Maria – Entdeckungen
Autor: Paul VoF
Als ich am nächsten Morgen den Klassenraum betrat, saß Maria bereits auf ihrem Platz.
»Hallo Paul«, begrüßte sich mich freundlich. Ihre Augen strahlten schon wieder in diesem leuchtenden blauem Farbton, und ich bemerkte schon wieder dieses seltsame Gefühl in meinen Knien.
»Hallo Maria«, antwortete ich lächelnd. »Und, hast du noch etwas von dem behalten, was wir gestern besprochen haben?«
»Ja, ich denke schon. Ich glaube, du hast es mir ganz gut erklärt.«
Wir unterhielten uns leise weiter miteinander und so hatte ich wieder Gelegenheit, Maria etwas genauer zu betrachten.
Sie war in der gleichen Art und Weise gekleidet, wie es mir gestern schon aufgefallen war.
Eine karierte Bluse mit hohem, engem Stehkragen, ein dunkler weiter Rock, dazu die passenden Stiefel. Über dem Stuhl hing wieder ihr Cape, sorgfältig zusammengelegt.
Die ersten Schulstunden vergingen nur langsam. Ich konnte es nicht abwarten, bis die Pause begann. Endlich ertönte die Glocke, endlich konnten wir auf den Schulhof gehen.
Ich nahm meine Mathebuch heraus und zeigte es Maria.
»Wollen wir in der Pause gleich weitermachen?«, fragte ich.
Sie nickte dankbar und nahm ihre Handschuhe aus der Tasche. Langsam zog sie sich das feine, helle Leder über die Hände. Als sie fertig war, nahm sie ihr Cape von der Stuhllehne, faltete es auseinander und schwang es sich um die Schultern. Sie steckte ihre Hände durch die Armschlitze, beugte sich herunter, ergriff den Saum des Capes und dann zog sie einen langen Reißverschluss bis zum Hals herauf. Darüber schloss sie noch eine Reihe von Knöpfen. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie sich auch ihr Tuch um den Kopf gebunden und den Hut aufgesetzt. Darin schien sie Übung zu haben, das war unverkennbar.
»So, ich bin jetzt soweit«, sagte sie. Täuschte ich mich, oder war dort eine kleine Spur Verlegenheit, ja Unsicherheit in ihrem Blick zu sehen?
'Warum?' Tausend Fragen lagen mir auf den Lippen! Aber ich sagte nichts, ich nickte nur und so gingen wir zusammen aus dem Raum.
Auf dem Schulhof suchten wir uns einen Platz auf einer Bank im Schatten und begannen, gemeinsam zu lernen. Während Maria die von mir gestellten Übungen bearbeitete, begann ich erneut, sie zu beobachten. Es war wie ein Zwang, ich konnte einfach den Blick nicht von ihr abwenden. Inständig hoffte ich, das es ihr nicht auffallen würde.
Es war wieder sehr warm, die Sonne hatte so früh am Vormittag sicherlich noch nicht ihre volle Kraft. Aber trotzdem begann ich schon jetzt leicht zu schwitzen. Maria aber schien die Hitze gar nicht zu stören. Ich konnte in ihrem Gesicht keine Anzeichen dafür erkennen. Ihre makellose, fast weiße Gesichtshaut schien nicht einmal gerötet zu sein.
Viel zu schnell näherte die Pause sich ihrem Ende. Als das Klingelzeichen erklang, machten wir uns gemeinsam auf den Weg zum Klassenraum.
»Geh nur schon hinein, ich komme gleich«, sagte Maria zu mir, als wir die Tür unseres Klassenzimmers erreicht hatten.
Ich nickte nur und betrat wie alle Anderen den Klassenraum, um den Beginn der nächsten Schulstunde abzuwarten. Nur Maria kam noch nicht. Sie schien vor dem Klassenraum zu warten.
Auf wen wollte sie warten? Wieder ein neues Geheimnis? Ein neues Rätsel?
Wenige Minuten später kam sie dann, gemeinsam mit dem Lehrer. Schnell legte sie ihr Cape über die Stuhllehne, nahm ihren Platz neben mir ein.
Verblüfft erinnerte ich mich daran, das Maria auch gestern zusammen mit der Lehrerin hereingekommen war. Innerlich schüttelte ich den Kopf. Warum machte sie das?
In der folgenden Pause wiederholte sich die Vorgänge. Maria zog sich schnell an, das heißt sie legte Handschuhe, Cape, Tuch und Hut an und wir beschäftigten uns gemeinsam mit dem Stoff der Mathematik. Nach der Pause schien sie wieder vor dem Klassenraum zu warten, um dann erneut gemeinsam mit dem entsprechenden Lehrer das Klassenzimmer zu betreten.
Ich konnte mich nur wundern, denn ich hatte keinerlei Erklärung für ihr Verhalten. Natürlich dachte ich immerzu darüber nach, doch eine Lösung wollte mir einfach nicht einfallen.
Irgendwie verging auch die nächste Schulstunde. Die kleine Pause nutzten Maria und ich, um uns leise zu unterhalten. Es machte mir Spaß, mit ihr zu reden, sie hatte Witz und Charme, und sie strahlte eine ungeheure Wärme aus.
Nach einigen Minuten ging die Tür auf, und Herr Peters betrat den Klassenraum. Er bat kurz um Ruhe, um dann zu verkünden, das die letzte Unterrichtsstunde wegen einer Erkrankung des Lehrers ausfallen würde.
Unter lautem Beifall packten alle Schüler ihre Taschen, verließen auf dem schnellstem Wege den Klassenraum. Auch ich suchte meine Sachen zusammen, hielt aber inne, als ich bemerkte, das Maria keinerlei Anstalten machte, sich auf den Weg zu machen.
»Willst du denn nicht nach Hause? Wir haben eine Stunde eher frei«, fragte ich sie.
»Nein, geht leider nicht. Ich werde abgeholt. So lange werde ich wohl warten müssen.«
»Ach so. Das ist ja unglücklich.«
Maria nickte nur mit dem Kopf.
Ich hatte eine Idee.
»Ich mach dir einen Vorschlag. Wir gehen raus auf den Hof, suchen uns einen Platz auf der Bank und...«
»Nein, du brauchst nicht wegen mir zu bleiben. Es macht mir nichts.«
»Doch, kein Problem, wirklich. Wir könnten uns unterhalten, oder Mathe lernen, ganz wie du willst.«
»Ja, wenn du meinst...« Noch immer schien Maria zu zögern, aber dann nickte sie mit dem Kopf.
Und sie freute sich doch! Und so gingen wir hinaus auf den Hof, den wir nun ganz für uns hatten. Natürlich hatte Maria sich wieder vollständig eingekleidet, eine Prozedur, an die ich mich jetzt gewöhnt hatte. Doch jetzt, da niemand mehr im Klassenraum war, fiel mir etwas auf. Als Maria den letzten Knopf ihres Capes schloss, hörte ich ein leises Klicken. Ein Geräusch, ganz so, als ob etwas einzurasten schien.
Natürlich war ich neugierig, aber ich wagte nicht zu fragen. Nicht das. Nicht jetzt. Es wäre falsch gewesen, das spürte ich.
Und noch etwas viel mir auf. Wenn wir in den Pausen durch die Gänge der Schule gingen, so waren sie immer überfüllt, immer herrschte ein mächtiges Gedränge. Man kam nur langsam voran, bis man endlich den Schulhof erreicht hatte.
Jetzt war der Flur menschenleer. In den Klassenräumen wurde schon wieder unterrichtet, alle unsere Klassenkameraden waren längst auf dem Weg nach Hause. Wir hatten also freie Bahn.
Trotzdem gingen wir ziemlich langsam. Fast schien es mir, als ob Maria schon schneller gehen wollte, dies aber nicht konnte. Machte sie so kleine Schritte, oder bildete ich mir dies nur ein? Während ich so neben ihr lief, konnte ich es nicht erkennen. Ihr weites Cape verdeckte mir die Sicht.
Aber ihr Cape hatte auch sehr schöne Seiten. Anmutig schwang es um ihren Körper, und ich konnte die leisen Geräusche hören, die der Stoff durch seine Bewegungen verursachte. Fast klang es wie Musik für mich. Musik, von der ich bisher nicht gewusst hatte, das es sie gab. Eine Musik, von der ich bisher nicht gewusst hatte, das ich sie mag.
»Wohnst du denn so weit entfernt, das du nicht alleine nach Hause fahren kannst ?«, fragte ich, während wir über den Schulhof gingen.
»Nein, eigentlich nicht. Ich kann zu Fuß nach Hause gehen, es sind nur etwa 15 Minuten.«
»Und trotzdem willst du hier warten ?«
Maria schaute mich mit ihren blauen Augen an. Was das Traurigkeit, was man darin entdecken konnte?
»Nein, ich muss hier warten. Mrs. Potter erwartet, das ihre Anordnungen befolgt werden.«
»Wer, Mrs. Potter?«
»Ja, sie ist Engländerin, deswegen der seltsame Name. Sie ist so etwas wie meine Erzieherin, oder auch Kindermädchen, na so eine Mischung aus beidem eben.«
»Das klingt ja interessant. Eine englische Erzieherin. Und deine Mutter?«
»Sie ist kaum einmal zu Hause. Meistens arbeitet sie, überwiegend in den USA, leitet dort eine große Klinik. Und deswegen hat sie alles auf Mrs. Potter übertragen.«
Ungläubig schüttelte ich den Kopf.
»Und ich hab gedacht, so etwas gibt es nur im Film. Na ja, warum auch nicht. Aber sie scheint ja ziemlich streng zu sein, diese Mrs. Potter. Das du hier so warten musst...«
»Ja, das ist sie wohl. Sie hat ihre Gründe dafür.«
Maria schaute mich kurz an, schlug dann die Augen nieder. Sie hatte etwas zu erzählen, das war klar.
»Na, ihr beiden Hübschen. So ganz alleine auf dem Schulhof unterwegs?«
Drei Mädchen aus unserer Klasse standen vor uns. Sie wirkten sehr ausgelassen, ja fast albern.
Ich verdrehte die Augen. Mir schien es, als ob Maria mir im nächsten Moment etwas erzählen wollte. Die Antwort auf meine Fragen?
Und gerade jetzt platzten diese drei Mädchen dazwischen.
»Maria, hast du dich auch warm genug angezogen?«, meinte Claudia, die offensichtlich ihre Wortführerin war.
»Vielleicht hättest du ein wärmeres Cape anziehen sollen, auch einen Schal hättest du dir umbinden können. Es ist doch nicht besonders warm hier in der Sonne, oder?«
Die Mädchen prusteten los, als ob sie einen guten Witz gehört hätten. Sie hielten sich für sehr lustig.
»Laß mich in Ruhe, Claudia. Dein Gerede ist unerträglich«, antwortete Maria schließlich.
»Aber wir finden es schon lustig, wie du dich immer anziehst. So zugeknöpft, wie du herumläufst, man könnte ja fast meinen, du wolltest dich verstecken vor uns.«
»Claudia, lass es bitte«, bat Maria.
»Hast du dein Cape auch ganz bis oben geschlossen? Sei lieber vorsichtig, Maria, es könnte dir ja kalt werden. Mensch, wenn ich so etwas anziehen müsste, ich würde mich gar nicht aus dem Haus trauen, ehrlich«, lachte Claudia wieder.
»Du weißt, das es meine Sache ist, welche Kleidung ich trage. Und jetzt lass mich in Ruhe.«
Claudia grinste nur weiter, wandte sich schließlich an mich.
»Na, Paul, was sagst du denn dazu. Wie findest du es denn, mit einem Mädchen herumzulaufen, das sich wie... ja wie eine Nonne einpackt.«
»Nonne ! Das war gut, Claudia!«, riefen die anderen Mädchen und kicherten wieder los.
»Ich weiß gar nicht, was ihr habt«, antwortete ich schließlich. »Jeder kann sich doch wohl so anziehen, wie es ihm gefällt, oder?«
Das Gelächter erstarb, für einen Moment herrschte Stille.
»Aber du musst zugeben, das Maria ziemlich komisch aussieht in ihren Sachen, oder?«
Die Mädchen ließen einfach nicht locker, schon begann das alberne Gelächter wieder.
»Nein, das tut sie nicht. Sie sieht überhaupt nicht komisch aus«, entgegnete ich entschieden.
»Na, du willst doch wohl nicht sagen, das es dir so gefällt?«
»Doch, mir gefällt Marias Aussehen. Es gefällt mir sogar sehr. Im Gegensatz zu euch hat sie einen eigenen Stil, während ihr nur das tragt, was man in jedem Kaufhaus kaufen kann.«
Für einen Moment staunte ich über mich selbst. Aber es schien zu wirken, anscheinend hatte ich ihnen den Wind aus den Segeln genommen.
Die Mädchen hatten wirklich genug. Offensichtlich sahen sie jetzt ein, das sie mich nicht auf ihre Seite ziehen konnten. Achselzuckend drehten sie sich um und machten sich gemeinsam auf den Heimweg.
Maria und ich waren alleine auf dem Hof. Kaum ein Geräusch war zu hören, nur ein Vogel sang in der Ferne ein Lied.
»Hast du das ernst gemeint?, fragte Maria mich.
Ich blickte verlegen auf den Boden.
»Was meinst du?«
»Du weißt schon, was du gerade gesagt hast. Tu nicht so unschuldig.«
»Ja, ich habe es wohl ernst ernst gemeint.«
»Und es gefällt dir wirklich, wie ich aussehe?«
Ganz dicht stand Maria vor mir, ganz leise hatte sie diese Frage gestellt.
Ich nickte wortlos, versuchte dem Blick ihrer Augen standzuhalten.
»So etwas hat noch nie jemand gesagt. Das jemand so zu mir hält, das hätte ich nie...«
»Maria, weißt du denn gar nicht, wie wunderschön du bist?«, unterbrach ich sie leise.
Sie schüttelte nur den Kopf und ihre Augen schienen feucht zu glänzen..
Ganz vorsichtig legte ich meine Hände um ihre Schultern und zog sie zu mir heran. Ihre Lippen schienen wie Feuer zu glühen, so schien es mir, als wir uns den allerersten Kuss gaben. So weich, so zart, sie waren wie ein Geschenk.
Es war ein vorsichtiger Kuss, von kurzer Dauer, aber voller Gefühl und Sinnlichkeit. Und ich würde ihn nie vergessen, das wusste ich schon jetzt.
Minutenlang standen wir wortlos da, genossen das Gefühl, uns aneinander ganz nahe zu sein. Ich streichelte Maria sanft durch den glatten Stoff ihres Capes und sie schien unter meinen Berührungen förmlich zu zerfließen.
Ich nahm sie vorsichtig in den Arm. 'Sie ist wie aus Glas, so zart, so zerbrechlich.'
Irgendwann ließen wir voneinander ab, nahmen uns an die Hand und gingen langsam über den Hof.
Zuerst schwiegen wir, ließen das gerade Erlebte auf uns wirken.