war etwas verlegen. Das Laken und auch das Nachthemd zeigten, dass sie heftig gekämpft haben musste, doch das Nachthemd war nur bis zur Hüfte heraufgezogen. »Wenn ich eine Hand draußen lasse, dann kann ich es mir bis zu den Schultern hochziehen, aber dann bekomme ich die Hand nicht mehr hinein.« Sie lächelte verlegen.
Frau Hegel blickte fasziniert auf das Bett. Julia schien wirklich heftig mit dem Nachthemd gekämpft zu haben und ihr Gesicht war feucht – es war allerdings nicht zu erkennen, ob es Schweiß oder Tränen waren. »Das schaffen sie auch nicht allein.« Sie erinnerte sich an die kleine Versuchsreihe auf der Burg, als das Nachthemd entwickelt wurde.
Zunächst hatten alle die Mädchen ihre Ideen eingebracht und die Wünsche, die ihnen persönlich wichtig waren. Und dann, nach dem es hergestellt war, durften die künftigen Engel das Nachthemd nach Herzenslust auf die Funktion und die Robustheit testen. Insgesamt wurden drei unterschiedliche Entwürfe angefertigt und jedes Mädchen durfte jedes Exemplar testen. Gemessen wurde jeweils die Zeit, die sie brauchten, um sich mit aller Gewalt aus dem Nachthemd zu befreien oder die Menge an Haut, die nach einer Stunde sichtbar war.
Interessanterweise waren sich alle Mädchen einig, dass ein Modell besonders subtil gearbeitet war. Es zeichnete sich durch viel Freiraum innerhalb des Nachthemdes aus, so dass frau sich darin bequem bewegen konnte. Doch es war weder möglich, sich darauf mit Gewalt zu befreien, noch waren die Verschlüsse auch nur im Entferntesten zu erreichen. Dieses Modell wurde dann für alle Mädchen in Auftrag gegeben. Und sie liebten es.
Das Nachthemd hatte auch noch eine andere sehr praktische Eigenschaft: es konnte von einer Hilfskraft allein bedient werden.
Eine Schwäche hatten die Mädchen damals aber dennoch herausgefunden. Wenn sie sich zusammen taten, dann konnten sie sich den Reißverschluss gegenseitig mit den Zähnen öffnen, was von den anwesenden Zuschauern als durchaus sehr erotisch angesehen wurde. Doch um auch dieses Schlupfloch zu schließen, wurden spezielle Reißverschlüsse angeschafft, die sich verriegeln ließen. Eine andere Variante hatten die Mädchen von sich aus angeboten, nämlich das Tragen einer Perle. Damit war ein gegenseitiges Öffnen ebenfalls nicht mehr möglich. Außerdem unterband es auch noch das sonst so beliebte Schwatzen am Abend.
»Stecken sie bitte ihre Arme in die Ärmel.« Frau Hegel war von diesen seitlich integrierten Armhüllen besonders fasziniert, denn sie nahmen der Eingeschlossenen jegliche sinnvolle Bewegungsmöglichkeit. Und da am Ende sogar ein Fingerhandschuh eingearbeitet war, wurde so sicher gestellt, dass das jeweilige Mädchen sogar die Finger ruhig halten musste. Es gab so absolut keine Möglichkeit, sich am Körper zu berühren, selbst, wenn sie den Keuschheitsausrüstung nicht getragen hatten.
Aber selbst wenn die Mädchen schummeln würden, sich die Arme sich also nur innerhalb des Nachthemdes befinden würden, nutzte es den Mädchen trotzdem nichts, denn auch so hatte es in der Versuchsreihe keine von ihnen geschafft, sich aus dem Nachthemd zu befreien. Diesen Test hatte der damalige Oberengel noch zusätzlich angeregt.
Julia kam der Aufforderung nach, und so langsam erschienen wieder Tränen in ihren Augen. Zu gern hätte sie es gesehen, dass Frauke sie so in das Nachtgefängnis einschloss. Doch aufgrund ihrer kleinen Intrige würde demnächst genau das Gegenteil passieren – Frauke würde in das Gefängnis zurück geschickt werden – unschuldig. Es zerbrach Julia das Herz.
Frau Hegel zog langsam den Reißverschluss nach oben. »Sie müssen mir eines versprechen.«
Julia war schon fast in ihren Gedanken versunken. »Ja?«
»Bitte versuchen sie, mit ihren Gedanken eine Pause zu machen.« Sie griff zur Bettdecke und zog sie über Julias jetzt so hilflosen Körper.
»Ich will es versuchen.« Julia lächelte verlegen. »Würden sie mir noch einmal die Tränen wegwischen?«
»Natürlich.« Frau Hegel holte ein Taschentuch aus der Nachttischschublade und kam damit dem Wunsch nach. »Morgen wird es anders aussehen, vor allem, wenn sie mit Siegfried gesprochen.«
Julia formte mit ihrem Gesicht eine Frage, doch sie sagte nichts.
»Siegfried ist mein Bruder.« Sie lächelte ermutigend. »Ich hatte ihnen doch die Adresse gegeben.«
»Ihr Bruder?« Julia begriff erst jetzt, was dies auch bedeuten könnte, und sie schöpfte darauf ein wenig Hoffnung. Vielleicht ließ sich wegen Frauke ja doch noch etwas machen.
Sie hoffte es sehr, denn sie hatte nicht vor, den Rest ihres Lebens im Keuschheitsgürtel zu verbringen.
An der Tür drehte sich Frau Hegel noch einmal um. »Bitte denken sie daran, was sie mir versprochen haben.«
Julia versuchte sichtbar zu nicken.
»Ich wünsche ihnen trotzdem eine Gute Nacht.« Leise schloss die Frau des Professors die Tür.
Julia seufzte laut, dann schloss sie die Augen.
Sie wartete darauf, dass der Schmetterling seine Arbeit aufnehmen würde. Doch sie wusste auch, dass genau dies jetzt unmöglich war. Zum einen trug sie ihn überhaupt nicht, und selbst wenn, dann könnte sie ihn nicht selbst anschalten.
Für einen Moment bereute sie den Entschluss, das strenge Nachthemd tragen zu wollen, doch dann fielen ihr auch wieder die Gründe dafür ein.
Es waren ihre Brüder, deren Ehre sie mit der Flucht vor der arrangierten Hochzeit verletzt hatte, und die nichts lieber täten, sie auf den elterlichen Hof zurückzuholen. Genau aus diesem Grund hatte sie darauf verzichtet, den so faszinierenden Mantel zu tragen, weil sie wusste, dass sie darin sehr hilflos sein würde und vor allem nicht vor ihren Brüdern davon laufen konnte.
Zum Glück wussten sie nicht, wo sie sich im Moment aufhielt, und selbst Michael, ihr Lieblingsbruder, wusste nur ihren alten Wohnort. Im Moment fühlte sie sich vor ihren Brüdern sicher, doch dafür hatte sie andere Probleme. Probleme, die sie selbst verursacht hatte, und die für die Person, die ihr im Moment am nächsten stand, gravierende Konsequenzen bedeuteten.
Zusätzlich kam noch dazu, dass Hegels große Stücke auf sie setzten und sie den Weg von Carolin gehen sollte, welcher sich als ein sehr beschwerlicher Weg herausstellte. Jetzt war auf einmal alles anders. Doch dann stutzte sie. Nein, alles war nicht anders. Hegel setzen weiterhin große Stücke auf sie und die Engel warteten auf sie.
Julia seufzte tief auf. Die Engel. Im Moment hatte sie sie verdrängt, doch jetzt war es ihr wieder eingefallen. Und sie horchte tief in sich. War sie immer noch bereit, ein Engel zu werden, auch wenn sie immer noch nicht genau wusste, was genau auf sie zukommen würde.
Frauke hätte sie bei allem unterstützen, so wie sie das bisher immer gemacht hatte, doch das sie sich das gerade völlig kaputt gemacht hatte. Sie seufzte tief und wieder begannen die Tränen zu fließen.
* * *
Auch Frauke lag diese Nacht noch lange wach. Immer wieder hatte sie darüber gegrübelt, ob ihr Plan vielleicht doch gelingen konnte. Neben ihr lag das verhasste Dienstbotenkleid und auf den Tisch lagen die Handschellen. Frau Hegel war spät am Abend noch vorbei gekommen und hatte sie von den so demütigenden Ringen um die Handgelenke befreit.
Sie lag auf ihrem Bett und hatte sich mit der leichten Sommerdecke zugedeckt. So blieb ihr wenigstens der Blick auf ihre so demütigende Zwangsunterwäsche erspart. Sie versuchte, nicht ständig über ihr verpfuschtes Leben nachzudenken, trotzdem war sie wegen ihrer aktuellen Lage mindestens so traurig wie auch wütend.
Immer wieder musste sie an den Samstag denken, der jetzt so drastische Folgen für sie zu haben drohte. Sie wollte auf keinen Fall ins Gefängnis zurück, doch sie sah für sich eigentlich auch keine Alternative. Die Vereinbarung mit ihrem Bewährungshelfer, wie sie ihn aber nur in Gedanken nannte, ließen diesbezüglich keine Zweifel. Wenn sie doch nur nicht so egoistisch gewesen wäre, dann könnte sie jetzt ein sorgenfreies Leben führen. Doch weil ihr der Blick auf die Straßenbahn so wichtig geworden war – immerhin war er so etwas wie ein Symbol für die Freiheit – hatte sie jetzt ein gewaltiges Problem.
Sie war ihre verbliebenen Möglichkeiten schon mehrmals durchgegangen – und alle hatte nur wenig Aussicht auf Erfolg. Wobei ihre Ziele durchaus nicht hoch gesteckt waren – sie würde alles tun, wenn sie dafür nur nicht zurück ins Gefängnis musste.
Eine winzige Hoffnung war der Schatz, den sie hütete. Es war zwar überhaupt nicht sicher, ob er überhaupt etwas wert sein würde, doch im Moment stellte er ihren einzigen Besitz dar – wobei letzteres auch nicht ganz richtig war. Sie hatte ihn in den Geheimgängen gefunden und hoffte, die einzige zu sein, die davon Kenntnis hatte.
Wieder dachte sie an den Plan, der ihr heute Nachmittag eingefallen war. Es war jetzt ruhig im Haus, und selbst Herr Hegel, der oft noch lange in seinem Arbeitszimmer saß, hatte sich zu Bett begeben. Es war an der Zeit, ihren Plan umzusetzen.
Sie stand auf und zog sich den weißen Bademantel über. Dieses Kleidungsstück mochte sie genauso wenig wie das Dienstbotenkleid, weil es fest mit der so demütigenden Prozedur der Reinigung verbunden war. Doch wenn sie das schwarze Kleid hier lassen würde, würde es vielleicht mehr nach Flucht aussehen. Denn sie wusste, dass die Nachbarn tagsüber das Haus von Hegels jetzt besonders beobachten würden.
Denn das Haus wollte sie nicht verlassen. Ihr Plan war ein anderer. Sie wollte sich ungesehen in die Speisekammer schleichen und sich dort mit ein paar Lebensmitteln zu versorgen. Und dann wollte sie sich in ihr Geheimversteck zurückziehen, in dem sie schon einige glückliche Stunden verbracht hatte.
Dort konnte sie auch über ihren Schatz wachen – und über noch etwas kostbares, was sie nicht mehr aus den Händen geben wollte: Die Schlüssel zu Julias Keuschheitsensemble. Sie empfand es nur als gerecht, wenn Julia genauso zu leiden hatte. Es würde eine besonders subtile Form der Rache sein.
* * *
Als Julia am nächsten Morgen erwachte, stellte sie fest, dass das Kissen ganz nass war. Ihr war sofort klar, dass sie wohl die ganze Nacht geweint haben musste, auch wenn sie sich eigentlich stark geben wollte.
Sie machte die Strampelbewegungen, mit denen sie sich von der Decke befreien konnte, dann setzte sie sich mit einem Schwung auf das Bett und ließ ihre Beine das Bett hinab hängen. Doch genauso wie sie sich das Nachthemd nicht allein anziehen konnte, war sie noch weniger in der Lage, es sich wieder auszuziehen. Bisher war sie davon ausgegangen, dass sie Carolins Nachthemd tragen würde, doch sie fragte sich immer mehr, ob diese Raffinesse nicht Teil etwas weitaus Größeren war.
Ihr Blick fiel auf den Notfallknopf, und sie fragte sich, ob es wohl gerechtfertigt war, ihn jetzt schon zu benutzen. Sie robbte sich zu dem Knopf hin und konnte ihn schließlich mit der Nase drücken. Doch es tat sich nichts. Sie wiederholte es mehrmals, und sie glaubte sogar, die Klingel in Fraukes Zimmer zu hören, doch es tat sich nichts. Sie blieb allein und in dem Nachthemd gefangen.
Die Gedanken fingen an, sich in ihrem Kopf zu bewegen. Frauke war nicht mehr da. Das wäre die Folgerung aus dem, was sie gerade beobachtete.
Es überraschte sie wenig. Doch dann erinnerte sie sich wieder an den vergangenen Tag. Offensichtlich war das, was sie bisher nur befürchtet hatte, nun eingetreten. Frauke war verschwunden, und mit ihr die Schlüssel zu ihrem Keuschheitsensemble.
Sie versuchte aufzustehen, was ihr zu ihrer eigenen Überraschung sogar sehr gut gelang. Doch was sollte sie nun tun? Sie musste sich irgendwie bemerkbar machen. Sie versuchte, in dem Nachthemd zur Tür zu hopsen, auch wenn sie überhaupt keinen Plan hatte, wie es dann weiter gehen sollte. Erst später sollte sie erkennen, dass sie mit diesem Nachthemd keine Chance hatte, die Tür ihrer Wohnung zu öffnen.
Sie merkte sehr schnell, dass sie das Gleichgewicht nicht verlieren durfte, dann sonst würde sie hinfallen. Und sie war sich sicher, dass sie in diesem Nachthemd genauso keine Chance hatte, wieder aufzustehen.
»Was machen sie denn da?« Auf einmal stand Frau Hegel in Julias Wohnung. »Passen sie bitte auf, dass sie sich nicht verletzten.« Ihre Stimme zeigte ihre Besorgnis.
»Ich wollte mich bemerkbar machen.« Julia balancierte mit hochrotem Kopf zurück zu ihrem Bett. Sie erkannte dabei, dass sie mit ihren wenigen kleinen Sprüngen noch nicht weit gekommen war.
»Aber dafür haben wir ihnen doch die Notfallklingel eingerichtet.« Frau Hegel bekam auf einmal einen Verdacht. »Oder ist sie kaputt?«
»Ich weiß nicht.« Julia wollte ihre Vermutung bezüglich Frauke noch nicht äußern. »Ich habe sie benutzt, und ich glaube, ich habe es sogar klingeln gehört. Aber es tat sich nichts.«
Frau Hegel war sichtlich fasziniert von der Qualität des Nachthemdes, auch wenn sie dies auf keinen Fall zeigen wollte. Julia hatte sich wirklich mit all ihrer Kraft gegen den Stoff gewehrt, doch er war an keiner einzigen Stelle gerissen, und auch die Nähte hatten alle wie vorgesehen gehalten. Die Schneiderei hatte wirklich beste Arbeit geleistet.
»Sie ziehen sich jetzt an, und dann sehen wir gemeinsam nach Frau Wiesl.« Sie trat an das Bett und öffnete Julia den langen Reißverschluss, dann half sie ihr, das Nachthemd auszuziehen. Dabei versuchte sie zu verheimlichen, dass sie eigentlich nur nicht allein zum Zimmer von Frau Wiesl gehen wollte.
»Ich bin überrascht, wie robust das Nachthemd doch gearbeitet ist.« Julia lächelte verlegen. Darin ist man wirklich gefangen. Und doch ist es auch sehr bequem.«
Frau Hegel lächelte leicht, doch eine Antwort darauf gab sie nicht. »Jetzt schnell ins Bad, dann sehen wir nach Frau Wiesl und danach werden wir frühstücken.« Ihr Blick fiel auf die drei Schränke. »Und bitte ziehen sie sich heute gleich für die Uni an. Auf das andere Outfit verzichten wir heute.«
Julia nickte noch einmal, dann ging sie mit zügigen Schritten ins Bad.
* * *
Auf dem Weg in das Dachgeschoss fiel es Julia auf, dass sie bisher noch nicht oft in Fraukes Zimmer gewesen war. Und damals, als Frauke es ihr gezeigt hatte, war sie über die spärliche Einrichtung entsetzt gewesen. Trotzdem zitterte sie jetzt auf dem Weg, denn sie wusste nicht, welcher Anblick sie erwarten würde.
Als sie gemeinsam die Tür öffneten, fanden sie den Raum leer vor. Sie traten ein, und sofort entdeckten sie das schwarze Dienstbotenkleid, welches hingeworfen auf dem Bett lag.
»Sie ist weg.« Frau Hegel sprach es aus, obwohl es offensichtlich war.
»Und sie ist sehr wütend auf mich.« Julia deutete auf das Straßenbahn-Modell oder besser auf das, was davon noch übrig geblieben war. Frauke hatte es offenbar zu Boden geworfen und war dann darauf herum getrampelt.
»Oh ja!« Frau Hegel schluckte. »Sie war wirklich sauer.«
»Was machen wir jetzt?« Natürlich hatte Julia eine Idee, wo Frauke sich aufhalten könnte, doch sie hütete sich, etwas zu sagen. Sie wollte ihre Freundin nicht noch einmal verraten.
»Ich werde meinen Bruder informieren.« Die Frau des Professors blickte kurz aus dem Fenster. »Sie kann eigentlich nicht weit gekommen sein.«
»Muss er das wirklich wissen?« Julia stellte diese Frage, bevor sie darüber nachgedacht hatte.
»Unbedingt.« Sie zog die Stirn in Falten. »Ich möchte mich mit ihm beraten, bevor wir die Polizei informieren.«
»Die Polizei?« Julia schluckte heftig, und sie hatte schwer damit zu kämpfen, nicht mit Weinen anzufangen. »Meinen sie wirklich, dass das nötig ist?« Ihre Nervosität stieg an. »Darf ich erst mit ihm sprechen?«
Frau Hegel blickte Julia verwundert an. »Wenn sie ihn vollständig über die Ereignisse informieren, dann will ich gern warten.«
Julia nickte. »Das werde ich machen. Vollständig und ausführlich.« Sie war fest entschlossen, für ihre Freundin zu kämpfen.
»Dann sollten wir jetzt frühstücken.« Frau Hegel war sehr verunsichert, ob sie wirklich das Richtige tat. So eine Situation hatten sie bisher noch nie gehabt.
* * *
»Heute schon fertig für die Uni?« Herr Hegel war extra aufgestanden, als Julia das Esszimmer betrat.
»Ich habe ihr das so gesagt«, erwiderte seine Frau, noch bevor Julia antworten konnte. »Sie wird heute Siegfried aufsuchen.«
»Mit anderen Worten: Sie schwänzen meine Vorlesung.« Er nahm am Tisch Platz. Doch seine Miene zeigte ein Lächeln.
»Ich muss es unbedingt aufklären.« Julia setzte sich ebenfalls an den Tisch. »Frau Wiesl ist unschuldig.«
»Bitte!« Frau Hegel klang ein wenig genervt. »Können wir jetzt auf dieses Thema verzichten?«
»Aber natürlich.« Der Professor lächelte verlegen. »Dann passen sie aber auf, dass sie am Max-Weber-Platz nicht in die falsche Linie einsteigen.«
Julia war über den Themenwechsel erleichtert. »Ich werde aufpassen.«
* * *
Julia hatte die ganze Zeit in der Straßenbahn von Grünwald nach München mit ihren Tränen zu kämpfen gehabt. Immer wieder ging ihr der zentrale Gedanke ihrer Schuld durch den Kopf. Sie war schuld daran, dass Frauke jetzt zurück ins Gefängnis musste. Und das auch nur wegen einer Nichtigkeit.
Normalerweise musste sie schon vorher in eine andere Linie umsteigen, heute konnte sie bis zur Endhaltestelle durchfahren. Doch als sie die Ansage des Fahrer hörte, musste sie feststellen, dass sie noch nie an diesem Ort gewesen war und entsprechend auch nicht wusste, wo welche Straßenbahn abfuhr.
Es kam eine Linie 19 zum Willibald-Platz und Julia verglich das Ziel der Tram noch einmal mit ihrem Zettel. Die Linie stimmte zwar, doch diese Endhaltestelle war so nicht vermerkt. Trotzdem stieg sie ein, denn sie wollte pünktlich bei dem Herrn sein, der drohte, Frauke ins Gefängnis zu bringen.
Sie horchte aufmerksam dem Fahrer zu, wenn er die nächste Haltestelle ankündigte, doch bisher war ihre Station nicht dabei gewesen.
»Die Fahrkarten bitte.« Die resolute Stimme der eben zugestiegenen Kontrolleure ging ihr durch Mark und Bein.
Julia kramte ihre Fahrkarte heraus und hielt sie den Kontrolleuren hin. Sie zitterte dabei, und ihre Augen waren verweint.
»Die Fahrkarte ist hier aber nicht gültig.« Der Mann zückte schon seinen Block und begann Julia nach ihren Daten zu fragen. »Wir sind hier in Laim.«
Doch statt zu antworten, brach Julia jetzt offen in Tränen aus. Sie hatte einfach nicht mehr die Kraft, um vernünftig zu reagieren.
Der Kontrolleur rief nach seiner Kollegin. »Kommst du mal bitte?«
Die Angesprochene kam näher. »Was gibt es denn?«
»Die junge Frau hier hat keinen gültigen Fahrschein.« Der Mann brachte seine Kollegin auf den neuesten Stand.
Julia war verzweifelt. »Aber ich habe mich doch vorher informiert.« Sie begann wieder zu weinen.
»Jetzt schau doch mal hin.« Die Kontrolleurin machte ihren Kollegen auf das Offensichtliche aufmerksam. »Das Mädel ist doch völlig durch den Wind. Wir sollten ihr helfen.«
»Sollen wir die Sanitäter holen?« Der Mann war offensichtlich bereit, seiner Kollegin zu folgen.
»Nein«, schluchzte Julia. »Ich muss doch dringend zu dieser Adresse und bin wohl in die falsche Linie eingestiegen.« Sie kramte ihre Geldbörse heraus. »Was muss ich zahlen?«
»40 Euro.« Der Mann blickte kurz zu seiner Kollegin. »Aber wir werden ein Auge zudrücken.«
»Nein, das möchte ich nicht.« Julia bestand darauf, ihre Strafe zu zahlen. »Aber wie komme ich jetzt zu dieser Adresse?« Sie holte den zerknüllten Zettel aus ihrer Tasche.
Die Frau sah sich den Zettel an und lächelte. »Ja, das ist wirklich die falsche Richtung. Und sie sind sich sicher, dass bei ihnen alles in Ordnung ist?«
Julia schluchzte erneut. »Ich muss unbedingt zu dieser Adresse.«
»Wisst ihr was, ich bring sie schnell hin. Soweit weit weg ist das ja nicht.« Die Kontrolleurin verabschiedete sich von ihren Kollegen. »Wir sehen uns dann in der Zentrale.«
* * *
Klaus Sommer saß in der Tram in die Stadt und ärgerte sich, dass ausgerechnet er als Ältester jetzt diese albernen Besorgungen und Behördengänge machen musste. Viel lieber hätte er es gesehen, dass einer seiner Brüder diese Aufgabe erledigte. Oder noch besser seine Schwester, wenn sich diese nicht schon vor Jahren in eben diese Stadt abgesetzt hätte.
Bisher hatte sich der Nachbar noch besänftigen lassen – Julia würde bestimmt zu ihrem Wort stehen und seine Sohn heiraten, dies hatten sie ihm immer wieder versichert, auch wenn sie selbst wussten, dass sie genau deswegen vom Hof geflohen war.
Den Sommer über und besonders jetzt bei der Ernte war viel zu tun, und deswegen ruhte das Thema. Doch spätestens nach dem Ernte-Dank-Fest würde es wieder akut werden. Und noch wusste die Familie überhaupt nicht, wo Julia überhaupt war.
Mit etwas Schadenfreude beobachtete er, wie wieder ein Schwarzfahrer ertappt wurde. Er hatte sich Gott sei dank mit den richtigen Fahrscheinen versorgt, nachdem ihn seine Brüder diesbezüglich gewarnt hatten.
Er versuchte, einen Blick auf den Übeltäter zu erwischen, als er auf einmal erstarrte, denn er hatte seine Schwester Julia erkannt. Die Julia, die sie schon seit Ewigkeiten suchten. Im ersten Moment wollte er aufstehen und sie ansprechen, doch dann entschied er sich, noch etwas abzuwarten. Die Gefahr, dass sie ihm wieder davon laufen würde, war viel zu groß. Er beschloss, seine Aufträge zu verschieben und lieber seiner Schwester heimlich zu folgen. Vielleicht führte sie ihn so zu ihrem neuen Wohnort.
* * *
Julia wischte sich die Augen aus und blickte die Frau verwundert an. »Warum machen sie das?«
»Ich habe nie Kinder gehabt.« Sie seufzte. »Aber ich habe immer von einem Mädchen geträumt. So eines wie sie sind. So eine Powerfrau.«
»Ich bin doch keine Powerfrau.« Julia protestierte leise.
»Doch! Sie kämpfen aus Liebe. Glauben sie mir, ich sehe so etwas.« Die Frau holte tief Luft. »Und wenn man vor Liebe blind ist, dann steigt man schon mal in die falsche Linie.«
Julia blieb stehen und schluchzte wieder. »Es ist ja noch viel schlimmer. Ich bin Schuld, dass meine wieder Freundin ins Gefängnis muss.«
Die Frau wollte die Geschichte zwar nicht hören, doch sie spürte einen Teil der Motivation, dieses Mädchen antrieb.
Sie blieb bei ihr, bis sie Julia bei dem angegebenen Herrn abgeliefert hatte. »Ich wünsche ihnen viel Glück.«
* * *
Klaus wusste überhaupt nicht mehr, wo er war, doch er fühlte, dass es wichtig war, jetzt an seiner Schwester dran zu bleiben. Sie hatte immer noch in Begleitung der Kontrolleurin ein Bürogebäude im Osten der Stadt aufgesucht, welches die Frau kurz darauf allein verließ. Julia schien noch im Gebäude zu sein.
Während er wartete, inspizierte er das kleine formale Behördenschild, welches besagte, dass er sich vor dem Verwaltungsgebäude der Justizvollzugsanstalt befand.
Sollte seine Schwester etwas ausgefressen haben? War sie vielleicht schon oft beim Schwarzfahren erwischt worden? Doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Julia hatte einen sehr verzweifelten Eindruck gemacht und hatte überhaupt nicht auf ihre Umgebung geachtet. Irgendetwas schien sie sehr zu beschäftigen.
* * *
Die Kontrolleurin hatte Herrn Buchelberger kurz über die zurückliegenden Ereignisse informiert, dann wünschte sie Julia noch viel Erfolg bei ihrem Anliegen und verabschiedete sich.
»Nun, Frau Sommer, bitte nehmen sie erst einmal Platz.« Er hatte ihren Zustand auch sofort bemerkt. »Meine Sekretärin wird ihnen einen Kaffee bringen, den sie erst einmal trinken.« Er drückte auf seinem Schreibtisch einen Knopf und bat um das entsprechende Getränk.
Julia kam der Bitte nach und schnäuzte sich noch einmal, dann versuchte sie, ihr Anliegen vorzutragen. »Frauke, ich meine Frau Wiesl ist unschuldig.« Sie holte tief Luft und kämpfte mit ihren Tränen. »Wenn jemand bestraft gehört, dann ich.«
»Das ist nett von ihnen, dass sie sich opfern wollen, doch Frau Wiesl hat sich falsch verhalten.« Es war mehr als offensichtlich, dass er ihr nicht glaubte.
»Ich bin schuld, sie müssen mich verhaften.« In diesem Moment dachte sie nicht über ihre Worte nach. »Bitte, Frauke ist unschuldig.«
In diesem Moment brachte die Sekretärin den Kaffee.
»Jetzt nehmen sie bitte erst einmal einen Schluck, und dann erzählen sie bitte von vorn.« Er wartete, bis Julia wirklich an der Tasse genippt hatte. »Meine Schwester hat mich zwar schon informiert, aber ich möchte es auch einmal von ihnen hören.«
Julia holte tief Luft und sah ihr Gegenüber mit verweinten Augen an. »Ich habe Frauke erpresst.« Jetzt hatte sie es gestanden.
»Sie meinen Frau Wiesl?« Er runzelte die Stirn. »Mit was ist Frau Wiesl erpressbar?«
Julia fühlte sich noch schlechter, weil sie ein weiteres Geheimnis ihrer Freundin verraten musste. »Sie schleicht sich gern in mein Zimmer, weil sie dann einen guten Blick auf die Straßenbahnen hat. Das wollte ich ihr verbieten, wenn sie nicht mit auf die Terrasse kommt. Ich wusste doch nicht…« Sie fing wieder an zu weinen.
Herr Buchelberger reichte ihr ein Taschentuch. So langsam formte sich ein Bild in seinem Kopf.
* * *
Klaus Sommer stand immer noch vor dem Gebäude und wartete auf die Rückkehr seiner Schwester. Er hatte sich sogar davon überzeugt, dass es keinen Hinterausgang gab, beziehungsweise dass sie den Innenhof auch nur durch das Tor verlassen konnte, dass er jetzt gut im Blick hatte.
Ursprünglich wollte er seine Schwester ansprechen, doch den Gedanken hatte er wieder verworfen. Wenn er sich im Hintergrund hielt, dann wäre es vielleicht möglich, den aktuellen Wohnort seiner Schwester herauszubekommen.
* * *
Herr Buchelberger klappte die Akte zu und blickte Julia ernst an. »Jetzt wissen sie alles über die Vergangenheit von Frau Wiesl. Bitte gehen sie sparsam mit dem Wissen um.«
Julia schluckte. »Was meinen sie, wird sie wieder auf den rechten Weg finden?«
Der Beamte sah Julia lange an. »Ich denke, sie könnten sie auf diesem Weg begleiten. Sie haben vielleicht genügend Einfluss auf sie.«
Julia war verzweifelt. »Den habe ich mir durch die Aktion vom Samstag restlos verspielt.«
»Lassen sie sich überraschen.« Er lächelte geheimnisvoll, dann stand er auf und ging langsam zur Tür.
Julia begriff nur langsam, dass ihr Anliegen jetzt beendet war. Sie hätte zu gern noch erfahren, wie sie seine Worte deuten sollte, doch seiner Miene war nichts weiter zu entnehmen. Sie bedankte sich noch einmal für den Kaffee, dann verließ sie ziemlich verwirrt das Büro.
Erst als sie wieder auf der Straße stand, wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich nichts Konkretes erreicht hatte. Frauke drohte nach wie vor das Gefängnis, und das, obwohl sie ihr Gewissen erleichtert hatte und ihre Erpressung gebeichtet hatte.
Langsam ging sie zu der Haltestelle und während sie auf die Tram wartete, fühlte sie, wie sich zwischen all den Ärger und die Trauer auch ein kleines bisschen Hoffnung mischte.
* * *
Herr Buchelberger griff zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei-Dienststelle in Grünwald. Er fragte nach einem bestimmten Beamten, doch ihm wurde mitgeteilt, das dieser heute keinen Dienst habe. »Das macht nichts«, antwortete er. »Dann rufe ich ihn privat an.«
Er legte auf und wählte die nächste Nummer. »Siegfried hier«, meldete er sich. »Wir haben ein kleines Problem.«
»Lass mich raten.« Die Stimme der Gegenseite zeigte eine gewisse Anspannung. »Das Problem heißt Frauke Wiesl, und sie ist ausgebüxt.«
»Bei letzterem bin ich mir nicht sicher, aber ich wollte euch auf jeden Fall informieren.« Herr Buchelberger stöhnte etwas. »Was sagt denn das Überwachungssystem, dass ihr ausprobieren wolltet?«
»Erinnere mich bloß da nicht dran.« Die Gegenseite stöhnte. »Die Zulassung wurde zurückgezogen. Wir setzen die Geräte im Moment illegal ein.«
»Nein, nicht das auch noch.« Der Bruder von Frau Hegel stöhnte laut auf. »Kannst du da überhaupt etwas machen?«
»Das einzige, was ich machen kann, ist feststellen, ob sie sich noch auf dem Grundstück befindet.« Er holte tief Luft. »Aber dazu muss ich die Sensoren auf dem Grundstück kontrollieren.«
»Und was sagen die?« Er war ungeduldig.
»Wir haben die noch nicht verdrahtet.« Der Polizist seufzte. »Ich muss hinfahren und die Sensoren einzeln prüfen.«
»Kannst du das wenigstens in Zivil machen?« Herr Buchelberger wollte seiner Schwester und ihrem Mann eventuelles Getratsche ersparen.
»Nein, auch das nicht.« Sein Gegenüber musste ihn enttäuschen. »Das Gegenstück zum Auslesen ist fest im Streifenwagen eingebaut.« Er hatte übrigens auch noch keine Idee, wie er diese Kosten abrechnen sollte. »Und den darf ich nicht in Zivil fahren.«
»Bitte informiere mich sofort, wenn du Ergebnisse hast.« Er verabschiedete sich und legte auf.
* * *
Klaus war seiner Schwester unauffällig bis zu einer imposanten Villa gefolgt. Er hielt genügend Sicherheitsabstand, konnte aber deutlich sehen, dass sie nicht klingelte, sondern offenbar einen Schlüssel hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass er damit ihren aktuellen Aufenthaltsort gefunden hatte, war groß, und er notierte sich sofort die Adresse sowie die Beschreibung der Tramlinien, die er im Rahmen der Verfolgung seiner Schwester genommen hatte.
Doch dann hielt ein Polizeiwagen vor dem Haus und ein Beamter stieg aus. Er schien sich umzublicken, dann ging er ebenfalls auf das Haus zu.
Klaus zog es vor, sich wieder auf die Heimreise zu machen. Er ging zurück zur Haltestelle und während er auf die Tram wartete, überlegte er, wie er und seine Brüder nun am besten vorgehen sollten. Eine Möglichkeit war natürlich, sofort die Eltern zu informieren, oder die Brüder konnten versuchen, das ‚Problem‘ allein zu lösen.
* * *
Wieder klingelte das Telefon. Herr Buchelberger ging dran und meldete sich.
»Sie ist definitiv noch auf dem Grundstück.« Die Gegenseite verzichtete auf jegliche Höflichkeiten.
»Bist du sicher?« Er war sich noch nicht sicher, wie er die Information einordnen sollte.
»Das System ist zwar noch nicht zugelassen, aber es funktioniert.« Die Gegenseite klang ein klein wenig eingeschnappt.
»Ist schon gut.« Herr Buchelberger verabschiedete sich. »Du hast etwas gut bei mir.« Dann legte er auf. Eigentlich mochte er solche Mauscheleien überhaupt nicht, doch im Moment sah er keine andere Möglichkeit.
In Gedanken ging er noch einmal alle Fakten durch und berücksichtigte auch das, was er von dieser so aufgelösten Studentin erfahren hatte. Schließlich rief er seine Sekretärin zu sich. »Bitte bringen sie mir alles, was wir zum Fall Wiesl haben, inklusive der einschlägigen Paragraphen. Und dann setzen sie bitte einen Brief auf. Adressatin ist Frauke Wiesl.«
* * *
Der Weg von der S-Bahn zum elterlichen Hof war lang, doch heute ging Klaus ihn gern. Endlich hatten sie eine Spur ihrer Schwester, die sie so schändlich im Stich gelassen hatte. Er fragte sich, wie wohl Vater und Mutter auf die gute Nachricht reagieren würden.
Dem Vater war das persönliche Schicksal seiner Tochter herzlich egal, ihm war nur wichtig, dass die beiden Höfe endlich, wie eigentlich schon seit Jahren geplant, zusammengelegt werden konnte. Was seine Tochter davon hielt, interessierte ihn überhaupt nicht. Sie hatte sich gefälligst zu fügen.
Die Mutter hatte zwar Verständnis für die Gefühle ihrer Tochter, doch der Hof ging auf jeden Fall vor. Außerdem war es schon zur Geburt ausgemacht, dass die beiden einmal heiraten sollten.
Und was würden seine Brüder sagen? Immerhin wurden sie im Dorf schon schief angesehen, weil sich die Familie nicht an das hielt, was ausgemacht war. Michael würde sich bestimmt zurück halten. Er war jünger als Julia und stand bisher immer auf ihrer Seite. Er beschloss, ihn erst einmal nicht in die Neuigkeiten einzuweihen.
Doch Peter und Bernd würde er sofort informieren. Und dann könnten sie sich beraten, was am besten zu tun sei.
Er überlegte, ob er die Nachbarn auch schon informieren sollte. Doch dann entschied er sich dagegen. Sie mussten sie schon so lange hinhalten – es wäre sehr blamabel, wenn es jetzt noch einmal schief gehen würde.
* * *
Frauke saß in ihrem Versteck auf der Matratze, und neben ihr lag ein Bolzenschneider. Sie hat ihn heimlich aus der Werkstatt geholt, die damals noch von Herrn Hegels Vater eingerichtet worden war. Doch jetzt traute sie sich nicht, ihn einzusetzen. Sie war sich zum einen nicht sicher, ob er überhaupt etwas nützen würde, und außerdem befürchtete sie, dass sie damit ihren Status nur noch verschlechtern würde, wenn ihre Fehlversuche entdeckt werden würden. Sie nahm das Werkzeug in die Hand und dabei grübelte sie über die Möglichkeiten, die ihr noch verblieben waren.
Sie könnte sich heimlich etwas zum Anziehen borgen, dann wäre es ihr wenigstens möglich, das Haus zu verlassen. Im Moment bestand ihre Kleidung nur aus einem weißen Bademantel, mit dem sie genauso auffallen würde, als würde sie mit ihrer stählernen Unterwäsche durch die Gegend laufen.
Mit einer Sonnenbrille könnte sie vielleicht ihr Äußeres ein wenig verändern, doch sie ahnte, dass dies sicher nicht ausreichen würde, um die misstrauischen Nachbarn zu täuschen.
Sie musste wenn überhaupt in der Nacht flüchten, denn nur dann würde sie unbeobachtet das Grundstück verlassen können. Doch sie wusste auch, dass die Haustür in der Nacht verschlossen war. Das wäre kein Problem, wenn sie einen Schlüssel hätte. Doch auf diese Schlüssel hatten Hegels ein wachsames Auge.
Jetzt ärgerte sie sich, dass sie das Kleid zurückgelassen hatte, denn mit dem schwarzen Kleid würde sie in der Dunkelheit viel weniger auffallen.
Sie war immer noch sehr wütend darauf, dass sie auf so schändliche Weise verraten wurde. Wegen so einer Kleinigkeit würde sie nun zurück ins Gefängnis müssen. Wenn sie nur ein klein wenig weniger egoistisch gewesen wäre und auf den Blick auf die Straßenbahn verzichtet hätte, denn hätte sie jetzt nicht das Riesenproblem.
Tränen hatte sie keine mehr. Viel zu oft hatte sie schon ihr verkorkstes Leben beweint, als dass sie jetzt dafür noch etwas übrig gehabt hätte. Die Mutter war Alkoholikerin, der Vater war arbeitslos und hatte seine Tochter oft geschlagen. Ihr brannten jetzt noch die Wangen von den vielen Ohrfeigen. Sie war schon früh von zu Hause abgehauen, und war dann bald auf die schiefe Bahn geraten.
Nein, es gab keinen Grund, auf dieses Leben stolz zu sein. Doch was jetzt auf sie wartete, war eine Ungerechtigkeit, auf die sie selbst nur geringen Einfluss hatte.
Noch mehr bedauerte sie allerdings, dass sie damit auch ihre kleine Schwester verloren hatte, die sie gerade mal ein paar wenige Tage hatte kennenlernen dürfen.
* * *
»Sollten wir nicht die Nachbarn informieren?« Herr Hegel klang sichtlich besorgt.
»Auf keinen Fall die von nebenan, die das Foto gemacht haben.« Frau Hegel erkannte die Besorgnis ihres Mannes. »Aber die anderen werde ich informieren, nachher, bevor ich beim Verein bin.«
»Wo ist Julia eigentlich?« Herr Hegel fragte sich, wie es jetzt weiter gehen sollte.
»Ich glaube, die ist in ihrem Zimmer.« Frau Hegel blickte auf die Uhr. »Gleich kommt die Schneiderin.«
* * *
»Julia, können sie uns bitte helfen?« Frau Hegel klopfte bei Julia an der Tür.
Die Studentin kam mit verweinten Augen an die Tür. »Was ist denn los?« Sie schaffte es nicht, höflich zu klingen.
Frau Hegel übersah sowohl das Aussehen als auch die Unhöflichkeit. »Die Schneiderin ist da wegen ihres Korsetts. Sie könnten uns tragen helfen.«
Julia wischte sich noch einmal durchs Gesicht, dann trat sie aus dem Zimmer und folgte Frau Hegel nach draußen.
»Es müssen einige schwere Kartons hereingetragen werden.« Die Schneiderin stand an der offenen Heckklappe ihres Autos und hatte dort schon einige mehr oder weniger große Kartons gestapelt.
»Das machen wir schon.« Frau Hegel blickte Julia ermunternd an. Auf die Frage, ob sie sich auf das Korsett freuen würde, verzichtete sie allerdings.
Sie nahm den ersten großen Karton entgegen. Julia nahm den nächsten. Zu dritt betraten sie das Haus.
»Wir haben allerdings ein gravierendes Problem.« Frau Hegel wusste, dass sie die ‚Beichte‘ nicht mehr länger hinauszögern konnte, ohne die Schneiderin zu verärgern. »Frau Sommer trägt ihren Gürtel schon, und sie ist im Moment nicht in der Lage, ihn abzulegen.«
Doch die Schneiderin gab sich gelassen. »Das macht nichts, das kann ich heraus rechnen.«
Frau Hegel war überrascht. »Das hatte ich nicht erwartet.«
»Ihr Schützling ist nicht die erste Kundin, bei der ich das Problem habe.« Sie legte sich den Finger auf die Lippen und kniff ein Auge zu.
»Können wir dann heute überhaupt etwas sinnvolles machen?« Frau Hegel blieb verunsichert.
»Ich habe heute nur Teilstücke dabei, die ich noch fein justieren muss.« Sie drehte sich zu der Studentin. »Julia, können sie sich bitte ausziehen?«
Julia kam der Bitte sofort nach.
In der Zwischenzeit packte die Schneiderin die einzelnen Sachen aus.
Für Julia war eine andere Botschaft sehr interessant. Es gab anscheinend viele oder zumindest einige Kundinnen, die ebenfalls so einen Gürtel zu tragen hatten. Sie fragte sich, welche Motive sie wohl dafür hatten. »Das ist ja Leder?« Julia hatte ein Stoffkorsett erwartet. »Und in Weiß?«
»Weiß ist die Farbe der Engel.« Frau Hegel klang in diesem Moment ein wenig stolz. »Es gibt nur einen zukünftigen Engel, der auch Schwarz tragen dürfte.«
»Tara Winthrop« Die Schneiderin verdrehte die Augen. »Ich habe kürzlich bei ihnen ein schwarzes Korsett abliefern dürfen. Eine schreckliche Familie.«
»Aber die Position des schwarzen Engels ist doch noch besetzt?« Frau Hegel wunderte sich.
»Das habe ich auch gesagt.« Die Schneiderin stöhnte. »Aber das wollte die Familie nicht hören.«
Julia war von dem Anblick der Korsetts sichtlich beeindruckt, auch wenn es nur Handzeichnungen waren.
»Auf der Burg haben wir auch Korsetts, die vom Kinn bis zu den Knöcheln reichen.« Frau Hegel holte tief Luft. »Viel bewegen ist damit nicht mehr möglich.«
»Ich weiß.« Die Schneiderin lächelte. »Ich hatte vor einiger Zeit mal den Auftrag, so ein Korsett zu reparieren. Das sind wahre Monster.«
Julia hatte in diesem Moment für kurze Zeit leuchtende Augen, doch dann traten ihre Alltagssorgen wieder zutage.
»Ich kann ihnen jetzt allerdings nicht zeigen, wie das mit dem Zusammensetzen der beiden Korsettteile funktionieren würde, denn dazu müssten sie beide Teile richtig tragen.« Die Schneiderin zeigte auf die entsprechende Zeichnung.
Julia blickte an sich herunter, dann fiel ihr Blick auf die verschiedenen Teile, die vor ihr lagen. »Dann wäre ich ja völlig unbeweglich.«
»Ja, das ist richtig.« Frau Hegel lächelte. »Nur stehen oder liegen ist dann noch möglich.«
»Irgendwie ist es auch faszinierend.« Julia klang für den Moment sehr ehrfürchtig.
* * *
Klaus hatte sich entscheiden, zunächst einmal nur mit seinen beiden jüngeren Brüdern zu sprechen. Michael wollte er nicht einweihen. Er hatte ihn in Verdacht, auf der Seite seiner Schwester zu stehen.
Bernd und Peter waren sofort Feuer und Flamme. »Wir holen sie zurück.«
»Wie willst du das machen? Willst du in der Villa einbrechen?« Er musste den Ehrgeiz der Beiden bremsen. »Nein, so geht das nicht. Wir müssen sie beobachten und dann auf eine gute Gelegenheit warten.«
»Und du bist sicher, dass sie in Grünwald wohnt?« Bernd blieb begeistert.
»Sie hatte zumindest einen Schlüssel für die Villa.« Klaus gab das wieder, was er vor dem Grundstück beobachtet hatte.
»Das heißt noch gar nichts, sie könnte dort ja auch arbeiten?« Bernd wollte die Geschichte immer noch nicht so recht glauben.
»Julia und arbeiten?« Seine Bruder widersprach ihm sofort. »Sie war doch noch nie von den Büchern weg zu kriegen.«
Peter protestierte. »Jetzt tust du ihr aber unrecht, im Stall war sie auch oft.«
»Trotzdem, es würde einfach nicht zu ihr passen.« Klaus gab seine Gedanken wieder. »Aber so eine Villa. Sie kann sich das doch nie leisten. Sie verdient doch noch kein Geld.«
»Wie auch immer, wir müssen sie da raus holen.« Peter gab sich energisch. »Sie muss einfach zu ihrem Wort stehen.«
»Zu ihrem Wort?« Michael kam dazu. »Ihr sprecht von Julia?«
»Naja, sie wurde halt versprochen, und das gilt.« Klaus hoffte, dass sein jüngerer Bruder nicht zu viel von ihrem Gespräch mit angehört hatte.
»Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter.« Michael versuchte einen Widerspruch.
»Wenn ein Wort unter Bauern nicht mehr gilt, was gilt denn dann überhaupt.« Klaus war empört.
* * *
Mit zitternden Knie ging Julia kurz vor dem Abendessen noch einmal zu Hegels ins Wohnzimmer, weil sie noch eine ganz gewisse Frage zu beantworten hatte. Sie sollte sich dazu äußern, ob sie bereit war, Carolins Gürtel zu tragen – bis heute hatte sie Bedenkzeit. Das es aus ihrer Sicht eine sehr unfaire Fragestellung war, stand auf einem anderen Blatt.
Sie klopfte vorsichtig an den Türrahmen, obwohl die Tür offen stand, und sie trat ein, nach dem sie dazu aufgefordert wurde.
»Heute endet die Bedenkzeit wegen ihres Gürtels.« Die Stimme ihres Professors war seltsam angespannt.
Doch seine Frau ging sofort dazwischen. »Du bist unhöflich, Winfried. Bitte ihr doch erst einmal einen Platz an.«
Herr Hegel holte das Versäumte nach, dann holte er tief Luft. »Wir wissen, dass sie Frau Wiesl die Schlüssel zu ihrem Gürtel anvertraut haben. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir sie nie wieder sehen werden. Aber davon sollten sie sich in ihrer Entscheidung nicht beeinflussen lassen.«
Julia empfand zunächst so etwas wie Verzweiflung, doch dann hielt sie inne, denn sie hatte einen gewissen Unterton gehört. Sie fragte das Naheliegende. »Es gibt Ersatzschlüssel?«
Frau Hegel ergriff ihre Hand. »Ja, die gibt es. Auf der Burg.«
Julia verzichtete auf die Frage, welche Burg gemeint war, zumal sie wusste, dass ein noch ein ‚Aber‘ kommen würde.
»Natürlich könnten wir uns jederzeit die Schlüssel zu ihrer Stahlwäsche besorgen.« Die Frau des Professors holte tief Luft. »Doch das würde bedeuten, dass wir sie nicht einmal mehr zur Ausbildung anmelden dürfen.«
Julia erkannte auf einmal, was dies bedeutete. Sie wäre gezwungen, die ganze Zeit im Stahl gefangen zu sein. Sie sprach ihren Gedanken laut aus.
»Ja, das wäre richtig.« Frau Hegel bestätigte ihre Befürchtungen. »Es sei denn, sie sagen uns, dass sie uns verlassen wollen. Dann könnten wir ihnen innerhalb von 24 Stunden die Schlüssel besorgen, und sie wären wirklich frei.«
Julia musste schlucken. »Wenn Frauke ins Gefängnis muss, dann will ich auch gefangen sein. Das ist sicher nur ein vergleichbar geringes Opfer, aber ich möchte es erbringen.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Nein, ich habe es verdient.«
»Wir sind sehr unglücklich, dass sie diese Entscheidung unter solchen Umständen treffen müssen.« Herr Hegel ergriff die Hand seiner Frau. »Um so mehr wissen wir es zu schätzen.«
»Dann soll es so sein.« Julia holte tief Luft. »Ich werde den Gürtel tragen, komme was wolle.«
* * *
»Wann hast du deinen Termin?« Herr Hegel fragte seine Frau, gleich nach dem er sein Besteck weggelegt hatte.
»Ich muss gleich los.« Frau Hegel blickte kurz auf die Uhr. »Und es könnte länger dauern, vermutlich bis tief in die Nacht.«
Beide blickten Julia mit fragenden Gesichtern an.
Julia erkannte sofort, was die Worte von Frau Hegel wirklich bedeuteten. Sie schluckte und blickte ihren Professor verlegen an.
»Kriegen wir dann nicht mit dem Bund Ärger?« Herr Hegel suchte ebenfalls nach einem Strohhalm, um dem Unvermeidlichen vielleicht doch noch zu entgehen.
»Ich denke nicht.« Frau Hegel berichtete, dass sie extra noch einmal auf der Burg angerufen hatte. »Für gewisse Notfälle sind Ausnahmen vorgesehen. Wir müssen uns also diesbezüglich keine Sorgen machen.« Sie blickte ihren Mann mit einer seltsame Miene an. »Trotzdem wäre es gut, wenn du nicht zu genau hinsiehst.«
Julia stand der Mund auf, weil sie noch dabei war, das Thema, welches gerade besprochen wurde, zu verarbeiteten.
Frau Hegel sah in Julias Gesicht, dass sie das Offensichtliche nicht mehr wiederholen musste. »Bitte sehen sie es wie Bademode im Schwimmbad.«
Dann drehte sie sich wieder zu ihrem Mann. »Ich soll dir ausdrücklich sagen, dass du darauf achten sollst, dass Julia ihre Arme auch wirklich in die Ärmelhüllen gesteckt hat.« Sie blickte kurz zu Julia. »Bei unerfahrenem Personal schummeln die Engel gern.«
Herr Hegel lachte, als er Julias verblüfftes Gesicht gesehen hatte. »Ich glaube, mein Schatz, du hast sie jetzt erst auf die Idee gebracht.«
»Nein, das ist es nicht.« Julia versuchte, ein Lächeln zu zeigen. Doch dann zögerte sie. »Doch, natürlich, es ist so. Aber ich freue mich auch, dass sie mich schon als einen Engel bezeichnen.«
Frau Hegel lächelte, doch eine Antwort gab sie nicht. Doch dann fiel wieder ein Schatten über ihr Gesicht. »Übrigens, mein Bruder hat noch einmal angerufen. Er wird morgen Vormittag vorbei kommen und seine Entscheidung bezüglich Frau Wiesl bekannt geben.«
Julia liefen auf einmal wieder Tränen über das Gesicht. Sie wusste, dass jegliches Flehen keinen Erfolg mehr haben würde, und dass sie keinen Einfluss mehr auf das Schicksal von Frauke haben würde. Alles was für sie möglich war, hatte sie getan. Sie musste es hinnehmen, egal was kommen würde.
»Wir entlassen sie dann in den Abend.« Herr Hegel machte eine entsprechende Handbewegung. »Ich werde dann so gegen neun Uhr vorbei kommen und ihnen helfen.« Es war ihm anzuhören, dass es ihm nicht leicht fiel.
* * *
Julia war sehr traurig auf ihr Zimmer gegangen und nur die Höflichkeit gegenüber Hegels hielt sie davon ab, die Tür laut zuzuschlagen. Weinend ließ sie sich auf das Bett fallen. Sie hatte gekämpft und alles mögliche versucht, doch sie konnte weder ihren Fehler wieder gut machen noch Frauke vor dem Gefängnis bewahren. Es tat ihr so unendlich weh, dass sie ausgerechnet die Person, zu der sie Vertrauen hatte und zu der sie ein inniges Verhältnis aufgebaut hatte, so schändlich verraten hatte.
Fast jeder Gegenstand und jedes Möbelstück erinnerte sie an Frauke, ob es jetzt der Handschuh, die Perlen oder das Pferd waren. Sogar die Bücher erinnerten sie an die Momente, als sie zusammen das Lernen besprochen hatten. Und zu nichts davon war es gekommen.
Seufzend griff sie sich wahllos eines ihrer Fachbücher, dann legte sie sich auf das Bett und blätterte lustlos darin umher.
Sie wusste jetzt zwar viel über Fraukes Vorleben, aber wie es jetzt konkret weiter gehen würde, wusste sie immer noch nicht. Sie hatte es versäumt, Herrn Buchelberger danach zu fragen. Aber das für sie eigentlich Wichtige hatte sie erledigt, sie hatte erklärt, dass Frauke nicht aus freien Stücken das Haus verlassen hatte.
Sie wusste immer noch nicht, ob sie Frauke wiedersehen würde, obwohl sie eine genaue Vorstellung davon hatte, wo sie vielleicht war. Aber sie hatte ihre Freundin schon einmal verraten, ein zweites Mal wollte sie es auf keinen Fall machen. Es stimmte sie zwar sehr traurig, aber sie wusste, dass sie sie vermutlich nie mehr wiedersehen würde. Und das tat weh.
Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, dass sie auch noch das Keuschheitsgeschirr trug und Frauke dazu den Schlüssel hatte. Der Tag hatte ihr gezeigt, dass sie mit diesen Einschränkungen durchaus würde leben können. Und insgeheim hatte sie die Hoffnung, dass es noch andere Möglichkeiten geben würde, sich daraus zu befreien. Zum ersten Mal musste sie an ihre Brüder denken. Sie würden sicherlich einen Weg finden, um sie darauf zu befreien.
Nur für einen winzigen Moment glimmte ein wenig Hoffnung in ihr auf. Doch dann fiel ihr der Grund wieder ein, weswegen sie überhaupt weggelaufen war. Sie wollten sie in die Ehe mit einem Mann zwingen, den sie weder mochte, noch das er ihr vom Äußeren her gefiel.
* * *
Punkt 21 Uhr klopfte es bei Julia an die Tür. Julia versuchte gar nicht erst, Begeisterung zu zeigen, als sie ihren Professor herein bat.
»Frau Sommer, glauben sie mir bitte, für mich ist es mindestens so unangenehm wie für sie.« Er hatte ihre Stimmung sofort erkannt. »Tun wir uns also beide einen Gefallen und bringen es schnell hinter uns.«
Mit so einer Eröffnung hatte Julia nicht gerechnet. Sie war etwas verlegen. »Ja natürlich.« Sie blickte sich unsicher um. »Ich werde mich beeilen.«
Herr Hegel war an das Bett herangetreten, auf dem Julia das Nachthemd schon bereit gelegt hatte. »Das ist also das berüchtigte Nachtgewand der Engel.«
Julia zuckte nur mit den Schultern. Insgeheim war ihr das Interesse ihres Professors nicht ganz geheuer. »Ich bin dann mal im Bad.«
»Warten sie einen Moment, ich wollte noch etwas abklären.« Er drehte sich zu Julia. »Ich werde dann aus dem Fenster sehen. Und wenn sie aus dem Bad kommen, ziehen sie bitte das Nachthemd soweit an, wie sie es selbst hinbekommen.«
Julia blickte ihn verwundert an, doch sagen tat sie nichts.
Er lächelte verlegen. »Meine Frau hat mir noch ein paar Tipps gegeben. Und ich werde auch nur dann hinschauen, wenn es gar nicht anders geht.«
»So empfindlich bin ich nicht.« Julia war von der Offenheit ihres Professors gerührt. »Das kriegen wir schon hin.« Dann verschwand sie im Bad.
Während sie sich für die Nacht vorbereitete, musste sie trotz ihrer Betrübtheit über die Zurückhaltung ihres Professors lächeln. Trotzdem beeilte sie sich, denn sie wollte es ihm auch nicht unnötig schwer machen.
Als sie aus dem Bad kam, stand ihr Professor tatsächlich am Fenster und schaute in die Dunkelheit hinaus.
Als Julia dies sah, gab es ihr einen kleinen Stich, denn genau an dieser Stelle war auch immer Frauke gestanden, wenn sie den Straßenbahnen nachschaute und vermutlich über die Freiheit nachdachte, die für sie in so unendlicher Ferne lag.
»Sagen sie einfach, wenn sie soweit sind.« Herr Hegel drehte sich dabei nicht um.
Julia ging mit zügigen Schritten zum Bett. »Das ist also das Nachtgewand der Engel?« Eine Antwort erwartete sie eigentlich nicht.
»Ja, das ist richtig.« Herr Hegel schaute immer noch aus dem Fenster. »Und bitte bohren sie nicht weiter nach, ich habe schon viel zu viel gesagt.«
Julia setzte sich auf das Bett, dann breitete sie das Nachthemd auf dem Bett aus und steckte ihre Füße hinein. Einer Eingebung folgend zog sie sich den Reißverschluss schon bis auf Hüfthöhe zu, so dass ein Großteil ihrer Unterwäsche schon nicht mehr sichtbar war. »Jetzt wäre ich soweit.«
Herr Hegel drehte sich langsam um und kam zum Bett. Ohne groß nachzudenken griff er zum Reißverschluss und begann ihn weiter zuzuziehen.
Doch Julia unterbrach ihn. »Warten sie, ich muss doch erst noch meine Arme verstauen.«
»Jetzt weiß ich, was meine Frau meinte, als sie von unerfahrenem Personal sprach.« Er grinste. »Ich danke ihnen, dass sie so zuverlässig sind.«
Julia verzichtete auf einen Kommentar. Stattdessen steckte sie ihre Arme wie vorgesehen in die beiden seitlichen Armhüllen. »Jetzt können sie langsam zuziehen.«
Herr Hegel kam der Aufforderung nach. »Das mag jetzt etwas komisch klingen, aber ich bin sehr stolz auf sie.«
Julia blickte ihn verwundert an.
»Meine Frau hat mir gesagt, dass sie bei ihrem Bruder waren und für Frau Wiesl gekämpft haben.« Seine Stimme zeigte die Bewunderung.
»Aber es wird nichts nutzen.« Wieder lief eine Träne über ihre Wange.
»Bitte weinen sie nicht mehr, versprechen sie mir das?« Mit einer sehr zärtlichen Bewegung strich er ihr die Träne von der Wange. »Morgen sieht es anders aus.« Er nahm die Bettdecke und deckte Julia damit zu. »Eine gute Nacht und schlafen sie gut.«
Julia blickte ihn an wie einen Vater. »Vielen Dank, Ihnen auch.«