Maria

Maria – Die Probe

Autor: Karl Kollar

Ein Dankeschön an das Fräulein für die schönen Ideen zum letzten Absatz

Als wäre die Strafnacht nicht gewesen, kam Maria ziemlich unbeschwert aus der Dusche. Sie freute sich auf den Tag und auf Paul. Ihre Sorgen von gestern hatte Mrs. Potter mit ihren überraschend einfühlsamen Worten weggeblasen.

Gewiss, sie hatte sich vorgenommen, heute mit ihm zu reden und ihm einiges zu erklären. Es musste sich ja endlich mal eine Gelegenheit ergeben. Bisher war immer irgendetwas dazwischen gekommen.

Maria blickte auf die Uhr und als sie sah, wie spät es war, ging sie schon mal vorsorglich in Richtung Telefon. Gleich würde ihre beste Freundin anrufen. Sie hatten diese feste Uhrzeit ausgemacht, um die Zeitverschiebung mit Australien in den Griff zu bekommen. Heute war Rosalie dran anzurufen.

Maria brauchte an diesem Morgen nicht lange zu warten. Gerade als sie neben dem Telefon ankam, klingelte es auch schon. Sie rief ein »Ich gehe ran« in das Treppenhaus und nahm ab.

Normalerweise ging erst Mrs. Potter ans Telefon und rief Maria, wenn es für sie war. Das hatte aber nichts mit Zensur zu tun. Es lag daran, das Maria oft einfach nur sehr lange brauchte, bis sie am Telefon war. Meistens hatte der Anrufer dann schon wieder aufgelegt. So fungierte Mrs. Potter quasi als ihr Anrufbeantworter. Nur heute war das nicht notwendig.

* * *

»Oh, Du bist selber dran und nicht Dein Wachhund?« Rosalie war jetzt schon ein halbes Jahr in Australien, doch ihren Spott hatte sie mitgenommen.

Maria überhörte es. »Ich freue mich auch, Dich zu hören.« Doch in ihrer Stimme klang trotzdem etwas Ärger mit.

»Ach komm, Du weißt schon, wie ich das meine. So wirst Du nie einen Freund finden.« Dieses Thema hatten sie schon oft diskutiert. Rosalie war immer etwas in Sorge, was das Liebesleben ihrer Freundin anging. Bislang gab es das nämlich nicht.

Maria war mehr als froh, ihr hier endlich den Wind aus den Segeln nehmen zu können. Ihre Stimme wurde eine Nuance leiser. »Er heißt Paul.«

Rosalie war schwer beeindruckt. »Sag bloß, es hat Dich trotzdem erwischt?«

Maria wurde innerlich rot. Sie zögerte etwas. Dann wurde ihre Stimme noch etwas leiser. »Er gibt mir Mathe-Nachhilfe.«

»Ach so, Mathe-Nachhilfe.« Das Grinsen der Freundin war sogar durch das Telefon zu hören. »Und, wie ist er? Was habt ihr schon gemacht?«

Maria erzählte ein wenig von ihren Nachhilfestunden.

»Was sagen denn Deine Mutter und Dein Kindermädchen dazu?«

Normalerweise hätte sich Maria durch das 'Kindermädchen' provoziert gefühlt, heute überhörte sie es. »Meine Mutter weiß es noch nicht. Zumindest nicht von mir. Sie könnte es ihr vielleicht schon gesagt haben.«

Rosalie hakte nach. »Was machst Du jetzt mit dem Training für deinen Mutter? Hörst Du auf?«

Maria war empört. »Auf keinen Fall. Das will ich noch ein paar Jahre durchziehen.« Sie machte eine kleine Pause, als müßte sie nachdenken. »Ich glaube, Paul ist davon ganz angetan. Gestern hat er mir den Handschuh angelegt. Ich glaube, er mag mich so.«

»Ich bewundere Dich.« In der Stimme ihrer Freundin klang ehrliche Bewunderung. »Ich könnte das nicht.«

Maria seufzte, weil sie dieses Thema eigentlich schon oft durchgekaut hatten. »Du weißt, dass es eigentlich ganz einfach ist.«

Rosalie blieb bei ihrer Meinung. »Ich könnte so einen Handschuh nicht tragen. Nicht so wie Du.«

»Das hatten wir doch schon oft genug diskutiert.« Marias Stimme klang mittlerweile etwas genervt. »Wenn Du nicht mit dem Ballett aufgehört hättest, dann könntest Du das jetzt auch.«

»Weiß er schon von Deiner netten Unterwäsche?«

»Nein«, seufzte Maria und mit diesem Seufzer schien sie viel zu sagen.

Doch Rosalie verstand dies falsch. »Du darfst ja erst nach der Hochzeit. Ich weiß nicht, ich würde das nicht aushalten.«

Maria war innerlich aufgebracht und empört. »Du weißt genau, dass das so nicht stimmt.«

»Was ist denn heute los?« Rosalie wunderte sich über ihre Freundin. »Du bist heute so gereizt.«

Jetzt klang Marias Stimme fast etwas traurig. »Ich hatte heute mal wieder eine Gummi-Nacht.«

»Ach Du Ärmste.« Rosalie schien Maria zu bedauern, doch in ihrer Stimme klang auch viel Spott mit »Was hast Du denn wieder angestellt?«

Wie üblich ging Maria nicht drauf ein. »Es war schön gestern mit ihm.«

Wieder war das Grinsen der Freundin durch das Telefon zu hören. »Was machst Du am Wochenende? Wirst Du mit ihm ausgehen?«

Maria war von dieser Frage überrumpelt. Bisher wusste sie nur, dass sie am Samstag den großen Auftritt hatte. »Ich habe noch nichts ausgemacht.« Sie machte eine Pause. »Am Samstag werden wir im Kurpark auftreten. Drücke mir die Daumen.«

Rosalie schien einen Moment nachzudenken. »Du meinst diese Musikgruppe, die immer mit Korsetts auftritt?«

Maria war über den Themenwechsel ganz dankbar. »Ja, heute proben wir noch mal dafür.«

Ihre Freundin erinnerte sich an das, was Maria bewegte. »Hast Du jetzt endlich mal gefragt, ob Du mal die erste Stimme spielen darfst?«

Maria seufzte. »Nein, ich habe mich noch nicht getraut. Carla spielt die Stimme, und die ist die Frau vom Chef.«

Rosalie wollte ihr Mut machen. »Red doch mal mit den Beiden. Sag ihnen, dass Du auch mal möchtest. Du kommst doch mit dem Korsett sicher besser zurecht als Carla, oder?«

Maria war bescheiden, sie wollte sich nicht vordrängen. »Meinst Du?«

»Sicher, tu es.« Rosalies Stimme klang bestimmt.

Mrs. Potter erschien im Flur und zeigte auf die Uhr. Maria erschrak etwas. »Wir müssen Schluß machen. Ich muss zur Schule. Dann bis zum nächsten Freitag.«

Sie verabschiedeten sich, und Maria legte auf.

* * *

Schon beim Frühstück war Paul sehr unruhig. Er hatte in der Nacht von Maria geträumt. Maria kniete in seinem Traum weinend vor dem Bett und ihre Erzieherin ging gerade mit einem Stock weg. Paul war vor Schreck aufgewacht und er hatte sich sofort gefragt, ob Maria wirklich so eine Strafe erleiden musste. Er hatte über seinen Traum auch mit seiner Oma gesprochen. Doch diese fand so eine Strafe eher unwahrscheinlich.

Aber Paul hatte Marias traurigen Blick von gestern Abend noch sehr gut in Erinnerung. Sie schien von der Strafe sichtlich betroffen gewesen zu sein. Paul hatte seit dem einen noch viel größeren Respekt vor Marias Erzieherin und vor allem auch vor der Konsequenz, mit der Maria anscheinend immer noch erzogen wurde.

Mit großem Herzklopfen bog Paul in die Straße ein, in der Marias Haus lag. Er hoffte sehr, wieder Maria auf dem Weg zur Schule begegnen zu können.

Allerdings war ihm auch klar, dass er sich dann wohl auch mit der Anwesenheit ihrer Erzieherin abfinden musste.

Doch zu seiner großen Enttäuschung musste er erkennen, dass er zu spät dran war.

Gerade als er Marias Haus passierte und überlegte, ob er etwas warten sollte, sah er ihre Erzieherin von der Schule zurück kommen. Sie hatte Maria anscheinend schon zur Schule gebracht und war auf dem Weg nach Hause.

Paul wollte ihr eigentlich auf gar keinen Fall begegnen. Vor allem nicht ohne Maria. Doch sie hatte ihn schon gesehen. Jetzt konnte er ihr nicht mehr ausweichen.

Sie kam näher.

Paul erwog seine Möglichkeiten. Natürlich hätte er auf der anderen Straßenseite weiter gehen können. Doch es war ihm auch daran gelegen, bei Maria Erzieherin einen guten Eindruck zu hinterlassen. So nahm er allen Mut zusammen und stellte sich auf das Zusammentreffen ein.

Die Gegenwart von Mrs. Potter weckte bei ihm ein schlechtes Gewissen. Irgendwie hatte er das Gefühl, mitschuldig zu sein. Und er wusste, dass er Marias Erzieherin nicht anlügen konnte.

Sie blieb stehen und blickte Paul interessiert an. »Guten Morgen Paul.« Ihre Stimme war zwar resolut, aber irgendwie auch freundlich.

Paul wünschte ihr möglichst höflich auch einen guten Morgen. Trotzdem war seine Stimme verschüchtert leise.

Sein Gegenüber überging dies. »Ich habe Maria schon zur Schule gebracht. Wir gehen jeden Morgen um halb aus dem Haus.« Eigentlich wollte sie Paul nur einen Hinweis geben, wann er Maria auf dem Weg zur Schule treffen konnte.

Doch Paul verstand dies falsch und hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sie heute verpaßt hatte.

Er blickte sie ziemlich verschüchtert an und hatte gerade den Mund aufgemacht um sich zu entschuldigen, als sie weiter sprach. »Bitte sei vorsichtig und geduldig, wenn Du mit Maria zusammen bist.« Ihre Stimme klang irgendwie wichtig. »Sie macht etwas für sie ziemlich schweres.«

Paul brachte kein Wort heraus. Er schaute auf zu ihr und nickte zunächst vorsichtig. Es dauerte eine Weile bis Paul verarbeitet hatte, worum Marias Erzieherin ihn gerade gebeten hatte.

»Es wird Dir vieles seltsam vorkommen, aber glaube mir, es hat alles seine Richtigkeit.«

Paul hätte jetzt tausend Sachen fragen wollen, doch er war nicht in der Lage, auch nur eine einzige Frage zu formulieren.

Mrs. Potter wünschte ihm viel Erfolg in der Schule und reichte ihm die Hand. Paul war wegen ihres starken Händedrucks erstaunt und eingeschüchtert zugleich.

Langsam ging er weiter in Richtung Schule. Erst langsam begriff er, dass er Marias Erzieherin wohl falsch eingeschätzt hatte. Er ließ sich ihre Worte noch einmal durch den Kopf gehen.

Sie hatte ihn gebeten, bei Maria geduldig zu sein und sich über die vielen Seltsamkeiten nicht zu wundern. Aber es waren keine Worte dabei, die ihn aufgefordert hätten, die Finger von Maria zu lassen. Im Gegenteil, sie hatte ihm ja eher Mut gemacht.

Er ging etwas fröhlicher weiter.

* * *

Als er kurz vor Beginn der Stunde in die Klasse kam, saß Maria schon auf ihrem Platz und ihr Cape hing wie üblich über ihrem Stuhl. Er kam gerade noch dazu, ihr einen guten Morgen zu wünschen, als auch schon der Unterricht begann.

Er bewunderte Maria, wie leicht es ihr fiel, dem Unterricht nicht nur zu folgen, sondern sogar recht aktiv mitzuarbeiten. Von ihrem Eifer ließ sich Paul sogar etwas anstecken, und es ermutigte ihn, sich auch etwas öfters am Unterricht zu beteiligen.

Nur gelegentlich tauschten sie kurze verliebte Blicke aus.

Paul freute sich sehr darüber. Und er wusste, dass er es nicht übers Herz brachte, Maria jetzt noch nach ihrer Strafe zu fragen. Auch wenn es ihn brennend interessierte.

* * *

Es läutete zur großen Pause. In alter Gewohnheit sprang Paul sofort auf und war schon drauf und dran, aus der Klasse zu laufen, als ihm einfiel, dass er besser auf Maria warten sollte.

Er drehte sich zu ihr hin und sah, dass sie gerade dabei war, sich ihr Cape umzuhängen und zu verschließen. Die Handschuhe trug Maria schon. Paul war über diese Sorgfalt immer wieder erstaunt.

Er entdeckte die Sorgenfalten auf Marias Stirn, und es fiel ihm nicht schwer zu erraten, was sie beschäftigte. Als nächstes kam die Doppelstunde Mathe, und es waren nur noch drei Unterrichtsstunden bis zur alles entscheidenden Mathematikarbeit.

Auf dem gemeinsamen Weg nach draußen schnitt er das Thema gleich an. »Hast Du noch Fragen zu den Hausaufgaben?« Er war ernsthaft bemüht, ihr zu helfen.

Es war Maria klar, dass er Mathematik meinte. Sie dachte kurz nach. »Ich glaube, ich habe den Lösungsweg verstanden.« Sie beschrieb noch einmal, wie sie Aufgaben dieses Typs lösen würde.

Paul sah, dass sie es wirklich verstanden hatte. Er lobte sie und traute sich sogar einen kleinen Scherz zu: »Immerhin hast Du hier ja auch die Arme frei.«

Maria blickte ihn erstaunt an. Dann erst hatte sie begriffen, dass Paul einen Witz gemacht hatte.

»So weit kommt es noch.« Sie lächelte.

* * *

Paul spürte, dass Maria bei Mathe jetzt etwas gelöster und nicht mehr so verkrampft wie bisher war. Wobei sie natürlich stets vorbildlich auf ihrem Stuhl saß. Aber sie kam jetzt besser mit und konnte den Stoff gleich richtig aufnehmen.

Sie wurde an wieder an die Tafel gerufen. Diesmal schaffte sie es, die Aufgabe ganz ohne Hilfe zu lösen. Herr Peters war sehr beeindruckt von ihrer Leistung. Er sprach ihr ein großes Lob aus.

Marias Augen strahlten, als sie zurück zu ihrem Platz ging. Und sie hatte nicht vergessen, wem sie das zu verdanken hatte. Sie flüsterte ihm ein leises »Danke« zu.

Paul hatte sich über die tolle Leistung von Maria auch sehr gefreut. »Das war gut«, flüsterte er ihr leise zu. In der Klasse war es in diesem Moment seltsam still.

Neben den fachlichen Leistungen war Paul aber auch aufgefallen, wie korrekt Maria an der Tafel stand und wie perfekt in jedem Moment ihre Haltung war. Er konnte nur vermuten, was wohl dahinter stecken mochte.

Es fiel ihm erst nach einiger Zeit auf, dass Maria neben ihm von einer gewissen Unruhe ergriffen war, die er sonst nicht von ihr kannte. Sie war unkonzentriert und rutschte ziemlich nervös auf ihrem Stuhl herum. Sie sah auch sehr oft auf die Uhr.

Zuerst dachte Paul, dass es mit der Aufgabe zusammenhing, an der sie gerade dran waren. Doch als der Lehrer sie dran nahm, konnte sie seine Fragen problemlos beantworten. Es musste etwas anderes sein.

Sie wurde schleichend immer unruhiger. Auch Herr Peters schien dies zu bemerken. Er blickte gelegentlich zu Maria herüber.

Paul rang sich dazu durch, leise ein »Was ist denn los?« zu flüstern.

Maria teilte ihm leise mit, dass sie bald auf Toilette müsste.

Paul blickte auf die Uhr. Es war noch lang bis zur Pause. »Dann geh doch jetzt.«

Maria war genervt. »Das geht nur in der großen Pause.« Es schien ihr sichtlich unangenehm zu sein. »Ich brauche Hilfe.«

Paul war verwundert. So hatte er Maria noch nicht erlebt.

Auch Herr Peters schien dies zu bemerken und zu Pauls Erstaunen fragte er nicht etwa nach, sondern er schien Maria sogar extra zu schonen, denn sie kam die Stunde über nicht mehr dran, auch wenn sie sich ab und zu noch einmal meldete.

Es klingelte zur Pause.

Maria flüsterte ein »endlich«, dann sprang sie auf und ging mit für ihre Verhältnisse sehr raschem Schritt aus dem Klassenzimmer.

Paul erinnerte sich an die Worte ihrer Erzieherin und beschloss ihr einfach hinter zu gehen. Wenn sie Hilfe bräuchte, wollte er zur Stelle sein.

Zu seinem großen Erstaunen ging Maria an mehreren Toiletten vorbei. Doch er wagte nicht, sie deswegen anzusprechen.

Die Deutschlehrerin lief ihnen über den Weg und diese sah sofort, dass Maria etwas auf dem Herzen hatte. Maria ging zu ihr hin und sagte ihr, dass sie dringend auf die Toilette müsste. Die Lehrerin schien sofort Bescheid zu wissen. Sie bat Maria, doch schon einmal vor zu gehen, sie würde die Schlüssel holen.

Maria ging mit ihren kleinen, aber immer schneller werdenden Schritten in Richtung der Lehrerzimmer. Paul war total verwundert.

Vor der Tür der Lehrertoilette bliebt sie stehen und wurde zunehmend nervöser.

Sie trippelte von einem Fuß auf den anderen und biss sich auf die Lippen. Für Paul hatte sie keine Augen mehr.

Die Lehrerin kam mit einem Schlüsselbund zurück. »Na dann komm«, sprach sie ernst und betrat hinter Maria die Toilette.

* * *

Paul blieb erst noch einige Zeit vor der Tür stehen.

Er war sehr verwundert.

Maria konnte nicht selber zur Toilette gehen? Die Lehrerin musste einen Schlüssel holen?

Nach der halben Pause war Maria immer noch nicht fertig. Paul schien so langsam zu begreifen, dass diesmal nicht seine Hilfe gefragt war. Er ging langsam und ziemlich verwirrt in seine Klasse zurück.

Maria kam erst kurz nach Beginn der nächsten Stunde zurück in die Klasse. Sie sprach kurz mit dem schon anwesenden Lehrer und setze sich dann auf ihren Platz.

Paul sah ihr an, dass ihr es sichtlich unangenehm war. Allerdings war auch eine gewisse Erleichterung in ihrem Blick zu sehen.

* * *

Maria stand in ihrem Arbeitszimmer vor dem Schreibtisch und war dabei, Notenblätter zu sortieren. Sie summte dabei kleine Melodien. Von Zeit zu Zeit blieb sie länger an einem Blatt hängen und ging in Gedanken das Stück noch einmal durch. Morgen war der wichtige Auftritt im Kurpark und Maria freute sich schon sehr.

Heute Abend war die Probe für den Auftritt und Maria wollte gut vorbereitet sein. Sie legte sich die Noten der Stücke zurecht, die sie heute Abend proben und Morgen aufführen würden. Sie freute sich schon sehr auf diesen für ihre kleine Gruppe sehr wichtigen Auftritt. Sehr gewissenhaft schaute noch einmal nach den schwierigen Stellen in den Stücken. Sie hatte alle geübt und war fit für den Auftritt.

Ihr fiel ein, dass sie formal ihre Erzieherin ja noch um die Erlaubnis bitten musste, zur Probe gehen zu dürfen. Außerdem würde sie ja auch eine Begleitung brauchen.

Sie summte die Melodie eines der Stücke und machte sich auf den Weg, Mrs. Potter zu suchen. Maria freute sich sehr auf die Musik.

* * *

Mrs. Potter war in der Küche damit beschäftigt, ein Geschenk einzupacken. Sie band gerade eine farbige Schnur um das kleine sehr geschmackvoll eingepackte Paket. Maria fand, dass auch ihre Erzieherin sehr gute Laune hatte.

Maria stellte sich vor den Tisch und nahm die vorgeschriebene Haltung ein. Dann wartete sie, bis ihre Erzieherin ihr die Erlaubnis zum Sprechen gab.

»Nun Maria«, ihre Stimme klang gut gelaunt, »was möchtet ihr?«

Maria hob ihren Kopf und blickte ihre Erzieherin an. »Ich möchte um Erlaubnis bitten, heute Nachmittag die Probe besuchen zu dürfen.«

Mrs. Potter legte die Rolle Klebeband auf den Tisch und blickte ihren Schützling erstaunt an. »Was für eine Probe? Und wo?«

Maria war verwundert. »Sie wissen doch, dass wir Morgen im Kurpark auftreten. Und heute ist dazu die Extraprobe.«

Mrs. Potter war in diesem Moment auch etwas verwirrt. »Von dieser Probe habt ihr mir aber nichts gesagt.« Sie schien nachzudenken. »Ich bin doch heute bei Oma Elisabeth zum Geburtstag eingeladen.«

Marias Gesicht wurde länger. Oma Elisabeth war eine langjährige Freundin in der Nachbarstadt. Sie mochten sie alle sehr gern. Allerdings war sie schon ziemlich alt und wurde entsprechend respektvoll behandelt. Maria begann zu ahnen, was dies bedeuten würde.

»Aber dann kann ich doch nicht zur Probe gehen.« Sie schluckte. »Ich habe Ihnen doch von der Probe erzählt.«

»Ihr habt mir nur etwas von dem Auftritt Morgen gesagt.« Mrs. Potter war sichtlich bewegt.

»Aber die Probe ist Bedingung für den Auftritt. Wer bei der Probe nicht dabei ist, darf auch nicht mit auftreten.« Maria begann zu ahnen, was passieren würde und eine erste Träne lief über ihr Gesicht.

»Ich kann doch nicht wegen Deiner Probe ihren 90igsten Geburtstag absagen.« In ihrer Stimme kämpften Empörung und Bedauern miteinander.

Marias wurde verzweifelter. »Die Probe ist unheimlich wichtig. Ich muss da unbedingt hin.«

Die Stimme von Mrs. Potter wurde verärgert. »Du weißt, dass Du nicht allein dorthin gehen darfst.«

Maria begann zu weinen. »Das ist so ungerecht. Ich habe mich so auf diesen Auftritt gefreut.« Noch hoffte sie, ihre Erzieherin umstimmen zu können.

Mrs. Potter schien dies zu spüren. »Wie stellst Du Dir das vor. Die Oma wohnt in der Nachbarstadt und ich kann nur mit dem Bus dahin fahren.«

Maria wusste, dass Mrs. Potter kein Auto hatte, und bisher war das auch nie ein Problem gewesen.

»Maria«, die Stimme wurde auf einmal etwas kälter, »vergesst Eure Erziehung nicht.« Es tat ihr weh, aber sie musste Maria hier in ihre Schranken weisen.

Mit einem Schlag war Maria aller Wind aus den Segeln genommen. Sie erkannte, dass sie ihre Probe und damit auch den Auftritt absagen musste. Tränen schossen ihr ins Gesicht.

Sie drehte sich um und lief auf ihr Zimmer. Sie warf sich auf das Bett und weinte bitterlich.

* * *

Sie spürte ein Streicheln auf ihrem Kopf und drehte sich verärgert um. Konnte ihre Erzieherin sie nicht in Ruhe weinen lassen? Mit vor Tränen verschwommenen Augen blickte sie auf die Gestalt vor dem Bett, und erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass Paul vor ihr stand.

»Mrs. Potter hat mich herauf geschickt.« Seine Stimme klang ziemlich verunsichert. »Wir wollten heute doch noch etwas Mathe machen.«

Maria war beschämt, dass sie ihm gegenüber so einen erbärmlichen Eindruck machte. Sie wischte sich ihre Augen aus und blickte ihn verblüfft an. »Ich kann die Probe nicht besuchen,« antwortete sie auf die Frage, die Paul gar nicht gestellt hatte. Sie schluchzte erbärmlich. »Es ist der wichtigste Auftritt im Jahr, und ich kann nicht hin.«

Paul wusste nicht, was er sagen sollte. Sie hatte ihm etwas vom einem Auftritt im Kurpark erzählt. Das musste sie wohl meinen. Er wusste, es war falsch, jetzt auch noch danach zu fragen.

Paul sah die Spuren, die die vielen Tränen auf Marias Wange hinterlassen haben. Er griff in seine Hosentasche und reichte Maria ein sauberes Taschentuch. Seine Oma nötigte ihn regelmäßig, sich eines einzustecken. Jetzt war er das erste Mal froh darüber.

Maria setzte sich auf, nahm das Taschentuch dankbar an und wischte sich ihre Tränen weg. Sie flüsterte ein leises 'Danke'. Es war zu sehen, dass sie mit sich kämpfte.

Paul wusste auch nicht, was er sagen sollte. Er spürte zwar, dass Maria Hilfe gebrauchen konnte, doch er wusste nicht, wie. Denn er hatte auch noch gar nicht verstanden, was eigentlich los war. So schwiegen sie sich eine Zeitlang an.

* * *

Maria stand langsam auf und ging zum Schreibtisch. Es war zu spüren, dass es sie große Überwindung kostete. »Laß uns Mathe machen.« Ihre Stimme klang noch ziemlich weinerlich, auch etwas Trotz war dabei. Sie ergriff ihre Schultasche, stellte sie auf den Schreibtisch und nahm ihre Bücher heraus.

Paul ahnte, dass sie ihre Schultasche am liebsten sonst wohin geworfen hätte.

Maria setzte sich auf ihren Stuhl und rollte vor den Tisch. Sie griff nach

einigen Riemen, die an dem Stuhl befestigt waren und schien sich damit an den Stuhl zu schnallen. Jedes mal wenn sie einen Riemenpaar schloss, war zudem ein leises »Klick« zu hören. Paul war mehr als verwundert und er hätte gern nach diesem seltsamen Stuhl gefragt. Doch er wusste um Marias aktuellen Gemütszustand, und so zwang er sich, seine Neugier zu beherrschen. Er nahm sich einen anderen Stuhl und setzte sich neben sie.

Maria war sehr abgelenkt und unkonzentriert. Sie konnte selbst die einfachsten Fragen nicht beantworten.

Paul versuchte zunächst, die Sachen aus dem heutigen Unterricht durchzusprechen. Doch er musste sehr bald einsehen, dass dies im Moment keinen Sinn hatte. Maria schaffte es nicht, sich zu konzentrieren.

Er fühlte sich ziemlich hilflos. Auf der einen Seite drohte die Mathematik-Arbeit in einer Woche. Andererseits wollte er Maria auch nicht bedrängen. Er hatte noch die Worte von Mrs. Potter im Kopf, dass Maria etwas sehr schweres machte.

Doch so unkonzentriert wie sie heute war, hatte es auch keinen Sinn. Dies war Paul klar, doch er wollte Maria auf jeden Fall helfen. Vielleicht half es ihr, wenn sie über ihren Kummer redete. Er rang sich durch, nach ihren Sorgen zu fragen.

»Oma Elisabeth hat heute Geburtstag und ich muss Morgen den Auftritt absagen.« Sie fing wieder an zu weinen.

'Schlechte Frage', dachte sich Paul. Jetzt verstand er noch weniger. Und ein Weiterfragen verbot sich auch.

Er ergriff die Flucht nach vorn. »Dann lassen wir heute die Nachhilfe ausfallen?«

Doch diese Frage schien Maria aufzurütteln. Sie blickte ihn erstaunt an. »Nein, auf keinen Fall.« Sie schien mit sich selber zu kämpfen. »Ich versuche, mich zu konzentrieren.«

Nach einer kurzen Pause fragte sie von selber nach den Einzelheiten der Aufgabe, die Paul besprechen wollte.

* * *

Paul spürte, dass Maria sich fühlbar Mühe gab. Doch genauso nahm er ihren Kummer war. Er hätte ihr gern geholfen, doch er wusste nicht wie. Er fühlte sich ziemlich hilflos.

Sie sprachen zunächst noch einmal die Aufgaben aus dem Unterricht durch.

Marias gelegentliches Schluchzen übersah Paul höflich.

Auf einmal waren die resoluten Schritte von Marias Erzieherin auf der Treppe zu hören. Er sah mit Bedauern, wie Maria zusammenzuckte und sich ihr Blick sich in eine Mischung aus Wut und Traurigkeit verwandelte. Trotzdem zeigte Maria keine weitere Regung, als Mrs. Potter in das Arbeitszimmer kam. Wenn man einmal davon absah, dass Pauls Nachhilfeschülerin ihren Kopf gesenkt hatte.

Paul hingegen hatte Mrs. Potter angesehen und ihm war aufgefallen, dass auch sie heute einen etwas bedrückten Eindruck machte. Er wusste allerdings nicht, warum das so war. Ihm fiel auf, dass sie ein großes Schlüsselbund dabei hatte.

Sie wandte sich an Paul. »Was hast Du heute Abend vor?« Es war als höfliche Frage gemeint, doch sie hatte es in einem Ton ausgesprochen, dass Paul das Gefühl hatte, sämtliche Pläne für den Abend sofort über den Haufen werfen zu müssen. Aber er wollte ehrlich bleiben: »Ich wollte noch etwas lernen... Und vielleicht fernsehen...« Warum sie das wissen wollte, das traute er sich nicht zu fragen.

»Hättest Du heute Abend vielleicht Zeit«, ihre Stimme klang jetzt eine Spur freundlicher, »um Maria auf die Probe zu begleiten?«

Kaum hatte sie diese Frage ausgesprochen, als Maria auf einmal ihren Kopf hob und Paul ansah. Innerhalb eines winzigen Moments verschwand alle Traurigkeit aus Marias Gesicht und sie strahlte ihn an. »Ja! Bitte. Das wäre so schön.«

Paul war von ihrem plötzlichen Strahlen total gefangen. Jetzt bekam er kein Wort mehr heraus. Er kämpfte etwas mit sich selbst. Er wollte nicht unhöflich sein, doch er fühlte sich total überrumpelt. »Doch, das geht.« Seine Stimme war fast etwas heiser. Er räusperte sich und seine Stimme klang wieder etwas klarer. »Das kann ich machen.«

»Dann wünsche ich Euch eine schöne Probe.« Marias Erzieherin legte das große Schlüsselbund vor Maria und Paul auf den Schreibtisch. Sie blickte ihren Schützling an. »Du kennst Dich ja mit allem aus.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, die keinen Widerspruch zuließ.

Dann drehte sie sich um und ging mit nicht minder resoluten Schritten aus dem Zimmer.

Paul und Maria starrten beide auf das Schlüsselbund.

Durch die Zimmertür waren die resoluten Schritte auf der Treppe noch gut zu hören, dann schon etwas leiser im Flur. Sie hörten die Haustür klappen. Immer leiser klangen ihre Schritte draußen auf dem Kiesweg zur Straße.

Es war still.

Paul und Maria blickten immer noch auf das Schlüsselbund. Langsam hob Paul den Blick in Richtung Maria und flüsterte: »Jetzt ist sie weg.«

Maria war von den Veränderungen völlig überrumpelt. Noch langsamer als Paul hob auch sie ihren Kopf und blickte Paul an. Allmählich begannen auch ihre Augen zu strahlen und ein Lächeln erschien in ihrem Gesicht. »Das ist so schön von Dir, dass Du das machen willst.«

Paul freute sich sehr darüber, dass Maria auf einmal so froh war, dennoch warf er wieder einen verunsicherten Blick auf das Schlüsselbund.

Maria fing diesen Blick auf. Sie ahnte, was ihn bewegte und nahm seine Hand. »Das kriegen wir schon hin.« Sie streichelte seine Hand. »Ich bin ja so froh.«

Paul blickte zuerst auf Marias Hand, dann sah er in ihr Gesicht. »Wann beginnt denn die Probe?« Er versuchte, sich an die neue Situation anzupassen.

Maria begriff langsam, dass sie sich jetzt selbst um sich kümmern musste. Sie begann laut zu denken. »Bis zur Probe haben wir noch knapp zwei Stunden. Dann können wir in Ruhe lernen, noch etwas essen und dann gehen wir los.« sie klang jetzt sehr zuversichtlich.

Sie blickte noch einmal auf die Uhr an der Wand. »Ich muss mich nicht mehr umziehen. Nur noch die Stiefel anziehen.«

Paul hörte fasziniert zu. Aber er erkannte nicht, was diese Worte sonst noch bedeuteten.

»Ich muss das Cape tragen.« Sie zögerte etwas. »Und sonst nur noch meine Tasche mit den Noten. Und die Flöte natürlich.«

Vorsichtig ließ sie Pauls Hand los und nahm das Schlüsselbund zur Hand. Sie schien einen bestimmten Schlüssel zu suchen. »Er ist da.« Sie hatte ihn gefunden und zeigte Peter einen der vielen Schlüssel an dem Bund.

Was sie damit meinte, wusste Paul nicht. Sie spürte seine Neugier. »Du musst mich von diesem Stuhl losmachen.« Als Paul sich anschickte aufzustehen, schob Maria schnell ein »nachher« hinterher.

Sie legte den Bund wieder auf den Tisch und wurde etwas nachdenklich. »Sie hat wirklich alle Schlüssel dagelassen.« Das Wort 'alle' hatte sie besonders betont.

Paul blickte sie erstaunt an, und für einen Moment glaubte er, in ihren Augen ein ganz besonderes Funkeln zu sehen.

Doch dann schien sie sich zu besinnen. Sie blickte noch einmal auf die Uhr und schien zu überlegen. Schließlich hatte sie sich anscheinend entschieden. »Lass uns noch eine Stunde Mathe machen. Und dann machen wir uns fertig.«

* * *

Jetzt war es an Paul, unkonzentriert zu sein. Er brauchte manchmal etwas länger, um Marias Fragen zu beantworten. Auch tat er sich schwerer, Maria fachliche Zusammenhänge zu erklären. Immer wieder blickte er zu dem großen Schlüsselbund.

Gestern hatte sie ihn wegen des Halskorsetts angelogen. Woher sollte er wissen, dass sie ihm heute die Wahrheit sagen würde?

Er fragte sich, ob Maria ihn hier auch wieder austricksen würde. Diesmal war er ihr ausgeliefert. Dies musste er zu seinem Schrecken erkennen. Es blieb ihm keine andere Wahl, als ihrem Wort blind zu vertrauen.

Aber er freute sich über die Aussicht, sie zur Probe begleiten zu dürfen. Zumal sie anscheinend den ganzen Nachmittag ohne Mrs. Potter verbringen konnten.

Als Maria ihn drauf ansprach, dass er recht unkonzentriert sei, wusste er nichts vernünftiges zu erwidern. Er blickte sorgenvoll auf das Schlüsselbund. Maria bemerkte seinen sorgenvollen Blick und versuchte ihm Mut zu machen. »Das werden wir schon schaffen. Ich weiß ja, was alles erforderlich ist.« Von Pauls eigentlichen Sorgen ahnte sie nichts.

Aber auch sie machte sich ihre Sorgen. Ob Paul ihr bei allem, was für den Probenbesuch erforderlich war, auch wirklich helfen konnte? Maria war ebenfalls ziemlich verunsichert.

Sie drängte ihn dazu, sich doch wieder mehr mit Mathematik zu befassen. Paul musste sich erst einen Ruck geben, dann versuchte er das Schlüsselbund zu ignorieren.

Immerhin war es diesmal sehr viel leichter, weil Maria diesmal ihre Arme frei bewegen konnte. So konnte sie selbst zeichnen, die Rechenaufgaben aufschreiben und den Taschenrechner bedienen.

Allerdings, das war Paul nach einiger Zeit aufgefallen, ganz frei war sie auf dem Stuhl auch nicht. Sie wurde von den Riemen so auf dem Stuhl festgehalten, dass sie zwar ihren Oberkörper frei bewegen konnte, aber der Riemen um ihren Bauch verhinderte, dass sie aufstehen konnte.

Paul nahm es nur noch zur Kenntnis. Wundern tat er sich schon lange nicht mehr drüber.

* * *

Maria blickte auf die Uhr und räkelte sich auf dem Stuhl, dann sagte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme, dass sie dann langsam aufbrechen müssten.

Paul schaffte es nicht, sein leichtes Erschrecken über diese Ankündigung zu verbergen.

Maria nahm noch einmal seine Hand und versuchte ihn beruhigen. »Wir schaffen das schon.«

Doch das war es nicht, was Paul beschäftigte. Er fürchtete etwas die Verantwortung, die Marias Nähe mit sich brachte. Der Beinahesturz gestern hatte ihm die Folgen von Marias Leichtsinn und ihrer Hilflosigkeit drastisch vor Augen geführt. Er hatte erkannt, welch große Verantwortung er gegenüber Maria trug. Und er wusste immer noch nicht, ob er diese wirklich auf sich nehmen wollte.

* * *

Maria griff zum Schlüsselbund und suchte anscheinend nach einem bestimmten Schlüssel. Schließlich hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie nahm den Schlüssel und reichte ihn Paul. Sie bat ihn, die einzelnen Schlösser der Riemen zu öffnen. Sie waren so angebracht, dass Maria sie selbst nicht erreichen konnte. Paul war fasziniert davon.

Maria konnte sich jetzt von ihrem Stuhl erheben. Sie warf einen Blick in den Spiegel und war beschämt wegen ihres verweinten Gesichts. »Ich bin kurz im Bad.« Mit diesen Worten ließ sie Paul allein im Zimmer zurück.

Sein Blick fiel auf Marias seltsamen Stuhl und er ging zu ihm. Fasziniert bestaunte er das System der Riemen, mit dem Maria auf diesem Stuhl festgehalten wurde.

»Gefällt es Dir?« Maria war wieder in den Raum gekommen und ging auf den Notenständer zu, der am Fenster stand.

Paul zuckte etwas zusammen. Er wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Allerdings hätte er schon gern gewußt, warum sie auf ihrem Stuhl auch festgehalten wurde. Doch dies als Frage zu formulieren, dazu war er nicht mutig genug.

Maria versuchte trotzdem, es ihm zu erklären. »Das ist meine Lernhilfe.« Sie machte vor dem letzten Wort eine Pause, so dass die Ironie recht deutlich wurde. »Sie macht mich erst dann wieder los, wenn ich mit den Hausaufgaben fertig bin.«

Mit 'Sie' konnte nur Mrs. Potter gemeint sein, dies war Paul klar. Er musste wegen dieser sehr seltsamen Motivationshilfe schlucken.

Maria nahm die Notenblätter vom Ständer und legte sie auf ihren Schreibtisch. Dann begann sie den Notenständer zusammenzulegen. Sie griff sich eine Tasche, die neben dem Schreibtisch stand, und tat Noten, Ständer und einen kleinen schwarzen Koffer hinein. Paul vermutete, dass darin ihre Flöte sei. So etwas ähnliches hatte er schon einmal gesehen.

So nebenbei war ihm auch aufgefallen, dass Maria nicht etwa normale Hausschuhe trug. An ihren Füßen entdeckte Paul eine Art Pantoffeln mit hohen Absätzen. Paul fand das ziemlich seltsam. Gesehen hatte er so etwas noch nicht, aber er erinnerte sich an das, was seine Oma ihm gesagt hatte. Es hing wohl mit dem Tragen von Korsetts zusammen.

Maria schien nachzudenken.

Sie nahm sich das Schlüsselbund vom Schreibtisch und ging durch den Raum zu einer kleinen Garderobe, wo ihr Cape hing. Sie nahm es in die Hand und bat Paul näher zu kommen.

»Ich möchte Dir zeigen, wie Du das Cape aufschließen musst.« Es war ihr recht wichtig, dass Paul das wusste. Sie wollte es ihm nicht erst im Probenraum zeigen, wenn sie zudem in dem Cape eingesperrt sein würde. Sie hielt das Cape im Arm und nahm den Kragenriegel in die eine Hand. In der anderen Hand hatte sie den kleinen Schlüssel, und damit zeigte sie Paul, wie das Schloss zu öffnen war. Sie reichte Paul das Cape und das Schlüsselbund und lächelte ihn an. »Bitte probiere es mal.«

Paul war zwar immer noch verunsichert, doch er nahm das Cape in die Hand und probierte dann mit dem Schlüssel das Öffnen des Kragenverschlusses. Seine Hände zitterten leicht dabei.

Maria war trotzdem mit ihm zufrieden.

So langsam hatte Paul begriffen, dass Maria in diesem Cape wirklich eingesperrt war. Er äußerte dies.

Maria lächelte. »Das ist so gewollt.« Sie nahm es ihm noch mal aus der Hand und zeigte ihm die Armdurchgriffe. »Hier kann ich meine Arme ja noch durchstecken.« Sie grinste. »Aber wenn der Kragen einmal verschlossen ist...« Sie sprach nicht weiter.

Paul musste schlucken.

Sie reichte ihm das Cape wieder hin.

Paul war neugierig und schaute sich das Cape etwas genauer an. Er war erstaunt. »Die Armdurchgriffe lassen sich ja auch noch verschließen.« Er sah Maria verwundert an.

Maria blickte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Verwegenheit an. »Ja, aber nur von außen.« Sie machte eine Pause, damit Paul es nachvollziehen konnte. »Wenn ich meine Arme drinnen habe, dann kann ich die nicht mehr aufmachen. Ich komme dann nicht an den Reißverschluss.«

Paul war genauso ehrlich wie spontan. »Seltsam.«

In Marias Stimme klang viel Stolz mit. »Findest Du? Ich habe mir das so gewünscht.«

Es fiel ihm noch etwas auf. »Aber Du kannst Dir doch einfach das Cape nach oben ziehen.«

Sie musste zugeben, dass er recht hatte. »Aber erstens mache ich so etwas nicht, und zweitens« Sie griff an eine bestimmte Stelle vom Cape. »wären hier noch Bänder, um es an meinen Beinen fest zu machen.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Aber ich bin brav und brauche die Bänder nicht.« Sie grinste hintergründig.

Paul blickte sie noch verwunderter an. Er sah sich das Cape weiter an. »Hier sind ja auch Innentaschen.«

Er sah, wie Maria leicht rot wurde. »Das sind keine Taschen.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Das sind Ärmel.«

Paul war sprachlos.

Marias Stimme klang auf einmal recht nachdenklich. »Da könnte ich meine Arme hinein stecken.« Sie dachte laut. »Ich habe das noch nie ausprobiert. Es war so gut wie nie Zeit dafür.« Es klang auch ein wenig Bedauern in der Stimme mit.

Paul hatte einen Arm ein wenig in so einen Ärmel gesteckt. »Aber diese Ärmel sind ja festgenäht. Du könntest dann deine Arme gar nicht mehr bewegen.« Er schaute sie ungläubig an.

Ihre Stimme wurde etwas leiser. »Ja, das ist so gewollt.« Sie blickte ihn herausfordernd an.

Paul war noch sehr mißtrauisch. »Aber es ist verboten.« Er hatte es zwar nicht als Frage formuliert, doch es war so gemeint.

Maria hatte ihren Kopf zu Boden gesenkt und schien ernsthaft nachzudenken. Dann blickte sie Paul strahlend an. »Nein, das ist erlaubt.« Sie bemerkte seine Unsicherheit. »Ich habe es bisher nur noch nie gemacht.«

Maria grübelte. Es war zu sehen, dass sie mit sich selber kämpfte. »Doch, das könnte funktionieren.« Sie zögerte. »Ich will nicht schon wieder in den Sack«, murmelte sie vor sich hin.

Paul hatte den Satz trotzdem verstanden. Allerdings hielt ihn ihr in diesem Moment recht trauriges Gesicht davon ab, weiter nach zu fragen.

Andererseits faszinierte ihn der Gedanke, wenn Maria in diesem Cape so hilflos neben ihm gehen würde. Und ein großer Unterschied zu gestern war es auch nicht. Gestern trug sie diesen seltsamen Handschuh, mit dem sie mindestens genauso hilflos war.

Er blickte sie jetzt auffordernd an. »Du möchtest die Ärmel mal ausprobieren?«

Maria strahlte.

* * *

»Wir sollten aber erst noch etwas Essen.« Trotz der großen Vorfreude auf das Kommende versuchte Maria vernünftig zu bleiben und an ihre Regeln und Verbote zu denken. »Lass uns mal in die Küche gehen.«

Paul wusste nicht so recht, ob er widersprechen oder zustimmen sollte.

Widersprechen gebot ihm seine Erziehung, doch sowohl sein Magen als auch sein Herz sagten ihm, dass er lieber nicht 'nein' sagen sollte.

Maria ging in der Küche zielstrebig auf den Kühlschrank zu und öffnete ihn. Es freute sie, was sie sah, denn es stand da ein großer Teller mit Folie bedeckt, unter der einige belegte Schnittchen zu erkennen waren, und daneben stand ein Schild, auf dem »Laßt es Euch schmecken« stand.

Sie nahm den Teller auf dem Kühlschrank, nahm die Folie ab und stellte ihn auf den Tisch. Dann machte sie ein paar Schranktüren auf, bis sie anscheinend das Gesuchte gefunden hatte. Sie stellte zwei Gläser auf den Tisch. Dann ging sie noch einmal zum Kühlschrank und nahm ein paar ein paar Flaschen heraus und stellte diese ebenfalls auf den Tisch.

Paul stand etwas verlegen neben dem Tisch. Er hätte Maria gern geholfen, doch er kannte sich in der Küche noch schlechter aus.

Sie setzten sich und ließen es sich schmecken.

* * *

Maria blickte auf die Uhr. »So langsam müssen wir uns wirklich auf den Weg machen.« Ich komme ja nicht so schnell voran, dachte sie im Stillen noch dazu.

»Meine Stiefel sind unten.« Sie nahm ihre Tasche und bat Paul, das Cape mitzubringen.

Paul kam ihrer Bitte nach und ging dann langsam hinter ihr her aus dem Raum und in Richtung Treppe. Auf dem Weg nach unten fiel Paul auf der einen Seite auf, wie sehr mühsam für Maria das Treppen hinabsteigen war. Auf der anderen Seite spürte er aber auch ihren unbändigen Willen, gegen ihre Einschränkungen anzukämpfen und sich davon nicht unterkriegen zu lassen. Wobei Paul aber immer noch nicht wusste, was sie so sehr behinderte.

Auf jeden Fall schien Maria den Umgang so sehr gewöhnt zu sein. Es machte ihr überhaupt nichts aus, im Gegenteil, sie strahlte sogar etwas Stolz aus.

Unten angekommen ging sie auf eine kleine Kommode zu und öffnete diese. Sie zog sich ihre Hausschuhe aus und stellte sie an die Stelle der Stiefel im Schrank, die sie heraus nahm.

Paul fiel auf, dass beide ungefähr die selbe Absatzhöhe hatten.

Sie schlüpfte in die Stiefel und zog den langen Reißverschluss zu. Es schienen die Stiefel zu sein, die Maria auch in der Schule trug. Paul glaubte den einen kleinen Kratzer wieder zu erkennen.

Aus einer der Schubladen nahm sie sich wieder ein Schloss und brachte es am oberen Ende des Stiefelschaftes an.

Paul schaute sehr fasziniert zu, wagte jedoch nichts zu fragen.

Maria bemerkte seinen fragenden Blick und hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. »Das gehört zum Programm. Alles wird kontrolliert.« Sie machte eine Pause. Sie schien nach zu denken. Dann lachte sie. »Heute habe ich ja frei. Da bräuchte ich ja gar nicht.«

Trotzdem nahm sie aus der Schublade ein weiteres Schloss und sperrte sich auch in den zweiten Stiefel ein.

Auf einmal blickte sie Paul besorgt an. »Die Schlüssel hast Du eingesteckt.«

Paul wurde rot. »Nein, die liegen noch auf deinem Schreibtisch.«

Maria musste ihn nicht auffordern. Er reichte ihr das Cape, drehte sich um und lief eilig die Treppe hoch. Er ging in Marias Arbeitszimmer und griff sich das Schlüsselbund. Eine Gänsehaut überkam ihm dabei, denn er ahnte, dass er mit den Bund wohl auch den Schlüssel zu manch einem von Marias Geheimnissen in der Hand hielt.

Maria blickte ihn dankbar an, als er mit den Schlüsseln zurück kam. Mit einem herausfordernden Lächeln reichte sie ihm das Cape. »Hilfst Du mir?«

Im ersten Moment wunderte sich Paul, denn sonst konnte sie sich das Cape ja selbst anziehen. Und wie er ja jetzt wusste, brauchte sie eigentlich nur Hilfe beim Öffnen des Kragenriegels.

Er blickte sie verwundert an. Doch dann fiel ihm ein, dass Maria ja die Ärmel ausprobieren wollte. Allerdings traute er sich nicht, etwas zu sagen. Doch in ihm klangen die Worte von Marias Erzieherin nach. 'Über Verbote nachdenken... Das elfte Gebot...'

Maria spürte seine Unsicherheit und ließ sich davon anstecken. Sie begann laut zu überlegen. »Ich trage das Cape schon sehr lange. Aber die Arme in den Ärmeln hatte ich noch nie.«

Paul versuchte mit zu denken. »Du wärst dann ziemlich hilflos.«

Sie blickte ihn an und strahlte. »Ja.« Dabei wurde sie leicht rot.

Paul versuchte vorsichtig zu bleiben. »Du hast normale Stiefel an und kannst sehen, wo Du hin trittst.«

Maria blickte ihn verliebt an. »Du meinst auch, wir könnten es probieren?«

Paul versuchte, seine letzten Zweifel zu unterdrücken. Er faltete das Cape langsam auseinander und hielt es Maria hin. Ihre Hände zitterten leicht, als sie die Öffnungen suchte und hinein schlüpfte.

Paul sah dies atemlos und zog das Cape langsam hoch. Marias Arme verschwanden langsam in den Ärmelhüllen.

Er zog ihr den Umhang über die Schultern, dann trat er vor sie und blickte sie fragend an. »Wie gefällt es Dir? Sitzt es gut?«

Maria konnte nur noch flüstern: »Ja, es ist sehr schön.« Sie musste schlucken. »Bitte mach es zu.«

Paul kniete sich kurz vor Maria hin, so dass er den Reißverschluss besser schließen konnte. Er schob ihn langsam hoch und stand dabei wieder auf. Bevor er den Kragenriegel schloss, fasste er noch einmal an seine Tasche, ob die Schlüssel da waren. Er fühlte sie.

Es machte leise »klick« und Marias Augen strahlten. Sie wackelte etwas mit ihren Arme und stöhnte ganz leise dabei. Sie blickte ihn an. »Es fühlt sich toll an.« Sie zeigte ihm, welchen Freiraum sie noch mit ihren Armen hatte. Es war nicht viel.

Sie blickte auf die große Standuhr. »Jetzt müssen wir aber gehen.« Maria ging auf ihre Musiktasche zu und wollte sie wie sonst auch unter dem Cape mit der Hand greifen, als sie beschämt feststellte, dass dies jetzt doch nicht ging. Sie konnte ihre Hand in der engen Hülle nicht genug bewegen. Ein klein wenig ärgerte sie sich. Dies hatte sie doch nicht bedacht.

Paul wusste, dass er bei Marias besonderem Zustand jetzt sehr aufmerksam sein musste, und so entging ihm auch nicht, dass Maria jetzt etwas unsicher auf ihre Tasche blickte. Er ging entschlossen auf sie zu und nahm sich die Tasche. Er legte seinen Arm um Marias Schultern und schob sie sanft in Richtung Tür.

»Laß uns gehen.«

Maria blickte ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Dankbarkeit an.

* * *

Die Sonne stand schon tief, als Paul und Maria sich langsam auf den Weg machten. Sie gingen langsam schweigend nebeneinander her. Paul war sehr bemüht, auf seine hilflose Maria gut aufzupassen. Der Weg würde nur eine halbe Stunde dauern, hatte sie ihm gesagt und dabei an sich herunter gesehen.

Paul wusste, was sie damit sagen wollte, auch wenn er nicht wusste, was ihren Schritt so ausbremste. Aber das traute er sich nicht zu fragen.

Es war ihm irgendwie auch klar, dass es der falsche Zeitpunkt war, um Maria nach ihrer Strafe zu fragen, auch wenn es ihn sehr interessierte. Er wollte ihr nicht die Laune verderben. Außerdem erinnerte er sich noch gut daran, wie traurig sie noch vor kurzem war.

Er bedauerte es allerdings, dass Maria jetzt keine »Gehhilfe« brauchte. Sie ging selbständig neben ihm und bis auf die Tatsache, dass sie ihre Arme nicht bewegen konnte, was sie doch ziemlich agil. Paul hätte sie lieber in seiner Umarmung geführt. Aber dies traute er sich nicht, weil er wusste, dass Maria sich dagegen nicht wehren konnte. Und aufzwingen wollte er es ihr nicht.

Auf einmal blieb Maria stehen und Paul sah, dass sie versuchte, ihre Arme zu bewegen. Maria stöhnte leicht. »Ich hätte die Ärmel doch nicht benutzen sollen.«

Paul blickte sie verunsichert und etwas verängstigt an.

Maria blickte Paul an. »Ich müsste mich mal kratzen.« Sie grinste etwas.

Paul war erleichtert und versuchte ihr entgegen zu kommen. »Soll ihr Dir das Cape aufmachen?«

Maria nahm das Angebot dankbar zur Kenntnis. »Nö, laß nur. Aber Du könntest mich an der rechten Schulter kratzen.... jaaa.... danke!« sie ging weiter.

Paul begriff so langsam, wie hilflos Maria in diesem doch so einfachen Cape war. Beide genossen unabhängig voneinander ihre Gefühle.

* * *

Sie waren die ersten im Probenraum.

Paul ließ sich von Maria den Stuhl zeigen, auf dem sie sitzen würde und stellte dort ihre Tasche ab.

Er nahm das Schlüsselbund aus seiner Tasche und ging auf Maria zu. Er grinste.

»Werte Prinzessin, darf ich Euch aus dem Mantel helfen?« Maria blickte ihn zunächst erstaunt an, dann musste auch sie etwas grinsen. Sie stellte sich vor ihn hin und hob etwas den Kopf.

Paul öffnete den Kragenverschluss, so wie er es geübt hatte. Dann zog er den langen Reißverschluss herunter.

Maria versuchte, sich aus den Ärmeln zu befreien, doch zu ihrem eigenen Erstaunen blieb sie in dem Cape gefangen. Ihre Hände hatten in den engen Ärmeln nicht genug Spiel, um es nach unten zu ziehen. Außerdem wurde es noch von ihren Schultern gehalten.

Paul schaute ihr zunächst fasziniert zu, wie sie sich mit ihrem Spazier-»Gefängnis« abmühte.

Anscheinend hatte Maria die Wirkung der Ärmel unterschätzt. Sie drehte sich zu Paul um und ging auf ihn zu. »Die Ärmel sind besser als ich dachte.« Sie lächelte verträumt. »Hilfst Du mir da heraus?«

Paul streifte ihr das Cape von den Schulter und zog es dann nach unten, so dass Maria die Arme heraus nehmen konnte.

»Danke« lächelte Maria. Und es lag ein gewissen Leuchten in ihren Augen.

Maria ging auf ihren Stuhl zu und nahm zunächst den Notenständer heraus. Sie baute ihn auf und legte ihre Notenmappe darauf. Dann packte sie ihre Flöte aus.

Sie sah, dass Paul etwas hilflos mit ihrem Cape in den Händen im Raum stand. Sie zeigte ihm die Garderobe und schlug ihm vor, dass er sich hinten ans Fenster setzen könnte.

Paul kam dieser Bitte gern nach. Er hängte das jetzt so unschuldig wirkende Cape auf und setzte sich auf einen der Stühle am Fenster. Er war erleichtert, denn er hatte Maria sicher zur Probe gebracht. Jetzt erst spürte er, wie müde er doch war.

Maria hatte auf ihrem Stuhl Platz genommen und begann auf ihrer Flöte zu spielen. Paul lauschte den zarten Klängen und ließ sich davon entführen...

* * *

Er schritt langsam den steilen Berg hinauf zur königlichen Burg. Ein Bote hatte eine Einladung in das Schloss gebracht, jedoch wusste er nicht, was die königliche Familie von ihm wollte.

Sein Blick fiel gelegentlich auf die stolze Burg, die langsam näher kam. Schon oft hatte er sich gewünscht, dort einmal hineinschauen zu dürfen. Jetzt trug er fast atemlos die Einladung ihrer Bewohner in der Hand.

Die Wachen am ersten Tor hätten ihn fast wieder davon gejagt. Erst im letzten Moment fiel Paul ein, dass er die Einladung vorzeigen musste. Sofort wurden die Männern freundlicher und begrüßten ihn als einen Gast des Königs.

Auf dem Weg zum zweiten Tor hörte Paul leises Flötenspiel. Er blickte auf zur Burg und sah, dass die liebliche Prinzessin Maria am Fenster saß und auf ihrem Instrument spielte. Sie schien ihn bemerkt zu haben, doch er traute sich nicht, ihr zu zuwinken. Er bewunderte die Prinzessin, doch sie war auch etwas Unnahbares, etwas Heiliges. Außerdem konnte ihn sowohl die Wächter vom ersten als auch vom zweiten Tor sehen und er war bemüht, kein weiteres Aufsehen zu erregen.

Beim zweiten Tor zeigte er gleich seine Einladung vor und die Wächter ließen ihn passieren. Doch für Paul begann jetzt erst das richtige Herzklopfen. Er stand bald darauf vor dem eigentlichen Burgtor. Sehr respektvoll ergriff er den schweren Klopfer und ließ ihn gegen das Tor fallen. Dumpf hallte es durch den Burghof.

Eine kleine Seitenpforte öffnete sich und Paul zeigte sofort seine Einladung vor. Der Kämmerer warf einen kurzen Blick darauf und blickte Paul ernsthaft an. »Ihre Hoheit wartet schon.« Dann bat er ihm zu folgen.

Paul schritt hinter dem Kämmerer her in den Burghof, und nur am Rande nahm er die Musiker wahr, die auf dem kleinen Podest vor der Dürnitz standen und musizierten. Paul konnte nur einen kurzen Blick auf die Personen werfen, doch die kleine Flötistin fiel ihm auf. Er glaubte sie zu kennen.

Er wurde in das Vorzimmer zum Weißen Saal gebeten und angehalten, dort zu warten. Paul kam der Bitte nach und war sehr neugierig, was »Ihre Hoheit« von ihm wollte. Erst jetzt fiel ihm auf, das mit dieser Bezeichnung nicht der König gemeint sein konnte, sondern entweder die Königin oder vielleicht sogar die Prinzessin. Er war sehr gespannt, was wohl von ihm erwartet wurde.

Von draußen klangen noch die Klänge der Musiker durch die offenen Fenster, doch dafür hatte Paul genauso wenig Aufmerksamkeit über wie für den prachtvollen barocken Raumschmuck.

Mrs. Potter kam aus einer Türen und mit einer sehr strengen Miene schalt sie ihn, was ihm denn einfiele, die Prinzessin so lange warten zu lassen. Völlig eingeschüchtert ging Paul hinter ihr her in den großen Weißen Saal.

An der Seite spielten wieder eine kleine Gruppe Musiker, und vorn vor dem großen Spiegel stand die Prinzessin Maria neben einer kleinen Schulbank und einer Tafel. Paul war verwundert und aufgeregt zugleich. Beim Näherkommen sah er, das die Prinzessin ein langes Cape trug. Es kam ihm ziemlich bekannt vor.

Mit einem strengen Blick bat die Prinzessin Paul näher zukommen. Er folgte ihrer Anweisung mit großem Herzklopfen.

»Bitte helft mir aus dem Cape.« Es kam Paul nicht in den Sinn, sich dieser seltsamen Bitte zu widersetzen. Er trat auf die Prinzessin zu, öffnete das Cape und nahm es ihr von den Schultern. Darunter kam ein wunderschönes Kleid zu Tage mit einem sehr reizvollen Dekolleté und einer sehr schmalen Taille.

Und dass die Prinzessin einen zum Kleid passenden Monohandschuh trug, konnte Paul nicht wirklich in Erstaunen versetzen.

Die Prinzessin bedankte sich bei Paul und setzte sich an die Schulbank. Sie lenkte Pauls Blick auf die Tafel, auf der mit Kreide eine Mathematikaufgabe notiert war.

»Könnt ihr mir helfen, diese Aufgabe zu lösen?« die Stimme der Prinzessin klang etwas verärgert. Sie schien sich damit schon länger befasst zu haben.

Paul schaute sich den Text der Aufgabe an: 'Aus dreieinhalb Hektar Getreide lassen sich 20 Brote backen. Welche Fläche wird für 200 Personen gebraucht?'

Paul erkannte sofort, dass sich diese Aufgabe so nicht lösen ließ. Es fehlte doch die Angabe, wie viel Brot eine Person brauchte. Er sagte dies der Prinzessin.

Diese blickte ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Verwunderung an. »Seht ihr, er kann es auch nicht. Wachen, führt ihn ab.«

Die Musik hatte aufgehört zu spielen und Paul sah mit Erschrecken, wie jemand mit einer schweren Rüstung auf ihn zu kam.

* * *

Im letzten Moment wurde Paul wieder wach und sah, dass einer der Musiker auf ihn zu kam. »Wir gehen jetzt noch ein Gläschen trinken. Du kommst doch mit, oder?«

Paul sah sich verwundert um und dann fiel ihm wieder ein, dass er Maria ja auf die Probe begleitet hatte. Er war beschämt, weil er eingeschlafen war.

Maria war auch zu ihm getreten und blickte ihn lieb an. »Bitte lass uns mitgehen.«

Paul hatte wegen seines Schlafens ein großes schlechtes Gewissen, und die Aussicht, noch länger mit Maria zusammen zu sein, ließ ihn sofort zustimmen.

Auf dem Weg musste er über seinen verrückten Traum nachdenken. Gern hätte er Maria, seiner Prinzessin, davon erzählt, doch dazu hätte er ihr gegenüber zugeben müssen, dass er während ihres Spielens eingeschlafen war.

* * *

Die Gaststube war gleich im Nachbarzimmer. Es wurden zwei Tische zusammengestellt, so dass alle an einem großen Tisch Platz fanden. Paul war erfreut, dass er neben Maria sitzen konnte, denn er kannte sonst keinen aus der Runde.

Der Wirt kam an den Tisch und fragte nach den Getränkewünschen. Paul wollte ein Bier, während Maria sich ein Wasser bestellte.

Der Mann, der ihn gefragt hatte, stand auf und sprach ein paar Worte. Er dankte allen für die Teilnahme an der Extraprobe und begrüßte Paul, der ja extra seine Freizeit geopfert habe.

Maria bedankte sich noch einmal mit einem besonders liebevollen Blick bei ihm.

Direkt an Paul gewandt, stellte sich der Mann als Leiter der Gruppe vor. Er hieß Fritz und saß neben seiner Frau Carla, die die erste Stimme bei den Flöten spielte. Danach stellte er auch die anderen Musiker vor.

Er wünschte allen einen schönen Auftritt Morgen und erinnerte auch noch einmal an das wichtige Katerinenfest, welches dieses Jahr wieder stattfinden würde.

Dann nahm er wieder Platz.

Die Getränke kamen. Sie stießen auf den Auftritt am nächsten Tag an.

Maria war in diesem Moment sehr glücklich, dass Paul sie begleitet hatte. Sie blickte ihn sehr dankbar an und lächelte. Er erwiderte den Gruß.

»Es ist schön, dass Du auch mal mitkommst.« Carla hatte Maria angesehen.

Fritz pflichtete ihr bei. »Ja, das ist sehr schön.« Er blickte zu Paul und dann wieder zu Maria. »Wo hast Du denn Deine Mrs. Potter gelassen?«

Anfangs war Maria über die Geburtstagfeier sehr unglücklich gewesen. Doch jetzt war sie froh, dass stattdessen Paul sie begleiten konnte. »Die musste unbedingt einen Geburtstag feiern.«

Carla grinste. »Paul ist auch eine wesentlich schönere Begleitung für Dich.«

Maria lächelte, und als Antwort nahm sie Pauls Hand und hielt sie fest. »Dabei war ich drauf und dran, alles abzublasen.« Sie überlegte, wie viel sie von sich selbst erzählen wollte. »Aber dann kam Paul, und er hat mich eskortiert.« Vor dem Wort 'eskortiert' hatte sie eine rätselhafte Pause gemacht.

Paul genoss den Händedruck von Maria sehr und fühlte gleichzeitig auch die Verantwortung, die auf ihm lastete, wenn er die anscheinend oft sehr hilflose Maria begleitete. Er fasste mit der freien Hand an seine Hosentasche. Das dicke Schlüsselbund war noch da.

Carla machte ihr noch ein Kompliment. »Du kommst auch mit den Korsetts immer besser zurecht. Du hast einen sehr schönen Flötenton.«

Maria wurde rot.

Doch die Frau des Leiters ließ nicht nach. »Doch ernsthaft, Du spielst schon fast besser als ich.« Sie wandte sich an ihren Mann. »Sag es ihr.«

Maria blickte Fritz verwundert an. »Carla und ich haben überlegt, dass Du öfters mal mit Carla die Stimme tauschen könntest.«

Maria war erstaunt. »Aber Carla spielt doch die erste Stimme.« Dann erst begriff sie, was Fritz wirklich gesagt hatte, und sie war erstaunt. »Meint ihr, das schaffe ich?«

Carla lächelte. »Bescheiden wie immer.« Sie streichelte sie zärtlich an der Schulter. »Natürlich kannst Du das.«

Maria fühlte sich sehr geschmeichelt, und die Aussicht auf die erste Stimme freute sie sehr. »Aber auf dem Fest machen wir das noch nicht. Ich muss doch erst mal die Stücke alle üben, und bis dahin ist es gar nicht mehr so lange.«

Fritz ermutigte sie. »Jetzt sind ja bald Ferien. Da hast Du Zeit, Dir die Stücke anzusehen. Und vor dem Fest sagst Du dann noch mal Bescheid.«

Damit war Maria einverstanden.

Jemand wollte von Paul wissen, ob er auch ein Instrument spielte.

»Ich habe mit Blockflöte angefangen.« Paul freute sich, dass er Marias Hand immer noch festhalten konnte. »Ich habe auch mal kurz das Trompetespielen probiert. Doch es wurde mit der Schule zu viel.« Ein wenig Bedauern war in seiner Stimme zu hören.

Carla blickte in die Runde. »Kinder, ich freu mich schon auf das Katerinenfest.«

Karin, die die zweite Tenorflöte spielte, blickte verträumte in die Runde. »Oh ja, das war schön damals.« Ihr Blick hatte etwas verträumtes. »Kerstin war toll als Katerina.«

Carla fiel auf, dass einige in der Runde etwas verständnislos schauten, Paul inbegriffen. »Ach ja, ihr seid ja erst danach dazu gekommen.« Sie schien noch einmal tief Luft zu holen. »Alle sieben Jahre wird bei uns in der Stadt das Katerinenfest gefeiert.« Sie wandte sich an ihren Mann. »Erzähl Du das, Du kennst Dich da besser aus.«

Fritz blickte in die Runde und begann zu erzählen. »Das Fest ist schon sehr alt und es wird alle sieben Jahre gefeiert. Irgendwann im dreizehnten Jahrhundert gab es mal einen Krieg zwischen dem hiesigen Herzog und dem benachbarten Grafen. Der Graf wurde vom Herzog besiegt, und um den Frieden zu sichern, wurde die Grafentochter Katerina als Geisel mit von der Schlacht in die Stadt gebracht. Der Sohn des Herzogs hat sich dann allerdings in die Grafentochter verliebt und schon ein paar Wochen später wurde damals Hochzeit gefeiert.«

Er machte eine bedeutsame Pause. »Zum Ende der Sommerferien wird dieses Fest nachgespielt. Am Freitag Nachmittag ist die siegreiche Heimkehr von der Schlacht. Die Grafentochter wird als Geisel in Ketten in die Stadt gebracht.« Er warf einen Blick auf Karin, die Mutter der letzten Katerina-Darstellerin.

Diese fing den Blick auf und musste lächeln. »Oh ja, das war nicht einfach für Kerstin, die schweren Ketten zu tragen, auf dem ganzen Weg.«

Die Neuen in der Runde blickten etwas verwundert. Fritz versuchte zu erklären. »Ja, das ist das besondere an dem Katerinenfest. Die damalige Katerina war ja eine Geisel, und als solche trug sie die ganze Zeit bis zur Hochzeit immer irgendwelche Fesseln. Und das wird heute immer noch dargestellt. Sogar auf dem Ball, auf dem sie mit dem Herzogssohn getanzt hat, war sie nicht frei. Erst in der Kirche, nach dem »Ja«-Wort.«

Karin war immer noch ziemlich stolz auf ihre Tochter. »Es war nicht einfach für Kerstin, ohne ihre Arme zu tanzen. Aber ich denke, es hat ihr auch Spaß gemacht.«

Carla konnte sich auch gut dran erinnern. »Ja, das war ein schönes Fest. Wie wird es wohl heuer werden?« Sie verzog etwas ihr Gesicht.

Jemand aus der Runde fragte, wer denn dieses Jahr die Katerina spielen würde.

»Na unser aller Party-Luder.« Es lag sehr viel Bedauern und Ärger in Carlas Stimme. »Die liebe Baroness Sophie von Harsumstal.« Es war deutlich zu hören, wie sehr ihr diese Person zuwider war.

Fritz war anzusehen, dass es ihm auch nicht recht war. »Aber da müssen wir durch. Das läßt sich jetzt nicht mehr ändern.« Er beschrieb, dass Sophie schon vor sieben Jahren ausgewählt worden war, und dass ihr Vater, der Baron, deswegen auch den Vorsitz des Festausschusses hatte. Das wurde schon immer so gemacht, und bisher waren die Töchter auch immer brav und artig gewesen. »Aber denken wir nicht an dieses Biest und konzentrieren wir uns lieber auf unsere Auftritte.

Wir werden an dem Wochenende viel zu spielen haben. Bitte vergeßt das Üben nicht.«

* * *

Paul hatte sich seine Jacke schon angezogen und nahm nun Marias Cape vom Haken. Er nahm es am Kragen und hielt es Maria hin. Dabei blickte er sie fragend an, ohne allerdings etwas zu sagen.

Maria stutze erst, als sie seinen Blick bemerkte, dann schien sie den Inhalt der nicht gestellten Frage begriffen zu haben. Sie grinste ihn an und nickte ganz leichte.

Irgendwie war beiden klar, dass Maria wieder die Ärmel benutzen wollte, aber so, dass es die anderen nicht mitbekamen. Paul gab sich große Mühe, das Cape so zu halten, dass Maria mit ihren Händen schnell die inneren Ärmel finden konnte. Zu ihrer beider Freude klappte es sehr gut, und Paul konnte Maria das Cape zu den Schultern hinaufziehen und den Reißverschluss mitsamt dem Kragenriegel schließen. Marias Augen strahlten.

Die anderen Musiker waren das Ritual des Cape-Anziehens von Mrs. Potter her schon gewohnt, und daher schenkten sie auch Paul keine besondere Aufmerksamkeit.

* * *

Der Mond schien ziemlich hell vom Himmel und tauchte die Nacht in ein romantisches Licht. Paul und Maria gingen langsam den Weg zu Marias Haus.

Paul versuchte an ihrer Seite sich an das langsame Tempo anzupassen. Er wurde mutig. »Schade, dass Du den Handschuh nicht trägst.«

Maria blieb verblüfft stehen und blickte ihn mit einem fragenden Gesicht an.

Paul versuchte seine Stimme möglichst ruhig klingen zu lassen, doch innerlich war er sehr aufgewühlt. »Ich dürfte dann wieder den Arm um Dich legen und Dich führen.«

Ganz langsam glitt ein Lächeln über Marias Gesicht. Sie ging langsam weiter, ohne Paul eine Antwort gegeben zu haben. Doch ihm fiel auf, dass sie auf einmal viel wackeliger auf den Beinen war. Zuerst bekam er einen Schreck und fragte sie, ob denn alles in Ordnung sei. Er schalt sich einen Narren, dass er seinem Wunsch nachgegeben hatte. Er hätte lieber an Marias Schutz denken sollen.

Sie blieb stehen und blickte Paul herausfordernd an. »Ich bin doch etwas unsicher auf den Beinen nach der anstrengenden Probe. Magst Du mich nicht führen?«

Paul legte zärtlich den Arm um Marias Schulter und spürte erfreut, wie sie sich auch etwas an ihn schmiegte.

* * *

Je näher sie dem Tor kamen, desto unruhiger wurde Paul. Es war ihm klar, dass er sich wegen Maria und seiner Begleitung vor Mrs. Potter rechtfertigen musste.

Er war sich zwar sicher, diesmal nichts verbotenes getan zu haben, aber wegen der Cape-Ärmel hatte er irgendwie doch ein schlechtes Gewissen. Andererseits, so versuchte er sich zu beruhigen, schienen sie Maria ja zu gefallen. Und sie hatte ihm extra noch einmal beteuert, dass sie nicht verboten waren.

Vor dem Tor blieben sie stehen und drehten sich zueinander. Maria flüsterte ein leises »Danke für den schönen Abend.«

Paul hielt Maria immer noch in seinem Arm. Es fiel ihm schwer zu antworten, denn er war ganz gefangen von Marias Nähe und gleichzeitig auch ihrer großen Hilflosigkeit, die sie sich selbst so gewünscht hatte. Er brummte so etwas wie ein »Gern geschehen.«

Maria begann sich in seinem Arm zu ihm hin zu drehen und Paul hatte das Gefühl, seinen Arm jetzt wegnehmen zu müssen. Doch als er einen Hauch des Enttäuschens über Marias Gesicht huschen sah, legte er den Arm wieder um sie.

Sie blickte ihn an. Sie schluckte. Dann sprach sie leise. »Ich würde mich sehr freuen, wenn Du morgen zu dem Konzert zum Zuhören kommen würdest.«

Paul blickte sie und obwohl dies schon fast nicht mehr möglich war, wurde er noch glücklicher. »Sehr gern komme ich morgen mit.«

Er hätte ihr gern ein Kompliment zu der Musik gemacht, doch da er während der Probe eingeschlafen war und Maria gegenüber sehr ehrlich sein wollte, konnte er sich im Moment noch kein Urteil erlauben. Er wäre ohnehin in den Kurpark gegangen, sein schlechtes Gewissen wegen des Einschlafens und des Traumes hatten ihm dies schon geraten.

Maria sprach weiter. »Danke für die Hilfe mit dem Cape.«

Paul erschrak auf einmal. Er hatte erkannt, dass Maria immer noch mit den Armen gefangen war und dass ihre Erzieherin es bemerken würde. Er blickte Maria sorgenvoll an: »Was wird sie bloß dazu sagen?«

Maria erkannte seinen Gedankengang und fühlte tief in sich so etwas wie Trotz. »Ich habe heute meinen freien Tag, da kann ich machen, was ich will.« Sie klang ziemlich gefestigt.

Paul blickte sie erstaunt an. »Du magst es, wenn Du so hilflos bist?«

Zuerst wurde Maria rot und schwieg etwas, dann blickte sie zu ihm auf und lächelte hintergründig. »Wenn Du mich jetzt küssen wolltest, könnte ich Dich nicht dran hindern.«

Paul war schon wieder verblüfft. Zwar war sie ihm ausgewichen auf die Frage nach der Hilflosigkeit, doch dafür hatte sie ihm ein sehr verlockendes Angebot gemacht. Trotzdem war Paul vorsichtig, denn er wollte auf keinen Fall ihre Hilflosigkeit ausnützen.

Er legte langsam und zärtlich beide Arme um sie und zog sie ganz langsam an sich heran. Marias Augen strahlten. Ihre Lippen kamen sich näher.

* * *

Mrs. Potter saß im Wohnzimmer und freute sich über den doch noch gelungenen Tag und auf die Rückkehr ihres Schützlings. Es war das erste Mal, dass sie ihr so viel Freiheit und Vertrauen entgegen brachte, und sie hoffte sehr, dass Maria sich richtig verhalten würde. So wie es im Programm vorgesehen war.

Dabei war es Marias Fehler gewesen, dass es fast ein sehr trauriger Tag geworden wäre, denn sie hatte es wirklich versäumt, etwas von der Extraprobe zu sagen.

Es war sehr gut, dass Paul da gewesen war. Den 90. Geburtstag hatte sie wirklich nicht absagen können, aber es hätte ihr fast das Herz gebrochen, Maria ihren Konzertauftritt verderben zu müssen, auf den sie sich schon so lange freute. Sie hätte es auch sehr unfair gefunden, wenn sie nur wegen des Programms Maria hätte so in die Schranken weisen müssen.

Sie hörte Schritte. Marias Stiefel waren dabei und jemand begleitete sie. Mrs. Potter ging an das Fenster und hoffte sehr, dass es Paul sein würde. Es wäre so schön, wenn Maria in ihm einen Freund finden würde.

Das helle Mondlicht erlaubte es, dass sie Maria und Paul vor dem Tor stehen sah. Voller Freude entdeckte sie, dass die beiden sich gerade küßten. Und auf den zweiten Blick sah es aus, als hätte Maria ihre Arme in den Capeärmeln stecken. Sie freute sich über beides.

Sie zog sich eine Jacke über und ging langsam vor das Haus, um Maria abzuholen. Sie war bis jetzt schon sehr zufrieden mit ihrem Schützling.

* * *

Paul und Maria blickten sich völlig verliebt in die Augen, als auf einmal die Schritte von Mrs. Potter zu hören waren. Paul nahm aus seiner Verliebtheit heraus den Mut, sich nicht von Maria zu lösen. Er wollte ihr zeigen, dass er zu Maria stand.

»Na, hattet ihr einen schönen Abend? Und wie war die Probe?« Mrs.Potter hatte sich extra Mühe gegeben, ihre Stimme möglichst freundlich klingen zu lassen.

Maria faßte sich als erstes. Sie blickte ihre Erzieherin erstaunt an. Sie stotterte trotzdem etwas. »Es... Es war sehr schön.« Es schien, als erwache sie gerade aus einem schönen Traum. »Ich darf bald die erste Stimme spielen.«

Mrs. Potter zeigte ehrliche Freude an der schönen Nachricht. Auch sie lobte Maria noch einmal für ihr schönes Flötenspiel.

»Seit ihr mit dem Cape und den Schlüsseln klargekommen?« Die Frage war mehr an Paul gerichtet und trotzdem zuckten beide bei dem Wort 'Cape' etwas zusammen.

Paul war zunächst nicht zu einer Antwort fähig. Er griff in seine Hosentasche und nahm zitternd das Schlüsselbund heraus. Er reichte es Mrs. Potter. »Es... Es...« Er stotterte noch mehr als Maria. »Es hat alles gut geklappt.«

Das schlechte Gewissen wegen der Cape-Ärmel war beiden auf die Stirn geschrieben.

Mrs. Potter war der Meinung, dass die beiden jetzt genug gelitten hatten. Sie wollten ihnen ein Zeichen geben. »Lassen sich die Ärmel gut tragen?« fragte sie mit ruhiger Stimme und blickte Maria dabei wohlwollend an.

Maria blickte sie völlig verwirrt an. »Aber wieso... Ich meine...«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Mund blieb offen stehen.

Die Stimme ihrer Erzieherin wurde noch etwas weicher. »Du hast heute Deinen freien Tag. Genieße es.«

Maria machte ihren Mund langsam wieder zu und nur langsam begriff sie, was ihre Erzieherin gerade gesagt hatte.

Diese blickte Maria noch einmal ermutigend an. »Du möchtest Paul vielleicht noch einen schönen Abschiedskuß geben, dann komm bitte ins Haus.« Sie drehte sich um und ließ die beiden total erstaunt und verwundert vor dem Tor stehen.

* * *

Maria kam sehr glücklich aus dem Bad und sah, dass ihre Erzieherin schon ihr Bett für die Nacht zurecht gemacht hatte. Auf dem Tisch, auf dem sich manchmal ganze Berge von Leder und Gummi häuften, lagen nur die beiden strengen Armkorsetts, die sie diese Nacht tragen würde, sowie das kleine Taillenkorsett.

Leise Musik war zu hören. Maria erkannte, dass es eines ihrer Lieblingsalben war. Sie überlegte. Dies konnte eigentlich nur eines bedeuten. Sollte der Tag wirklich so schön enden?

Und richtig, auf dem Nachttisch sah Maria etwas beschämt ihren Lieblingsvibrator liegen sowie ein extra Paket mit Batterien.

Auf dem Regal an der Wand sowie auf dem Nachttisch brannten ein paar Kerzen und tauchten den Raum in ein sehr warmes Licht.

Von draußen warf auch der Mond noch einen Gruß ins Zimmer, als wollte er Maria bei dieser schönen Nacht extra begleiten.

Leise schwebte die Musik im Raum.

Maria setzte sich auf das Bett und blickte ihre Erzieherin mit einer Mischung aus Glück und Verwunderung an. Sagen konnte sie in diesem Moment nichts.

Mrs. Potter blickte sie liebevoll an und streichelte ihr zärtlich über die Haare. Mit leiser geheimnisvoller Stimme sagte sie: »Ich komme dann in einer Stunde wieder, um Dir die Armkorsetts anzulegen. Aber sag Deiner Mutter nichts davon.«

Maria wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie hätte wohl aber auch kein Wort heraus bekommen.

Ihre Erzieherin blickte Maria noch einmal ermutigend an, dann ging sie langsam und leise hinaus.

Maria legte sich auf das Bett und schloß die Augen. Sie dachte an Paul und seine schönen Küsse. Dabei begann sie sich langsam und zärtlich zu streicheln.

Die Musik schwebte zauberhaft im Raum und das Kerzenlicht warf einen warmen Schimmer auf das Bett.

Zärtlich berührte sie ihren Körper und stellte sich dabei vor, es wäre Paul, der sie liebkoste.

In Gedanken ging sie die schöne Zeit an Pauls Seite noch einmal durch, und nur sehr langsam strichen ihre Hände dabei über ihren Körper.

Nach einiger Zeit griff sie langsam zum Nachttisch und nahm sich den vertrauten Vibrator in die Hand, ohne dabei die Augen aufzumachen.

Ein bekanntes leises Brummen mischte sich sanft mit der Musik. Langsam führte sie ihre Hand nach unten. In Gedanken spürte sie, wie ihre Arme von dem Handschuh umfaßt waren. Paul hatte sie darin so schön eingeschnürt. Und die Ärmel in dem Cape, bei denen Paul ihr geholfen hatte.

Paul...

Verträumt dachte sie an die zärtliche Umarmung und an die schönen Küsse.

* * *

»Na so wie Du strahlst, hast Du sie bestimmt geküßt.« Pauls Oma musste ihren Enkel nur einmal kurz ansehen.

Paul war verblüfft. Er wusste nicht, was er sagen sollte. So viel neues und seltsames war heute auf ihn eingeströmt.

»Das ist doch in Ordnung.« Sie wollte ihm Mut machen. »Ich freue mich für Dich.«

»Zuerst war Maria total traurig, weil sie nicht auf die Probe durfte.« Paul begann ihr vom Tag zu erzählen. »Aber dann hatte Mrs. Potter die Idee, dass ich sie begleiten könnte.«

Selma spürte, dass ihren Enkel noch etwas bedrückte. »Du hattest Angst, dass sie dich wieder zu etwas verbotenem überredet.«

»Es war das Cape, welches sie immer trägt.« Er erzählte ihr von dem seltsamen Verschluß und von den inneren Ärmeln, die Maria so unerwartet hilflos machten. Und davon, wie ihre Erzieherin am Schluß reagierte.

»Ich habe Dir doch gesagt, dass sie in Ordnung ist.«

Paul fiel ein, dass er seiner Oma auch von dem seltsamen Traum erzählen konnte. »Ich habe mich nicht getraut, es Maria zu erzählen, denn dann hätte ich ja zugeben müssen, dass ich während ihrer Probe eingeschlafen bin.«

»So so, Du konntest also die Matheaufgabe nicht lösen.« Sie musste lächeln. Sie kannte ihren Enkel gut genug um zu wissen, dass ihn so etwas schon sehr ärgerte.

Paul wollte sich rechtfertigen. »Da hat doch eine Angabe gefehlt.«

Oma Selma dachte einen Moment nach. Dann lächelte sie. »Der Traum wollte Dir etwas ganz anderes sagen.«

Paul blickte seine Oma erstaunt an.

»Wenn Du mit Maria zusammen bist, dann höre nicht auf Deinen Kopf, sondern folge Deinem Herzen.« Sie machte ein kleine Pause. »Tue, was Dein Gespür Dir sagt und sei sehr aufmerksam. Dann wirst Du erkennen, was nötig ist, damit ihr glücklich werdet!«