Maria – Das Katerinenfest
Autor: Karl Kollar
»'Es' ist passiert, genau so, wie ich es mir vorgestellt habe.« Frederike Bellers Begeisterung war durch das Telefon zu hören.
Mrs. Potter war eine erfahrende Erzieherin und wusste deswegen, dass dieses prägende Ereignis ihre Schützlinge stets etwas veränderte. Doch bezüglich Maria machte sie sich in dieser Richtung überhaupt keine Sorgen. »Paul tut ihr auch gut.«
Frederike war von der Entwicklung ihrer Tochter sehr angetan. Es hatte in der Klinik ein paar Ereignisse gegeben, die sie vermutlich mehr geprägt hatten als alles andere bisher. Sie blickte kurz auf die Liste der Sachen, die sie mit der Erzieherin ihrer Tochter besprechen wollte. »Das neue Korsett wird etwas später ankommen, es wird via Frachtflugzeug geliefert.«
»Wann soll sie es denn anziehen?« Mrs. Potter war zwar noch im Urlaub, doch mit den Themen der nächsten Tage hatte sie sich trotzdem schon beschäftigt. »Da ist doch nirgends ein freier Moment.«
»Sie könnten Recht haben.« Frederike lachte. »Obwohl ich mir einbilde, dass ich meine Tochter kenne. Wenn das neue Korsett geliefert wird, wird sie es bestimmt auch ausprobieren wollen.«
»Aber dafür wird sich doch kaum Zeit finden lassen.« Mrs. Potter versuchte so etwas wie einen Widerspruch.
»Unterschätzen sie Marias Willen nicht. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat...« Frederike versuchte, den latent aufsteigenden Stolz auf ihre Tochter zu übersehen. »Für eine wirksame 'Schöne Nacht' wird die Zeit bestimmt nicht reichen. Aber wenn sie das Korsett ausprobieren möchte, sollten sie ihr keine Steine in den Weg legen.«
»Sie meinen, sie wäre neugierig genug, dass sie es von sich aus tragen möchte?« Die Stimme der Erzieherin zeigte ihr Verwunderung.
»Sie hat in der letzten Zeit viele neue Erfahrungen damit gemacht.« Frederike hatte sich von dem Fortschritt der Prägung selbst überzeugen können. »Sie wird es sicher ausprobieren wollen, zumal es diesmal noch eine Nummer strenger ausgefallen ist.«
»Ich werde es ja sehen.« Mrs. Potter war bereit, die Wünsche ihres Schützlings zu berücksichtigen. »Und sonst, was ist für die nächste Zeit wichtig?«
»Das Fest hat natürlich oberste Priorität.« Frederike seufzte. »Gesundheitlich ist alles perfekt vorbereitet, und Maria schafft es, das Gebet bis zu acht Stunden zu tragen.«
»Gute Arbeit. Aber dazu wird es bestimmt nicht kommen.« Mrs Potter lächelte. »Etwas anderes, eine Reporterin Andrea Baseling möchte bei Marias Ankunft dabei sein. Sie hat sogar angeboten, uns zu fahren.«
»Was hat sie denn bisher so gemacht?« Frederike hatte bisher nicht nur gute Erfahrungen mit der Presse gemacht.
»Sie schreibt wöchentliche Artikel über das Fest und die Darsteller.« Marias Erzieherin gab ihre Erfahrungen mit der Reporterin wieder. »Sie hat bisher sehr fair geschrieben und unsere Einwände stets respektiert.«
Frederike wusste, dass die Mobilität ein schwieriges Thema war, da die Erzieherin solch lange Strecken nicht mehr gern fuhr, selbst wenn sie ein Auto gehabt hätte. Und das Taxi wäre zu teuer gekommen. »Warum nicht. Ein bisschen Öffentlichkeit schadet bestimmt nicht.«
»Was sagen denn die Herren vom Konsortium?« Mrs. Potter war an etwas Feedback durchaus interessiert. »Sind sie zufrieden mit unserer Arbeit und vor allem mit Marias Entwicklung?«
»Ich habe meinen letzten Bericht noch nicht abgeschickt.« Frederike seufzte. »Doch ich denke, ich muss den Herren etwas Wasser in den Wein gießen.«
»Warum denn das?« Mrs. Potter war über den Wandel im Tonfall verwundert.
»Wir hatten hier ein Mädchen in der Klinik, dessen Schicksal mir ein warnendes Beispiel war.« Frederike gab einen kurzen Überblick über die Ereignisse rund um Anna Kennedy, ohne allerdings den Familiennamen zu erwähnen.
»So eine arrogante Familie.« Mrs. Potter war über die Ereignisse ebenfalls empört.
»Demnächst ist mal wieder eine Besprechung vor Ort.« Frederike gab sich kämpferisch. »Für so etwas soll mein Programm nicht eingesetzt werden dürfen.«
»Aber können sie das verhindern?« Die Zweifel der Erzieherin waren deutlich zu hören.
»Vermutlich nicht.« Frederike seufzte. »Aber ich habe jetzt eine Bedingung hinein formuliert, die besagt, dass es vor Beginn des Programms eine Begutachtung durch eine unabhängige Psychologin geben muss. Und erst wenn die grünes Licht gibt, darf das Programm beginnen.«
»Das wird aber eine ziemliche Gratwanderung.« Mrs. Potter war etwas skeptisch. »Ob die Herren sich darauf einlassen werden?«
»Das ist dann aber nicht mein Problem.« Sie seufzte wieder. »Dieser Fall war mir ein warnendes Beispiel.«
»Haben sie denn schon eine Kandidatin für die Zeit nach Maria?« Mit dem Fest würde Marias Programm auslaufen, das wussten beide Frauen.
»Nein, bisher nicht.« Frederike blickte aus dem Fenster in den Himmel. »Jetzt möchte ich erst mal das Fest abwarten.«
»Maria wird es bestimmt bravourös hinter sich bringen, da bin ich sicher.« Trotz ihrer Professionalität schimmerte auch bei der erfahrenen Erzieherin so etwas wie Stolz durch.
Frederike hätte gern gefragt, wie sich Anna und Florian bei Pauls Oma machen, doch sie wusste, dass sie dann Gefahr lief, ihr Handeln nachträglich zu verraten. Es bestand die Möglichkeit, dass ihr Telefon abgehört wurde. So eine Aktion traute sie dieser Familie durchaus zu.
Immerhin war ihr angeblicher Fluchtwagen noch nicht gefunden worden, und deswegen war Annas Schicksal war im Moment noch ungeklärt. Frederike hatte schon mehrmals bei der Polizei nachgefragt, ob sie den Transporter schon gefunden hätten. Mehr konnte sie nicht tun, ohne sich verdächtig zu machen.
Die australische Polizei hatte schon mitgeteilt, dass die Einreise einer Anna Kennedy nicht stattgefunden hatte und dass sie deswegen noch in Amerika sein musste. Doch da der Flug auch einen Zwischenhalt in Singapur hatte, war die Suche nach ihr auch schon auf dieses Land ausgeweitet worden.
Das Warten kostete Nerven.
»Frau Beller?« Die Stimme von Mrs. Potter riss Frederike wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Entschuldigung, ich war in Gedanken.« Frederike war ein wenig verlegen. » Ich habe Paul jetzt offiziell zu Marias Schlüsselherrn gemacht. Wenn etwas sein sollte, sollten sie sich an ihn wenden und nicht die Reserveschlüssel benutzen.«
»Also so wie jetzt auch.« Mrs. Potter antwortete mit einer gewissen Nüchternheit. »Er hat sie ja ohnehin die meiste Zeit bei sich.«
»Ich vergaß, sie hatten mir ja schon davon berichtet.« Frederike lachte. »Ach noch etwas. Maria besitzt jetzt eine neue Art von Mundverschluss. Bitten sie sie, dass sie ihnen bei passender Gelegenheit das Gerät vorführt. Ich habe sie schon entsprechend instruiert.«
»Für das Fest?« Mrs. Potter erinnerte an den dicken Terminkalender.
»Auf dem Fest wird sie es sicher nicht tragen.« Marias Mutter wiegelte ab. »Aber falls sie damit spielen, sollten sie sofort wissen, was los ist.«
»Falls sie dafür überhaupt Zeit haben.« Die Erzieherin wusste, was in den nächsten Tagen so alles anlag.
»Wie schon gesagt, das erste Mal hat stattgefunden.« Frederike war über diesen Punkt erleichtert und bedrückt zugleich. »Falls sich in den nächsten Tagen eine Gelegenheit bietet, können sie sie ruhig gewähren lassen.«
»Seit sie auf dieser Hütte waren, sind sie etwas verändert.« Mrs. Potter war etwas nachdenklich. »Ich habe fast den Eindruck, dass ihnen die Fesseln wichtiger sind als der Geschlechtsverkehr.«
Frederikes Grinsen war fast durch das Telefon zu hören. »Ja, so etwas soll vorkommen.«
* * *
Das Auto, welches jetzt vor Selmas Haus hielt, sah aus wie ein normaler Kleinbus. Nur wenn man sich auskannte, hätte man an wenigen Indizien erkennen können, dass es sich in Wirklichkeit ein Fahrzeug aus dem diplomatischen Dienst handelte. Der Fahrer stieg aus und öffnete die große Schiebetür, dann half er Anna und Florian beim Aussteigen.
Die Beiden warteten, bis der Fahrer ihnen die Koffer aus dem Kofferraum geladen hatten, dann ergriff Florian die Gepäckstücke, und gemeinsam betraten sie langsam das Grundstück, auf dem Paul mit seiner Oma wohnte.
Anna blickte sich immer wieder nervös um. Nach der turbulenten Flucht und dem langen Flug war sie müde, obwohl sie im Flieger geschlafen hatte. Aber es war kein tiefer Schlaf, dafür war sie viel zu aufgeregt gewesen. Immer wieder hatte sie die Nähe von Florian gesucht und sich in seine Arme gekuschelt.
Selma hatte den Bus auch schon gehört und war neugierig zur Tür gegangen, als sie sah, dass sie unbekannten Besuch bekommen würde.
Anna und Florian gingen mit unsicheren Schritten bis zur Haustür. Florian stellte kurz die Koffer ab, während Anna die Papiere zur Hand nahm, die Frederike ihnen mitgegeben hatte. Fast gemeinsam drückten sie auf den Klingelknopf.
Selma wartete noch einige Momente, dann öffnete sie die Tür und trat heraus.
Anna reichte Selma den Zettel und einen verschlossenen Brief.
Selma begann den Zettel zu überfliegen.
»Sehr geehrte Frau Mohr,
dies sind Anna und Florian, sie sprechen kein Deutsch, nur Englisch. Bitten sie sie herein und sagen dem Fahrer, dass er weiter fahren kann. Alles weitere steht in dem Brief.
Vielen Dank für ihre Hilfe.
Frederike Beller, die Mutter von Maria.«
Erst als Selma den letzten Satz gesehen hatte, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. »Bitte kommt herein«, antwortete sie auf Englisch.
Anna und Florian hielten sich bei der Hand, sie blickten sich noch einmal an, dann traten sie ein.
Selma winkte dem Fahrer kurz, dann schloss sie die Tür. Es war ihr sofort aufgefallen, dass Anna und Florian einen sehr angespannten Eindruck machten. Sie führte ihre Gäste ins Wohnzimmer, wo Leonie gerade dabei war, den Tisch für das Abendbrot zu decken. Sie sah sofort, dass Anna zusammen zuckte, als sie Leonie in Ketten sah und auch Florian runzelte seine Stirn.
Anna war entsetzt, denn anscheinend waren die Frauen auch hier gefangen, sogar noch stärker als in der Klinik. Außerdem bemerkte sie bei dem fremden Mädchen neben den Ketten auch so etwas wie Angst. Sie fragte sich, ob ihre Familie sie nicht doch entführt und an einen geheimen Ort gebracht hatte.
Selma ahnte, dass es besser gewesen wäre, wenn sie erst den Brief gelesen hätte, doch jetzt musste sie sich den Ereignissen stellen. »Leonie, bringst du bitte etwas zu trinken für unsere Gäste?«
Leonie nickte langsam. Sie war es mittlerweile gewöhnt, dass sie wildfremde Leute in ihrer 'Uniform' zu Gesicht bekamen. Sie fragte sich immer wieder, in was für einem Haus sie hier bloß gelandet war.
»Bitte nehmt Platz.« Selma hatte die mehr als verwunderten, teilweise sogar verängstigen Gesichter bemerkt. »Ich werde es euch gleich alles erklären.« Sie setzte sich selbst auch und öffnete den Brief, dann begann sie zu lesen.
Leonie kam mit dem Getränke-Tablett zurück. Anna blickte sie an und als sie entdeckte, dass Leonie einen Knebel trug, wollte sie aufstehen und weglaufen. Doch Florian legte den Arm um sie. »Sie wird uns sicher erklären, was hier los ist.«
Selma blickte kurz vom Brief auf. »Leonie, setzte dich bitte neben uns.« Sie zeigte auf einen Stuhl.
Selma ließ den Brief sinken und blickte Anna und Florian lange an. »Willkommen in Europa.« Sie reichte Leonie den Brief. »Lies ihn bitte auch, damit du weißt, wer unsere Gäste sind.« Sie drehte sich wieder zu dem Paar. »Wie war der Flug?«
Florian hatte Mühe, Worte zu finden. »Danke gut.«
Selma wartete, bis Leonie den Brief ebenfalls gelesen hatte und ihn ehrfürchtig auf den Tisch gelegt hatte. »Leonie, du kannst Englisch sprechen?«
Leonie nickte. Sie hatte es auf dem Gymnasium gelernt und auch schon einen sehr interessanten Englandurlaub hinter sich.
»Du darfst dir den Knebel abnehmen.« Selma blickte kurz noch einmal auf den Brief. »Dann möchtest du Anna und Florian sicher erklären, warum du hier bist.« Selma fand es eine gute Gelegenheit zu erfahren, wie Leonie ihre Situation selbst einschätzte und was sie über ihre Zukunft sagen würde. Außerdem musste sie Leonie einmal die Wahrheit sagen, und sie ahnte, dass es jetzt vielleicht sogar der richtige Moment war.
Mit leiser Stimme begann Leonie zu erzählen. Es war ziemlich stockend, denn einerseits schämte sie sich, und andererseits hatte sie auch Probleme, die passenden englischen Begriffe zu finden.
Anna und Florian hörten aufmerksam zu. Nur als Leonie von den Ketten berichtete, die ihr dauerhaft angelegt waren, wurde Florian misstrauisch. »Erlaubst du, dass ich mal einen Blick darauf werfe?« Er kniete sich vor Leonie. »Ich habe Maschinenschlosser gelernt, und das glaube ich einfach nicht.«
Selma fragte sich insgeheim, wie Leonie wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass die Ketten abnehmbar waren.
»Hier ist eine ganz feine Naht.« Er hatte sich eine Handgelenk-Schelle von Leonie in die Hand genommen und sie ganz genau betrachtet. »Und hier ist ein winziges Loch.« Er stand wieder auf. »Eine sehr gute Arbeit.«
Leonie verstand immer weniger, was los war. »Frau Mohr, was bedeutet das alles?«
»Meine liebe Leonie«, Selmas Stimme klang sehr wichtig, als sie begann. »Du bist zu mir gekommen, um hier gefangen zu sein und ich habe dir diesen Wunsch erfüllt.« Es war ihr schon lange klar, dass sie Leonie eines Tages die Wahrheit sagen musste. Und jetzt war wohl der richtige Zeitpunkt gekommen, weil Anna und Florian für ein paar Tage bei ihnen wohnen würden. Außerdem war sie sehr gespannt, wie Leonie sich verhalten würde, wenn sie es erfuhr.
Leonie kämpfte lange mit sich selbst. Es brannte sie schon lange, mehr über ihre Zukunft zu erfahren und gleichermaßen wusste sie doch auch, dass sie es eigentlich gar nicht wissen wollte. »Was haben sie mit mir vor?«
»Meine liebe Leonie«, Selma wiederholte ihre Anrede, »Es ist schon sehr lange her, dass ich zuletzt ein Mädchen so erziehen und unter meine Fittiche nehmen durfte. Mit deinem Wunsch nach Gefangenschaft hast du alte Sehnsüchte in mir geweckt.«
Leonie blickte erstaunt auf.
»Ich hoffe, du bist mir nicht allzu böse, dass wir dir so eine Komödie vorgespielt haben.« Selmas Stimme zeigte ihre Verlegenheit.
»Komödie?« Leonie war verblüfft. »Die Ketten? Und der Käfig?«
»Ja, es war teuer.« Selma seufzte. »Doch das war es wert.«
»Sie haben das bezahlt?« Leonie blieb verwundert. »Warum?«
»Ich habe sofort gesehen, dass du von Doris und ihrer Lebensweise beeindruckt warst.« Selma machte eine bedeutsame Pause. »Ich habe dann gefragt, was so ein Käfig kosten würde und habe dann auch einen für dich anfertigen lassen.«
»Ja, es war ja auch toll.« Leonie bemerkte zu spät, was sie gerade aussprach, denn sie wurde rot. »Aber warum das alles?«
»Zum einen siehst du sehr gut aus mit den Fesseln.« Selma lächelte etwas verlegen. »Und zum anderen, erinnerst du dich an das erste Kaffeekränzchen, wo ich gefragt habe, ob sie dich nehmen würde?«
Auf einmal wurde Leonie alles klar. »Sie haben mich verkauft, um das Geld für den Käfig wieder zu bekommen.«
»Du Dummerchen.« Selma lachte. »Herr Greinert und Frau Bayer gehören zum Festvorstand. Ich habe einfach gefragt, ob du beim Festumzug mitmachen könntest.«
»Was für ein Fest?« Leonie begriff es immer noch nicht. »Und wieso mit den Ketten?«
»Das Katerinenfest.« Selma holte tief Luft. »Maria wird bei der Heimkehr von der Schlacht in Ketten als Geisel präsentiert. Du und Doris werdet sie als Dienerinnen begleiten.«
Leonie machte ein so verblüfftes Gesicht, dass sogar Anna und Florian in das Lachen einstimmten, obwohl sie der Unterhaltung nicht folgen konnten.
Doch auf einmal begriff Leonie, dass ihre gewünschte Gefangenschaft jetzt wohl zu Ende war. Sie äußerte dies.
Selma fiel dieser Gedanken in diesem Moment auch ein. Sie nahm sich noch einmal den Brief zur Hand und las einen Abschnitt noch einmal vor. »Annas Körper ist im Moment an diverse Restriktionen gewöhnt und es wäre ein Fehler, dies abrupt zu beenden. Am sinnvollsten wäre eine langsame Abgewöhnung.« Sie übersetzte es, damit Anna und Florian es auch verstanden hatten. Sie sprach auf Englisch weiter. »Wie wäre es, wenn wir ein Spiel daraus machen.«
»Was für ein Spiel?« Anna horchte auf.
»Anna und Leonie, ihr seid hier gefangen.« Sie blickte zu Florian. »Und Florian macht den 'Kerkermeister'.«
Anna erkannte auf einmal, dass Selma ihr so eine Brücke baute. Sie war zwar sehr froh, wenn sie das Korsett bald wieder ablegen durfte, doch der Monohandschuh war etwas eher Angenehmes. Sie trug ihn eigentlich gern, weil er ihre Brüste so hervorstehen ließ. Und Florian war dann auch immer besonders aufmerksam.
Andererseits wusste sie auch, dass sie es nie von ihm verlangen konnte, denn er hatte sich geschworen, ihr keine Gewalt mehr antun. Mit dem vorgeschlagenen Spiel hätten sie jedoch beide einen Weg gefunden, ihren Wünschen nachzukommen, ohne den Partner vor den Kopf zu stoßen. Denn schließlich erforderte es das Spiel so.
Und außerdem war Anna zuversichtlich, dass er sicher bald erkennen würde, dass sie den Handschuh in Wirklichkeit gern trug.
»Bis Sonntag könnten wir das Spiel auf jeden Fall spielen«, gab Selma als Ausblick.
»Und dann?« Leonie verfluchte sich, weil sie schon wieder so vorlaut war. »Entschuldigung, ich glaube, ich sollte wieder schweigen.« Sie griff zu dem Knebelgeschirr, der vor ihr auf dem Tisch lag.
»Am Montag habt ihr einen Termin im Arbeitsamt. Frau Beller hat das schon veranlasst. Bis dahin könnt ihr euch überlegen, was ihr machen wollt.« Sie blickte zu Leonie, die schon dabei war, die Riemen des Knebels festzuziehen. »Warte bitte. Wie wäre es, wenn du unseren Gästen das Haus zeigst? Ich schaue in der Zwischenzeit einmal nach frischer Bettwäsche.«
Leonie befreite sich etwas verlegen von dem Knebel und legte ihn wieder vor sich auf den Tisch, dann stand sie auf.
»Die Ketten stören dich nicht?« Anna war ebenfalls aufgestanden und stand neugierig vor Leonie. Fasziniert nahm sie das Metall in die Hand.
»Sie stören mich überhaupt nicht«, hörte Leonie sich selbst antworten. »Das ständige Klirren erinnert mich an meinen Status.« In diesem Moment klang sie fast verliebt.
»Aber du bist doch frei?« Anna war verwundert.
»Ich weiß«, Leonie war etwas verlegen. »Aber bis eben habe ich hier wirklich meinen Traum gelebt. Ich war nicht mehr für mich verantwortlich.«
Auf einmal hatte Selma eine Idee. »Wie wäre es, wenn wir uns deinen Zustand bis zum Fest sozusagen behördlich genehmigen lassen?«
»Das verstehe ich nicht!« Leonie war verwundert.
»Du wurdest sehr spät für die Rolle ausgesucht.« Selma machte eine bedeutsame Pause. »Dann hat doch sicher keiner etwas dagegen, wenn du für die Rolle trainierst und die Ketten auch draußen trägst?«
»Und das wird keinen Ärger machen?« Leonie dachte etwas verschreckt an ihre ersten Abenteuer, die oft in einem Desaster und einmal sogar bei der Polizei geendet hatten.
»Wir gehen auf die Polizei und versichern, dass du für das Fest trainieren musst.« Selma versuchte überzeugt zu klingen. Doch insgeheim war sie nicht sicher, ob ihre Idee wirklich umsetzbar sein würde. »Dann stellen sie dir sicher ein Attest oder so etwas ähnliches aus, mit dem du dich im Zweifelsfall ausweisen kannst.«
»Wenn das möglich wäre?« Leonies Stimme war auf einmal leise.
»Du wirst Anna und Florian die nächsten Tage begleiten und für sie übersetzen.« Selma blickte auf Leonies Ketten. »Mit deinem Schmuck.«
»Würdest du das tun?« Florian war erleichtert. Besonders über diesen Punkt hatten sie sich auf dem Flug schon Sorgen gemacht.
»Und das dürfte ich in Ketten machen?« Leonie wollte es nicht so richtig glauben. Auf einmal begannen bei ihr ein paar Tränen zu fließen. »Das war immer schon mein Traum. Die geheimnisvolle Frau, die in Fesseln lebt.«
* * *
Sie hatte bereut, mehr als einmal. Sophie von Harsumstal lag auf dem Bett und wartete. Es war ihr selbst nicht ganz klar, auf was sie wartete, doch es war im Moment ihre einzige Tätigkeit.
Immer wieder gingen ihr die Worte ihres Vaters durch den Kopf, als er zu Beginn ihres Martyriums neben ihrem Bett stand und sie die Augen öffnete. »So wirst du bist zum Fest bleiben, du machst mir diese Gelegenheit nicht kaputt.«
Anfangs hatte sie noch versucht, sich aus dem dicken Gipspanzer zu befreien. Doch sie musste sehr bald feststellen, dass es zwar viel Kraft kostete, sich der Gips aber keinen Millimeter bewegte.
Sie hatte viel Zeit zum Nachdenken. Zum Nachdenken und zum Bereuen.
Sie hatte sich immer als der Star der Gesellschaft gefühlt, doch keiner ihrer angeblichen Freunde hatte sie je besucht. Nur einen Besuch hatte sie bekommen, und der war auch noch von einem Mädchen, das sie gar nicht kannte. Natürlich hatte sie verstanden, wer sie da besucht hatte. Es war das Mädchen, welches an ihrer Stelle auf dem Fest die Katerina spielen würde.
Das Fest. Sophie war schon vor sieben Jahren für das Fest ausgewählt, doch seit dem Tod ihrer Mutter war es ihr zunehmend gleichgültig geworden.
Je öfter sie an ihr bisheriges Leben zurück dachte und sich an die Stelle ihrer vermeintlichen Freunde versetzte, desto mehr wurde ihr bewusst, wie schlecht sie sie behandelt hatte. Echte Freunde hatte sie auf diese Weise nicht gewonnen, dies wurde ihr nun immer deutlicher klar.
Sie begann zu begreifen, wie leer eigentlich ihr Leben bisher gewesen war, in das sie sich nach dem Tod ihrer geliebten Mutter geflüchtet hatte. Ihren Vater hatte sie nicht an sich heran gelassen, und sie hatte ihm nicht erlaubt, ihr Halt zu geben. Und schon gar nicht hatte sie ihm in seinem eigenen Kummer beigestanden, wie ihr nun bewusst wurde. Stattdessen hatte sie ihre Launen an all den Menschen in ihrer Umgebung ausgelassen.
Sie war sich sicher, wenn sie jemals hier heraus kommen würde, und dessen war sie sich nicht sicher, dann würde sie ein neues Leben beginnen. Sie würde alles Bisherige hinter sich lassen, und vor allem würde sie sich bei vielen Leuten entschuldigen. Es gab viele, denen sie bewusst oder unbewusst weh getan hatte, allen voran der Butler ihres Vaters. Er hatte wohl am meisten unter ihren Launen gelitten.
Sie hätte gern gewusst, was damals bei ihrem angeblichen Unfall eigentlich passiert war. Immer wieder gingen ihr die letzten Bilder, an die sich noch erinnern konnte, durch den Kopf. Sie hatte mit dem Cabrio an der Ampel gehalten und sich für die Männer im Nachbarauto in Position geworfen. Danach wurde es schwarz vor ihren Augen.
Als sie wieder zu sich kam, konnte sie ihren Kopf nicht mehr bewegen, und als sie die Augen öffnete, blickte sie auf die weiße Decke ihres Zimmers. Anfangs glaubte sie wahnsinnig zu werden, weil sie immer die gleiche Stelle anstarren musste, an der die Reste einer toten Mücke zu sehen waren. Deren verbleibende Beine und Flügel hatte sie nun schon oft genug gezählt.
Wenn sie sich nur verständlich machen könnte, dann würde sie eine Schwester bitten, ihr einen Spiegel über dem Kopf zu montieren. Damit könnte sie wenigstens aus dem Fenster sehen, anstatt immer nur die Decke mit der toten Mücke anstarren zu müssen. So nahm sie es als Strafe für ihr bisheriges Leben. Mit ihrer Arroganz hatte sie sicher viele Leute vor den Kopf gestoßen, es war also richtig so, dass sie jetzt dafür bestraft wurde.
Nach einigen Wochen hatten die Schwestern begonnen, sie vormittags und nachmittags bei schönem Wetter nach draußen zu fahren. Es war so angenehm gewesen, mal etwas anderes als die Zimmerdecke zu sehen. Sie blickte dann oft in den Himmel und sah den Wolken nach. Ab und zu flog ein Vogel vorbei und sie fragte sich, wie es wohl wäre, so fliegen zu können. Zum ersten Mal entdeckte sie, wie schön der Himmel und die Wolken sein konnten.
Nur bei Regen konnte sie nicht hinaus, aber dafür hatten ihr die Schwester das Fenster aufgemacht, damit sie den Regentropfen zuhören konnte. Manchmal zählte sie die Tropfen, die sie hörte.
Die andere Abwechslung war die tägliche Visite, die irgendwie immer vom Chefarzt durchgeführt wurde.
Anfangs hatte sie es noch für richtig befunden, vom Chefarzt begutachtet zu werden, doch einmal war auch ihr Vater dabei. Sie konnte den Worten nicht ganz folgen, weil sie sehr leise sprachen, doch sie begriff, dass er sie anscheinend verraten hatte.
Ein anderes Mal waren zwei Polizisten gekommen, die ihre Aussage aufnehmen wollten. Einer von ihnen hatte scheinbar die Hoffnung, von ihr eine Reaktion zu bekommen, wenn er ihr den Unfallbericht vorlas. Natürlich waren sie in Begleitung des Chefarztes.
Erst von den Polizisten erfuhr sie, was angeblich passiert sein sollte. Sie sollte an der Teufelskurve verunglückt sein sollte. Das kam ihr etwas seltsam vor, denn das Letzte, an was sie sich noch erinnern konnte, war der Halt an der Ampel, doch das war in der Innenstadt gewesen. So weit raus aufs Land fuhr sie sonst eigentlich nicht.
Die einzigen regelmäßigen Kontakte, die sie hatte, waren die Schwestern, die sie regelmäßig mit Essen über ihre Magensonde versorgten und ihre Infusionen wechselten. Und auch bei denen spürte sie zumindest am Anfang kein Mitleid.
Besonders heftig war zu Beginn der tägliche Einlauf, denn sie bekam. Doch schon bald sehnte sie sich danach, denn er war die einzige Abwechslung in ihrem traurigen Tagesablauf. Es tat zwar weh, besonders wenn sie es mit der Flüssigkeitsmenge übertrieben hatten, doch sie fand den Schmerz sogar angenehm, denn er zeigte ihr, dass es noch Leben in ihren Körper noch gab.
An der linken Hand war durch den Gips war ein medizinischer Zugang gelegt, durch den sie regelmäßig mit Medikamenten versorgt wurde.
Bald kannte sie den Dienstplan der Schwester auswendig, und sie wusste immer schon vorher, wer ihr Zimmer betreten würde. Anfangs waren die Krankenschwestern schweigsam, doch nach einigen Wochen begannen sie mit ihr zu reden, obwohl sie natürlich wussten, dass sie nicht antworten konnte.
Ein einziges Mal gab es eine wirkliche Abwechslung. Ein junges Mädchen hatte sie besucht. Sophie wusste erst nicht, wer sie war, doch sie hatte sich gleich vorgestellt. Es war das Mädchen, das an ihrer Stelle die Katerina spielen würde. Sie war lange an ihrem Bett geblieben und hatte ihr aus ihrem Leben erzählt. Es hatte so gut getan, einmal etwas Abwechselung zu erleben.
Sophie hatte sich vorgenommen, sich bei ihr zu bedanken, falls sie jemals aus dem Krankenhaus heraus kommen würde.
Sie hatte bald aufgehört, die Tage zu zählen, denn je größer die Zahl wurde, desto frustrierter wurde sie. Was war wohl bloß passiert, dass sie diesen Gipspanzer tragen musste. Einmal hatte eine Schwester, die anscheinend Mitleid mit ihr hatte, ihr mit einem Spiegel ihren Körper gezeigt und zu ihren Erschaudern sah sie nur eine weiße Gipshülle.
(Anmerkung des Autors: Das folgende Stück ist sehr christlich religiös geprägt, doch ich bin sicher, dass es mit anderen Religionen genauso funktionieren würde)
Eine der Schwestern schien echtes Mitleid mit ihr zu haben, denn sie kam oft an ihr Bett und las ihr aus der Bibel vor. Früher hätte Sophie darüber nur gelacht, doch jetzt gaben ihr die Worte der Schwester als Einziges echten Trost und die einzige Abwechslung in ihrem traurigen Alltag. Sophie war nie besonders religiös gewesen, doch in Ermangelung anderer Betätigung ließen sich ihre Gedanken nun auf die Bibelgeschichten und die dazugehörigen Bilder ein, die dabei vor ihrem inneren Augen entstanden.
Und wenn sie danach wieder einmal in den Himmel blicken konnte, dann sah sie alles vor sich. Das Paradies, das ihr wegen ihrem Vorleben sicher verschlossen blieb und die Hölle, die sicher auf sie warten würde.
Eine Stelle in der Bibel bewegte sie besonders. Es ging um die Vergebung der Sünden. Wenn Jesus sogar dieser Sünderin vergeben hatte, vielleicht gab es dann für sie selbst auch noch etwas Hoffnung. Wenn sie in Zukunft ein ordentliches Leben führen würde, vielleicht war es dann für sie doch noch nicht zu spät, und die sprichwörtliche Hölle könnte ihr doch erspart bleiben.
Sophie sehnte sich die Vorlese-Momente regelrecht herbei und bei einigen Stellen weinte sie sogar. Doch dann stellte sie sich noch eine andere Frage. Würde sie ihrem Vater vergeben? Sie war sich mittlerweile sicher, dass sie ihm alles zu verdanken hatte, und dass er sie aus dem Verkehr ziehen musste, weil sie ansonsten das Fest gefährdet hätte.
Mittlerweile hatte sie begonnen, ihre Muskeln wieder zu trainieren, indem sie sie immer wieder gegen die festhaltenden Riemen anspannte, und dabei fühlte sie außer dem zu erwartenden Muskelkater keine Schmerzen – es schien alles in Ordnung zu sein, und immer mehr argwöhnte sie, dass sie aus anderen als medizinischen Gründen hier festgehalten wurde – hinter denen ihr Vater und der Chefarzt zu stecken schienen.
Es brauchte noch die eine oder andere Bibelstelle, bis sie davon überzeugt war, dass sie sich alles selbst zuzuschreiben hatte, und dass sie mit ihrem Verhalten ihren Vater quasi zu diesen Handlungen gezwungen hatte.
Immer wieder gingen ihr auch die Worte von Maria durch den Kopf, ihrem einzigen Besuch überhaupt. Es war so selbstlos von ihr gewesen, und dennoch hatten ihr Marias Worte Kraft gegeben. Kraft, sich mit ihren Zustand abzufinden.
Sie hatte sich schon lange überlegt, was sie tun würde, falls sie jemals wieder frei sein sollte. Ihr erster Weg würde sie in eine Kirche führen und danach wollte sie sich bei Maria bedanken.
Sie fragte sich, wie sie ihrem Vater begegnen sollte. Sie wusste, dass sie ihn eigentlich wegen Freiheitsberaubung anzeigen musste, doch das würde sie vermutlich nicht übers Herz bringen. Er hatte sie zwar übel behandelt, doch das hatte sie mit ihrem bisherigen Lebenswandel sich selbst zuzuschreiben.
Wenn sie es genau bedachte, hatte er sie mit seinem Handeln erst zu dieser bewegungslosen Untätigkeit gezwungen, und damit auch zum Nachdenken. Ohne diese Gefangenschaft erst in Gips und nun in Riemen hätte sie nie über ihr Leben nachgedacht, und auch nie den Entschluss gefasst, es zu ändern. Vielleicht hatte ihr Vater damit ja letztendlich tatsächlich Gutes getan, und sie musste ihm sogar dankbar sein.
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn bewegte sie besonders, aber dabei sah sie nicht den Baron als ihren Vater, sondern zunächst einmal Gott. Er würde sie wieder in seine Arme schließen, egal wie lästerlich ihr bisheriger Lebenswandel auch gewesen war. Dabei hatte sie seit ihrer Konfirmation keine Kirche mehr von innen gesehen. Und dann würde sie vielleicht auch wieder ein paar echte Freunde finden, für die zur Abwechslung einmal sie selbst da sein würde…
Einmal kam auch so etwas wie ein Pfarrer vorbei. Er hatte sich als der Klinikseelsorger vorgestellt. Er wollte sie eigentlich zu den Gottesdiensten einladen, doch als er ihren Zustand gesehen hatte, holte er die diensthabende Schwester zu sich und bat sie darum, zu den Gottesdienstzeiten doch das Klinik-interne Radio an zumachen, damit Sophie den Gottesdiensten wenigstens akustisch folgen könne.
Es war die eine der wenigen Abwechslungen, die es für Sophie gab, und sie fühlte, wie es ihr geistige Kraft gab. Immer wenn sie danach in dem kleinen Innenhof in den Himmel blickte, dann glaubte sie Gott nahe zu sein. Und er gab ihr Kraft, ihren Zustand zu ertragen.
Sie fragte sich immer wieder, ob sie ihrem Vater verzeihen könne. Immerhin hatte er sie letztendlich davor bewahrt, auf die schiefe Bahn abzurutschen. Und es hätte auch nicht mehr viel gefehlt. Bei der letzten Party hatten sie nicht nur geraucht, es hatte auch jemand etwas Pulver zum Schnupfen dabei gehabt. Mit Schaudern erinnerte sie sich daran, dass sie damals beschlossen hatte, sich diese Erfahrung öfter zu gönnen…
Das Katerinenfest. In den ersten zwei Jahren nach ihrer Nominierung hatte sie sich noch darauf gefreut, doch seit dem Tod ihrer Mutter war es ihr zunehmend egal geworden.
Die Baronin hatte ihrer Tochter schon als kleines Mädchen von dem Fest vorgeschwärmt, wie schön und stolz die Prinzessin immer aussahen, und wie sehr sie davon träumte, ihr kleines Mädchen dort einmal als die stolze und brave Prinzessin zu sehen. Für ihre Mutter hatte sie eingewilligt, als sie als Katerina nominiert wurde, und für ihre Mutter wollte sie Prinzessin sein.
Doch nach dem Tod ihrer Mutter gab es diese Motivation nicht mehr, und entsprechend niemanden, für den sie stolz und brav sein wollte. Den Spaß im Leben hatten schließlich nicht die braven Mädchen…
Ihre Mutter. Was würde sie wohl machen, wenn es sie heute noch geben würde?
Immer wenn Sophie mit ihrem Krankenbett in dem kleinen Innenhof stand und in den Himmel sehen konnte, dann sah sie ihre Mutter in Gedanken vor sich. Sie blickte auf sie herunter und sie war unendlich traurig über das, was aus ihrer Tochter geworden war. Sophie schämte sich deswegen.
Sie fragte schon lange nicht mehr nach dem Warum, sie hatte es durch ihren bisherigen Lebenswandel und ihre bestimmt sehr herablassende Art verdient, dessen war sich mittlerweile sicher.
Sie blickte in den Himmel und fragte sich, ob ihre Mutter ihr vielleicht schon verziehen hatte. Sie hatte ihr oft versichert, dass sie sich nun bessern würde. Sie sagte ihr gegenüber, dass sie nur durch die falschen Freunde auf die falsche Bahn gelockt wurde und sie hoffe, nun den Absprung zu finden. Und sie hatte erkannt, um wessen Freundschaft sie sich zu bemühen hatte.
Ein Moment war ihr besonders in Erinnerung geblieben. Der Chefarzt war mit einigen anderen Weißkitteln herein gekommen, und er musste über ihren Zustand berichten. Sie verstand zwar kaum etwas, doch sie erkannte an der Stimmung, dass etwas nicht in Ordnung war.
Schon am nächsten Tag wurde sie mit ihrem Bett in einen neuen Raum geschoben. Wieder dauerte es eine Ewigkeit, bis etwas passierte. Auf einmal hörte sie ein leises, aber intensives Kreischen. Später sollte sie erfahren, dass es eine Gipssäge war.
Als erstes wurde ihr Bein aus dem Gips befreit und als sie das realisierte, schlug ihr Herz hoch. Endlich würden sie sie befreien. Doch als sie ihr Bein bewegen wollte, stellte sie fest, dass ihre Muskel ihr nicht mehr gehorchten. Sie hatten sich wegen der wochenlangen Untätigkeit zurückgebildet.
Ihre Nerven hingegen funktionierten noch und diese sagten ihr, dass sie fast überall festgeschnallt wurde. Sie konnte später erkennen, dass sie alle zehn Zentimeter ein Riemen an ihr Bett fesselte.
Das gleiche passiert mit ihrem anderen Bein und auch mit ihren Armen. Sophie erschrak noch mehr, als sie realisierte, dass ihre Armmuskeln ihr auch nicht mehr gehorchten. »Sie müssen die Bewegungen erst wieder trainieren«, hatte ihr der Chefarzt gesagt. Doch auch ihre Arme wurden von den Schwestern sofort festgeschnallt. Eine Begründung gab es dafür nicht.
* * *
»Morgen kommt Maria aus den Staaten zurück.« Baron Harsumstal beugte sich über die Papiere, die vor ihm ausgebreitet waren.
»Weißt du, mit welchem Flieger?« Sein Neffe Franz-Ferdinand war sehr an Maria interessiert, seit er von seinem Onkel von dem Preisgeld erfahren hatte.
»Nein!« Es störte den Baron ein wenig, dass sein Neffe im Moment wie eine Klette an Maria hing. Andererseits ging es um viel Geld, und es war durchaus wichtig, dass auch jemand von ihrer Seite auf die Hauptdarstellerin aufpassen würde.
Er hatte mehrfach in den USA in der Klinik angerufen und sich nach Marias Fortschritten erkundigt. Was er gehört hatte, hatte ihn recht optimistisch gestimmt. Maria würde das Gebet auf jeden Fall tragen. Er könne ganz beruhigt sein.
Gleich nach dem Fest würde es passieren. Er hatte extra dafür gesorgt, dass der übliche Fototermin bei ihm im Schloss stattfinden würde. Dort sollte es ein leichtes sein, die anderen abzulenken, Maria aus dem Verkehr zu ziehen und sich dann mit dem Geld abzusetzen.
Was aus seiner verdammten Tochter wurde, war ihm mittlerweile egal, schließlich hatte er ihr den ganzen Schlamassel zu verdanken. Irgendwann würde sie bestimmt jemand in dem Keller finden und falls nicht, könnte er immer noch der Polizei anonym einen Hinweis geben.
Er wusste, dass ihm die Polizei dicht auf den Fersen war. Nur sein bisher guter Kontakt zu Kommissar Klüver hatte ihn bisher davor bewahrt, jetzt schon aufzufliegen.
Mittwoch, 15. September 1984
Die Reporterin Andrea Baseling hatte sich vor allem deswegen für das Fahren angeboten, weil sie wusste, dass sie in den nächsten Tagen bei Maria keinen Interview-Termin bekommen würde. Doch wenn sie sie vom Flughafen abholen würde, könnte sie auf der langen Fahrt sicher die eine oder andere Antwort bekommen.
Und sie hatte einige Fragen. Sie hätte gern gewusst, was Maria in den fast drei Wochen wohl gemacht hatte, und warum es so wichtig war, dass es nicht verschoben werden konnte.
Bei einem ihrer letzten Interviews hatte Mrs. Potter ihr ungewollt verraten, dass ihr die Rückkehr von Maria Sorgen bereitete. Weder sie noch Pauls Oma hätten ein Auto, und so hätten sie Maria mit dem teuren Taxi abholen müssen. Der eigentlich organisierte Fahrer hatte kurzfristig absagen müssen.
Schon damals hatte Andrea ihr angeboten, für sie zu fahren, noch bevor sie überhaupt wusste, dass sie den Reaktionsbus bekommen würde. Doch sie hatte sofort die einmalige Chance erkannt.
Sie hatte sich gegenüber den beiden Familien ein gewisses Vertrauen aufgebaut, dadurch, dass sie bei weitem nicht alles, was sie erfuhr, auch wirklich in ihren Artikeln benutzte. Sie hatte sich für ihre 16-teilige Serie über das Fest und ihre Hauptdarstellerin gut vorbereitet und einige Interview-Termine ausgemacht. Zwei davon waren ihr in besonders guter Erinnerung geblieben, weil sie so krass verschieden waren.
* * *
Bei den anderen Lehrern, die Maria für das Fest unterrichtet hatten, war sie schon gewesen, und alle hatte ihr nur Gutes über Maria erzählt. Als letztes aus dieser Reihe stand jetzt ihr Besuch bei Herrn Weiterer an.
Alle hatten sie vor diesem Besuch gewarnt und ihr gesagt, dass sie nicht zu viel erwarten solle. Herr Weiterer hätte keine gute Meinung über die Vertreter ihrer Zunft, und er war auch bei den vergangenen Festen eher durch Schweigsamkeit aufgefallen.
Von Frau Bayer hatte sie einen Tipp bekommen, der ihr vielleicht helfen konnte. Sie solle erst ihr Anliegen vortragen und sich dann erst vorstellen. Es wäre vielleicht unhöflich, doch sonst würde sich Herr Weiterer sofort verschließen.
Andrea war für diese Hinweise zwar sehr dankbar, doch sie kannte den Herrn schon. Sie hatte ihn unter einem Vorwand aufgesucht und einen Monohandschuh probiert. Sie hoffte sehr, dass sie jetzt davon profitieren konnte.
Er stand in dem kleinen Vorgarten und zupfte etwas an den Rosen herum, als Andrea näher kam.
»Guten Tag, Herr Weiterer. Ich schreibe die Berichte über Maria und das Katerinenfest und würde sie auch gern etwas fragen.« Sie hoffte, dass es die richtige Wortwahl war.
Als sie Maria gesagt hatte, blickte der alte Mann zu ihr. »Frau Baseling. Richtig?«
Andrea bestätigte es. Innerlich hielt sie Luft an.
»Von ihnen ist die Serie in diesem Käseblatt?« Er hielt sich mit seiner Meinung nicht zurück.
»Ja.« Andrea holte tief Luft. »Ich arbeite für den Landsbacher Boten.«
»Ich wusste gar nicht, dass dort auch anständige Leute arbeiten.« Herr Weiterer deutete auf die Bank, die vor dem Haus stand.
Andrea war zunächst etwas empört über die 'Unterstellung', und erst in letzter Sekunde begriff sie, dass er ihr ein außergewöhnliches Kompliment gemacht hatte. »Danke.« Sie stammelte in diesem Moment etwas. Langsam folgte sie ihm zu der kleinen Bank.
»Hier hat sie gesessen, zusammen mit ihrem Mann.« Der alte Herr sprach leise, doch er war gut zu verstehen.
Andrea brauchte erst einen Moment, bis sie erkannte, dass er Maria meinte. Doch es lag soviel Ehrfurcht in seinen Worten, dass sie nicht nachfragte. Sie spürte, dass sie ihre Worte sorgfältig wählen musste. »Sie haben sie unterrichtet?«
»Wissen sie, die Mädchen kamen sonst immer so naiv und unerfahren zu mir, und so gut wie alle konnte ich so formen, wie es die Rolle erfordert hat.« Er machte eine sentimentale Pause. »Doch Maria war ganz anders.«
»Inwiefern war sie anders?« Normalerweise hätte Andrea nur 'Inwiefern' gefragt, doch sie spürte, dass ihr Gegenüber es schätzte, wenn sie ihre Fragen in ganzen Sätzen stellte.
»Sie ist perfekt.« Herr Weiterer war sichtlich bewegt. »Schon als sie zu mir kam, spürte ich sofort, dass sie etwas Besonderes ist.«
»Das haben sie auch gleich beim ersten Mal gespürt?« Andrea biss sich nachträglich auf die Zunge, denn diese Frage wollte sie ihm eigentlich nicht stellen.
Doch zu ihrer Erleichterung lächelte ihr Gegenüber. »Sie sind sehr gut informiert.« Er sah ihr kurz ins Gesicht, dann wandte sich sein Blick wieder in die Ferne. »Bei ihrem ersten Besuch habe ich sie doch wirklich mit diesem Luder verwechselt. Ich hatte einfach nicht mitbekommen, dass die Darstellerin ausgewechselt wurde.«
»Und dann haben sie sie unterrichtet?« Andrea tat, als würde sie sich etwas notieren.
»On nein!« Er seufzte leicht. »Ich konnte ihr nichts mehr beibringen. Sie hatte schon mehrere Jahre Training hinter sich und ihre Muskulatur war an die Haltung gewöhnt.«
Andrea erinnerte sich, dass sie auch von anderen Seiten ähnliches gehört hatte.
»Sie ist so talentiert, sie könnte sogar die Originalhaltung tragen.« Seine Stimme hatte etwas Schwärmerisches.
Andrea hielt innerlich den Atem an. Schon oft war im Zusammenhang mit Marias Auftritt der Begriff 'Originalhaltung' gefallen, doch sie hatte bisher nie in Erfahrung bringen können, was dies wirklich bedeutete.
Natürlich kannte sie diverse Tricks, um Leute aushorchen zu können, doch sie spürte, dass sie diese in diesem Moment verbaten. »Was ist denn die Originalhaltung?« Sie versuchte ihre Stimme ganz banal klingen zu lassen, doch innerlich war sie zum Bersten angespannt.
»Die Haltung ist über die Jahre in Vergessenheit geraten.« Herr Weiterer erzählte mit ruhiger Stimme, dass er die Beschreibung und eine Zeichnung dazu in den Unterlagen des Festes gefunden hatte. »Aber ich glaube, diese Papiere gibt es nicht mehr.«
Andrea hielt innerlich den Atem an. Sie wusste, dass sie jetzt nichts fragen durfte.
»Es sieht ungefähr so aus.« Er hob seine Arme vor den Körper und legte seine Ellenbogen aneinander. Seine Hände lagen dabei flach aufeinander. »Und das auf dem Rücken.«
»Auf...« Andrea war sprachlos. »Auf dem Rücken?«
»Sie kennen die Geschichte, die zu dem Fest geführt hat?« Herr Weiterer hatte seine Arme wieder heruntergelegt.
»Ich kenne sie nur ein wenig.« Es fiel Andrea schwer, immer in ganzen Sätzen zu antworten, doch sie spürte, dass dies von dem alten Herrn geschätzt wurde.
»Der alte Herzog wollte nicht, dass sein Sohn die Grafentochter heiratet.« Er gab den Inhalt der Geschichte wieder. »Und mit dieser grausamen Armhaltung wollte er seinem Sohn die Hochzeit vermasseln.«
Andrea war in diesem Moment sehr von der Geschichte als auch von dem alten Herrn fasziniert. »Aber es hat nicht funktioniert?« Was sie erfuhr, füllte einige Lücken in ihrem Wissen über das Fest.
»Genau aus diesem Grund wird Maria mit ihrem Mann bald vor dem Altar stehen.« Fast unauffällig brachte der alte Mann Andreas Gedanken wieder in die Gegenwart.
»Und sie haben Maria unterrichtet.« Andrea wollte zurück zum eigentlichen Zweck ihres Besuches kommen.
»Oh nein! Es gab nichts, was ich ihr noch hätte beibringen können.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Aber ich rechne es ihr hoch an, dass sie trotzdem zu den vereinbarten Stunden gekommen ist.«
Andrea begriff, wie sehr der alte Herr von Maria beeindruckt war.
»Was werden sie nun über mich schreiben?« Herr Weiterer blickte sie fragend an.
Fast hätte Andrea ihre Selbstbeherrschung verloren, erst im letzten Moment hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Sie wollte eigentlich nur einen allgemeinen Artikel über Marias Ausbildung schreiben, doch die letzte Frage bewirkte, das sie ihr Konzept änderte. »Erzählen sie mir etwas von den Mädchen, die sie ausbilden durften. Was waren die schönsten Momente?«
»Ich freue mich schon sehr, wenn Maria vor dem Altar stehen wird.« Er seufzte. »Das ist für mich immer der Höhepunkt.« Mit leiser Stimme begann er zu erzählen.
* * *
Mit einem Kloß im Hals musste sie daran denken, dass er ihr Angebot, den Artikel zu lesen, bevor sie ihn in den Druck gab zu lesen, abgelehnt hatte. »Sie werden das schon richtig machen«, hatte er ihr geantwortet. »Sie sind anders als ihre sonstige Zunft.«
Sie lächelte und während sie an der Ampel auf Grün wartete, musste sie an den anderen Besuch denken, der ebenso kurz wie seltsam gewesen war.
* * *
Sie hatte die Baroness in der Klinik besuchen wollen. Und nachdem sie wusste, dass die Presse in der Klinik äußert ungern gesehen wurde, hatte sie ihr Äußeres etwas auf mondän geändert, inklusive einer blonden Perücke und einer Sonnenbrille. Sie hoffte, so als einen der vielen Freundinnen von Sophie durchzugehen und problemlos Zutritt zu bekommen.
Doch schon als sie an der Auskunft nach der Zimmernummer der Baroness fragte, begannen die Seltsamkeiten. Die diensthabende Schwester griff sofort zum Telefon und wählte eine Nummer. »Chef, hier ist eine Frau, die die Baroness besuchen möchte.« Die Schwester musterte Andrea sehr auffällig. »Sie sagt, sie wäre eine Freundin von ihr.«
Die Schwester lauschte der Antwort, dann wandte sie sich an Andrea. »Gehen sie bitte auf die Station fünf und melden sie sich im Schwesternzimmer. Es wird sie dort jemand abholen und zur Baroness bringen.«
* * *
Der Chefarzt Albert Vogel legte auf und verständigte zunächst das entsprechende Schwesternzimmer. »Unternehmen sie bitte nichts, ich werde mich persönlich um sie kümmern. Bieten sie ihr einen Kaffee an und versuchen sie heraus zukriegen, wer sie wirklich ist.« Er holte tief Lust. »Bisher hat sich noch keine ihrer angeblichen Freundinnen hier blicken lassen.«
Er legte auf und wählte die nächste Nummer. Er wartete, bis der Butler des Barons seinen Herrn an das Telefon geholt hatte. Er hielt sich nicht mit Höflichkeiten auf. »Albert hier. Friedrich, du musst deine Tochter hier herausholen. Jetzt ist jemand da, der vorgibt, ihre Freundin zu sein.«
Der Baron wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wimmle sie ab.«
»Da wäre noch etwas, was du wissen musst.« Albert sprach etwas leiser. »Wir mussten ihr gestern den Gipsverband abnehmen. Es ist bei einer Routineprüfung aufgefallen.«
»In welchem Zustand ist sie jetzt?«
»Sie ist auf dem Bett fixiert und trägt einen Mundverschluss.« Er blätterte kurz in den Unterlagen. »Sie hat versucht, eine Schwester zu beißen. Zumindest habe ich das in den Bericht geschrieben, deswegen wurde ihr der Maulkorb angelegt. Hole sie bitte hier heraus, ich kriege sonst großen Ärger.«
»Wie soll ich das machen, ohne das es auffällt?« Der Baron stöhnte. Noch mehr Probleme konnte er eigentlich nicht brauchen.
»Ich stelle dir Papiere aus für die Verlegung in eine andere Klinik, ihr müsst sie dann nur noch abholen.«
»Ich werde mich darum kümmern.« Der Baron legte auf, dann drehte er sich zu seinem Butler. »Sagen sie meinem Neffen, dass ich ihn jetzt brauche.«
* * *
Andrea wunderte sich. Beim letzten Besuch lag die Baroness auf einer anderen Station. Sie ging ins Schwesterzimmer, wie es ihr die Dame vom Empfang gesagt hatte. Zu ihrem Erstaunen war es leer.
Ihrem Reporterinstinkt folgend blickte sie sich um und fand nach kurzer Zeit die Patientenliste mit den jeweiligen Raumnummern. Sie suchte sich das Zimmer der Baroness und prägte sich die Raumnummer ein, dann verließ sie das Schwesternzimmer wieder.
Es war das Zimmer am Ende des langen Ganges, und zu ihrer Überraschung war es verschlossen.
»Was machen sie hier?« hörte Andrea eine energische Stimme hinter sich.
»Ich wollte die Baroness besuchen.« Andrea drehte sich um und erblickte die Oberschwester. Ihr Namensschild wies sie als solche aus.
»Die Baroness bekommt keinen Besuch, Anweisung vom Chef«, antwortete die Oberschwester mit kalter Stimme. Sie musterte Andrea von oben bis unten.
»Aber...?« Andrea versuchte zu widersprechen.
»Welchen Teil von 'keinen Besuch' haben sie nicht verstanden?« Die Oberschwester zeigte mit ihrem Arm zum Ausgang.
Andrea blieb nichts anderes über, als die Klinik wieder zu verlassen.
* * *
Die Reporterin hatte zuerst Marias Erzieherin abgeholt, jetzt hielt sie vor dem Haus von Pauls Oma. Mrs. Potter stieg aus und kam gleich darauf mit Selma zurück.
»Danke, dass sie uns fahren wollen.« Selma schnallte sich an. »Wir hätten uns sonst ein Taxi nehmen müssen.«
»Das ist doch selbstverständlich.« Andrea tat dies natürlich, um Stoff für ihre nächsten Artikel zu bekommen. Für die Rückkehr aus Amerika hatte sie sogar einen eigenen Artikel geplant.
»Aber sie machen das doch nicht nur aus reiner Nächstenliebe?« Mrs. Potter sprach ihre Gedanken aus.
Andrea spürte, dass sie für Gut-Wetter sorgen musste. »Ja, sie haben recht.« Sie war in diesem Moment ehrlich etwas verlegen. »Ich möchte über die Ankunft von Maria und vor allem über ihre Zeit in Amerika einen eigenen Artikel schreiben.«
»Ich habe ihre bisherige Serie verfolgt.« Selma schnallte sich an. »Sehr gute Arbeit, und vor allem fair geschrieben.«
»Danke.« Andrea war über das Lob sichtlich irritiert.
»Ich will mich ja nicht in ihre Arbeit einmischen«, Mrs. Potter hoffte, den richtigen Ton zu treffen. »Doch sie nutzen nicht alles Material, was sie haben?«
»Sie haben recht.« Andrea war verwundert. »Ich möchte einen Spannungsbogen aufbauen, der über alle Artikel reicht. Und dafür muss ich mein Wissen gut verteilen.« Andrea startete den Motor und fuhr los.
An der ersten roten Ampel griff sie in ihre Jackentasche und fühlte nach ihrem Diktiergerät. Sie nahm es heraus und zeigte es den beiden Damen, die auf der ersten Rückbank saßen. »Erlauben sie, dass ich das Gerät anschalte? Ich kann mich dann leichter auf den Verkehr konzentrieren.«
Sowohl Selma als auch Dorothea hatten nichts dagegen.
Andrea war erleichtert. Sie hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie das Gerät ohne Wissen ihrer Mitfahrerinnen genutzt hätte, oder wenn sie sich die Unterhaltung hätte einprägen müssen. So würde sie alles Wichtige nach hören können.
»Was wollen sie wissen?« Mrs. Potter blickte kurz auf das Diktiergerät.
»Eigentlich habe ich gar keine Fragen.« Andrea war immer noch etwas verlegen. »Ich wollte einfach bei Marias Ankunft dabei sein. Das Gerät macht es mir nur leichter, mir auch Details zu merken.« Sie spürte das Misstrauen der beiden Damen und sah sich deswegen gezwungen, sich etwas zu öffnen. »Ich verfolge gerade eine heiße Spur rund um die Baroness.«
»Man hat schon lange nichts mehr von dem Partyluder gehört.« Selma mischte sich ein.
»Das liegt daran, dass sie angeblich einen Unfall hatte und jetzt im Krankenhaus liegt.« Andrea bog ab auf die Autobahn.
»Sie meinen, das war gar kein Unfall?« Mrs. Potter war der Zweifel in der Stimme von Andrea aufgefallen.
»Es gibt im Zusammenhang mit ihrem Unfall so viele Ungereimtheiten.« Andrea berichtete, dass sie an der Stelle gewesen war, an der sich der Unfall ereignet haben soll. »Es gab weder Bremsspuren noch zeigte der betreffende Baum irgendwelche Beschädigungen. Ich habe extra unter einem Vorwand bei der Straßenmeisterei nachgefragt, sie wussten auch nichts von einem Unfall.«
»Aber warum sollte dieser Unfall nur fingiert sein?« Selma war verwundert. »Das macht doch überhaupt keinen Sinn.«
»Irgendjemand hat großes Interesse daran, dass die Baroness auf dem Fest nicht auftritt.« Andrea war mit ihren Äußerungen bewusst vorsichtig.
»Ich kann mich noch an den Termin von damals erinnern.« Mrs. Potter erzählte von der ersten Begegnung in dem Zusammenhang mit dem Fest. »Der Baron war bei uns und hat gefragt, ob Maria die Stellvertretung für seine Tochter sein könnte. Und gleich am Tag nach unserer Zusage hatte Sophie den Unfall.«
»Ich habe einen Verdacht gegen ihren Vater, doch bislang kann ich es nicht beweisen.« Andrea fühlte, dass sie den beiden Frauen vertrauen konnte. »Aber es wäre eine Ungeheuerlichkeit. Mir ist bisher kein Motiv eingefallen, warum er so etwas tun sollte.«
»Naja.« Selma spekulierte. »Vielleicht ist er ja zur Einsicht gekommen, dass seine Tochter ein Partyluder ist und damit für das Fest nicht mehr geeignet ist.«
»Er hat große Geldsorgen.« Andrea drehte kurz ihren Kopf nach hinten.
»Woher wissen sie das?« Die beiden Frauen fragten es fast gleichzeitig. Für Klatsch auf hohem Niveau waren sie auch empfänglich.
»Eine meiner Freundinnen arbeitet...« Die Reporterin stutzte. »Ich sollte meine Informanten nicht verraten.« Sie lächelte etwas verlegen. »Ich habe verlässliche Quellen.« Es war Andrea unangenehm, dass sie kurz davor gewesen war, eben diese Quellen zu verraten. Sie versuchte eine Ablenkung. »Ich war vor kurzem noch mal bei Schwerterles. Ich wollte einen Artikel über Marias Ausrüstung geschrieben und wollte den Hersteller der Ketten interviewen.«
Selma schmunzelte ein wenig. »Die Tochter Doris ist wirklich faszinierend.«
»Ertappt.« Andrea lachte. »Ich war sehr gespannt, ob sie die Ketten immer trägt und bin extra ohne Anmeldung hingegangen.«
»Die Ketten sind gar nicht so teuer.« Selma berichtete, dass sie vor kurzem selbst ein Set in Auftrag gegeben hatte. »Und sie arbeiten schnell.«
Andrea stöhnte leise.
»Und wenn sie etwas Werbung für sie machen, dann könnten sie sie bestimmt billiger bekommen.« Selma ahnte, was die Reporterin wirklich bewegte. »Ihren Hans wird das bestimmt freuen.«
Andrea wurde auf einmal knallrot. Wieder versuchte sie einen Themenwechsel. »Mein Bekannter bei der Polizei hat mir berichtet, dass es auch bei der Aufnahme des Unfalls sehr seltsam zuging. Laut Bericht war das Auto schon abtransportiert und Sophie lag bewusstlos und blutüberströmt im Sanker. Sie konnten nur noch die Zeugenaussagen der Sanitäter aufnehmen.«
»Sie meinen, es hätte den Unfall überhaupt nicht gegeben.« Mrs. Potter griff den Gedanken auf. »Und Sophie sollte nur aus dem Verkehr gezogen werden?«
»Alle Indizien, die ich habe, deuten daraufhin.« Andrea seufzte. »Aber ich finde kein Motiv. Warum sollte der Baron einen solchen Aufwand treiben, wenn er Sophies Auftritt verhindern wollte? Das macht einfach keinen Sinn, zumal er in großen Geldsorgen steckt.«
* * *
»Gleich sind wir am Flughafen.« Andrea verließ die Autobahn. »Wann soll die Maschine landen?«
Mrs. Potter nannte die Uhrzeit. »Wir haben noch etwas Zeit. Dürfen wir sie noch auf einen Kaffee einladen?«
»Danke, gern.« Andrea nahm die Einladung gern an.
* * *
»Es wäre dann soweit.« Die Stewardess Frau Baer war neben die Sitze von Paul und Maria getreten. »In Kürze werden wir landen.«
Maria blickte ihren Freund aufgeregt an. Auf diesen Moment hatten sie sich gemeinsam schon lange gefreut. Maria würde den Flieger mit einem kleinen Triumph verlassen. »Seht her, ich habe es geschafft.«
Ursprünglich wollte sie vor allem Paul damit überraschen, doch jetzt saß er schon neben ihr. Ihr Plan war, mit dem Gebet zu landen und es sich dann in der Halle gleich nach der Begrüßung wieder abnehmen zu lassen. Sie hatte diesen Traum schon immer gehabt, seit sie regelmäßig in der Klinik gewesen war, damals aber noch mit dem Monohandschuh.
Dieses Jahr hatte sie endlich den Mut gehabt, mit ihrer Mutter darüber zu reden, obwohl sie ahnte, dass es nicht möglich sein würde. Doch zu ihrer Überraschung hatte es der Herzog Breganza möglich gemacht, als er von dem Wunsch erfahren hatte. Er hatte die nötigen Kontakte und konnte die Verbindung zur Fluggesellschaft herstellen. Frederike musste der Stewardess dann nur noch das Korsett vorstellen und erklären.
Paul war einerseits skeptisch, weil dieser Wunsch so außergewöhnlich war, andererseits wusste er, dass Maria seit ihrem Intensivtraining dazu problemlos in der Lage war. Seine Hände zitterten etwas, als er die Riemen herauskramte, während Maria in ihrem Handgepäck das eigentliche Venuskorsett transportiert hatte. Als sie seine zitternden Hände sah, musste sie schmunzeln. »Bekommst du das Gebet angelegt oder ich?«
Paul war etwas verlegen. »Es ist trotzdem etwas Aufregendes, vor allem vor ganz fremden Leuten.« Er blickte sich kurz um und blickte auf die wenigen Leute, die auch in der ersten Klasse flogen.
»Es ist wie im Traum.« Maria stand auf und platzierte das Korsett auf ihren Sitz, dann legte sie ihre Arme auf den Rücken. »Kannst anfangen.«
Sie hatten alle nötigen Handgriffe ausführlich geübt, dennoch war Paul etwas verunsichert, als er Marias Arme auf dem Rücken fixierte. Frau Baer assistierte ihm dabei und beruhigte nebenbei auch die anderen Passagiere. »Es ist eine Überraschung für ihre Verwandten, die sie abholten.«
Während ihre Arme langsam unter dem Korsett verschwanden, bemerkte Maria, wie sie von einem Mädchen beobachtet wurde, die offensichtlich mit ihren Eltern unterwegs war. Maria schätzte, dass sie nur ein wenig jünger war als sie selbst. »Tut das nicht weh?« fragte schließlich ihre Mutter, die ihrerseits ihre Tochter beobachtet hatte und deren Interesse festgestellt hat.
Maria hatte einige Schwierigkeiten, Worte zu finden. »Ich habe das lange trainiert.«
»Und wofür braucht man das?« Die Mutter zeigte ebenfalls etwas Neugier.
Maria wollte schon davon schwärmen, dass sie es für das Katerinenfest brauchte, doch dann besann sie sich. In den Staaten war es egal gewesen, wem sie davon erzählt hatte, doch auf dem Flug nach München wollte sie sich lieber etwas zurückhalten. »Es ist für die Rolle, die ich in einen Historienspiel spiele.« Sie blickte Paul warnend an. »Wir waren in einer Klinik, um die Haltung zu trainieren.«
»Und warum tragen sie sie jetzt?« Die Mutter zeigte ebenfalls einiges Interesse.
»Ich möchte jemand überraschen.« Sie blickte zu Paul und lächelte ihm zu. »Eigentlich sollte es ja dir gelten.«
»Der Prinz fühlt sich geehrt.« Paul lächelte zurück.
»Und wie lange müssen sie das tragen?« Frau Baer fragte interessiert, während sie Paul bei den Riemen assistierte.
»Ich hoffe, dass ich im Auto wieder frei bin.« Sie blickte Paul herausfordernd an.
»Mal sehen.« Paul zwinkerte und gab sich etwas geheimnisvoll.
Über Marias auf dem Rücken fixierte Arme wurde dann das Korsett geschnürt. Es war in Weiss gehalten, so dass es unter der dazu passenden Bluse nicht auffiel. Die Bluse war noch ein Geschenk ihrer Mutter gewesen; es war ganz spezieller Schnitt ohne Ärmel, passend für das Korsett gemacht.
Frau Baer hielt das Korsett in Position und Paul schnürte es zu.
Gerade als sie fertig waren, leuchtete das Anschnallzeichen auf. »Bitte nehmen sie Platz und schnallen sie sich an, der Landeanflug beginnt.« Gleich darauf erkannte sie, dass Maria dieser Bitte nicht mehr nachkommen konnte. »Darf ich sie festschnallen?«
Maria hatte einige Mühe, ihre Erregung zu verbergen. Sie zeigte ein leises Zittern, während sie verlegen nickte.
* * *
»Willkommen in München.« Die Stimme des Piloten ertönte aus dem Lautsprecher. »Bitte bleiben sie noch einen Moment sitzen, es müssen vorher noch ein paar Formalitäten geprüft werden.«
Kaum hatte er es ausgesprochen, als Paul neben dem Flugzeug einen Streifenwagen herankommen sah. Zwei Beamte stiegen aus und kamen die herangerollte Treppe hinauf. Gleich darauf öffnete sich die Bord-Tür. Die beiden Beamten, eine davon war eine Frau, traten ein und wurden von der Chefstewardess begrüßt.
»Wir suchen Maria Beller.« Die Beamtin sprach, während ihr Kollege seinen Blick durch das Flugzeug gleiten lies. »Führen sie uns bitte zu ihr.«
»Sie sitzt hier gleich in der zweiten Reihe.« Frau Baer war sichtlich verunsichert.
»Frau Beller?« Die Beamtin blickte Maria ernst an.
Maria bestätigte es mit einem Zittern in der Stimme.
»Bitte kommen sie mit uns«, forderte sie die Beamtin im gleichen Tonfall auf.
»Paul, machst du mich bitte los?« Maria hatte etwas Ängstliches im Blick.
Ihr Freund kam der Aufforderung nach und betätigte den Gurt, dann löste er auch seinen Gurt und wollte aufstehen.
»Sie bleiben bitte sitzen.« Die Beamtin blickte ihn ernst an.
»Wo bringen sie Maria hin?« Seine Stimme zitterte vor innerer Erregung.
»Zu uns auf die Wache.« Die Beamtin blickte ihn ernst, aber nicht unfreundlich an.
Maria erhob sich unsicher und trat auf den Gang, dann ging sie der Beamtin wortlos hinterher. An der Flugzeugtür blickte sie stehen und blickte noch einmal zu Paul zurück, doch die Polizistin schob sie sanft aus dem Flugzeug auf die Treppe.
Aus dem Fenster konnte Paul sehen, wie Maria zu dem Streifenwagen geführt wurde und einstieg. Nach einer kurzen Diskussion beugte sich die Beamtin hinein und kam gleich darauf wieder heraus, um vorn Platz zu nehmen.
Paul ahnte trotz seiner Verzweiflung, dass die Beamtin Maria erst anschnallen musste. Gleich darauf ging das Blaulicht an dem Wagen an und er fuhr mit hoher Geschwindigkeit davon.
Paul sank fast traumatisiert in den Sitz zurück. Maria trug das Gebet, und er konnte sie nicht schützen. Erst als die Stewardess ihn an stupse, kam er wieder zu sich. »Sie müssen jetzt aussteigen.«
»Ja, natürlich.« Paul musste sich erst innerlich schütteln, dann konnte er der Aufforderung nachkommen.
»Hier, nehmen sie bitte auch Marias Handgepäck mit.« Frau Baer reichte ihm die Sachen, die Maria liegengelassen hatte.
* * *
»Kann ich dich mal einen Moment sprechen? Anna schläft gerade.« Florian hatte bei Leonie angeklopft, und nach ihrem 'Herein' war er eingetreten.
Leonie räkelte sich etwas in ihrem Käfig, dann blickte sie auf. »Was ist denn, Florian?«
»Ich mache mir etwas Sorgen um Anna.« Seine Stimme klang in der Tat sehr besorgt. »Sie lässt sich zwar nichts anmerken, aber ich habe das Gefühl, dass sie sich immer noch gefangen fühlt.«
Leonie musste lächeln. »Ich glaube, da bin ich wohl auch ein schlechtes Vorbild.« Sie lachte ein wenig über ihre Selbstironie.
»Wir sind beide sehr dankbar für die große Hilfe.« Er flüsterte nur. »Aber hier ist sie doch auch gefangen, wenn auch ganz anders.« Er berichtete über das, was Anna und er bisher erlebt hatten.
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst.« Sie kroch vor zur Tür ihres Käfigs und öffnete sie. Als sie Florians verwunderten Blick sah, lächelte sie verlegen. »Ich glaube, das ist wichtig genug.« Nur nebenbei fiel ihr auf, wie leicht es ihr fiel, sich auf Englisch zu unterhalten.
Ganz zu Beginn ihres großen Abenteuers war ihr Käfig tatsächlich mit einem echten Schloss verschlossen. Doch schon am nächsten Tag hatte Frau Mohr sie auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die so ein verschlossener Käfig mit sich brachte. Seitdem war der Käfig nur durch ihr Ehrenwort verschlossen, und Leonie fühlte damit nicht weniger eingesperrt damit.
Sie kroch aus dem Käfig, stand auf und räkelte sich etwas. »Komm, wir gehen zu ihr.« Ihre Ketten klirrten fast liebevoll.
»Zu deiner Oma?« Florian kam aus dem Staunen nicht heraus.
»Sie ist nicht meine Oma.« Leonie stutzte. »Aber das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich später mal.«
Doch Selma war nicht da. Erst als Leonie es bemerkte, fiel ihr ein, dass sie mit zwei anderen Frauen auf dem Weg nach München waren, um Maria vom Flieger abzuholen. Sie äußerte dies.
»Schade.« Florian blickte etwas ratlos auf das leere Wohnzimmer.
Leonie dachte kurz nach. »Und wenn wir in den Garten gehen? Ich glaube, etwas Sonne könnte mir auch gut tun.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Florian, »ich gehe Anna wecken.«
»Der Rasen müsste aber dringend gemäht werden.« Florian strich mit der Hand über die Grashalme. Anna schmiegte sich an ihn.
»Ich glaube, das macht Paul.« Leonie dachte nach. »Und manchmal der Nachbar.«
»Weißt du, wo der Rasenmäher ist?« Florian hatte eine Idee. »Ich denke, deine Nicht-Oma wird nichts dagegen haben.«
»In dem kleinen Schuppen müsste einer sein.« Leonie zeigte mit der Hand in den Garten, zumindest soweit es ihre Ketten erlaubten.
»Ich schaue mal nach.« Florian löste sich von Anna und ging zu dem kleinen Schuppen, dessen Tür nur angelehnt war. »Hier ist einer.« Er schob einen alten mechanischen Rasenmäher heraus.
Leonie war zusammen mit Anna näher gekommen. »Es müsste auch noch einen mit Motor geben, aber der wird wohl im Haus sein.«
»Macht nichts, etwas körperliche Betätigung tut mir auch gut.« Florian lachte, doch dann hielt er kurz inne. »Warte mal.« Er ging noch einmal zurück zum Schuppen und holte einen Rechen heraus. Er reichte ihn Anna. »Magst du mir helfen?«
»Gern.« Anna war noch etwas zögerlich. »Was muss ich tun?« Sie wollte nur ungern zugeben, dass sie bisher so gut wie noch nie arbeiten musste.
»Ich mähe, und du fegst mit dem Rechen den losen Rasen auf einen Haufen.« Er betätigte kurz den Rasenmäher, um ihr zu zeigen, was er meinte.
Doch kaum hatten sie zusammen begonnen, als Anna regelrecht aufblühte. »Seit ewiger Zeit tue ich endlich einmal etwas sinnvolles.«
Leonie war erleichtert. Annas schien wirklich etwas fröhlicher als bisher. Die Luft tat ihr gut und auch das Arbeiten schien ihr Freude zu machen.
* * *
Tausend Gedanken gingen Paul durch den Kopf, während er am Transportband stand und auf die zwei Koffer wartete. Was würde die Polizei wohl von Maria wollen? Würde Maria in ihrer Hilflosigkeit zurecht kommen? Und was würde passieren, wenn sie Marias gefesselte Arme entdecken würden?
Etwas traurig nahm er seine Koffer vom Band, dann ging er langsam zum Ausgang.
Mrs. Potter, Andrea und Selma sahen sofort, dass etwas Einschneidendes passiert sein musste.
»Maria wurde von der Polizei aus dem Flieger geholt.« Paul ließ die Koffer neben seiner Oma sinken. »Wir hatten das so schön geplant, und Maria wollte euch mit der richtigen Armhaltung auf dem Rücken überraschen.«
»Was ist damit gemeint: Mit der 'richtigen'? Trägt sie den Handschuh?« Andrea war sofort hellwach. Die Ankunft von Maria verlief anscheinend mit viel mehr Dramatik, als sie erwartet hatte.
Paul realisierte nicht, dass die Reporterin auch dabei war. »Sie trägt die Arme in der Originalhaltung, wir wollten euch überraschen, und dann hätte ich sie wieder befreit.« Er schluckte heftig. »Jetzt wurde sie von der Polizei abgeholt.«
Andrea spürte, dass hier ihre Hilfe gefordert war. Ihren Artikel stellte sie hinten an. »Beschreibe mir bitte noch mal, was sich im Flugzeug abgespielt hat.«
Paul versuchte, alle Einzelheiten genau wieder zu geben, obwohl die ganze Aktion nicht mehr als zwei Minuten gedauert hatte.
»Lassen sie uns zur Flughafen-Polizei gehen.« Andrea hatte auf einmal eine grimmige Miene. »Die müssten doch Bescheid wissen.«
Auf dem Weg zur Polizeistation fiel Paul auf, dass er seine Oma noch gar nicht begrüßt hatte. Doch das konnte warten. Jetzt war erst mal wichtig, herauszukriegen, was mit Maria passiert war.
Die Beamtin am Schalter der Flughafenpolizei war nett und freundlich, doch in der Sache hart. »Ja, wir wissen über den Vorgang Bescheid.«
»Und wo ist Maria jetzt?« Pauls Stimme war sehr aufgebracht.
»Es tut mir leid, darüber dürfen wir ihnen keine Auskünfte geben.« Es war der Beamtin anzusehen, dass sie es wirklich bedauerte.
»Ich möchte sofort ihren Vorgesetzen sprechen.« Andrea zeigte auf die Tür zum Nachbarzimmer. »Ist er dort drin?«
»Ja, aber sie ...« Die Beamte stockte im Satz, denn Andrea war schon in den Raum gestürzt und hatte die Tür hinter sich geschlossen.
Gleich darauf kam sie wieder heraus, und an der Tür drehte sie sich noch einmal nach innen. »Vielen Dank für ihr Verständnis und ihr Entgegenkommen.« Dann wandte sie sich an Paul und seine Begleiterinnen. »Kommen sie bitte mit, ich muss dringend telefonieren.«
»Wo ist Maria?« Pauls Tonfall hatte sich noch nicht verändert.
»Sie wird nach Landsbach gebracht, auf die dortige Wache.« Andreas Stimme zeigte ihre Empörung.
»Wie haben sie das herausgefunden?« Mrs. Potter war von den Ereignissen noch sehr erschüttert.
»Ich habe ihnen gesagt, dass Maria dringend medizinische Hilfe braucht und dass wir wissen müssen, wo sie hingebracht wird.« Andrea lächelte. »Wenn ich das mit den Armen richtig verstanden habe, dann ist das ja nicht mal gelogen.«
Erst jetzt realisierte Paul, dass es ja die Reporterin Andrea Baseling war, die sich mit einiger Energie auf die Suche nach Maria gemacht. »Warum helfen sie uns?«
»Das erkläre ich euch später.« Andrea keuchte vor innerer Anspannung. Das erste Mal konnte sie ihre Kontakte wirklich sinnvoll einsetzen und war nicht nur auf der Jagd nach Informationen.
Sie ging sehr zielstrebig zu einer Telefonzelle. Sie wartete, bis die anderen sie erreicht hatten, dann warf sie ein paar Münzen ein und wählte eine Nummer. »Ich weiß, ich soll hier nicht anrufen, aber es ist ein Notfall.« Sie schilderte, was sie von Paul erfahren hatte. »Seid ihr über den Vorgang informiert?«
Es dauerte lange, bis eine Antwort kam. Andrea keuchte. »Und was wird ihr vorgeworfen?« Ihre Stimme war mehr als empört. Sie lauschte. »Aber das ist doch hanebüchener Unsinn.« Sie knallte den Hörer auf die Gabel und warf neues Geld ein.
»Herr Steinhagen bitte. Sagen sie ihm bitte, es sei dringend.« Andrea wartete.
»Maria Beller wurde aus dem Flugzeug heraus verhaftet.« Andreas Stimme überschlug sich fast. »Ihr wird vorgeworfen, die Baroness aus dem Weg geräumt zu haben, damit sie die Katerina spielen kann.«
Nach kurzer Pause sprach sie weiter. »Offiziell darf ich das nicht wissen, aber ich habe meine Kontakte.«
»Ich danke ihnen.« Sie legte auf und blickte sich um. »Er wird das Nötige veranlassen. Jetzt sollten wir schleunigst nach Landsbach zurück fahren.«
* * *
»Woher haben sie eigentlich so einen guten Kontakt zu Rudolf, ich meine Herrn Steinhagen?« Mrs. Potter fragte es, nachdem Andrea mit dem Bus wieder der Autobahn war.
»Das ist schnell erzählt.« Andrea lachte kurz. »Ich hätte aber nicht gedacht, dass ich es so bald brauchen würde.«
Sie schaltete hoch, dann begann sie zu erzählen. »Ich war bei ihm, weil er als größter Sponsor des Festes sicher sehr wichtig ist.« sie holte tief Luft. »Und ich wollte den Mann kennenlernen, der meinen Chef umgedreht hat hat. Das haben bisher nur ganz wenige geschafft.«
Ein Schmunzeln ging durch den Bus.
»Bei ihm war mein erster Interview-Termin, und ich habe ihm gegenüber damit begonnen, dass ich Marias Leistungen bewundert habe.« Andrea hatte etwas Verträumtes in der Stimme. »Das hat bei ihm einige Türen geöffnet und später auch bei anderen.«
»Und dann?« Paul blickte interessiert neben sich auf die Reporterin.
»Dann sind wir ins Schwärmen gekommen, weil wir beide von einer Tochter wie Maria träumen. Und am Ende hat er mir versichert, dass er mir helfen würde, wenn ich einmal in eine Notlage geraten würde.« Ihre Stimme zeigte in diesem Moment sehr viel Stolz. »Er sagte, er hätte sehr viel Einfluss.«
»Ja, das ist wahr.« Mrs. Potter seufzte. »Wir sind ihnen zu sehr viel Dank verpflichtet. Ohne sie wüssten wir nicht, was wir hätten tun sollen.«
»Werden sie daraus auch einen Artikel schreiben?« Selmas Stimme hatte etwas Sorgenvolles.
»Mit dieser Frage habe ich schon lange gerechnet.« Andrea lächelte. »Aber dass die Ankunft von Maria soo spektakulär verläuft, ist doch einen Artikel wert, meinen sie nicht?« Das ihr die Gelegenheit, einmal einen Blick auf die Originalhaltung zu werfen, entgangen war, behielt sie aber für sich. »Aber bevor ich das schreibe, möchte ich gern mehr über die ganzen Hintergründe erfahren.«
* * *
Die Beamtin hatte sich sehr liebevoll um Maria gekümmert, als sie erfahren hatte, dass Maria im Moment nicht über ihre Arme verfügen konnte.
Trotzdem machten die Uniformen und die Waffen Maria klar, dass sie im Moment in Obhut der Polizei war.
Auf der Fahrt nach Landbach wurde im Streifenwagen nur geschwiegen, erst bei der Ankunft erkundigte sich die Beamtin, ob Maria Hilfe beim Aussteigen brauchte.
Sie wurde sofort in einen Vernehmungsraum geführt und musste dort warten.
»Das ist sie?« Kommissar Klüver blickte durch den Halbspiegel in den Vernehmungsraum.
Die Beamtin bestätigte es. »So haben wir sie aus dem Flieger geholt.«
»Was ist mit ihren Armen?« Klüver war verwundert. »Hat sie keine?«
»Das ist Maria Beller, sie geht hier aufs Gymnasium.« Die Beamtin gab ihre Verwunderung wieder. »Ich habe sie bisher nicht oft gesehen, aber da hatte sie immer Arme gehabt.«
»Naja, wie auch immer.« Klüver drehte sich um. »Ich werde sie jetzt verhören. Immerhin hat sie das stärkste Motiv.«
Er betrat das Verhörzimmer und setzte sich Maria gegenüber. »Sie sind Maria Beller, wohnhaft in Landsbach und die heurige Darstellerin der Katerina?«
Gerade als Maria bestätigen wollte, ging die Tür auf und ein paar Herren im schwarzen Anzug betraten das Zimmer. Einer von ihnen ging zu Maria und flüsterte ihr etwas ins Ohr. »Sie sagen ab sofort nichts mehr.«
Zunächst bewirkte dieser Auftritt, dass Maria noch ängstlicher wurde, doch dann sah sie in der Tür ein bekanntes Gesicht. Sie erkannte den Sparkassendirektor sofort.
»Was wird Maria Beller vorgeworfen, dass sie sie wie eine Verbrecherin aus dem Flugzeug holen?« Herr Steinhagens Stimme zeigte, dass er ehrlich erbost war über diese so drastische Maßnahme.
»Frau Beller ist verdächtig, die Baroness aus dem Weg geräumt zu haben, um selbst die Rolle spielen zu dürfen.« Klüver versuchte noch, sich nicht einschüchtern zu lassen.
»Haben sie dafür irgendwelche Beweise?« Der Ältere der drei Anwälte sprach weiter.
»Der Unfall war fingiert.« Klüver verwies auf die bisherigen Untersuchungsergebnisse.
»Das wissen wir.« Der Anwalt setzte nach. »Haben sie konkrete Beweise gegen Frau Beller?«
»Sie hat das stärkste Motiv. Der Baron hat mich darauf aufmerksam gemacht.« Klüver war für den Hinweis recht dankbar gewesen.
»Frau Beller, sie können gehen.« Der Anwalt wandte sich an Klüver. »Wenn sie von Maria eine Zeugenaussage brauchen - sie wissen ja, wo sie wohnt. Ansonsten warten wir auf ihre Beweise.«
Maria stand langsam auf und ging zur Tür.
»Rechnen sie mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde wegen völlig überzogener Maßnahmen.« Herr Steinhagen drehte sich an der Tür noch einmal um und verließ dann als letzter der fünf Personen den Raum.
Klüver lies sich in den Verhörstuhl sinken. Das war komplett daneben gegangen. Dabei war er sich so sicher gewesen, als er von dem Baron den Tipp bekommen hatte.
»Geht es ihnen gut?« Herr Steinhagen sah, dass bei Maria ein paar Tränen über die Wange rollten.
»Ach!« Sie schluchzte etwas. »Ich hatte mir die Ankunft in München ganz anders vorgestellt.«
»Darf ich sie in den Arm nehmen?« Herr Steinhagen fühlte sehr sich an seine eigene Tochter erinnert.
»Oh ja, bitte.« Maria blickte ihn mit verweinten Augen an.
Die Umarmung tat Maria gut. Sie beruhigte sich etwas.
»Die werden sie nicht mehr belästigen.« Der Sparkassendirektor streichelte leicht über Marias Rücken und bemerkte dabei die verpackten Arme. »Ist das die Haltung, die sie auf dem Fest tragen werden?«
Maria zuckte auf einmal heftig zusammen. »Das hätten sie gar nicht sehen sollen.« Sie schluchzte wieder. »Es sollte die große Überraschung werden.« Wieder lehnte sie sich an ihn und weinte. »Es ist wirklich alles schief gegangen.«
»Nun machen sie sich mal keine Sorgen, ich bin verschwiegen und habe nichts gesehen.« Er hielt sie weiter in der Umarmung fest. »Denken sie nach vorn. Jetzt kommt das Fest, und dort müssen sie strahlen.«
»Sie haben recht.« Maria löste sich langsam aus seiner Umarmung. »Würden sie mir vielleicht die Augen auswischen, ich glaube, da sind ein paar Taschentücher in meiner Tasche.« Doch dann stutzte sie. »Ach nein, die ist ja noch im Flugzeug.« Wieder rollten Tränen über ihr Gesicht.
Doch zu ihrer Erleichterung sah sie, dass Herr Steinhagen ein Taschentuch in der Hand hatte und diese sich ihren Augen näherte. Maria nahm es dankbar an und lies sich die Augen auswischen.
»Was machen wir nun?« Herr Steinhagen blickte an Maria herunter. »So kann ich sie ja nicht allein lassen.«
Erst jetzt wurde Maria ihre aktuelle Situation bewusst. Sie stand mit dem Sparkassendirektor vor der Polizeiwache in Landsbach und ihre Arme waren im Gebet auf dem Rücken gefangen. »Ich weiß nicht.« Sie war ratlos.
»Wir könnten dort drüben in dem Café etwas trinken und auf die Ankunft der anderen warten. Ich habe Frau Baseling gesagt, dass wir auf der Wache sein werden. Von dort können wir sehen, wenn sie kommen.« Herr Steinhagen stutzte etwas. »Wie lange tragen sie die Arme schon so?«
»Wie spät ist es denn?« Maria fiel auf, dass sie durch die Ereignisse den Überblick verloren hatte.
»Es ist jetzt fast 14 Uhr.« Der Direktor hatte ein etwas sorgenvolles Gesicht.
»Also ein paar Minuten halte ich das noch aus.« Maria versuchte ein vorsichtiges Lächeln. »In den Staaten habe ich ein Intensivtraining absolviert.«
»Erlauben sie, dass ich ihnen mein Jackett umhänge?« Herr Steinhagen zog sich es aus. »Es könnten sonst Fragen zu ihren Armen kommen.«
Maria hatte nichts dagegen.
»So gefallen sie mir schon besser.« Herr Steinhagen machte eine einladende Handbewegung. »Wie wäre es mit einem Kaffee oder einer Apfelschorle?«
»Aber nur mit Strohhalm.« Maria versuchte etwas mit ihren Armen zu wackeln, wovon aber nur wenig zu sehen war.
Das Café war fast leer und es nahm kaum jemand Notiz von ihnen.
»Irgendwann möchte ich einmal sehen, wie es darunter aussieht.« Herr Steinhagen lächelte. »Erzählen sie mir etwas von Amerika? Es klingt unwahrscheinlich, aber ich war noch nicht drüben.«
»Viel gesehen habe ich nicht.« Maria lächelte verlegen. »Ich war ja die meiste Zeit in irgendwelchen Behandlungen.« Sie erzählte etwas von der Zeit, vermied es aber, die Herzogsfamilie oder Anna zu erwähnen.
* * *
Anna ließ sich in den frisch zusammen geharkten Grashaufen fallen. »Das hat gut getan.«
»Das musst du aber wieder zusammenrechen.« Florian runzelte die Stirn.
»Das ist mir egal.« Anna strahlte. »Das war seit langer Zeit das erste Sinnvolle, was ich tun durfte. Danke dafür.«
»Bedanke dich bei Leonie. Sie hatte die Idee.« Florian zeigte auf das Kettenmädchen, welches es sich auf der Terrasse bequem gemacht hatte.
»Anderen Leuten bei der Arbeit zuzusehen, kann auch schön sein.« Leonie grinste und rasselte etwas mit den Ketten.
»Jetzt sei mal ehrlich, magst du die Ketten wirklich?« Florian wollte es noch mal hören.
»Naja«, lachte Leonie. »Als ich noch nicht wusste, was Frau Mohr vorhat, war ich schon ziemlich verunsichert. Aber jetzt, wo ich es weiß, und ich auch erfahren habe, dass diese Ketten doch abnehmbar sind, sieht es schon anders aus.«
»Moment!« Florian bremste sie. »Wir kennen den Mechanismus noch nicht.«
»Das ist ja auch nicht so wichtig.« Leonie war es egal. »Irgendwer wird mich irgendwann schon befreien.«
»Was ist so schön daran, gefesselt zu sein?« Anna mischte sich ein.
»Ich mag es, wenn ich nicht für mich verantwortlich bin und mir alle Entscheidungen abgenommen werden.« Leonie klang schwärmerisch.
»Genau vor so einem Leben bin ich geflohen.« Anna seufzte etwas. »Ich muss Fesseln tragen, weil mein Körper daran gewöhnt ist und ich es nicht abrupt beenden darf. Sagte zumindest die Ärztin.«
Leonie runzelte die Stirn.
»Die Mutter von Maria.« fügte Florian hinzu.
»Oh, dann wird es stimmen.« Leonie bereute ihre Zweifel. »Darf ich euch etwas zu trinken bringen? Nach der anstrengenden Arbeit...«
»Oh ja gern.« Beide nannten ihre Getränkewünsche.
Anna wartete, bis Leonie im Haus verschwunden war. »Florian, ich hätte da eine Frage, und ich möchte, dass du sie ehrlich beantwortest. Versprichst du mir das?«
»Ich...« Er wusste noch nicht, was kommen würde. »Ich verspreche es.«
»Wie gefällt dir der Monohandschuh, wenn ich ihn trage?« Anna blickte ihm ins Gesicht.
Florian wurde rot und geriet ins Stammeln.
»Ich habe mich lange mit Maria darüber unterhalten...« Anna schwieg einen Moment und blickte Florian an.
Es kostete Florian viel Kraft, ihrem Blick stand zuhalten.
»Hier sind die Getränke für die fleißigen Gärtner.« Leonie kam mit einem Tablett aus dem Haus. Sie bemerkte sofort die Spannung, die gerade in der Luft lag. »Störe ich?«
»Nein, du störst nicht.« Anna lachte trotz der Spannung. »Ich suche gerade Argumente, warum ich dennoch den Handschuh tragen möchte.«
»Aber Anna, denk doch daran, was deine Familie dir angetan hat.« Er war etwas aufgebracht.
Wegen der Anwesenheit von Leonie bekam er von Anna einen bösen Blick. Sie hatten unter sich ausgemacht, die Familie in Gegenwart von Fremden nicht mehr zu erwähnen.
Leonie erkannte langsam, dass sie sie als Vermittler brauchten. Sie hatte eine Idee, bei der sie ihre Worte aber sorgfältig wählen musste. »Florian, du magst es, wenn Anna ihre Brüste so hervorstreckt, was du aber nie zugeben würdest, weil der Handschuh euch viel zu sehr an die Vergangenheit erinnert.«
Florian stutzte.
»Du musst nicht antworten.« Sie wandte sich an Anna. »Du magst den Handschuh ebenfalls, weil er deine Brüste so präsentiert, und weil Florian dir alle Wünsche von den Augen abliest, wenn du ihn trägst?« Sie machte eine kurze Pause. »Du musst auch nicht darauf antworten. Denkt einfach etwas über meine Worte nach.« Leonie blickte beide abwechselnd an. »Es ist immer eine Befreiung, wenn man den eigenen Sehnsüchten nachgeben darf.« Sie wackelte etwas mit den Ketten. »Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede.«
»Das hast du schön gesagt.« Selma stand auf einmal in der Terrassentür. »Anna und Florian, hier wird euch niemand zu irgend etwas zwingen.« Sie blickte kurz zwischen ihnen beiden hin und her. »Tut einfach das, wozu ihr beide Lust habt. Und seid ehrlich zueinander.«
»Frau Mohr?« Leonie war überrascht. »Sind sie wieder da?« Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Sie stand auf und ging zu ihr. »Florian hat mir gesagt, dass Anna sich im Haus gefangen fühlt, und ich habe ihnen geraten, auf die Terrasse zu gehen.« Sie war etwas verlegen.
»Hast du ihnen auch gesagt, dass sie den Rasen mähen sollen?« Frau Mohr blickte Leonie streng an.
Florian hatte zwar nicht verstanden, was Selma gefragt hatte, doch ihre Handbewegung und ihre Blicke sprachen Bände. »Es war meine Idee.« Er war ebenfalls aufgestanden und kam verschwörerisch näher. »Ich glaube, das Arbeiten hat Anna gut getan. Wir wussten nur nicht, ob wir den Schnitt auf den Kompost tun dürfen.«
»Es wäre richtig gewesen.« Frau Mohr blickte auf den Terrassentisch. »Es war eine gute Idee, nach draußen zu gehen.«
»Anna, komm.« Florian zog Anna aus dem Gartenstuhl. »Wir räumen den Rasenschnitt noch weg.«
Kaum waren sie außer Hörweite, als Selma weiter sprach. »Das hat du gut gemacht, Leonie. Ich denke, die Beiden haben noch etwas zu besprechen.« Doch dann hielt sie inne. »Ich glaube, ich habe gerade eine schöne Idee. Warte hier auf mich.«
Sie ging zum Telefon und wählte eine kurze Nummer. »Selma hier. Wie wäre es, wenn wir die verkorkste Rückkehr jetzt hinter uns lassen und einen Spaziergang durch Landsbach machen?« Sie wartete einen Moment.
»Ihr seid einverstanden? Schön.« Sie schien erleichtert. »Ach ja, Maria soll bitte mit ihrem Handschuh kommen. Bis gleich.«
Sie wandte sich wieder an Leonie. »Dorothea und Maria werden uns gleich zu einem Spaziergang abholen. Ich denke, Anna und Florian werden mitgehen wollen. Ich glaube, die beiden brauchen noch so etwas wie einen Anschub.« Sie spürte, dass Leonie etwas zögerte. »Du wirst natürlich auch mit gehen.«
Leonie zeigte auf einmal leuchtende Augen.
* * *
»Was für ein Albtraum.« Maria ließ sich in den Sessel fallen, der im Flur ihres Hauses stand.
»Allerdings.« Paul stellte die Koffer ab. »Beuge dich mal etwas vor.« Er kniete sich neben den Sessel und begann, Maria die Bluse und danach das Korsett zu öffnen.
»Endlich wieder daheim.« Mrs. Potter betrat mit Oma Selma den Korridor.
»Hoffentlich hält die Reporterin dicht.« Selma war zeigte ihre Sorgen.
»Was konnte sie denn schon groß sehen?« Paul blickte auf. »Sie hat doch nur gesehen, dass Maria keine Arme hatte.«
»Hoffen wir es.« Dass ihr Enkel sich am Flughafen gegenüber der Reporterin verplappert hatte, behielt sie jetzt für sich. Es war besser, wenn Maria das nicht erfuhr. Außerdem hatte sie schon eine Idee, wie sie der Reporterin eine Brücke bauen konnte.
Sie wartete, bis Marias Arme wieder befreit waren, dann bat sie ihren Enkel zu sich. »Ich möchte nach Anna sehen. Verabschiede dich von Maria und dann komm.«
Mrs. Potter lächelte. »Ihr seht euch ja gleich wieder.« Sie erinnerte daran, dass Herr Steinhagen zum Ausgleich für die verkorkste Ankunft zum gemeinsamen Abendessen eingeladen hatte. Selma hatte mit Blick auf ihre Gäste absagen wollen, doch der Sparkassendirektor bestand darauf, dass sie sie einfach mitbringen sollte.
Paul erhob sich etwas verlegen. »Bis gleich«. Er gab Maria noch einen Kuss, dann folgte er seiner Oma.
* * *
Paul war etwas nachdenklich, als er das Haus betrat. Wie sollte er Anna gegenübertreten? Immerhin hatte er ihr bedingt durch die Behandlungen einige Schmerzen zugefügt. Doch das große Vertrauen, welches Anna in ihn gesetzt hatte, bewirkte, dass sein schlechtes Gewissen etwas kleiner wurde.
Trotzdem war er erleichtert, in sein Zimmer zu kommen, ohne dass er den beiden Flüchtlingen begegnete. Erschöpft ließ er sich auf das Bett fallen. Es war so viel passiert in den letzten Wochen. Doch ein Bild drängte sich in seinen Gedanken nach vorn. Es war Maria, die nur mit ihrem alten weißen Monohandschuh bekleidet auf ihm saß und wie sie ihre gemeinsame Lust genossen hatten. Mit diesem Bild vor Augen schlief er ein.
* * *
»Schön, dass ihr gekommen seid.« Selma begrüßte Maria und Mrs. Potter, die gerade vor der Haustür standen. »Paul ist in seinem Zimmer. Magst du ihn wecken?«
Maria lächelte kurz, dann ging sie mit abenteuerlustiger Miene zu der Tür und drückte die Klinke mit ihren im Handschuh gefangenen Armen herunter.
Paul lag auf dem Bett und schlief. Sie hatte sich immer schon gefragt, wie es wohl sein würde, wenn sie ihm nach den drei Wochen Amerika wieder begegnen würde und vor allem, was sie dabei tragen würde.
»Schon so oft gesehen, und doch immer wieder faszinierend, wie selbstverständlich Maria mit ihrem Handschuh umgeht.« Selma hatte Maria hinterher geblickt, bis sich die Tür geschlossen hatte. Doch dann wurde ihr Blick ernst. »Du musst noch etwas zu unseren Gästen wissen.« Sie nahm den Brief von Frederike von der Flurkommode und rechte ihn Mrs. Potter. »Lies ihn dir durch. Ich sehe in der Zwischenzeit nach meinen Gästen. Ich glaube, sie sind auf der Terrasse.«
* * *
»Hallo Anna, schön, dich wieder zusehen.« Maria deutete eine Verbeugung an. »Die Hand kann ich dir leider nicht geben.« Sie lächelte etwas verlegen.
»Maria!« Anna war gerührt. »Ich bin ja so froh, dass ich hier bin, mit Florian.« Sie suchte seinen Blick. Doch dann fiel ihr Blick auf Marias Arme. »Du trägst ja schon wieder den Handschuh. Warum denn das?«
»Sie muss im Training bleiben.« Selma verfolgte ihren gerade ausgetüftelten Plan. »Übernächstes Wochenende ist ja schon das Fest.«
»Ach ja, das Katrinfest oder so.« Anna war etwas verlegen. »Davon hattest du mir erzählt.«
»Es macht mir wirklich nichts aus.« Maria wollte auf die Fragen ebenfalls noch antworten. Doch dann beugte sie sich zu Anna hinüber. »Und außerdem macht es Spaß, die verwunderten Blicke der Leute zu sehen.«
»Was meinst du Anna, wie sehr die Leute schauen werden, wenn jetzt zwei Monohandschuh-Mädchen durch Landsbach spazieren?« Selma hielt Annas Handschuh in der Hand.
Anna war verwundert. Bisher hatte sie den Handschuh im Rahmen ihrer 'Behandlung' genauso wie die anderen 'Foltergeräte' betrachtet. Dass sie ihn jetzt quasi in ihrer Freizeit tragen sollte, war für sie mehr als verwunderlich.
Selma hatte insgeheim mit ihrem Zögern gerechnet. »Du weißt, was die Ärzte gesagt haben? Du musst langsam damit aufhören, damit es keine Muskelschäden gibt.«
»Ja schon.« Sie blickte etwas ängstlich zu ihrem Freund. »Florian hat einen Schwur geleistet, dafür zu sorgen, dass mir nie mehr weh getan wird.
»Der Handschuh tut ja auch nicht weh, wenn er richtig angelegt wird.« Maria mischte sich ein. »Glaube mir Anna, es macht einen ganz großen Unterschied, ob der Handschuh vom Personal angelegt wird oder vom einem geliebten Menschen. Es fühlt sich einfach viel schöner an.«
Ohne dass sie sich abgesprochen hatte, war Paul an Florian herangetreten. »Es gibt ein paar Tipps, wie du es ihr leichter machen kannst. Wenn du möchtest, dann zeige ich sie dir.«
Die Blicke aller Anwesenden richteten sich auf Anna, deren Augen noch von Marias Armen im Monohandschuh gefangen waren. Schließlich bemerkte Anna, dass von ihr eine Entscheidung gefragt war. Sie blickte lange zwischen Maria und Paul hin und her und schien nachzudenken.
Es sprach keiner ein Wort.
»Florian?« Annas Stimme war sehr leise. »Ich möchte erleben, wie es ist, wenn du mir den Handschuh anlegst.« Sie senkte ihren Kopf zu Boden.
Unter Pauls Anleitung schaffte es Florian, sich selbst zu überwinden und Annas Wunsch nachzukommen. Beim Hochziehen des Handschuhs musste Paul noch mit anfassen, auch weil Florians Hände sehr zitterten, doch bei der Schnürung der Arme gewann er zunehmend an Sicherheit.
Unauffällig war Selma näher getreten, denn sie rechnete mit einem ganz bestimmten Ereignis und dafür wollte sie vorbereitet sein.
Je weiter Florian mit der Schnürung nach oben kam, desto stärker wurde der Druck auf Annas Arme. Doch statt der üblichen Schmerzen verspürte sie diesmal eine seltsame Erregung. Ihr Atem wurde heftiger und ging bald in ein starkes Keuchen über.
Gerade als Florian abbrechen wollte, weil er das Keuchen hörte, trat Selma an ihn heran und flüsterte ihm kurz etwas ins Ohr.
Florian stutzte einen Moment, dann ließ er die Schnürung los und nahm Anna in den Arm. Schon da spürte er das Zittern in ihrem Körper. Als der Orgasmus durch Annas Körper raste, versanken sie in einen langen Kuss.
* * *
»Danke!« Anna hatte Tränen in den Augen, als sie wieder zu sich kam. »Ich hatte geglaubt, ich würde dieses Gefühl nie mehr erleben.« Doch dann wurde sie auf einmal traurig.
Florian und Selma bemerkten es als erstes. »Anna, was ist denn los?«
»Ihr seid alle so gut zu mir.« Anna schluchzte. »Das kann ich doch nie wieder gut machen.«
Selma erkannte sofort, welche Worte jetzt gefragt waren. »Jetzt seht erst mal zu, dass ihr zusammen euren Weg findet. Ihr werdet eines Tages eine Gelegenheit finden, mit der ihr euch bedanken könnt.« Sie wischte Anna symbolisch ein paar Tränen weg. »Jetzt müssen wir erst mal euren Alltag organisieren.«
»Entschuldigung, aber können wir dann gehen?« Mrs. Potter stand schon an der Tür. »Doris wartet bestimmt schon.«
»Es geht sofort los, ich muss nur noch Leonie holen.« Selma lächelte. »Sie ist bestimmt wieder in ihrem Käfig.«
»Kommst du?« Selma steckte nur kurz den Kopf zur Tür herein. »Wir wollen dann spazieren gehen mit unseren Gästen.«
Leonie war auf einmal hellwach. Dafür würden sie ihr sicher die Ketten abnehmen. Doch dann wurde sie auch etwas wehmütig. War es jetzt schon vorbei? Seufzend folgte sie Selma. Auf der Hälfte der Treppe nach unten hörte sie auf einmal eine vertraute Stimme.
»Wen haben wir denn da?« Maria wunderte sich »Hallo Leonie, lange nicht gesehen.«
Leonie drehte sich verwundert um und erkannte Maria. Sie begrüßte sie ebenfalls.
»Hübsche Ketten trägst du.« Maria lächelte. »Ich glaube, die kenne ich.«
Leonie lächelte etwas verlegen, dann ging sie auf Selma zu und streckte ihr die Hände entgegen.
»Natürlich mit den Ketten.« Selma verzichtete zugunsten Annas auf ihre üblichen Spielchen. »Blicke dich mal um«, fügte sie hinzu, als sie Leonies verwunderten Blick sah.
»Wir üben für das Fest.« Maria zeigte ihre Arme und ermutigte mit einem Blick auch Anna, ihre Arme zu zeigen.
Fast wie in Zeitlupe verwandelte sich Leonies Gesicht von Zweifel und Angst zu Freude und Lust. Nur ein wenig schimmerte noch die Scheu durch vor so einem neuen aufregenden Abenteuer.
»Wir holen als erstes Doris ab, dann haben wir auch zwei Kettenmädchen.« Mrs. Potter öffnete die Haustür und machte eine einladende Handbewegung.
Doch an der Tür blieb Anna noch einmal stehen und blickte etwas schüchtern nach draußen. »Und es ist wirklich völlig normal, dass wir hier mit dem Monohandschuh durch die Straßen gehen?«
»Naja.« Selma lächelte. »Ohne das Katerinenfest wäre es wohl Erregung öffentlichen Ärgernisses.«
»Mit dem Fest glaubt jeder, dass ich noch dafür üben muss.« Maria lächelte verschmitzt. »Aber jetzt lasst uns gehen.« Sie drängte nach draußen.
Paul und Florian hielten ihre Mädchen im Arm, und zwischen ihnen ging Leonie, die ihr Glück immer noch nicht fassen konnte.
»Wenn du nicht gleich ruhig bist, werde ich dich an die Wand ketten.« Theo ließ genervt seine Zeitung sinken, als er sah, dass seine Verlobte schon zum wiederholten Mal zum Fenster ging und hinaus schaute. »Ich weiß ja, dass du dich freust, doch jetzt bleib doch endlich einmal sitzen.«
»Ich bin so aufgeregt.« Doris trippelte zu ihren Sessel und ließ sich hinein fallen. Um sich etwas zu beruhigen, nahm sie das Poliertuch und machte sich an, noch einmal ihre Ketten zu putzen.
Theo verzichtete darauf, sie daran zu erinnern, dass sie ihre Ketten jetzt schon zum vierten Mal putzte. Andererseits konnte er sie auch gut verstehen. Es gab für sie so gut wie nie eine Gelegenheit, bei der sie ihre Ketten einem Dritten zeigen konnte, ohne schief angeschaut zu werden oder sogar Ärger zu bekommen. Das Fest und seine Vorbereitungen waren ein außergewöhnlicher Glücksfall für sie.
»Jetzt kommen sie.« Theos feines Gehör hatte Leonies Ketten schon gehört, bevor sie an der Tür läuteten.
Sofort wollte Doris aufspringen, doch dann erinnerten sie die Ketten daran, dass sie das Sonntagsgeschirr trug, welches ihre Bewegungsfreiheit schon etwas einschränkte. Es war so gestaltet, dass Essen noch einigermaßen würdevoll möglich war, und langsames Gehen erlaubten ihre Fußketten ebenfalls. Etwas mühsam erhob sie sich. An ihrem schweren Halsreif hing schon die Kette, an der Theo sie gleich durch den Ort führen würde. Ein Traum ging in Erfüllung.
Theo öffnete. »Danke für die Einladung. Wir sind fertig.« Dann erblickte er Leonie. »Na, wie kommst du mit den Ketten zurecht?«
Leonie lächelte etwas verlegen. »Ganz gut.«
Selma trat vor und ging auf Doris zu. »Ich hätte eine Bitte.« Sie beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Doris blickte zunächst etwas verwundert zu Leonie, dann erhellte sich ihre Miene. »Aber gern.«
Nach der Zustimmung von Doris ging Selma noch zu ihrem Verlobten, und auch er gab seine Zustimmung.
Theo trat an Leonie heran und befestigte auch an ihrem Halsband eine Kette. »Dann kommt, meine Kettenmädels, Landsbach wartet.« Er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, doch auch für ihn war es etwas außergewöhnliches, seine Verlobte und ein weiteres Mädchen jeweils an einer Kette durch den Ort zu führen.
Nach einiger Zeit hatte sich Leonie wieder etwas beruhigt. Fasziniert blickte sie auf Doris' Ketten. »Ich bin mir nicht sicher, aber waren die nicht länger?«
Doris lächelte. »Das ist mein Sonntagsgeschirr.« Sie beschrieb die Eigenschaften der Ketten. »Wenn ich arbeite, sind die Ketten länger, weil ich dann mehr Bewegungsfreiraum brauche.«
Leonie war sichtlich fasziniert.
»Ein Ruhegeschirr habe ich auch noch.« Sie blieb kurz stehen und deutete die ihr dann verbleibenden Kettenlängen an. »Das trage ich immer im Bett, falls er mich nicht anders angekettet hat.«
Anna blickte sehr verwundert auf Doris. Das war jetzt schon das zweite Mädchen, das sie in Ketten erlebte. Und beide Mädchen machten einen äußert glücklichen Eindruck. »Entschuldigung«, fragte sie auf Englisch, »warum sind die Ketten so toll?«
Maria fühlte sich verpflichtet, ein paar erläuternde Erklärungen abzugeben. »Das ist Anna, und sie spricht nur Englisch. Wäre es möglich, auf Englisch weiter zu machen.«
Doris drehte sich zu ihrem Verlobten. »Ich übersetze für dich.« Dann gab sie ihre Zustimmung. »Anna hat gefragt, was an den Ketten so toll ist.« Sie lächelte ihn an. »Ich versuche mal eine Erklärung. Meinem Vater gehört die Schmiede, und ich war schon immer von Eisen fasziniert. Anfangs habe ich mir von den Resten nur Schmuck gebastelt, Halsketten, Armreife und ähnliches. Ich mochte und mag die Schwere und die Kühle des Materials.« Ihre Stimme war sehr schwärmerisch.
»Aber du bist doch gefangen?« Anna hatte das Schicksal, vor dem sie geflohen war, noch deutlich vor Augen.
»Ich liebe es, wenn mir die Ketten meine Bewegungsfreiheit einschränken.« Sie wackelte mit den Armen. »Ich liebe das Geräusch, wenn die Ketten klirren.« Sie gab ihrem Verlobten einen Kuss. »Und natürlich weiß ich, dass er mich befreien würde, wenn ich ihn darum bitte.« Sie blieb stehen und blickte ihn verliebt an. »Das würdest du doch, mich befreien, wenn ich es wünsche?« fügte sie auf Deutsch dazu.
Theo waren die zweifelnden Blicke von Anna nicht entgangen. »So, meinst du?«
Anna hatte die Antwort zwar nicht verstanden, doch sie erkannte, dass die beiden schwer verliebt waren und miteinander spielten. Sie war sich sicher, dass Theo seiner Verlobten nie ernsthaft weh tun würde. Sehnsüchtig blickte sie zu Florian, der ihren verliebten, fragenden Blick beantwortete.
Sie waren schon einige Zeit unterwegs, als sich Florian an Paul wandte. »Ihr habt doch bestimmt einiges Handwerkszeug im Haus?«
Paul bestätigte es. Die kleine Werkstatt war noch vom Opa her bescheiden aber ausreichend gefüllt. »Wofür brauchst du es denn?«
»Ich möchte versuchen Annas Keuschheitsgürtel zu öffnen, der ihr angelegt wurde.« Es war ihm anzumerken, dass ihm das Thema unangenehm war.
»Du willst ihn kaputtmachen?« Paul war sich nicht sicher, ob er Annas Mann richtig verstanden hatte.
»Wie soll ich sie denn sonst da heraus bekommen?« Seine Stimme zeigte, wie sehr er die Maßnahmen von Annas Familie verabscheute.
»Wir könnten versuchen, ihn normal zu öffnen. Ich weiß mittlerweile, dass meine Oma und Marias Erzieherin da durchaus einige Talente haben und vor allem eine große Schlüsselsammlung besitzen.« Paul drehte sich kurz um und wartete, bis seine Oma und Mrs. Potter näher gekommen waren, dann trug er das Anliegen vor.
»Den kriegen wir schon auf.« Selma und Dorothea lächelten sich an.
»Du solltest ihn aber weiter tragen, zumindest, solange du mit dem Handschuh unterwegs bist.« Selma sprach bewusst liebevoll.
»Warum sollte sie das tun?« Florian runzelte die Stirn.
Selma drehte sich um. »Maria, warum trägst du deinen Gürtel?«
»Er gibt mir Sicherheit, weil ich weiß, dass mir nichts passieren kann, solange ich so hilflos bin.« Sie wackelte etwas mit den Armen, um ihre Worte zu unterstreichen.
»Aber damit wäre ich doch schon wieder gefangen.« Annas Stimme klang zwar nicht verzweifelt, doch gefallen wollte ihr der Gedanke auch nicht.
»Naja, es kommt darauf an, wer den Schlüssel hat.« Maria grinste bis zu den Ohren.
Anna erkannte, was sie damit sagen wollte, doch sie wollte es noch direkter hören. »Paul hat deinen Schlüssel?«
»Den Schlüssel und die Fernbedienung.« Letzteres sagte sie etwas leiser. Sie trat näher an Anna heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
»Aber damit wäre der Gürtel doch eher ein Freudengürtel?« Anna war verwundert. »Damit wird er doch quasi umgedreht.«
»Das ist aber genau der Grund, warum du deinen jetzigen Gürtel nicht zerstören solltest, auch wenn er dich sehr an die Vergangenheit erinnert.« Selma ahnte, dass es in Anna arbeitete. »Wie lange trägst du ihn schon, Maria?« Sie blickte Pauls Freundin an.
»Oh, schon Ewigkeiten.« Maria lächelte. »Anfangs hatte ich nur die Verpflichtung, ihn draußen zu tragen. Im Haus hätte ich ihn jederzeit ablegen dürfen.« Sie stutzte einen Moment und drehte sich zu ihrer Erzieherin. »Das ist doch richtig, oder?«
»Ich hatte die Anweisung, ihn dir im Haus abzunehmen, wenn du danach verlangen würdest.« Dorothea schmunzelte. »Aber du hast nie gefragt.«
»Ohne Paul hat er ja auch nicht gestört.« Sie grinste etwas.
»Und jetzt ist er dein Schlüsselherr.« Selma schmunzelte. »Es gibt im Deutschen ein Sprichwort. 'Den Bock zum Gärtner machen.'«
Großes Gelächter war die Antwort. Nur Anna war etwas nachdenklich. »Du lässt dich von ihm in Eisen legen, und ihr seid trotzdem verliebt?«
»Nicht nur das...« Sie trat auf Anna zu und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Anna wurde für einen kurzen Moment rot.
»Der Gürtel schützt mich, wenn ich den Handschuh trage.« Maria hoffte, das zu sagen, was für Anna wichtig war. »Er gibt mir vor allem Sicherheit.«
Anna blickte lange zu Florian. »Da muss ich erst einmal darüber nachdenken.«
»Es wird dich keiner zu etwas zwingen.« Selma blickte Anna liebevoll an »Wir erklären dir nur, warum Maria ihren Gürtel trägt.« Sie spürte, dass Anna jetzt Zeit zum Nachdenken gebrauchen.
* * *
»Ich würde gern einen Abstecher zur Zeitung machen. Ich möchte noch einmal kurz mit Andrea reden.« Selma wollte vermeiden, dass Maria von Pauls unabsichtlichen Versprecher erfuhr. Sie ahnte, dass er in der Aufregung selbst gar nicht realisiert hatte, was er getan hatte. »Wartet hier auf mich, es wird sicher nicht lange dauern.«
In der Redaktion waren nur wenige Personen anwesend, und Selma sah Andrea an einem Schreibtisch sitzen. Sie räusperte sich. »Frau Baseling?«
»Frau Mohr?« Andrea stand auf. »Was können wir für sie tun?«
»Gibt es hier einen Raum, wo wir uns ungestört unterhalten können?« Selma blickte sich kurz um.
»Wir können in unser kleines Besprechungszimmer gehen.« Andrea zeigte kurz auf eine Tür.
»Was kann ich also für sie tun?« Andrea versuchte ihre Nervosität zu verbergen.
»Wir sind ihnen zu großem Dank verpflichtet. Ohne sie würde Maria vermutlich noch auf der Wache sein.« Selma holte tief Luft. »Ich hätte aber trotzdem eine große Bitte, weil es für uns sehr wichtig ist.«
»Und zwar?« Andrea war um gut Wetter bemüht.
»Sie werden sicher über Marias Ankunft in München berichten.« Sie wartete Andreas Bestätigung ab. »Ich will mich natürlich nicht in ihre Arbeit einmischen, aber ich möchte sie bitten, Marias besondere Armhaltung noch nicht zu erwähnen.«
Andrea spürte, dass sie eine Option zum Handeln hatte. »Nur unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?« Selma war eigentlich nicht auf eine Verhandlung eingestellt.
»Ich möchte gern sehen, über was ich nicht berichten darf.« Sie holte tief Luft. »Ich würde Marias besondere Armhaltung gern einmal sehen.«
»Prinzipiell wäre das möglich.« Selma hatte eine Idee. »Könnten wir das gleich morgen beim Interview machen?«
»Sehr gern.« Andrea war erleichtert. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muss jetzt weiter arbeiten.« Vor allem musste sie in ihrem Artikel noch einen ganz bestimmten Satz streichen, bevor sie ihn in den Druck geben konnte, doch das wollte sie nicht zugeben.
»Ich hätte aber noch ein Anliegen.« Selma war es ein wenig unangenehm.
»Ich brauche zehn Minuten, dann bin ich wieder da.« Andrea wollte sich keine Blöße geben.
»Gern.« Selma stand auf. »Ich sage nur draußen Bescheid, dass es länger dauert.«
Die Anderen warteten noch vor der Redaktion, als Selma kurz vor die Tür kam. »Es dauert doch länger.« Sie blickte in die Gesichter und kam ins Grübeln. Gemessen an dem, was sie bisher über Annas Vorgeschichte wusste, war es wohl doch besser, sie zuerst zu fragen. »Anna, kommst du bitte mal.«
Zusammen gingen sie wieder in das kleine Besprechungszimmer. »Wenn du möchtest, dann werde ich jetzt die Reporterin fragen, ob sie etwas Arbeit für dich hätte. Möchtest du?«
Es war gut zu sehen, dass es in Anna arbeitete.
»Leonie glaubt, dass du dich bei uns im Haus auch gefangen fühlst.« Sie wartete die Antwort nicht ab, denn sie wusste, dass Anna es nie zugeben würde. »Hier in der Zeitung könntest du etwas Alltagsluft schnuppern.«
»Ich spreche aber kein Deutsch.« Anna war etwas entmutigt.
Selma brauchte nur zwei Worte, um Annas Ehrgeiz zu wecken. »Noch nicht.«
Andrea betrat den Raum. Sie war etwas erstaunt, als sie Anna mit dem Handschuh dort sitzen sah.
»Das ist Anna Bauer.« Selma stellte sie vor. »Sie ist bei uns zu Besuch und sucht eine Beschäftigung. Könnten sie eine Assistentin gebrauchen? Sie spricht bisher allerdings nur Englisch.« Sie nahm den Brief von Frederike zur Hand und las einige Stellen vor.
Andrea zögerte. »Das muss mein Chef entscheiden.«
»Für das Fest ist ja sicher noch viel zu tun.« Selma hatte auf einmal eine Idee. »Anna könnte ihnen bestimmt zur Hand gehen.«
»Was könnte ich denn tun?« Annas Stimme zeigte, dass sie von der Aussicht, arbeiten zu können durchaus angetan war.
»Ein paar Botengänge, für die Redaktion Essen holen, ...« Andrea hatte keine Ahnung, welches Wissen sie bei Anna voraussetzen konnte; sie zählte einfach die eher unangenehmen Aufgaben auf.
»Ich musste noch nie arbeiten.« Annas Stimme war in diesem Moment sehr nachdenklich.
»Da ist mein Chef.« Andrea stand auf. »Ich hole ihn kurz dazu.«
»Das ist Anna Bauer, sie spricht aber nur Englisch.« Andrea betrat wieder das Zimmer und hatte ihren Chef im Schlepptau. »Ich könnte eine Assistentin wirklich gut gebrauchen.«
»Mehr als ein Taschengeld können wir aber nicht zahlen.« Der Chef war von dem Anliegen nicht begeistert, aber er wollte auch nicht absagen, dass war ihm deutlich anzumerken.
»Frau Bauer kann auch nur vier Stunden pro Tag arbeiten, sie bekommt auch noch Deutschunterricht.« Selma hatte das Gefühl, sich in die Diskussion einmischen zu dürfen.
»Außerdem schadet es meinen Mitarbeitern bestimmt nicht, wenn sie etwas Englisch reden müssen.« Er lächelte ein wenig.
»Sie wären einverstanden?« Andrea war sich bei den Reaktionen ihres Chefs nie so ganz sicher.
Der Chef gab Anna die Hand. »Morgen früh um Acht ist die Besprechung fürs die Wochenendausgabe. Ich würde mich freuen, sie dabei begrüßen zu dürfen.« Er drehte sich zur Tür. »Sie müssen entschuldigen, aber ich habe viel zu tun.«
Andrea verdrehte ein wenig die Augen, doch dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Das wäre geschafft.«
»Ich danke ihnen.« Selma stand ebenfalls auf, dann drehte sie sich zu Anna. »Morgen hast du deinen ersten Arbeitstag bei der Zeitung. Andrea wird sich um dich kümmern.«
Anna wusste zunächst nicht, was sie sagen sollte, doch tief im Inneren fühlte sie, dass es eine erste Gelegenheit war, sich erkenntlich zu zeigen. Außerdem hatte Leonie recht gehabt, in dem Haus fühlte sie sich immer noch wie eine Gefangene.
* * *
Nachdem sie ihren Spaziergang für eine Weile fortgesetzt hatten, hielt auf einmal eine schwarze Limousine neben ihnen. Herr Steinhagen stieg aus.
»Ah, hier sind sie.« Er blickte sich um. »Ich hatte sie heute zum Essen eingeladen, als Entschädigung für die verkorkste Ankunft. Doch mir ist etwas dazwischen gekommen. Wäre es möglich, dass wir es vorziehen?«
Erst jetzt entdeckte er die Ketten, die sowohl Doris als auch Leonie trugen. »Sie sind auch eingeladen.« Er verbeugte sich symbolisch vor Theo und Doris. »Ich wollte mich schon länger für ihre gute Arbeit bedanken.«
Selma fand als erste ihre Worte wieder. »Wir danken für die Einladung.« Sie blickte zu Mrs. Potter. »Wo findet das Essen statt?«
»Ich habe in der goldenen Traube einen Tisch reserviert.« Er blickte auf die Uhr. »Für jetzt?« Er war ein wenig verlegen.
»Meinen sie, wir sollten so wie wir sind..?« Selma sprach nicht weiter.
»Das wäre mein Wunsch.« Herr Steinhagen blickte fast etwas verliebt auf die Mädchen, die etwas verlegen versuchten, ihre Fesseln zu verbergen, soweit das überhaupt möglich war.
»Mit den Ketten und den Handschuhen?« Selma wiederholte ihre Frage jetzt etwas deutlicher. »In die goldene Traube?« Aus ihrer Betonung war zu entnehmen, dass sie den Gedanken, mit den Ketten und Monohandschuhen in das einzige Sterne-Restaurant der Stadt zu gehen, sehr befremdlich fand.
Der Sparkassendirektor nahm Selma beiseite und sprach leise weiter. »Ich möchte einfach mal wissen, wie viel Macht ich hier in der Stadt wirklich habe.« Seine Stimme war leicht grimmig. »Außerdem ist mir der Besitzer noch einen Gefallen schuldig.«
»Wir sind eingeladen?« Leonie preschte wie üblich vor. »So wie wir sind?« Ihre Stimme zeigte viel ihre Verwunderung.
»So hat er es gesagt.« Selma selbst war auch verwundert. »Und unser Tisch sei auch schon reserviert, sagte er.«
»Dann sollten wir gehen.« Theo legte den Arm um seine Doris. Er schien zu wissen, wieviel dies seiner Verlobten bedeutete.
Herr Steinhagen wartete schon vor dem Eingang des Restaurants. Es konnte sich zwar nicht mit den Nobelrestaurants der Hauptstadt messen, doch hier war es das erste Haus am Platz. »Ich freue mich, dass sie meiner Einladung gefolgt sind.«
»Wir danken nochmals für die Einladung.« Selma sprach für alle.
»Ich hoffe, damit kann ich den unrühmlichen Empfang von heute ein klein wenig wieder gut machen.« Er machte eine einladende Handbewegung.
Doris zitterte am ganzen Körper. Schon die ganze Zeit während des Spaziergangs über war sie sehr aufgeregt, weil sie ihre Ketten zeigen durfte. Jeder konnte jeder, der es erkennen wollte sehen, dass sie Theo gehörte und dass sie seine Eisen trug.
Anfangs hatte sie noch verschämt nach unten gesehen, weil sie glaubte, sich der Ketten schämen zu müssen, doch mit jedem Schritt wuchs ihre Selbstsicherheit. Es hing aber wohl auch mit Leonie zusammen, die ebenfalls von Theo an der Kette gezogen wurde, und diese hatte mit der plötzlichen Öffentlichkeit überhaupt keine Probleme.
Doch jetzt sollte sie auch noch das Restaurant betreten, vor dessen Preisliste Doris sich sonst immer die Nase platt gedrückt hatte. Dieses teure Restaurant hätten sie sich nie leisten können. Und jetzt waren sie nicht nur dorthin eingeladen, sie sollten es auch mit ihren Ketten betreten dürfen. Doris glaubte zu träumen.
»Mit diesen Ketten dürfen sie aber nicht hier herein.« Der noch recht junge Ober hielt die Mädchen auf, als sie hinter dem Sparkassendirektor das Lokal betraten.
»Sie sind neu hier?« Der Direktor gab sich unbeeindruckt. »Bitte sagen sie dem Chef, dass Herr Steinhagen auf seine Reservierung wartet.«
Gleich darauf kam der Ober in Begleitung seines Chefs zurück. »Rudolf, schön dich zu sehen.« Er umarmte den Direktor zur Begrüßung kurz. »Kommt herein, ich habe für euch den großen Tisch am Fenster vorbereitet.« Dann drehte er sich zu seinem Angestellten. »Das ist Herr Steinhagen mit seinen Gästen.«
Der Ober gab sich kleinlaut. »Aber die Ketten und diese Armsäcke?«
»Wenn Herr Steinhagen Gäste mitbringt, sind sie willkommen.« Es war dem Chef anzusehen, dass er seinem Angestellten noch mehr gesagt hätte, wenn sie allein gewesen wären. »Und helfen sie bitte den Damen beim Hinsetzen.«
»Ich glaube, ich träume.« Doris sprach aus, was alle dachten.
»Wenn die bezaubernde Maria ihre Freundinnen mitbringt, sind diese ebenfalls herzlich willkommen.« Er zwinkerte kurz. »Und natürlich sind sie alle sehr ehrgeizig und möchten bei jeder sich bietenden Gelegenheit für das Fest üben.«
Nachdem alle Platz genommen hatte, kam der junge Ober zurück an den Tisch. »Ich möchte mich in aller Form bei ihnen entschuldigen. Ich bin neu hier.«
»Es ist in Ordnung.« Herr Steinhagen lehnte sich zurück.
»Was möchten sie trinken?« Der Ober zückte seinen Block.
Maria fiel auf, dass einige Leute an den Nachbartischen zunächst etwas verwundert auf ihren Tisch schauten. Doch ab und zu machte der Chef in seinem Lokal die Runde und sprach kurz mit den Gästen. Gleich darauf hörten die Blicke auf.
Maria war sichtlich beeindruckt. Der Sparkassendirektor schien doch einen gewissen Einfluss im Ort zu haben.
Nach der Vorspeise wurden sie noch mal gestört. Der Polizeichef persönlich trat an den Tisch und entschuldigte sich noch einmal bei Maria und Paul für die überzogene Aktion seines Beamten. »Sie verstehen sicher, dass wir auch unsere Arbeit machen müssen.«
Mrs. Potter ahnte, dass noch etwas kommen würde. »Sie wünschen?«
»Wir benötigen von Maria und Paul noch eine Zeugenaussage.« Er war sichtlich verlegen. »Ich schicke morgen zwei Beamte bei ihnen vorbei, sie müssen nicht auf die Wache kommen.« Er war sichtlich bemüht, keinen neuen Ärger zu verursachen. »Wann würde es denn passen?«
Mrs. Potter schien Marias Termine im Kopf zu haben. Sie nannte eine Uhrzeit. »Wird es lange dauern?«
»Ich denke nicht.« Der Polizeichef bedankte sich. »Und jetzt lassen sie es sich weiter schmecken.«
Es war schon dunkel, als sie das Restaurant verließen. Die Nacht war warm.
»Es ist wie ein Traum.« Doris schmiegte sich in Theos Arme.
»Genieße es« Theo ahnte, dass sich so ein Abend so bald nicht wiederholen würde. Doch durch das Fest hatte jeder Verständnis dafür, wenn die Mädchen so fleißig für ihre Rolle übten.
Zum Essen hatte Anna sich ihren Handschuh von Florian abnehmen lassen, jetzt trug sie ihn wieder, nach dem sie ihrem Freund versichert hatte, dass es ihr wirklich nichts ausmachte.
Auch Leonie hatte den Abend mehr als genossen, seid sie wusste, für welchen Zweck sie die Ketten trug und welche Zukunft auf sie wartete.
Maria hatte sich nach dem Essen ihren Handschuh ebenfalls gleich wieder anlegen lassen, sie genoss es sehr, in solch einer Umgebung ihre 'Pflicht' zu tun.
Florian schloss die Wohnungstür und führte Anna ins Wohnzimmer.
»Das war schön!« Anna hatte es zum ersten Mal geschafft, ihre Vergangenheit komplett hinter sich zu lassen und ihre neuen Gefühle in der Freiheit zu genießen. »Jetzt kannst du mir den Handschuh abnehmen.« Sie lächelte zu Florian.
»Ich dachte schon, du fragst gar nicht mehr.« Florian machte sich daran, die Riemen zu öffnen. »Du scheinst das ja wirklich zu mögen.«
»So ganz ohne Zwang hat es etwas Erotisches«, schwärmte Anna. »Ich fühlte mich sehr geborgen, wenn du bei mir bist.«
»Das hört sich an, als wolltest du den Handschuh jetzt wohl häufiger tragen« Florian zog das Leder herunter und legte es zusammen.
»Naja, häufiger als früher geht ja wohl schlecht.« Anna seufzte. »Und wenn das Fest vorbei ist, wird es nicht mehr so einfach möglich sein, den Handschuh draußen zu tragen.«
»Du hast dir darüber schon Gedanken gemacht?« Florian war verwundert.
»Hey!« Anna stupste ihren Mann an. »Du sagst doch immer, dass ich nach vorn denken soll.«
»Das Haus bleibt uns ja auch noch.« Florian zog seine Frau zu sich heran. »Und wir haben mittlerweile einige Freunde, die ähnlich denken.«
Gemeinsam versanken sie in einen langen Kuss.
Selma wusste, dass sie noch etwas tun musste. Sie ging zu Leonies Zimmer und klopfte an die Tür. »Leonie, bist du noch wach?«
»Kommen sie herein«, war von Leonie zu hören.
Selma öffnete die Tür und trat ein.
Leonie stand am Fenster und blickte verträumt in die Nacht hinaus. »Schade, dass es jetzt vorbei ist.«
»Bist du mir böse, dass ich dich so hinters Licht geführt habe?« Selma versuchte, die wahren Gedanken ihres Schützlings zu erfahren.
»Nein, überhaupt nicht.« Leonie drehte sich langsam um. »Es war wie ein Traum. Etwas, das ich mir schon immer gewünscht hatte.«
»Was hällst du davon, wenn wir ab morgen noch etwas strenger machen?« Selma versuchte Leonie ihre Idee schmackhaft zu machen. Außerdem reizte es sie, seid langem mal wieder ein Mädchen auf diese Weise zu konditionieren.
»Wie meinen sie das?« Es war Leonie anzusehen, dass sie nicht wusste, was kommen würde.
»Wir verkürzen deine Ketten, so dass du weniger Bewegungsfreiraum hast.« Selmas Stimme hatte etwas Schwärmerisches, ohne das sie es wollte. »Und wir bringen noch etwas mehr Ketten an dir an.«
Leonie blickte kurz an sich herunter, doch zu einer Antwort war sie nicht fähig.
»Meinst du nicht, dass du auch dann noch ausreichend Bewegungsfreiraum hast, wenn kurze Ketten deine Ellenbogen und Knie zusammen halten.« Sie zeigte mit den Fingern eine Strecke von vielleicht zehn Zentimetern.
Leonie nahm unwillkürlich die Haltung ein, die ihr mit den Ketten vermutlich aufgezwungen werden würde. Doch sie blickte Selma zunächst zweifelnd an. »So etwa?«
»Denke darüber nach.« Selma wusste, auf welchen Registern sie spielen musste. Es war wichtig für Leonie, dass sich ihre Gedanken mit der Zukunft beschäftigt waren und nicht mit der Vergangenheit. »Ich erwarte morgen früh deine Entscheidung.« Sie verließ das Zimmer, nachdem sie ihr eine gute Nacht gewünscht hatte.
Selma lächelte. Leonie würde noch lange über die Entscheidung grübeln, die vor ihr lag.
Donnerstag, 16 September 1984
»Guten Morgen, Leonie.« Selma begrüßte ihren Schützling, der schon früh aufgestanden war. »Du konntest wohl nicht mehr schlafen?«
»Guten Morgen, Frau Mohr.« Leonie hatte es schon lange aufgegeben, Selmas hellseherische Fähigkeiten zu hinterfragen. »Ja, ich hatte wilde Träume.«
»Jetzt frühstücken wir erst einmal.« Selma lächelte. »Und dann haben wir etwas zu besprechen.« Sie sah kurz auf die Kommode, auf der sie schon etwas vorbereitet hatte.
Leonie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, während sie ihr Frühstück genoss, doch die so demonstrativ auf der Kommode bereitgelegten Ketten und Lederriemen konnte sie nicht ignorieren. Sie zwang sich zu Ruhe, obwohl es wild in ihr tobte.
»Nun, hast du dich entschieden?«, fragte Selma, nachdem Leonie ihr Besteck beiseite gelegt hatte.
»Sie verlangen immer Entscheidungen von mir und sagen mir erst hinterher, welches die Konsequenzen sind.« Leonie hatte sich lange überlegt, was sie sagen wollte.
»Das sind die Bedingungen.« Selma hatte mit so einem Vorwurf durchaus gerechnet. »Es steht dir aber jederzeit frei, zu gehen.«
»Ich wüsste gern, für was ich mich entscheide.« Leonie war mittlerweile mutig genug, ihren Gedanken auszusprechen.
»Du musst Erfahrungen sammeln.« Selma lehnte sich zurück. »Und wie willst du das machen, wenn du es gar nicht ausprobierst?«
Leonie seufzte. »Sie haben ja Recht.«
»Du musst mit dem Herzen entscheiden, nicht mit dem Kopf.« Selma blickte Leonie lange an. »Ich kann dir viele deiner Wünsche erfüllen, aber nur, wenn du auch dazu stehst.«
Leonie blickte jetzt ganz offen zu der Kommode, auf dem die neuen Fesselsachen bereit lagen. Doch sie schwieg.
»Meinst du nicht, es wäre eine wichtige Erfahrung zu wissen, wie es ist, mit weniger Bewegungsfreiraum auskommen zu müssen?« Selma sagte den Satz recht beiläufig, doch sie wusste, dass er bei Leonie Gedankenstürme auslösen würde.
Leonie schwieg.
»Wenn jede Bewegung wegen der Ketten anstrengend ist, und du vor jedem Weg überlegen musst, ob sich die Mühen auch wirklich lohnen.« Selma sprach ruhig weiter, obwohl sie wusste, was ihre Worte bewirkten.
»Wie lange werde ich das tragen müssen?« Leonie versuchte noch einen kleinen Kampf gegen ihr drohendes Schicksal, von dem sie jedoch wusste, dass er von vorn herein aussichtslos sein würde.
»Wenn du danach verlangst, werde ich dir alle Ketten abnehmen.« Selmas Stimme wurde auf einmal ernst. »Aber dann musst du sofort unser Haus verlassen.«
Leonie schrak auf. Das war das Letzte, was sie wollte. »Bitte, ich möchte es probieren.« Dass sie auf ihre eigentliche Frage keine Antwort bekommen hatte, entging ihr.
»Probieren?« Selma runzelte die Stirn.
Leonie erkannte ihren Fehler. »Bitte legen sie mir die zusätzlichen Fesseln an.« Sie antwortete fast etwas hastig, denn sie wollte ihren Fauxpas korrigieren.
Selma stand auf. »Wir beginnen mit deinen Ellenbogen.« Sie trat an die Kommode und nahm einige der Gegenstände hoch. »Komm bitte zu mir und drehe dich mit dem Rücken zu mir.«
Leonie zitterte, als sie der Aufforderung nachkam. Gleich darauf fühlte sie, dass sich oberhalb ihrer Ellenbogen jeweils ein Lederriemen um ihre Arme oberhalb der Ellenbogen legte. Gleich darauf hörte sie leises metallisches Klirren und spürte ein Ziehen an ihren Ellenbogen.
»Wenn du mit den Lederriemen klar kommst, können wir es von Herrn Schwerterle auch in Metall anfertigen lassen. Möchtest du das?« Selma signalisierte, dass sie fertig war.
»Muss ich mich sofort entscheiden?« Leonie träumte zwar von einem Leben in strenger Fesselung, doch sie wollte es auch nicht überstürzen. Sie hatte in der Vergangenheit schon öfters die Erfahrung gemacht, dass gerade in Zusammenhang mit Bondage Eile ein schlechter Ratgeber war.
»Natürlich darfst du das später entscheiden.« Selma gab ihr einen leichten Klaps auf die Schulter. »Jetzt gewöhne dich erst mal an die neuen Fesseln, und wenn du damit klar kommst, kümmern wir uns um deine Beine.«
»Danke, Frau Mohr.« Es war für Leonie zur Selbstverständlichkeit geworden, sich für ihre Einschränkungen zu bedanken.
»Du könntest unser Geschirr wegräumen.« Selma versuchte ihr Lächeln in der Stimme zu unterdrücken. »Paul wird später noch frühstücken.«
Leonie nickte kurz, dann wollte sie wie gewohnt mit den Händen zugreifen. Sie erschrak geradezu, als sie die Wirkung der neuen zusätzlichen Fesselung spürte. Wenn sie eine Hand vor den Körper führen wollte, musste sie den anderen Arm bedingt durch die neue Kette auf den Rücken zurückziehen. Unwillkürlich entglitt ihr ein Fluch.
»Was sagtest du?« Selma hatte Schwierigkeiten, ihr Grinsen zu unterdrücken. Insgeheim ergötzte sie sich an den Mühen, die sie Leonie jetzt zusätzlich verursachte.
»Nichts, nichts.« In Leonie erwachte der Stolz. Sie würde sich nichts anmerken lassen und trotz der neuen Fesselung ihre Arbeit erledigen. Sie seufzte ein wenig. »Es ist nur etwas ungewohnt.«
»Du musst halt mehrmals gehen.« Selma kam nicht umhin, etwas auf dem sadistischen Register zu spielen. »Zumindest solange du das noch machen kannst.« Sie blickte deutlich auf die Beinfesseln, die noch auf der Kommode warteten.
Leonie seufzte wieder, doch diesmal blieb sie stumm.
* * *
»Guten Morgen«, Paul stand noch etwas verschlafen in der Küchentür. »Warum hast du mich so lange schlafen lassen?«
Selma lächelte vom Frühstückstisch, der noch für Paul gedeckt war. Sie erwiderte den Gruß. »Du hast sicher noch Jetlag, und nach dem Horrortag gestern...«
»Das war wirklich ein Albtraum, als ich den Streifenwagen mit Maria wegfahren sah.« Er seufzte, doch dann fiel sein Blick auf die Zeitung, die neben seinem Gedeck lag. »Was hat sie denn geschrieben?«
Seine Oma machte nur eine Handbewegung in Richtung der Zeitung.
Paul fiel nur nebenbei auf, wie gelassen sie dabei blieb. Anscheinend hatte die Reporterin Wort gehalten. 'Maria Beller aus dem Flugzeug heraus verhaftet.' So lautete die heutige Schlagzeile des Landsbacher Boten.
Paul verschlang den Artikel, ohne einmal aufzublicken. Andrea hatte wirklich ihr Wort gehalten und von Marias besonderer Armhaltung nichts erwähnt. Der Schwerpunkt des Artikels war die unsensible 'Verhaftung' von Maria durch den offensichtlich unfähigen Kommissars. Nur zwischen den Zeilen war zu lesen, dass Andrea noch einige spannende Ankündigungen machte.
»Sie hat Wort gehalten.« Paul blickte auf.
»Jetzt stehen wir schon doppelt in ihrer Schuld.« Selma seufzte. »Ich mache mir etwas Sorgen wegen Maria.«
* * *
»Die Prinzessin ist schon wach?« Mrs. Potter blickte von der Zeitung auf.
»Was für ein Albtraum.« seufzte Maria, nachdem sie ihrer Erzieherin einen guten Morgen gewünscht hatte. Doch dann fiel ihr Blick auf die Zeitung, die Mrs. Potter wieder zusammengelegt hatte. »Ich hatte schon gehofft, es wäre nur ein schlechter Traum gewesen.«
»Sie hat einen ziemlich dramatischen Artikel geschrieben.« Dorothea zeigte mit der Hand auf die Schlagzeile.
»Hat sie das Gebet erwähnt?« Maria ärgerte sich im Nachhinein über die Idee, das Flugzeug damit zu verlassen.
»Nein, sie hat dicht gehalten.« Dorothea legte die Zeitung neben Marias Gedeck. »Aber ließ selbst.«
Maria nahm einen Schluck vom duftenden Kaffee, dann vertiefte sie sich in die Zeitung.
* * *
»Frau Beller hat mir einen langen Brief geschrieben, in dem sie uns mitteilt, was für Maria bis zum Fest so alles wichtig werden wird.« Selma zeigte die vier Blatt Papier, die vor ihr lagen. »Sie sagt, sie hätte die Termine des Festes von Herrn Greinert bekommen und dann einen Therapieplan aufgestellt. Du hast dabei ganz zentrale Aufgaben.«
Innerlich seufzte Paul. Die Nähe zu Maria brachte viele Verpflichtungen mit sich. Er fragte sich, wie es wohl nach dem Fest sein würde. Doch dann verwarf er seine Gedanken. Maria hatte diese besondere Aufgabe, und es war einfach seine Pflicht, sich rund um die Uhr um sie zu kümmern. Außerdem durfte er für sie die Schlüssel verwalten, die Maria in ihre eiserne Rüstung sperrten.
»Wo ist eigentlich das Schlüsselbund für Maria?« Er erinnerte sich daran, dass er es nicht mit auf die Reise in die Staaten genommen hatte.
»Das liegt hoffentlich in deinem Schreibtisch.« Selma lächelte. »Ich soll jeden Morgen mit dir besprechen, was für den jeweiligen Tag wichtig ist.«
Paul seufzte kurz, als er die Verantwortung erkannte, die ihm aufgebürdet wurde. »Was liegt denn heute an?«
Selma blickte noch einmal auf die Liste. »Für heute ist nur ein ausführliches Rudertraining angesetzt.«
»Wann und wie lange?« Paul ahnte, dass Maria das Rudern nur eher widerwillig durchführen würde.
»Dazu hat sie keine Angaben gemacht.« Selma ließ das Papier sinken. »Aber sie hat angeregt, Anna ebenfalls zum Rudern zu nötigen. Sie meint, es wäre wichtig, dass sich die Muskeln bei Anna regenerieren.«
Pauls Miene zeigte, dass er über Letzteres überhaupt nicht begeistert war.
»Ich werde mit ihr und Florian reden und ihnen die Notwendigkeit erklären.« Selma gab sich zuversichtlich. »Sie werden dann auf dich zukommen.«
Paul gingen diverse Gründe durch den Kopf, warum er nicht auch noch für Anna Verantwortung übernehmen wollte, doch der Blick seiner Oma ließ ihn gedanklich verstummen.
* * *
»Guten Morgen.« Anna und Florian betraten die Redaktionsräume der Zeitung und blickten sich um. Ihr Blick blieb an Andreas Schreibtisch hängen.
»Ah, da bist du ja« Andrea erhob sich und bat Anna zu sich. Doch dann fiel ihr Blick auf Florian. Sein besonderer Blick war ihr aufgefallen, es war eine Mischung aus Liebe und Neid. Andrea begriff sofort, was ihn bewegte. Seine Freundin hatte einen Job und er hatte nichts zu tun.
Sie wies Anna einen Stuhl zu, dann ging sie zu Florian. »Was hast du denn gelernt?«
»Ich habe Maschinenschlosser gelernt«, antwortete er etwas unsicher, weil er nicht wusste, was kommen würde.
»Wenn du möchtest, dann kann ich mich mal etwas umhören, ob jemand Arbeit für dich hat.« Andrea blickte kurz zwischen ihm und Anna hin und her.
Florian hatte seine Bedürfnisse bisher denen von Anna hintenangestellt, jetzt erinnerten ihn die Worte der Reporterin an seine eigene Zukunft. »Wenn es keine Umstände macht?«
»Wo kann ich dich erreichen?« Andrea nahm Block und Stift zur Hand. »Ich habe da schon eine Idee.« Sie lächelte geheimnisvoll.
»Ich wollte heute Frau Mohr im Garten helfen.« Gärtner hatte er zwar nicht gelernt, aber auch er hatte das Bedürfnis, sich nützlich zu machen.
»Dann weiß ich ja, wie du erreichbar bist.« Andrea hatte schon einen ganz konkreten Plan, doch sie wollte ihnen nicht unnötig falsche Hoffnung machen.
»Verabschiede dich von Anna, wir haben gleich einen ersten Termin.« Andrea lächelte und blickte dann höflich weg.
* * *
»Was muss ich denn tun?« Anna hatte bisher stillschweigend zugesehen, wie Andrea ihre Tasche gepackt hatte.
»Wir gehen jetzt zu Maria für ein Interview.« Andrea erklärte ihre Pläne. »Ich möchte einen eigenen Artikel schreiben über ihre Zeit in Amerika.« Der Reporterin fiel sofort auf, dass sich ein Schatten über Annas Miene legte, als sie ihre alte Heimat erwähnte. Sie nahm es zur Kenntnis, vermied es aber, schon jetzt nachzuhaken. »Wir werden das Interview auf Englisch führen, dann kann ich auch gleichzeitig meine Sprachkenntnisse etwas auffrischen, und du kannst gern auch Fragen stellen.«
»Maria ist sehr tapfer und ehrgeizig.« Annas Stimme zeigte, wie sehr sie von Pauls Freundin beeindruckt war.
»Außerdem haben sie mir versprochen, dass ich das Gebet einmal sehen darf.« Andreas Stimme hatte etwas Schwärmerisches.
»Oh ja, das ist wirklich beeindruckend.« Anna deutete an, was sie in den wenigen Momenten von Maria gesehen hatte.
* * *
Auf dem Weg zu Maria lief Paul der Reporterin und Anna über den Weg. »Wo wollt ihr denn hin?« fragte er höflich.
»Maria hat uns ein Interview zugesagt«, erklärte Andrea, dann berichtete sie von den Plänen zu ihrem nächsten Artikel. Er sollte über die Zeit in den Staaten berichten.
»Naja, ich kann nur über die zweite Hälfte berichten, aber die war turbulent.« Er zwinkerte Anna zu, die den Blick etwas wehmütig erwiderte.
»Wenn ich das richtig weiß, wurdest du ja ziemlich überrumpelt mit dem Flug?« Andrea hatte das Talent, ihr Halbwissen einzusetzen, um von den Leuten dann alles zu erfahren.
Auf dem Weg zu Maria erzählte Paul von der Fahrt zum Flughafen und wie er sich dann im Flieger wiederfand.
»Und sie haben dir wirklich nichts gesagt?« Anna fand die Geschichte ebenfalls sehr spannend.
»Naja, sie haben mir dann schon alles wichtige gesagt: Adresse vom Krankenhaus, Hotels in der Nähe und dass ich abgeholt werde.« Paul klang sentimental. »Aber die ganze Zeit hatte ich Bauchschmerzen, weil ich nicht wusste, wie Maria reagieren würde.«
»Sie hat sich doch sicher gefreut?« Anna konnte sich gut in die Situation hinein versetzen.
»Ich glaube schon.« Er berichtete von der Szene, als er mit einem Blumenstrauß ihr Zimmer betreten hatte.
»Ich glaube, wir sind da.« Andrea war den Weg zwar schon öfters gegangen, trotzdem kontrollierte sie noch einmal die Hausnummer.
Mrs. Potter stand schon in der Tür, als Andrea und ihre Begleiter über den Kiesweg schritten. »Kommen sie herein«, sagte sie zur Begrüßung. »Darf ich ihnen etwas zu Trinken anbieten?«
»Ich danke ihnen für die Einladung.« Andrea blickte sich kurz am. »Das ist Anna, sie wird mir etwas assistieren.« Dann nannte sie ihren Getränkewunsch.
Mrs. Potter gab Paul ein Zeichen, dann drehte sie sich um. »Wir gehen ins Wohnzimmer.« Sie schritt voran.
Im Wohnzimmer wartete schon Maria, und es war ihr anzusehen, dass das heutige Interview etwas Besonderes sein würde. Sie erhob sich, um Andrea und Anna zu begrüßen.
Paul betrat den Raum und trug ein Tablett mit den Getränken. Er servierte, dann setzte er sich neben Maria und ergriff ihre Hand.
Andrea griff in ihre Tasche und holte ihr Diktiergerät heraus. »Sie erlauben?« Als kein Widerspruch kam, schaltete sie es an. »Was ist nun alles passiert in den Staaten?«
Maria begann zu erzählen, von der Ankunft, von den ersten Tagen und von ihrer Begegnung mit der echten Prinzessin. Lediglich zum familiären Hintergrund zu Anna hielt sie sich etwas zurück.
Andrea war sichtlich beeindruckt. »Das waren ja richtige Heldentaten.« Sie lächelte.
»Naja«, Maria gab sich bescheiden. »Ich habe schon etwas mit der Prinzessin und Betty mitgefiebert. Und ich bin glücklich, dass es für sie so gut ausgegangen ist.«
»Danke, das war sehr freundlich.« Andrea schaltete ihr Gerät demonstrativ aus. »Jetzt hätte ich noch einen Wunsch.«
»Sie möchten das Gebet sehen?« Mrs. Potter wusste, was die Reporterin bewegt.
»Wenn es machbar wäre?« Andrea hoffte verbergen zu können, dass ihre Neugier diesmal eher privater Natur war.
Andrea stockte schon der Atem, als sie sah, wie Maria sich die Bluse auszog und ihre Arme auf den Rücken so weit in die Position brachte, die sie noch allein einnehmen konnte.
Paul war entsprechend vorbereitet und er legte Maria sofort die nötigen Riemen an, um ihre Arme in der gewünschten Position zu fixieren.
Von Andrea war ein deutliches Keuchen zu hören. »Das ist unglaublich.«
Maria lächelte.
»Und wie lange halten sie das aus?« Andrea hatte vor lauter Faszination gar nicht bemerkt, dass sie plötzlich in das Sie verfallen war.
»Ich habe das Gebet schon sechs Stunden lang getragen.« Ihre Stimme zeigte viel Stolz.
»Und der Arzt hat uns bestätigt, dass sie es auch noch länger ausgehalten hätte.« Paul war nicht minder stolz auf die besonderen Fähigkeiten seiner Freundin.
»Ich bin sprachlos.« Andrea war anzusehen, wie sehr sie beeindruckt war. »Und das werden sie auf dem Fest tragen?«
»Wir hatten das als die große Überraschung geplant.« Maria seufzte. »Aber seit der Ankunft haben es schon so viele Leute gesehen.« Es war ihr deutlich anzuhören, wie enttäuscht sie über den Ablauf der Ankunft war.
Andrea hatte auf einmal einen Kloß im Hals, denn sie hatte erkannt, in welcher verzwickten Lage sie sich befand. Einerseits war Marias Armhaltung tatsächlich die Sensation, andererseits fühlte sie sich jetzt umso mehr verpflichtet, das Geheimnis zu bewahren, bis es im Rahmen des Festes sowieso bekannt werden würde. »Ich bin begeistert.«
»Es ist eine sehr unnatürliche Haltung, und meine Muskeln mussten langsam daran gewöhnt werden.« Sie erinnerte noch einmal an die Übungen und Behandlungen, die sie in den Staaten über sich ergehen lassen musste. »Ohne dich hätte ich das nicht ausgehalten.« Sie lächelte Paul an.
»Stets zu Diensten, Hoheit.« Paul deutete eine übertriebene Verbeugung an.
»Oh Mann«, Andrea seufzte, »Ich wünschte, mein Hans wäre auch so.«
Auch Anna war sichtlich fasziniert. »Ich habe das ja schon in der Klinik gesehen, und ich wollte es nicht glauben.«
Andrea hätte gern bei Anna nachgehakt, doch aus dem Brief wusste sie, dass Marias Mutter darum gebeten hatte, bis auf weiteres nicht in Annas Vergangenheit zu forschen. Andrea war diese Formulierung schon einmal begegnet, und damals hatte sie unfreiwillig eine Person im Zeugenschutzprogramm enttarnt, deswegen war sie jetzt gewarnt. Außerdem hatte Frederike angedeutet, dass sie zu passender Zeit mehr zu Anna erfahren sollten.
»Bereit für das Venus-Korsett?« Paul hielt das weiße Kleidungsstück in der Hand.
»Venus-Korsett?« Andrea wurde hellhörig. »Ich habe bisher immer gedacht, das wäre nur eine Legende.« Erst jetzt fiel ihr auf, dass Maria quasi nur ihren BH trug.
Anna bewunderte Maria. »Dass du freiwillig auf deine Arme verzichtest...«
»Ich bin es gewöhnt.« Maria wurde ein wenig rot. »Außerdem sind sie dann immer so aufmerksam.«
»Wer?« Anna hatte die Zusammenhänge noch nicht verstanden.
»Naja, meine Erzieherin und Paul« Sie wurde noch etwas röter.
»Du bist aber auch sehr hilfsbedürftig, wenn deine Arme so verpackt verpackt sind..« Mrs. Potter lächelte.
»Aber ich bin geschützt.« Maria strahlte ein wenig Stolz aus.
»Da fällt mir noch etwas ein.« Mrs Potter blickte Andrea verlegen an. »Sind sie fertig mit dem Interview?«
»Ja, ich habe jetzt wirklich alles gesehen.« Andrea packte ihre Sachen zusammen und blickte Anna aufmunternd an. »Wir wären dann fertig.«
Doch Marias Erzieherin unterbrach sie. »Ich würde mich gern kurz noch mit Anna unterhalten, allein.«
Andrea blickte auf die Uhr. »Dann machen wir hier gleich Schluss.« Sie gab Anna die Hand. »Für heute hast du genug gearbeitet.« Dann verabschiedete sie sich von den anderen und ging. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Danke für dieses tolle Erlebnis.«
* * *
»Anna, man sagte mir, dass du Probleme mit deinem Keuschheitsgürtel hast?« Mrs. Potter hatte auf einmal einen kämpferischen Blick.
»Den Schlüssel hat mein Vater.« Mit Schaudern dachte sie an den Moment, wie sie von ihm in den Gürtel eingeschlossen wurde. Das lag nun schon ein paar Jahre zurück, und bis vor kurzem hatte Anna schon all ihre Hoffnung aufgegeben, sich wieder einmal berühren zu dürfen. Von mehr wagte sie ohnehin nicht zu träumen.
»Zeig mit bitte einmal das Schloss«, bat Mrs. Potter, nachdem sie Maria und Paul aus dem Raum geschickt hatte.
Anna knöpfte sich die Jeans auf und machte ihren Bauch frei, so dass Marias Erzieherin einen Blick darauf werfen konnte.
»Das dachte ich mir schon.« Mrs. Potter ging zu einer Kommode und zog die zweite Schublade auf, dann nahm sie ein Schlüsselbund heraus. Schon der dritte Schlüssel passte und ein erlösendes Klick war zu hören. »Na also.«
Anna brach in Tränen aus. »Ich hatte schon gedacht, ich würde dieses Scheißding mein Leben lang tragen müssen.« Doch dann bemerkte sie, dass Mrs. Potter auf einmal ziemlich ernst wurde.
»Ich werde dir den Gürtel wieder verschließen.« Dorothea blickte Anna ernst an. »Es ist nicht gut, wenn du selbst den Schlüssel bei dir trägst.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Ich möchte, dass du deinen Florian holst.«
Anna wischte sich ihre Tränen weg, dann blickte sie auf. »Bei Maria ist es doch auch so. Paul hat den Schlüssel?«
»Das siehst du richtig.« Mrs Potter ging zu Tür. »Und nun lauf und hol ihn.«
Anna war etwas außer Atem, als sie bei Frau Mohr klingelt. Doch zunächst öffnete keiner. Sie erinnerte sich daran, dass Florian Pauls Oma ja im Garten helfen wollte, und so ging sie um das Haus herum.
Er stand an den Rosensträuchern und half Selma beim Entfernen der alten Blüten.
Anna ging auf ihn zu und strahlte ihn an. »Er ist offen.«
Florian legte die Schere weg und nahm seine Freundin in den Arm. Doch dann stutze er. »Du trägst ihn aber noch?«
»Es ist zu meinem Schutz, sagt sie.« Anna gab ihm einen Kuss. »Sie möchte uns sprechen.«
»Doro hatte also Erfolg?« Selma war den Worten gefolgt.
»Gleich der dritte Schlüssel hat gepasst.« Annas Worte zeigten neben der Erleichterung auch ein gewisses Zittern.
»Dann solltet ihr sie nicht warten lassen.« Selma lächelte und gab Florian frei. »Wir machen dann später weiter.«
Mrs. Potter hatte eine kleine Schmuckkette vorbereitet, an den sie den für Annas Keuschheitsgürtel passenden Schlüssel angehängt hatte. Sie wusste, dass sie es ein wenig feierlich machen musste.
»Ah, da seit ihr ja.« Sie wartete, bis Anna und Florian im Wohnzimmer Platz genommen hatten, dann begann sie mit den Worten, die sie sich zurecht gelegt hatte. »Wie ihr wisst, habe ich einen passenden Schlüssel für den Gürtel gefunden.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Es gibt also keinen Grund, ihn mit Gewalt kaputt zu machen.«
Außerdem hatte sie Zweifel, ob das überhaupt geglückt wäre. Der Gürtel aus einem sehr hochwertigem Material und hätte einer einfachen Säge oder Zange gewiss widerstanden. Er musste ein Vermögen gekostet haben.
»Anna soll ihn weiterhin tragen, damit sie geschützt ist?« Florian hatte sich mit dem Thema auch schon befasst. »Wann dürfen wir über den Schlüssel verfügen?« Es war eine gewisse Anspannung in seinen Worten, es war offensichtlich, was sie wirklich bewegte.
»Ich habe von diesem Schlüssel noch ein Exemplar, ich kann also gut darauf verzichten.« Sie hob die Kette hoch und reichte sie Florian. »Bitte passe immer gut darauf auf, es ist auch der Schlüssel zu Annas Herzen.«
Florian musste schlucken, dann nahm er die Kette entgegen und hängte sie sich um seinen Hals. »So trage ich ihn nahe am Herzen«, antwortete er leicht poetisch.
Anna saß die ganze Zeit atemlos neben ihm, und jetzt erst erkannte sie, was gerade passiert war. »Sie schenken uns den Schlüssel?«
»Sagen wir mal, ich leihe ihn euch.« Mrs. Potter lächelte. »Es wird eines Tages der Moment kommen, an dem du den Gürtel ablegst, weil du seines Schutzes nicht mehr bedarfst.« Wieder machte sie eine lange Pause. »ich würde mich freuen, wenn ihr mir dann den Gürtel und den Schlüssel überlassen würdet.«
»Das machen wir, ganz bestimmt.« Anna rutsche etwas nervös auf ihrem Stuhl hin und her.
»Ich glaube, ihr möchtet euch dann sicher zurückziehen.« Marias Erzieherin griff zum Telefon. »Doro hier«, meldete sie sich. »Es ist passiert. Stelle bitte etwas Sekt bereit für die beiden. Ich denke, sie wollen auf ihre neue Freiheit anstoßen.« Dann legte sie wieder auf. »Sie erwartet euch.«
Selma blickte sich noch einmal um. Es war immer wieder faszinierend, wie man mit ein paar wenigen Kerzen und gedämpften Licht eine romantische Stimmung erzeugen konnte. Es war alles bereit für das kleine Liebesnest.
Sie war sich zwar nicht sicher, ob es dann schon gleich passieren würde, doch auf jeden Fall stand etwas Sekt bereit, um auf die neu gewonnene Freiheit anzustoßen. Auch ein paar Kondome hatte sie bereit gelegt.
* * *
Paul war seit den einschneidenden Ereignissen auf der Hütte und in Amerika das erste Mal wieder allein mit Maria in ihrem Zimmer. Er ließ seinen Blick langsam durch den Raum schwenken. Mit einigen der Gegenstände verband er schon eine schöne Erinnerung. Besonders war ihm der Schreibtisch in Erinnerung geblieben, an dem er mit Maria für die Schule geübt hatte.
Mrs. Potter hatte sie herauf geschickt, weil sie unten mit Anna und Paul allein reden wollte. Jetzt war es unten wieder ruhig, und die Schritte von Mrs. Potter waren auf der Treppe zu hören.
Unwillkürlich wollte eigentlich Pauls routinemäßig Marias Hand ergreifen, doch er realisierte, dass Maria noch das Gebet trug. So setzte er sich nur neben sie und legte den Arm um sie. Es gab zwar eigentlich keinen Grund für die Anspannung, doch die Atmosphäre im Zimmer brachte es einfach mit sich.
»So, das wäre geschafft.« Marias Erzieherin betrat das Zimmer und blickte sich um.
»Ließ sich der Gürtel öffnen?« Paul war neugierig.
»Ein sehr hochwertiges Modell.« Mrs. Potter ging auf die Frage ein. »Mit einfachem Werkzeug wäre da nichts gegangen.« Sie blickte aus dem Fenster. »Ich frage mich, warum sie so viel Geld für den Gürtel ausgegeben haben und dann ein Standardschloss benutzen.«
»Wundert mich auch, bei dieser Familie.« Maria lehnte sich mit dem Kopf an Paul.
»Es wären ja noch einige Hausaufgaben zu machen.« Es gehörte zu Mrs. Potters unangenehmen Pflichten, Maria immer an ihre Hausaufgaben zu erinnern, egal ob es um die Schule oder das Programm ging. »Aber wie wäre es, wenn wir mit Morgen tauschen.«
»Oh ja, sehr gern.« Maria war von dem Vorschlag sichtlich angetan. Doch als sie Pauls fragendes Gesicht sah, musste sie lächeln. »Für Morgen ist das Tragen des Gebetes dran und heute müsste ich rudern.«
»Und da das Gebet sowieso gerade angelegt ist...« Mrs. Potter lächelte. »Wenn ihr wollt, könnt ihr einen Spaziergang machen.«
»Mit dem Gebet?« Paul war mehr als überrascht.
»Wie wäre es, wenn ihr das weiße Cape benutzt?« Mrs. Potter lächelte. »Darunter lassen sie die Arme gut verstecken.«
»Aber vergiss nicht wieder die Schlüssel« Maria neckte ihren Freund.
»Das war mir mehr als unangenehm.« Paul grinste.
»Ihr könntet bei der Schneiderin vorbei schauen, die freut sich bestimmt, wenn sie das Gebet jetzt schon zu sehen bekommt.« Mrs. Potter verließ den Raum.
Paul stand auf und legte Maria eine Hand auf die Schulter. »Darf ich der Prinzessin beim Aufstehen helfen?«
* * *
»Ah, schön, dass ihr vorkommt.« Die Schneiderin Roswihta Bartels bat ihre Besucher herein. »Ich wollte euch in den nächsten Tagen sowieso um einen Anprobe bitten. Kommt doch bitte herein.«
Paul und Maria kamen der Aufforderung gerne nach.
»Ich bin schon sehr gespannt, wie das Gebet aussieht.« Sie berichtete, dass sie bisher nur eine Schneiderpuppe zur Verfügung hatte.
Maria lächelte Paul an. »Nimmst du mir bitte das Cape ab?«
Paul kam der Aufforderung nach und öffnete Marias Umhang. Erst als er den Schlüsselbund wieder einsteckte, fiel ihm siedend heiß ein, dass Maria eigentlich nicht wollte, dass andere Leute von den besonderen Eigenschaften des Capes etwas erfuhren. Doch zu seiner Erleichterung waren sowohl die Schneiderin als auch seine Freundin etwas abgelenkt.
Maria drehte der Schneiderin sofort den Rücken zu und präsentierte ihre Arme in dieser so völlig unnatürlichen Haltung. Nur dank des langen und intensiven Trainings in der Klinik war dies möglich. Und es machte Maria sehr stolz.
»Das ist ja Wahnsinn.« Roswihta kam näher. »Darf ich dich einmal anfassen?«
Maria spürte die Anspannung der Schneiderin. »Gern.«
»Ich hatte es ja nicht geglaubt.« Roswihta keuchte, doch dann fiel ihr ihr eigentlicher Auftrag wieder ein. »Ich beeile mich auch mit der Anprobe.«
Paul ahnte, was die Schneiderin bewegte. »Maria muss es heute noch bis Mittag tragen, sie können sich Zeit lassen.« Er hatte einen bösen Blick von Maria erwartet, doch er bekam nur ein verliebtes Lächeln.
* * *
»Nun Leonie, wie geht es dir?« Selma betrat die Küche, in der Leonie gerade mit dem Ausfegen fertig geworden war.
»Es ist alles so mühsam.« Leonie stellte den Besen in den Schrank, dann blickte sie Frau Mohr an. Sie erschrak, als sie sah, das Selma die nächsten Fesseln in der Hand hielt.
»Das heißt, du kommst mit deiner neuen Armfesselung gut zurecht?« Selma freute sich, nach langer Zeit wieder einmal so mit einem jungen Mädchen reden zu können.
Leonie erkannte die verzwickte Lage, in die sie sich selbst gebracht hatte. Sie hatte nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie stimmte weiteren Fesseln zu oder sie musste das Haus verlassen. Letzteres wollte sie aber auf keinen Fall. Doch sie hatte genauso Angst vor weiteren Einschränkungen, denn schon mit der Ellenbogenfesselung hatte sich ihre bisher gewohnte Arbeitsweise drastisch verändert. Sie konnte nicht mehr so viel tragen und musste manche Wege mehrfach gehen.
Und jetzt würde als nächstes ihre Beinfreiheit eingeschränkt werden. Obwohl Leonie jetzt wusste, dass alles nur ein Spiel war, hatte es doch für sie einen ungewohnten Ernst, denn es hieß quasi immer »doppelt oder nichts«.
»Frau Mohr, können wir nicht noch etwas warten?« Leonie versuchte einen Widerspruch, doch sie wusste, dass es aussichtslos sein würde.
»Ich habe dir jetzt schon zwei Stunden mehr Zeit gegeben, als es eigentlich üblich ist.« Selma genoss die Situation mit allen Sinnen. »Jetzt ist es wirklich Zeit für die nächsten Fesseln.«
Obwohl Leonie wusste, dass Selma sich von Tränen nicht beeindrucken ließ, konnte sie nicht verhindern, dass ein paar davon über ihre Wangen rollten. Sie versuchte sie wegzuwischen, doch sie stellte fest, dass ihre so drastisch eingeschränkte Armfreiheit ihr selbst dies nicht mehr erlaubte.
»So schlimm ist es doch gar nicht.« Selma hatte die Tränen ebenfalls bemerkt. »Du hast nur etwas Angst vor dem Unbekannten.« Sie stellte zwei Stühle gegenüber und bat ihren Schützling, auf einem davon Platz zu nehmen.
Leonie kam der Bitte seufzend nach. Doch dann erkannte sie, dass Frau Mohr Recht hatte - es war tatsächlich die Angst vor dem Neuen und Unbekannten, welche sie so zögern ließ. Denn an die Ellenbogenfesselung hatte sie sich erschreckend schnell gewöhnt und ihre Bewegungen darauf abgestimmt.
Selma setzte sich auf den zweiten Stuhl und schlug Leonies Rock hoch, bis die Knie sichtbar waren.
Leonie blickte traurig aus dem Fenster. Sie wollte nicht sehen, wie sie wieder ein Stück ihrer Freiheit verlor. Nur einen Stöhnen entglitt ihr, als sie die Berührungen des Leders an ihren Beinen spürte. Gleich darauf war wieder das leise Klirren zu hören.
»Das war es schon.« Selma schlug den Rock wieder herunter und stand auf. »Morgen belassen es wir dabei, doch wie wäre es, wenn du ab Samstag auch noch ein Halskorsett trägst?«
Leonie war nur im ersten Moment entsetzt, dann horchte sie tief in sich hinein. Sie fragte sich, wie viele Fesseln möglich waren, bis ihr Alltag nicht mehr zu meistern war. Schließlich gab es noch genügend gemeine Gegenstände, die ihr das Leben schwer machen konnten. Von ihrer Familie und auch von der Hütte her hatte sie schon genügend Inspirationen dazu bekommen. »Ich glaube, ich freue mich darauf.« Leonie fragte sich, wer ihr gerade die Worte in den Mund gelegt hatte.
»Das ist schön, Leonie.« Selma lächelte. »Das ist schön.«
* * *
Kommissar Klüver traf sich vor der Klinik mit seinem Assistenten und der Besatzung eines Streifenwagen. »Das Vorgehen ist klar. Wir gehen da rein und holen uns die Krankenakten der Baroness. Noch Fragen?«
»Haben wir einen Durchsuchungsbeschluss?« Der Assistent erinnerte seinen Chef nur ungern an die Vorschriften.
»Nein, haben wir nicht.« Klüver verzog das Gesicht. »Aber ich habe eine Verfügung zur Akteneinsicht und darf sie bei Bedarf beschlagnahmen.«
»Sind wir sicher, dass es diesmal die richtige Spur ist?« Der Assistent stöhnte. »So einen Einlauf vom Chef brauche ich nicht noch mal.«
»Erstens ist das mein Problem«, Klüver war ungeduldig. »Und außerdem gebe ich hier die Befehle.« Er gab der Besatzung des Streifenwagen ein Zeichen, dann betrat er die Klinik.
»Auf welcher Station liegt die Baroness?« fragte er die Schwester am Empfang, die ihm pflichtbewusst Auskunft gab. Er gab die Daten an seine Begleiter weiter. »Auf geht's.«
Er sah nicht, dass die Schwester gleich danach zum Telefon griff.
»Oberschwester Hildegard, sie wünschen?« Die Oberschwester meldete sich am Telefon.
»Gleich kommen ein paar Polizisten, die die Baroness zu sehen wünschen.« Die Stimme des Chefarztes Albert Vogel zeigte, dass er sehr nervös war.
»Soll ich sie abwimmeln?« Die Schwester blieb gelassen.
»Das wird nicht mehr gehen.« Der Chefarzt stöhnte. »Sie haben einen richterlichen Beschluss dabei. Geben sie ihnen, was sie verlangen.«
»Ich glaube, da kommen sie schon.« Die Schwester legte auf, dann stand sie auf und setzte ihre dienstliche und eher missmutige Miene auf. »Sie wünschen?«
Klüver zeigte das Schreiben des Richters vor. »Wir möchten gern die Akten der Baroness einsehen. Bitte suchen sie sie heraus. Wir warten solange.« Er wusste, dass er sich von der Schroffheit der Oberschwester nicht abschrecken lassen durfte. Seine Kollegen hatten ihn entsprechend vorbereitet.
Die Oberschwester riss ihm das Papier aus den Händen und tat, als würde sie es gründlich lesen. Tatsächlich wollte sie nur ihre Machtposition deutlich machen. Schließlich ließ sie den Bogen sinken und rief eines ihrer Lehrmädchen herbei. »Bringen sie mir die Akte der Baroness.« Sie wollte sich nicht die Blöße geben, nach der Akte zu laufen. »Der Kommissar hat das Recht auf Akteneinsicht«, schob sie erklärend hinterher.
Gleich darauf kam das junge Mädchen zurück und reichte dem Kommissar die verlangte Akte.
Klüver nahm die Mappe entgegen und begann darin zu blättern. Er versuchte dabei abzuwägen. Würde er von der Oberschwester auch verlangen können, das medizinische Kauderwelsch zu übersetzen. Doch dann hatte er eine bessere Idee. »Kündigen sie mich bitte beim Chef an.« Er blickte die Schwester auffordernd an.
Schwester Hildegard zählte innerlich bis zehn, dann kam sie dem Befehl nach. »Chef, der Kommissar möchte sie noch mal sprechen.«
Sie lauschte einen Moment in den Hörer. »Ja, die Unterlagen habe ich ihm gegeben.« Sie legte auf und blickte Klüver an. »Er erwartet sie.«
Der Chefarzt Albert Vogel wischte sich den Schweiß von der Stirn. Jetzt würde er gleich Farbe bekennen müssen. Er wusste, dass die Akte der Baroness für einen Laien sehr beeindruckend sein würde, doch darin standen nur medizinische Belanglosigkeiten, teilweise sogar mit Phantasiewörtern gespickt. Wenn die Polizei die Unterlagen von einem anderen Arzt prüfen lassen würde, dann würde er sofort auffliegen. Schließlich hatte er alles auch unterschrieben.
Doch er hatte nicht mehr viel Zeit, denn bald nach dem Anruf hörte er schon die Schritte der Beamten im Vorzimmer, und gleich darauf kündigte seine Sekretärin den Kommissar an.
Klüver betrat das Zimmer des Chefarztes Er zeigte das Schreiben des Richters vor, dann legte er dem Chef die bewusste Akte auf den Tisch.
Der Chef hielt seinen Kopf gesenkt. Insgeheim erwartete er ein Donnerwetter.
Doch Klüver tat etwas, mit dem der Arzt überhaupt nicht gerechnet hatte. »Können sie mir das hier übersetzen? Was ist mit der Baroness passiert?«
Albert Vogel glaubte sich zunächst verhört zu haben. Es kostete ihn viel Kraft, doch er blickte nicht auf, sondern nahm sich wortlos die Mappe und begann darin zu blättern, um Zeit zu gewinnen. Innerlich war er hoch erregt. Anscheinend war dem Kommissar nicht aufgefallen, dass er selbst diese Berichte geschrieben hatte.
Sehr sorgfältig legte sich der Arzt die Worte zurecht und sehr zögernd begann er die Geschichte zu erzählen, die er auch der Reporterin erzählt hatte.
* * *
»Friedrich, es muss etwas geschehen. Du musst deine Tochter aus der Klinik holen.« Albert Vogel war sehr erregt, als er mit dem Baron telefonierte.
»Was ist denn los?« Baron Harsumstal war verwundert.
»Eben war die Polizei da und hat Einsicht in die Krankenakte verlangt.« Albert stöhnte. »Ich habe ihm die gleiche Geschichte erzählt wie der Reporterin. Es war verdammt knapp.« Er hatte damals nur einem alten Kameraden einen Gefallen getan, doch jetzt drohte seine Klinik deswegen in Verruf zu geraten, und das musste er unbedingt verhindern. »Ich flehe dich an, bitte hole sie hier raus.«
»Wie soll ich das machen?« Der Baron spürte, dass die Klinik nicht mehr der richtige Aufenthalt für seine Tochter war, doch es kam ihm jetzt zur Unzeit.
»So wie sie hereingebracht wurde.« Albert Vogel hatte schon einen konkreten Plan. »Ich stelle euch Transportpapiere aus für eine andere Klinik und ihr holt sie ab. Was ihr dann mit ihr macht, geht mich nichts mehr an.«
»Und wann soll das stattfinden?« Friedrich ahnte die Antwort schon.
»Am besten noch heute.« Albert stöhnte wieder. »Ich konnte die Polizei gerade noch abwimmeln und falls sie noch einmal wiederkommen, muss Sophie weg sein.«
»Ich werde mich darum kümmern.« Der Baron klang nicht begeistert. »Wir werden kommen.«
»Ich mache die Papiere fertig.« Albert verabschiedete sich.
Der Baron legte auf und klingelte nach seinem Butler. »Sagen sie bitte meinem Neffen, dass er sofort vorbeikommen soll.«
* * *
»Ihr müsst Sophie jetzt sofort aus der Klinik holen.« Der Baron hielt sich nicht mit unnötigen Floskeln auf, als sein Neffe in sein Büro kam. Er zeigte auf die Sanitäterkleidung und die falschen Bärte, die sie für den fingierten Unfall schon einmal genutzt hatten.
»Was ist denn los?« Franz-Ferdinand war wenig begeistert.
»Die Polizei war in der Klinik, und sie hätten uns fast enttarnt.« Der Baron stöhnte. »Albert konnte es gerade noch abwenden.«
Franz-Ferdinand begann, sich die Uniform anzuziehen. »Hast du wieder den Transporter ausgeliehen?«
»Nein, das ging auf die Schnelle nicht.« Der Baron blickte etwas sorgenvoll aus dem Fenster. »Ihr holt sie mit der Limousine ab.«
»Wird das nicht auffallen?« Franz-Ferdinand war über die Pläne seines Onkels etwas verwundert.
»Das Risiko müssen wir eingehen.« Der Baron hatte sich schnell entscheiden müssen. »Ihr holt sie mit einem Rollstuhl heraus und setzt sie dann ins Auto.«
»Und was machen wir mit ihr?« Der Neffe war über die Pläne seine Onkels nur grob informiert.
»Ich habe die alte Dienstbotenwohnung im Keller vorbereitet, dort wird sie bis aufs weitere bleiben.« Friedrich erläuterte seinen Plan. »Du musst dann täglich nach ihr sehen, sie kann sich noch nicht selbst ernähren.«
Franz-Ferdinand nahm es zur Kenntnis.
* * *
»Wir wollen die Baroness abholen, sie wird in eine andere Klinik verlegt.« Franz-Ferdinand zeigte der Oberschwester die Papiere, die sie von Albert Vogel bekommen hatten. Er hatte sich wie sein Begleiter wieder die Sanitäter-Uniform angezogen.
»Na endlich.« Die Oberschwester war erleichtert. »Dann kommt dieses Biest endlich weg.« Sie drehte sich um und ging zu ihrem Schreibtisch. »Hier sind die Papiere.« Sie reichte Franz-Ferdinand die Mappe.
»Ist sie schon transportfähig?« Franz-Ferdinand versuchte sich an den abgesprochenen Text zu erinnern.
»Haben sie einen Rollstuhl?« Die Oberschwester blickte kurz aus dem Fenster. »Gehen kann sie noch nicht.«
»Wir haben keinen dabei.« Franz-Ferdinand ärgerte sich, dass er daran nicht gedacht hatte. »Können sie uns einen leihen? Wir müssen sie ja nur bis zum Wagen bringen.«
Die Oberschwester rief eine Schwester zu sich. »Bringen sie bitte einen Rollstuhl auf das Zimmer der Baroness.« Dann bat sie die beiden Herren, ihr zu folgen.
Als Franz-Ferdinand das Zimmer betrat, legte er sofort warnend seinen Finger auf den Mund, doch dann erblickte er seine Cousine, und er erkannte, dass sie ihn nicht verraten konnte. Sie trug immer noch die Gesichtsmaske, die nur ihre Augen frei ließ, aber ihren Mund sicher verschlossen hielt.
»Hier sind die Schlauchanschlüsse für die Ernährung.« Die Oberschwester zeigte die wichtigen Enden. »Sie kann noch nicht selbst essen.«
Nach einiger Zeit kam die Schwester herein und schob einen Rollstuhl vor sich her. Sie stellte ihn neben das Bett der Baroness, dann verließ sie den Raum wieder.
»Sie kommen zurecht? Ich habe noch zu tun.« Irgendwie wollte die Oberschwester nicht zugeben, dass sie heilfroh war, die Baroness endlich aus der Klinik verschwinden zu sehen.
Natürlich hatte Sophie ihren Cousin erkannt, doch ihr fehlte die Kraft, sich gegen die beiden Männer zu wehren. Sie konnte nur zusehen, wie sie sie Riemen für Riemen von dem Bett befreiten und sie dann in den Rollstuhl hoben.
»Hast du die Unterlagen?« fragte Franz-Ferdinand seinen Begleiter. »Mein Onkel reißt mir den Kopf ab, wenn wir die nicht mitbringen.«
»Sie sind hier.« Der Student zeigte die Mappe, die er neben Sophie auf den Sitz gelegt hatte.
Auf dem Weg in die Tiefgarage begegneten sie kaum jemandem und so konnten sie Sophie problemlos in das Auto bringen.
* * *
»Danke, Leonie, das war sehr lecker.« Selma leckte ihr Besteck beiseite und wischte sich mit der Servierte den Mund ab. »Wenn du soweit bist, dann kannst du abräumen.«
Leonie leckte ihr Besteck beiseite und stand auf. »Jawohl Madame.« Sie blickte sich vorsichtig um. Auch Anna und Florian hatten ihr Besteck schon weg gelegt und unterhielten sich.
Sie war es mittlerweile fast gewöhnt, mit ihren neue gemeineren Ketten zu arbeiten und empfand es weder als demütigend, noch ließ sie sich davon wirklich behindern.
Anna und Florian halfen ihr, das Geschirr zusammen zu stellen, dann folgten sie ihr in die Küche.
»Leonie, darf ich dich einmal etwas fragen?« Annas Gesicht zeigte, dass sie die Frage viel Kraft kostete.
»Ja?« antwortete Leonie, während sie das Geschirr etwas mühsam in die Spülmaschine einräumte.
»Was ist so schön daran, gefangen zu sein?« Es kostete Anna einige Überwindung.
»Ich bin anscheinend gerade auf einem Selbstfindungstripp und ich bin in meine aktuelle Situation mehr als verliebt.« Sie stutzte etwas. »Aber ich bin nicht gefangen, ich trage nur ihre Fesseln.«
»Aber warum gefällt es dir?« Florian hörte ebenfalls sehr aufmerksam zu.
»Ich weiß es nicht, ehrlich.« Leonie zuckte mit den Schultern. »Meine Schwester und ich sind praktisch in Fesseln aufgewachsen.«
Anna blickte sie entsetzt an.
»Natürlich war es immer ein Spiel, doch wir beide waren stets die Gefangenen.« Leonie lächelte verlegen.
Annas Blick veränderte sich nicht.
»Auch unsere Mutter hat die Fesseln geliebt«, Leonie erkannte, dass sie mehr erklären musste. »Und sie hat uns wohl als Vorbild gedient.«
»Und wer hat sie gefesselt?« Anna verstand es immer weniger.
»Naja, unser Vater.« Leonie lächelte. »Sie waren stets schwer verliebt und glücklich.«
»Sie waren glücklich, wenn eure Mutter gefesselt war?« Florian ahnte, auf was diese Diskussion hinaus laufen würde.
»So ist es auch heute noch. Sie haben mir und meiner Schwester sehr viel vererbt.« Leonie war auf einmal etwas wehmütig. »Aber meine Schwester hat schon einen Freund, der auf ihre Lust eingehen kann.« Sie sprach nicht weiter.
»Und jetzt bist du glücklich, weil du hier gefesselt bist«, setzte Anna den Satz quasi fort.
»So ist es.« Leonie strahlte. »Die Zeit bei Frau Mohr war bisher die schönste meines Lebens. Ich war ihre Gefangene.«
»Dann haben wir dich sozusagen ungewollt befreit.« Florian dachte den Gedanken weiter.
»Dafür war ich euch aber trotzdem dankbar, denn es blieb immer die Ungewissheit, was sie wohl mit mir vor hat.« Leonie lachte. »Manchmal habe ich mich schon als Kettensklavin auf einem irgendeinem orientalischen Basar gesehen.«
»Sie hat dir nicht gesagt, was sie mit dir vorhat?« Annas Stimme zeigte ihre Verwunderung.
»Naja, nicht zu wissen, was auf mich zukommt, war schon ein Teil des Traumes, den sie mir erfüllt hat.« Leonie war verträumt. »Es war eine schöne Zeit.«
»Ich freue mich, dass du das so siehst.« Selma stand auf einmal in der Küchentür.
»Frau Mohr?« Leonie zuckte ein wenig zusammen.
»Bondage kann etwas sehr Schönes sein.« Sie blickte Anna aufmerksam an. »Es kommt aber wie bei vielen Sachen darauf an, wer es gibt und wer es nimmt.«
Es war deutlich zu sehen, wie es in Anna arbeitete.
»Anna, kann ich dich einen Moment allein sprechen?« Selma blickte zu Leonie und Florian.
Leonie reagierte als Erste. »Florian komm, wir legen die andere Tischdecke auf.«
Florian ging hinter Leonie her und gemeinsam verließen sie die Küche.
»Ich habe dich gestern beobachtet, wie du auf den Handschuh reagiert hast.« Selma legte einen Finger auf Annas Mund, als diese Luft holte und antworten wollte. »Bitte antworte jetzt nicht, sondern höre mir einfach nur zu.« Sie holte tief Luft. »Dein Körper ist an die diversen Fesselungen gewöhnt, aber es erinnert dich auch alles an deine bisherige Familie und an das, was sie dir angetan haben.«
Anna nickte verlegen.
»Florian trägt dich auf Händen, und er würde nie etwas tun, was dir weh tun würde.« Selma blickte ihr in die Augen. »Aber ich denke, dass ihr sehr glücklich werden könntet, wenn du dich weiterhin fesseln lässt, jetzt aber von ihm.«
Anna schwieg.
»Gibt es denn Sachen, die dir nicht ganz so viel ausgemacht haben?« Selma hatte so ein Gespräch zwar noch nie geführt, doch ihre Erfahrung aus ihrer Zeit als Erzieherin diktierte ihr die Fragen.
Die Antwort kostete Anna sehr viel Kraft. »Das klingt jetzt sicherlich blöd, aber den Handschuh habe ich ganz gern getragen, weil dann meine Brüste immer so hervor standen. Ich habe dann immer davon geträumt, er würde mich so sehen.«
»Das klingt interessant.« Selma lächelte. »Es gibt nicht viele Mädchen, die so denken.«
»Ich weiß.« Anna lächelte etwas gequält, »Ich war schon immer das schwarze Schaf der Familie.« Sie seufzte. »Aber das möchte ich Florian nicht antun.«
»Was genau meinst du?« Selma zeigte hohe Aufmerksamkeit.
»Ich glaube, es tut ihm weh, wenn er mir das antun müsste.« Ein wenig Enttäuschung klang in ihrer Stimme mit.
»Du würdest es gern erleben, magst ihn aber nicht darum bitten.« Selma ahnte, dass sie kurz vor dem Ziel stand.
»Ich möchte ihm das nicht antun.« Anna wollte ihre Liebe nicht aufs Spiel setzen, lieber würde sich auf ihr Vergnügen verzichten. Sie äußerte dies.
»Aber langfristig werdet ihr so nicht glücklich.« Selma fühlte, dass der Zeitpunkt gekommen war. »Soll ich mal mit ihm reden?«
Anna blickte auf, doch zu einer Antwort war sie nicht fähig.
Selma ging zu Tür, bat Florian zu sich und zeigte auf den Stuhl neben Anna.
»Wir hätten ein sehr wichtiges Thema zu besprechen.« Selma wartete, bis Florian sich gesetzt hatte, dann wurde ihre Stimme war auf einmal sehr ernst. »Anna darf jetzt nicht in ein Loch fallen.« Sie wartete, bis sie Florians Aufmerksamkeit hatte. »Florian, sie ist es gewöhnt, dass sie von Restriktionen umgeben ist, und ihr Körper würde Schaden nehmen, wenn es abrupt aufhören würde.«
Florian seufzte tief. Er erinnerte sich daran, dass Marias Mutter Ähnliches gesagt hatte. »Ich habe geschworen, ihr kein Leid mehr anzutun. Wissen sie, wie sehr sie unter ihrer Familie gelitten hat?«
»Ich werde dir sagen, was in den nächsten Wochen passieren wird. Anna wird nach und nach immer unglücklicher werden und bald werdet ihr mit ersten Streitgesprächen beginnen. Das darf nicht passieren.«
»Aber...?« Florian ergriff Annas Hand.
»Florian, die Sache ist sehr ernst.« Selma machte es jetzt zwar eine Spur dramatischer als es wirklich war, doch sie hoffte, damit ihr Ziel zu erreichen. »Wenn du verhindern willst, dass Anna ernsthaft krank wird, dann musst du dich jetzt überwinden.«
»Aber ich möchte sie auf keinen Fall quälen.« Florian versuchte, sich zu verteidigen. Annas Hand ließ er nicht los.
»Das tust du auch nicht.« Selmas Stimme blieb im gleichen Tonfall. »Aber du solltest ihr jeden Tag mit sehr viel Sorgfalt das Korsett anlegen und sie nicht ohne den Gürtel aus dem Haus gehen lassen.«
Er blickte auf.
»Und mindestens zwei Mal pro Tag wirst du Anna den Handschuh anlegen. Anna ist es gewöhnt und ihr Körper würde Schaden nehmen, wenn es jetzt abrupt aufhört. Wenn es das einfacher macht, dann redet miteinander darüber.«
»Der Handschuh fühlt sich toll an, wenn du ihn anlegst.« Anna erinnerte ihren Freund an das, was vor dem Spaziergang passiert war.
Es war deutlich zu sehen, wie es in Florian arbeitete. »Ich habe geschworen, nichts zu tun, was Anna an ihre Familie erinnert, und ich möchte ihr auch nie mehr weh tun.«
»Das sagtest du schon.« Selmas Stimme wurde etwas ruhiger. »Anna, du wirst dich immer melden, wenn es dir nicht gut geht oder wenn dir etwas weh tut? Versprichst du mir das?«
Anna nickte zur Bestätigung. »Das verspreche ich.«
»Florian, du versprichst, immer gut auf Anna aufzupassen und ganz genau auf ihren Körper zu achten?«
»Ich verspreche es.« Florian spürte die Wichtigkeit des Augenblicks.
»Ich habe einen Wunsch.« Anna lächelte. »Kommst du bitte mit?«
Ein wenig später lächelte Selma, als sie sah, dass Anna und Florian zusammen im Garten spazierten gingen. Anna trug ihren Monohandschuh. Sie waren sehr verliebt. Ab und zu blieben sie stehen und küssten sich. Manchmal streichelte Florian über Annas verpackte Arme. Sie machten einen sehr glücklichen Eindruck.
* * *
Eine Beamtin in Uniform und eine in zivil stiegen aus dem Auto aus und blickten sich kurz um. Die uniformierte Dame zeigte auf Marias Haus, dann gingen sie zügig über den Kiesweg und stiegen die wenigen Stufen hinaus.
Mrs. Potter öffnete die Tür. »Sie sind die Damen von der Polizei?«
»Kommissarin Breuer und meine Kollegin Müller.« Sie zeigten ihre Ausweise. »Dürfen wir herein kommen?«
Mrs. Potter bat die Beamtinnen ins Haus. »Nehmen sie bitte Platz.«
Paul und Maria sahen sich verunsichert an, als sie die Frauen näherten und sich vorstellten.
»Wie sie bestimmt wissen, müssen wir einen ganz bestimmten Verdacht überprüfen.« Frau Breuer nahm eine Aktenmappe zur Hand und suchte eine bestimmte Stelle. »Wir wissen mittlerweile, dass der Unfall der Baroness nur fingiert wurde, doch wir wissen nicht, warum dies gemacht wurde.«
»Sie möchten sicher wissen, was Maria zur fraglichen Zeit gemacht hat.« Mrs. Potter hatte ihrerseits den großen Kalender bereit gelegt.
Frau Müller nannte Datum und Uhrzeit. »Zu dieser Zeit sollte der Unfall stattgefunden haben.«
»Zu der Zeit war Maria in der Schule, wie jeden Tag.« Mrs. Potter brauchte nicht einmal auf den bereitgelegten Kalender zu sehen.
»Ich verzichte auf die Frage, ob es dafür Zeugen gibt.« Frau Breuer klappte ihre Mappe wieder zu.
»Damit wäre das Thema vom Tisch?« Mrs. Potter hatte einige Zweifel in der Stimme.
»Ich werde das so an meinen Chef weiter geben.« Frau Breuer lehnte sich zurück. »Aber sie könnten uns bei der Motivsuche helfen.«
»Inwiefern?« Mrs. Potter zeigte durchaus Interesse.
»Wie ist es dazu gekommen, dass Maria die Rolle bekommen hat?« Frau Breuer zückte ihr doch noch einmal ihr Notizbuch.
Mrs. Potter erzählte von dem Besuch im Kirchenkaffee. Nur gelegentlich stellte Frau Breuer noch eine Zwischenfrage.
»Es war schon ziemlich seltsam«, ergänzte Maria. »Am Sonntag war der Baron im Gemeinderaum, und wir haben zugesagt. Schon am Tag darauf wurde es für mich ernst.«
»Das ist interessant«, Frau Breuer machte sich eine Notiz. »Schon am nächsten Tag fand der angebliche Unfall statt.« Sie blickte ihre Kollegin an.
Diese sah in ihren Unterlagen nach. »Es war wirklich gleich am Montag.«
»Danke für ihre Hinweise.« Frau Breuer stand auf. »Ich möchte mich noch einmal im Namen meines Chefs für die überzogene Aktion von München entschuldigen.« Sie reichte Maria die Hand.
* * *
»Na, habt ihr euch ausgesprochen?« Selma begrüßte Anna und Florian, die von ihrem Liebesbummel im Garten zurück kamen.
»Ich brauche noch ein wenig, bis ich es akzeptiert habe.« Florian streichelte zärtlich über Annas Arme.
Anna war sprachlos. Bei ihr flossen ein paar Tränen, die Florian vorsichtig wegwischte.
»Jetzt gibt es erst einmal Abendessen.« Selma zeigte ins Haus, »Leonie hat etwas sehr leckeres gezaubert.«
Paul und Maria saßen schon am Tisch zusammen mit Leonie.
Als Anna erkannte, dass Maria ihre Arme im Monohandschuh trug, stutzte sie etwas. »Wirst du so essen?«
Maria lächelte. Pauls Oma hatte sie gut vorbereitet. »Paul wird mich füttern.«
»Ist das nicht sehr demütigend?« Anna sprach ihre Gedanken aus.
»Ich weiß, dass ich mich ganz auf ihn verlassen kann. Daher wird es das Gegenteil von demütigend sein.« Sie gab ihm einen Kuss. »Außerdem wird es auf dem Fest ähnliche Situationen geben.«
Selma mischte sich ein. »Paul und Maria mussten diese Situation schon öfters meistern, und ich glaube, beim ersten Mal wart ihr auch nicht so ruhig.«
Paul lachte. »Ja, das stimmt, am Anfang war ich furchtbar nervös, doch jetzt weiß ich, was für Maria wichtig ist.«
Die Blicke aller richteten sich auf Florian und Anna. Erst nach einiger Zeit begriffen die beiden, dass eigentlich eine Frage an sie gestellt wurde. Florian blickte Anna verliebt an. »Trauen wir uns das zu?«
»Es wird wohl von uns erwartet.« Anna lächelte geheimnisvoll. Insgeheim sah sie eine Gelegenheit, sich bei ihrer Gastgeberin zumindest ein wenig zu bedanken. »Es liegen ja Servietten bereit, falls etwas daneben gehen sollte.« Sie beugte sich zu Florian und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Wenn du meinst, dann probieren wir das.« Es war deutlich zu sehen, dass Florian noch nicht überzeugt war, seiner Freundin den Wunsch aber nicht abschlagen wollte.
»Florian, du setzt dich am besten neben Paul. Dann kann er dir verschiede Tipps geben, wie es am besten zu machen ist.« Selma hatte erkannt, dass im Moment die Angst wohl am größten war, sich zu blamieren.
* * *
Natürlich hatte Sophie ihren Cousin trotz der Sanitäteruniform erkannt, doch sie hatte noch überhaupt nicht die Kraft, um sich gegen die zwei Männer zu wehren. Außerdem gab es für sie zunächst dafür keinen Grund, zumal der Besuch von Franz-Ferdinant etwas Ablenkung versprach.
Den Dialogen nach hätte Sophie in ein anderes Krankenhaus verlegt werden sollen. Zumindest hatte die Oberschwester dies gesagt, als sie die Papiere heraus gegab. Doch da sie von ihrem Cousin und dessen Freund abgeholt wurden, hatte Sophie einige Zweifel. Und diese hatten sich als berechtigt herausgestellt.
Zum einen hatte sie die Limousine ihres Vaters erkannt, in die sie hinein gehoben wurde, und zum anderen führte sie der Weg vom Krankenhaus direkt zum Schloß ihres Vaters. Sie kannte diesen Weg sehr gut.
Doch statt auf ihr Zimmer hatten sie sie in die alte Dienstbotenwohnung gebracht, deren Inneres Sophie nur aus frühen Kindheitstagen kannte. Es hatte sich auch nicht viel verändert, stellte sie auf den zweiten Blick fest. Zwei Sachen waren jetzt anders. Es standen haufenweise Konserven bereit, viel Ravioli und auch diverse Eintöpfe. Im ersten Moment hatte sie innerlich nur die Nase gerümpft, doch dann entdeckte sie ein weiteres Detail: Die Türklinke war weg. Es gab überhaupt keine Möglichkeit, von innen die Tür zu öffnen. Ihr war seltsamerweise sofort klar, was dies bedeutete: Sie war hier genauso gefangen wie in der Klinik.
Der einzige Unterschied war, dass sie nicht mehr mit diesen Riemen ans Bett gefesselt war, und auch ihren Mundverschluss trug sie nicht mehr. Doch sie war viel zu schwach, um sich zu bewegen. Mit so etwas hatte sie gerechnet, seit einmal eine Lernschwester mit ihrer Ausbilderin im ihrem Zimmer war, und sie über ihren Zustand gesprochen hatten. Sie erinnerte sie noch sehr gut an das Gespräch, weil es eine der ganz wenigen Abwechslungen gewesen war, die sie in ihrem traurigen Klinikalltag gehabt hatte.
»Wie lange liegt sie jetzt schon so?« Die Lernschwester streichelte vorsichtig über den Gips.
»Seit fast vier Wochen.« Die Ausbilderin blätterte in ihren Unterlagen. »Sie hatte einen schweren Autounfall, Gabi.«
»Aber da bilden sich doch die Muskeln völlig zurück.« Die Lernschwester kramte ihr frisch erworbenes Wissen hervor. »Und dann ist sie überall eingegipst. Sie wäre doch völlig hilflos, wenn sie mal aus dem Gips heraus kommt.«
»Da hast du wohl recht«, bestätigte die Ausbilderin. »Am besten wäre es, wenn man es gar nicht erst so weit kommen lässt.«
»Kann man die Muskeln dann wieder trainieren?« Gabi nahm Anteil an Sophies Schicksal.
»Natürlich, es gibt für jede Muskelgruppe geeignete Übungen.« Die Ausbilderin zählte einige Übungen auf. »Aber hier ist es ein besonders schwieriger Fall, weil quasi alle Muskeln weg sind. Es wird sehr mühsam für sie werden.«
Besonders der letzte Satz war Sophie in Erinnerung geblieben, und hatte stets gehofft, dass er für sie nicht zutreffen werde. Doch jetzt war sie in einer Lage, von der sie sicher war, dass sie nicht schlimmer werden konnte.
Es lag frische Bettwäsche bereit, doch Sophie war nicht in der Lage, das Bett neu zu beziehen. Sie lag so auf dem Bett, wie sie sie dort hingelegt hatten und schlief sofort ein. Dass die Bettwäsche seit Jahren ungewechselt war, störte sie zwar, doch sie schaffte es nicht, sie zu wechseln.
Freitag, 17. September 1984
»Na, wie fühlt sich unsere Frau Beller?« Rosalie hatte das Wort 'Frau' besonders betont.
Maria überhörte den leicht spöttischen Unterton, als sie im Rahmen des freitäglichen Telefonanrufs mit ihrer Freundin telefonierte. »Es geht mir gut und ich zähle die Tage bis zum Fest.«
»Wie war der Flug?« Rosalie suchte nach etwas Gesprächsstoff. Immerhin hatten sie erst Dienstag miteinander gesprochen.
»Der Flug war in Ordnung«, antwortete Maria mit einem gewissen Unterton, der einige Angespanntheit verriet.
»Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.« Rosalie war ein wenig genervt. »Was war denn los?«
»Du versprichst mir, nicht zu lachen?« Maria kannte ihre Freundin nur zu gut.
»Bist du die Flugzeugtreppe herunter gefallen?« Rosalie hatte Probleme, ein Lachen zu unterdrücken.
»Ach, wenn es nur das wäre.« Maria gab sich einen Ruck. »Ich hatte mir eingebildet, in München mit dem Gebet zu landen und so den Flughafen zu verlassen.«
»Eine schöne Vorstellung.« Rosalie hatte ein Lächeln in der Stimme. Doch dann stutzte sie. »Und was ist passiert?«
»Die Polizei hat mich gleich nach der Landung aus dem Flieger geholt und im Streifenwagen nach Landsbach gefahren.« Maria sprach leise, denn sie schämte sich.
»Mit den Armen im Gebet?« Rosalie dachte laut.
»Genau.« Maria stöhnte immer noch, wenn sie nur daran dachte.
»Wo war Paul?« Rosalie fing an zu begreifen.
»Der musste im Flugzeug sitzen bleiben.« Marias Stimme zeigte, wie sehr sie von den Ereignissen noch bewegt war.
»Und was wollten sie von dir?« Rosalie hatte das Naheliegende noch nicht gefragt.
»Ich habe erst später erfahren, was sie mir vorgeworfen haben. Herr Steinhagen hat mich da raus geholt, noch bevor sie mich verhören konnten.« Sie holte tief Luft. »Ich hätte den Unfall der Baroness inszeniert, um ihre Rolle zu bekommen.«
»Absurd.« Rosalie war sprachlos. »Völlig absurd. Wie sind sie denn darauf gekommen?«
»Der Polizeichef hat sich später für die völlig überzogene Maßnahme seines Beamten entschuldigt.« Maria berichtete von dem Besuch beim Essen. »Er sagte, sie hätten einen Hinweis bekommen, dem sie natürlich nachgehen mussten.«
»Da ging es ja turbulent weiter.« Rosalie erinnerte an die Ereignisse vor dem Flug.
»Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt.« Maria seufzte. »So bald brauche ich das nicht wieder.«
»Wissen sie schon, dass du das Gebet tragen kannst?« Rosalie nahm großen Anteil an dem Leben ihrer Freundin.
»Also wirklich gesehen haben es quasi nur die Polizisten und die Anwälte, mit denen Herr Steinhagen aufgekreuzt ist.«
»Wer ist Herr Steinhagen?« Rosalie stutzte, denn dieser Name war neu.
»Das ist der Direktor der hiesigen Sparkasse«, erklärte Maria. »Ein sehr wichtiger Sponsor des Festes und sehr einflussreich.«
»Und der alte Geldsack hält sich gerne eine Prinzessin.« Rosalie spottete gern.
»Das ist nicht ganz richtig.« Maria wollte es richtig stellen. »Zu mir ist er wie ein Vater. Sonst war nichts los.«
»Und was machst du am Wochenende?« Rosalie fragte mit etwas Neugier, seit es im Leben ihrer besten Freundin so eine deutliche Änderung gegeben hatte.
»Ausspannen... Mein letztes freies Wochenende genießen.« Maria seufzte. »Wenn erst mal bekannt ist, was ich kann, werden uns die Leute die Bude einrennen.« Ihre Mutter hatte sie in den letzten Stunden noch darauf vorbereitet, was alles passieren würde. »Morgen möchte ich die Baroness noch mal im Krankenhaus besuchen.«
»Die Baroness?« Rosalie war verwundert.
»Naja, sie hätte ja ursprünglich die Rolle spielen sollen, wenn sie nicht diesen Unfall gehabt hätte.« Maria erklärte ihre Motivation.
»Du hast also ein schlechtes Gewissen?« fragte Rosalie vorsichtig.
»Immerhin stehe ich jetzt an ihrer Stelle.«
»Und Samstag Abend?« Rosalie war neugierig.
»Noch nichts.« Natürlich wusste Maria, was Rosalie hören wollte, doch tatsächlich hatte sie nichts vor und Paul hatte sie noch nicht gefragt.
»Du solltest etwas mit ihm unternehmen.« Rosalie war um das Glück ihrer Freundin stets besorgt.
»Ich wollte eigentlich die Ruhe genießen.« Maria seufzte wieder. »Die nächsten Tage könnten turbulent werden.«
»Da könntest du allerdings recht haben.« Was Rosalie tatsächlich vorhatte, behielt sie erst einmal für sich.
* * *
Sophie brauchte nach dem Erwachen einige Zeit, bis sie erkannte, dass sie nicht mehr in ihrem Krankenhauszimmer war, sondern in der alten Dienstbotenwohnung im Keller des väterlichen Schlosses. Gestern hatte ihr Cousin sie aus der Klinik geholt und sie hier her gebracht. Eine Erklärung dafür hatte sie aber trotzdem nicht bekommen.
Ihre Sinne hatten ihre Funktion während der Zeit, die sie im Gipspanzer verbringen musste, nicht eingebüßt. Sie roch und vor allem fühlte die alte stickige und klebrige Bettwäsche, auf der sie sie einfach nur abgelegt hatten. Es ekelte sie, doch sie hatte nicht einmal die Kraft, sich auf dem Bett zu bewegen. Sie lag noch genau so da, wie die Männer sie gestern abgelegt hatten.
Immer wieder musste sie an den Traum der vergangenen Nacht denken. Darin ging das Gleichnis vom verlorenen Sohn nämlich weiter. Nach dem Festmahl musste sie sich beweisen und zeigen, dass sie es auch wert war, wieder vom Vater in die Arme geschlossen zu werden. Doch ihr Körper gehorchte ihr nicht, er war einfach noch zu schwach. Vom Vater kam die Botschaft, dass sie es langsam angehen sollte. Sie hätte viel wieder gut zu machen, und sie würde sich über einen langen Zeitraum bewähren müssen. Immer wieder tauchten ihren alten und wie sie jetzt wusste falschen Freunde auf und sie versuchten, sie auf Partys zu locken. Doch jetzt widerstand sie jeglicher Versuchung.
Ihr Magen meldete sich und erinnerte sie daran, dass es jetzt eigentlich Zeit für das Frühstück wäre. Gleich würde die Schwester kommen und den üblichen weißen Beutel über dem Bett aufhängen.
Doch es kam keiner. Natürlich nicht, denn sie war nicht mehr im Krankenhaus. Sie war im Keller ihres Schlosses. Noch war es nicht ihr Schloss, doch sie war bisher stets davon ausgegangen, dass sie es eines Tages erben würde. Schließlich war sie die einzige Tochter, und Geschwister hatte sie keine.
* * *
Als Maria mit ihrer Erzieherin beim Frühstück saß, sah sie, dass das Postauto vor dem Grundstück hielt.
Für neun Uhr hatte sich Paul angesagt, und er kam gerade zu dem Zeitpunkt auf das Grundstück, als der Postbote ein geradezu riesiges Paket auf seiner Sackkarre vor sich her schob.
Mrs. Potter blickte ebenfalls aus dem Fenster. »Das wird das neue Korsett sein.«
Maria begann auf einmal zu leicht zu stöhnen. »Schade, dass ich es so bald nicht ausprobieren kann.«
»Du hast doch morgen frei?« Mrs. Potter kannte Marias Terminplan gut.
»Morgen wollte ich Sophie noch einmal besuchen.« Maria wusste, dass sie ihren letzten freien Tag opferte, doch der Besuch war ihr wichtig.
»Und danach? Paul wird dir bestimmt gern dabei helfen.« Mrs. Potter wusste, dass Maria sich von ihr nur sehr ungern berühren ließ. Dafür hatte sie auch vollstes Verständnis, und sie war froh, dass Paul sie so indirekt unterstützen konnte. Denn auch sie war sehr an dem neuen Ganzkörperkorsett interessiert.
»Sie meinen, er würde mir helfen?« Maria war etwas verwundert.
»Wenn du lieb fragst?« Mrs. Potter lächelte. »Er hat bestimmt noch nichts vor.«
Maria versuchte abzuwägen. Das Korsett würde sie sehr hilflos machen und sie an ihn ausliefern. Es würde aber auch von ihm einiges fordern. Doch weiter kam sie in ihren Gedanken nicht, die Klingel der Haustür läutete.
* * *
Der Hunger wurde größer, und Sophie musste so langsam einsehen, dass kein Personal kommen würde, um sie zu versorgen. Sie würde sich selbst darum kümmern müssen.
Sie blickte zu dem kleinen Tisch, der mitten im Zimmer stand. Es standen ein paar Dosen bereit, sowie ein paar Flaschen Wasser und ein Glas. Eine Dose mit Ravioli stand zudem auf dem kleinen Tischchen neben dem Bett, und daneben lag ein Gerät, vermutlich ein Dosenöffner.
In ihrer Jugend hatte sie von ihrer Mutter die übliche Ausbildung einer jungen adeligen Dame bekommen, die nicht zu arbeiten hatte und die ihr Essen stets geliefert bekam. Sophie hatte sich manchmal aus Neugier in die Küche gemogelt und hatte der Köchin zugesehen, doch stets musste sie sich dabei vor ihrer Mutter verstecken.
Das Gerät, welches neben den Dosen auf dem Tisch lag, musste ein Dosenöffner sein. Sophie erinnerte sich daran, dass sie so etwas damals in der Küche gesehen hatte. Doch in der Hand hatte sie so etwas noch nie gehabt.
Sie war nicht dumm, doch ihre Arroganz hatte bisher ihre Intelligenz völlig unterdrückt. Warum sollte sie selbst arbeiten, wenn es dafür Personal gab? Jetzt verfluchte sie ihre frühere Haltung, und sie wurde sich der Lächerlichkeit ihrer Situation bewusst. Sie sollten sie nicht verhungert vor einer Dose Ravioli finden, mit dem Dosenöffner in der Hand. Dieser Gedanke stachelte ihren Ehrgeiz an. Sie würde sich der Herausforderung stellen.
Sie hatte zeitweise in Erwägung gezogen, um Hilfe zu rufen. Doch dann hatte sie diesen Gedanken schnell wieder verworfen. Hören konnte man sie im Schloss nicht, und selbst wenn, es waren nur noch ihr Vater und der Butler anwesend. Alles andere Personal hatte ihr Vater schon entlassen müssen. Vom Butler durfte sie keine Hilfe erwarten, weil sie ihn viel zu oft sehr herablassend behandelt hatte. Und ihrem Vater hatte sie es zu verdanken, dass sie überhaupt in dieser Lage war.
Seit gut zwei Monaten hatte sie kein Wort mehr gesprochen und sie fragte sich, ob ihre Stimmbänder wohl noch funktionieren würde. Sie überlegte lange, was wohl ihre ersten Worte sein sollten. Schließlich entschied sie sich dafür, ein Gebet zu sprechen. Sie hatte es einer der Schwestern zu verdanken, die an ihrem Bett manchmal eines gesprochen hatte. Sophie gaben diese Gebete sowohl innerliche Kraft als auch Trost. In der Kirche war sie schon seit ihrer Konfirmation nicht mehr gewesen.
Die ersten Worte kamen krächzend und Sophie hatte schon Angst, sie würde 'ihn' beleidigen. Doch je länger sie sprach, desto besser wurde es und es gab ihr zusätzlich Kraft, ihre Gedanken auszusprechen. »Ich habe mir das selbst zuzuschreiben und ich bekomme jetzt meine gerechte Strafe.«
Trotz allem war sie froh, wieder eine menschliche Stimme zu hören, auch wenn es nur ihre eigene war.
Langsam reifte in ihr die Erkenntnis, dass sie versuchten musste aufzustehen. Natürlich wusste sie noch, wie sie aufstehen musste, doch obwohl ihre Nerven den Muskeln die entsprechenden Befehle gaben, tat sich nur sehr wenig. Sophie erkannte, dass sie sich wohl aus dem Bett rollen musste.
Langsam kam die Bettkante näher, gleich würde sie es geschafft haben. Den kleinen Sturz wollte sie in Kauf nehmen; wenn sie einmal vor dem Bett liegen würde, wäre es bestimmt leichter möglich, aufzustehen.
Der Aufprall war hart und Sophie musste schmerzhaft feststellen, dass ihre Nerven alle hervorragend funktionierten. Nach dem der große Schmerz langsam verklungen war, wagte Sophie es, die Augen zu öffnen. Sie zuckte zusammen, denn direkt vor ihre Augen lag eine dicke Staubmaus.
Sophie lag wortwörtlich im Dreck, denn in der Kammer war seit Jahren nicht mehr sauber gemacht worden, und, überall lagen Staubmäuse herum. Früher hätte sie sich geweigert, solch ein Zimmer überhaupt zu betreten. Jetzt hatte sie keine Wahl.
Sie wollte aufstehen, doch sie musste schnell feststellen, dass sie dafür keine Kraft hatte. Sie blickte zu dem Tisch, auf dem die Dose stand. Er war nur einen Meter entfernt, doch für sie im Moment fast nicht erreichbar. Sie musste durch den Staub kriechen. Sie fühlte es als Demütigung und als Bestrafung, doch sie hatte es mit ihrem bisherigen Lebenswandel mehr als verdient, und sie nahm die Strafe gern entgegen. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sie zu weinen begann.
* * *
Fast atemlos öffnete Paul den Karton, nachdem er die Klebestreifen vorsichtig aufgeschnitten hatte. Wie zu erwarten war, mussten erst einmal viele Lagen von Seidenpapier entfernt werden, und mit jeder Lage kam ein Stück mehr von glänzendem schwarzen Leder zum Vorschein. Deutlich waren die langen Stahlbänder zu erkennen, die dem Korsett den nötigen Halt gaben und der Trägerin eine ganz bestimmte Haltung aufzwangen.
»Es sieht schön aus.« Maria streichelte mit der Hand über das Leder.
»Hast du keine Angst davor?« Paul war von dem Korsettmonster eher eingeschüchtert.
»Ich freue mich darauf.« Sie war ein wenig verlegen. »Ich stelle mir dann immer vor, du würdest mich umarmen.«
»Das können wir ja trotzdem machen.« Paul versuchte ein Lächeln. Natürlich hatte er keine Angst vor dem Korsett selbst, sondern vor dem, was es mit seiner Freundin machen würde. Insofern war er erleichtert, als seine Freundin ihm versicherte, sich auf das Korsett und die damit verbundene Strenge zu freuen. »Nehmen wir es heraus?«
»Ich dachte schon, du fragst gar nicht mehr.« Maria lächelte, dann ging an das Fußende und kniete sich vor den Karton. »Meine Mutter sagte, dass jetzt noch mehr Stahlstangen verarbeitet sind und dass es noch schwerer sein würde.« Sie holte tief Luft. »Ich freue mich schon.«
Gemeinsam hoben sie das Korsett aus dem Karton und legten es auf den Tisch, auf dem sie zuvor Platz gemacht hatte. Wie es zu erwarten war, bog sich das Korsett dabei nicht durch, sondern blieb steif in seiner Form.
»Hast du gesehen? Da ist noch mehr im Karton.« Paul machte darauf aufmerksam, dass in der Kiste noch weitere kleine Kartons waren.
»Und das ist kein Füllmaterial?« Maria war verwundert. Von Zubehör hatte ihre Mutter ihr nichts gesagt.
Paul nahm den ersten der drei Kartons heraus und öffnete ihn. »Hier ist ein Brief von deiner Mutter.« Er reichte Maria ein Blatt Papier, als er darauf den Briefkopf der Klinik erkannt hatte.
Maria überflog die wenigen Zeilen, dann ließ sie das Blatt wieder sinken. »Sie sagt, sie wusste nicht, ob das Zubehör rechtzeitig fertig werden würde, deswegen hat sie mir nichts davon gesagt. Sie wünscht uns viel Spaß beim Ausprobieren.«
»Deine Mutter hat aber einen seltsamen Humor.« Pauls Stimme zeigte, wie beeindruckt er von dem Inhalt der Kartons war. Er legte das Seidenpapier beiseite und nahm zwei Armkorsetts heraus.
Maria keuchte einen Moment, dann nahm sie wieder das Schreiben zur Hand und las darauf vor. »Das Besondere ist, dass alle Teile jetzt fest miteinander verbunden werden können. Es wird sich anfühlen, als wäre es ein einziges Teil.« Ihre Stimme wurde gegen Ende immer leiser. »Davon hat sie mir nichts gesagt.« Sie ließ den Brief wieder sinken.
Paul nahm die anderen beiden Kartons heraus und packte sie ebenfalls aus. Zum Vorschein kamen drei Ballettstiefel und eine schon auf den ersten Blick sehr streng aussehende Kopfhaube.
»Warum denn drei Stiefel?« Maria war verwundert. »Nicht zwei oder vier?«
Paul legte die Stiefel auf dem Tisch. Jetzt war der Grund für die außergewöhnliche Anzahl zu erkennen. »Da ist ein Monostiefel dabei.«
Maria nahm den deutlich breiteren Stiefel zur Hand. »Am liebsten würde ich ihn sofort ausprobieren.«
»Das war mir klar.« Mrs. Potter betrat den Raum. »Aber gleich hat sich Frau Bayer angesagt. Sie möchte wissen, was so alles passiert ist.«
»Schade.« Maria legte den Stiefel wieder weg und seufzte.
Ihre Erzieherin trat an den Tisch und begutachtete das neue Korsett ebenfalls. »Außerdem ist das eher ein Stiefel für das Bett, oder willst du damit durch die Gegend hüpfen?« Obwohl sie es streng ausgesprochen hatte, klang doch ein Schmunzeln in ihrer Stimme durch.
Maria seufzte noch einmal, dann drehte sie sich zu Paul. »Die Pflicht ruft.« Sie begann, die Sachen wieder in die Kartons zu räumen. Als sie eines der Armkorsetts in der Hand hielt, stutzte sie. Fasziniert blickte sie auf darauf. »Das ist kein Armkorsett, das ist ein oberarmlanger Handschuh.« Sie zeigte es Paul und wies darauf hin, dass sogar jeder einzelne Finger zu schnüren war. »Das muss ein Vermögen gekostet haben.«
»Heute ist die wichtige Sponsorenversammlung, und danach wird Anna zum Rudern vorbeikommen.« Die Erzieherin machte eine bedeutsame Pause. »Wie wäre es, wenn wir das Korsett morgen ausprobieren.«
Maria war etwas enttäuscht. »Ich wollte die Baroness im Krankenhaus besuchen, und dann wollte ich den Nachmittag mit dir verbringen.« Sie gab Paul einen kurzen Kuss. Sie wollte allerdings nicht zeigen, dass sie sich das Korsett nur ungern von ihrer Erzieherin anziehen ließ.
»Ihr sollt das ja auch zu zweit machen, und nur wenn eine helfende Hand gebraucht wird, werde ich dich berühren.« Sie lächelte, als sie an Marias erschrockenem Gesichtsausdruck erkannte, dass sie es getroffen hatte.
»Das wäre toll.« Maria erkannte auf einmal, welche Brücke ihr ihre Erzieherin gebaut hatte. »Ich bin auf das neue Korsett schon sehr gespannt, ich glaube, es mindestens ist so streng wie das vor Sarah.«
Auch Paul war von dem Gedanken, seine Freundin in den Lederpanzer zu verpacken, sehr angetan. »Ich werde gut auf dich aufpassen.«
* * *
Es dauerte lange, bis Sophie nahe genug an dem kleinen Tischchen war, auf dem ihr Frühstück stand. Sie hatte sich überlegt, dass sie durchaus in der Lage sein müsste, eine sitzende Position einzunehmen, um dann in Reichweite der Dose und des Öffners zu sein. Trotzdem dauerte es lange, bis die ihren Rücken an das Bett lehnen konnte.
Sie musste sich erst einmal erholen und Kräfte sammeln, denn das Aufrichten war sehr anstrengend gewesen. Schließlich wagte sie es, ihre Hand nach der Dose auszustrecken.
Sie hatte insgeheim schon damit gerechnet, dass sie vielleicht nicht in der Lage sein würde, die Dose festzuhalten; doch was sie auf jeden Fall verhindern wollte, war, dass die Dose herunterfallen und davon rollen würde. Lieber nahm sie es in Kauf, dass sie ihr auf das Bein fallen würde.
Doch sie schaffte es, die Dose in die Hand zu nehmen. Ihre Fingermuskeln zeigten ihr aber sofort, wie schwach sie noch waren. Kurz vor dem Boden musste sie loslassen und die Dose in den Staub fallen lassen. Letzterer wurde etwas aufgewirbelt.
Als nächstes griff sie sich den Dosenöffner. Der Haushalt im Schloss war schon immer hoch modern ausgerüstet gewesen, und obwohl Sophie so einen Öffner noch nie in der Hand gehalten hatte, glaubte sie doch zu wissen, wie sie damit umzugehen hatte. Sie setzte ihn an die Dose an und versuchte zuzudrücken. Doch ihre Hand meldete ihr sofort, dass bisher kaum Kraft vorhanden war.
Der Hunger nahm zu, trotzdem wusste Sophie, dass sie es langsam angehen musste. Sie überlegte, ob sie vom Tisch eine andere Dose holen sollte, doch sie verwarf diesen Gedanken schnell. Erstens musste sie sich ihre Kraft gut einteilen und zweitens würden die anderen Dosen die gleiche Kraftanstrengung von ihr benötigen.
Sie begann wieder mit sich selbst zu sprechen und sich Mut zuzureden. Sie feuerte sich quasi selbst an. Doch es dauerte über zwei Stunden, bis die Dose die erste nennenswerte Beschädigung hatte.
* * *
Es klingelte. Mrs. Potter ging zur Tür. »Das wird Frau Bayer sein.« Sie öffnete und bat den Gast herein.
»Maria, wie geht es dir?« fragte Renate Bayer nach der herzlichen Begrüßung von ihr und Paul. »War in Amerika alles in Ordnung?«
»Jetzt schon.« Maria grinste und gab Renate danach einen kurzen Überblick über die Ereignisse in den Staaten.
»Und wie war der Flug?« Renate packte einen Notizblock aus. »Ich habe gehört, die Ankunft war etwas turbulent.«
»Turbulent ist noch untertrieben.« Maria holte tief Luft, dann erzählte sie von ihrer 'Verhaftung' und von der Fahrt im Streifenwagen.
Renate hörte aufmerksam zu. Dass sie schon einen ausführlichen Bericht vom Direktor der Sparkasse bekommen hatte, behielt sie für sich. Sie wollte wissen, wie Maria selbst darüber dachte. Immerhin war es im Rahmen des Festes ihre Aufgabe, sich gut um die beiden Hauptdarsteller zu kümmern.
Maria und Paul gaben kurz noch einmal wieder, was sich ereignet hatte, nicht ohne dabei die Hilfe der Reporterin zu erwähnen. »Ohne sie wäre das nicht so glatt gegangen.«
»Eine ereignisreiche Ankunft.« Renate ließ ihren Notizblock sinken. »Und dann habe ich von Herrn Steinhagen noch einen Tipp bekommen. Er sagt, ich muss mir das unbedingt anschauen, er sagte aber nicht, was. Das hätte er versprochen. Ihr wüsstet schon, was gemeint wäre.«
»Er hat dicht gehalten.« Maria sagte es eher zu sich selbst und zeigte dabei so etwas wie Erleichterung. Dann drehte sie sich zu Paul. »Holst du bitte die Sachen?« Sie erinnerte sich an den Brief des Barons, den Mrs. Potter heute morgen in der Post gefunden hatte. Er bat sie darin, das Gebet möglichst bis zum Fest möglichst keinem zu zeigen. Es war eine kleine Ausnahmeliste angehängt und auf der war Frau Bayer eingetragen.
»Du kannst das schon richtig gut.« Maria war erstaunt, wie schnell und trotzdem bequem ihr Freund ihr das Gebet angelegt hatte. Die Riemen saßen streng, und trotzdem war ihre Haut nirgends eingeklemmt oder gezwickt.
»Ich bin schwer begeistert.« Renate hatte Mühe, Worte zu finden. »Wie lange hältst du das aus? Zehn Minuten?«
Maria musste kurz husten. »In Amerika habe ich es sechs Stunden lang getragen und der Arzt sagt, dass bis zu acht Stunden möglich gewesen wären.«
Renate keuchte. »Darf ich dich einmal anfassen?«
Maria gab die Zustimmung gern.
»Und das wirst du auf dem Ball tragen?« Renate rief sich kurz den Ablauf des Festes ins Gedächtnis.
»Ich möchte am liebsten so auch vor den Altar treten.« Maria war etwas verlegen. »Ich habe schon so oft davon geträumt. Wäre das möglich?«
Renate hatte Mühe, ein Stöhnen zu unterdrücken. Natürlich warf dies viele bisherige Planungen durcheinander, doch diese wirklich außergewöhnliche Armhaltung musste einfach gezeigt werden. »Das werde ich einrichten.« Sie schlug eine schon beschriebene Seite ihres Notizblocks auf und blickte Maria kurz an. »Ich wollte noch kurz die nächsten anstehenden Termine besprechen.«
* * *
Andrea war verwundert, dass der Baron ihr jetzt doch noch einen Interview-Termin gegeben hatte. Schließlich hatte sie schon einiges Material gegen ihn zusammengetragen. Doch dann hielt sie kurz in ihren Gedanken inne. Eigentlich konnte er von ihren Bemühungen noch nichts wissen.
Außerdem, so war sie sich sicher, war ihm sicher daran gelegen, dass über das Fest nur Gutes berichtet wurde. Sie dachte an ihre kleine Serie, mit denen sie jetzt seit einigen Wochen ihre Leser unterhielt.
Dabei hatte sie schon alles Material für ihre Artikel beisammen. Es standen jetzt nur noch zwei Artikel an. Einer davon war für Marias Zeit in Amerika reserviert, und der letzte würde sich mit der heißen Phase der Festvorbereitung befassen.
Sie hatte den Termin trotzdem zugesagt, weil sie hoffte, für ihre Verdachte weitere Indizien zu bekommen. Und vielleicht konnte sie den einen oder anderen unklaren Punkt in ihren Notizen klären. Langsam machte sie sich auf in das Café, in dem sie sich verabredet hatten.
* * *
Baron Harsumstal wischte sich den Schweiß von der Stirn, nachdem er bei der Bedienung einen Kaffee bestellt hatte. Er fühlte, dass es langsam eng wurde. Doch noch sah er eine realistische Chance, dass Maria auf dem Fest das Gebet präsentieren würde und er das Geld kassieren konnte. Gestern hatte ihn der Chefarzt gedrängt, seine Tochter aus der Klinik zu entfernen, weil seine Manipulationen aufzufliegen drohten. Zum Glück war der Raum im Keller rechtzeitig fertig geworden, und sein Neffe würde ab und zu nach Sophie sehen. Es waren genug Vorräte in dem Raum, so dass es ihr an nichts mangeln sollte, von ihrem bisherigem Luxusleben einmal abgesehen.
Er hätte das Interview viel lieber bei sich im Schloss gegeben, doch das war ihm mittlerweile zu riskant. Sophie war im Keller, und das angebliche Unfallauto stand vorn in der Garage. Er hätte es eigentlich schon verkaufen wollen, doch im Moment hätte das vermutlich einigen Staub aufgewirbelt.
»Wie geht es ihrer Tochter?« Andrea fand es richtig, sich nach der wenig herzlichen Begrüßung zuerst nach den Angehörigen zu erkundigen, wenn auch ihr eigentliches Interesse anderen Themen galt.
»Der Arzt hat mir Hoffnung gemacht, dass sie bald nach dem Fest wieder mit Gehbewegungen anfangen darf.« Der Baron versuchte, den besorgten Vater zu geben. Zumal die Aussage sogar korrekt war, wenn man sie nur aus dem richtigen Blickwinkel betrachtete.
»Sie hatte einen schweren Unfall?« Andrea wusste zwar schon, dass der Unfall fingiert war, doch sie hatte bisher keine Ahnung warum. Und so hoffte sie, das wahre Motiv herauszubekommen, wenn sie sich auf sein Spiel einließ.
Der Baron erzählte das, was Andrea allerdings schon wusste.
Sie musste sich zusammenreißen, damit ihr kein falsches Wort heraus rutsche. Sie kam sich vor wie in einem Käfig mit einem schlafenden Löwen. Wenn sie nur eine falsche Bewegung machte, wäre es aus. Sie hatte keine Zweifel daran, dass er sie aus dem Weg räumen würde, wenn er Verdacht schöpfte. »Meinen sie, Maria wird eine gute Vertretung für ihre Tochter sein?« Andrea bemühte sich um eine neutrale Stimme.
»Ich habe sie seit ihrer Rückkehr noch nicht wieder gesehen, doch ihre Mutter hat mir versichert, dass sie optimal vorbereitet ist.« Er versuchte, seinen Ärger darüber zu verbergen, dass er sie noch nicht besucht hatte.
Es war ein Kampf auf Augenhöhe. Beide Parteien waren bemüht, ihr jeweiliges Geheimnis zu wahren und sich keine Blöße zu geben.
Andrea hatte zwar noch ein paar weitere Fragen vorbereitet, doch sie spürte, dass sie keine weiteren verwertbaren Antworten bekommen würde. Schließlich beschränkte sie sich auf ein paar Allgemeinplätze. »Ich möchte dann gern gehen.« Sie packten ihre Sachen zusammen. »Im Rathaus ist die Sponsorenversammlung, und an der möchte ich teilnehmen.« Sie war etwas verlegen. »Ich habe bloß keine Einladung.« Natürlich hätte sie auch diverse andere Mittel gehabt, um trotzdem auf die Veranstaltung zu kommen, doch in diesem Moment reizte es sie, sich an den Baron anzuhängen.
»Wenn sie möchten, dann kann ich sie mitnehmen.« Es war dem Baron natürlich klar, welch gefährliches Spiel er spielte, doch er ging das Risiko trotzdem ein, weil er es sich mit der Presse nicht verderben wollte. Außerdem würde es sich sowieso nicht mehr verheimlichen lassen, dass Maria auf dem Fest die Originalhaltung tragen würde.
Die Sponsoren waren zwar alle zur Geheimhaltung verpflichtet, doch er kannte den Buschfunk in der kleinen Stadt und hatte ihn früher auch gelegentlich selbst genutzt, wenn er ein bestimmtes Gerücht in Umlauf setzen wollte. Er war schon weit von seinen ursprünglichen Plänen abgewichen, es war jetzt nur noch wichtig, die eigene Haut zu retten, denn das Wasser stand ihm wirklich bis zum Hals. Es war nur noch ein Sachen von Tagen, bis er Farbe bekennen musste, wenn seine aktuellen Pläne nicht aufgingen.
* * *
Gegen Mittag hatte die Ravioli-Dose endlich eine so große Öffnung, so dass Sophie sich mit den Fingern die erste Nudel heraus angeln konnte. Sie wusste, dass es Mittag war, weil sie von draußen die Uhr des Schlossturms schlagen hörte und wie sie es aus der Klinik gewohnt war, die Schläge mit zählte hatte. Es war eine der ganz wenigen Abwechslungen, die sie in ihrem traurigen Klinikalltag gehabt hatte.
Natürlich wusste sie, dass es besser gewesen wäre, die Ravioli erst einmal zu erwärmen, und in der alten Dienstbotenwohnung hätte es auch eine kleine Kochgelegenheit gegeben. Doch diese zu benutzen, dieses Ziel lag noch in weiter Ferne. Sie hätte dazu aufstehen müssen, sich einen Topf suchen und beim Erwärmen öfters umrühren müssen. Sie wusste, dass ihre Muskeln dies noch überhaupt nicht mitgemacht hätten.
Unter normalen Umständen hätte Sophie über eine Dose Ravioli nur die Nase gerümpft, doch jetzt verschlang sie die kalten Nudeln geradezu mit Heißhunger. Und zu ihrer Verwunderung schmeckten sie wirklich köstlich.
Nach der dritten Nudel hielt sie inne, denn sie erinnerte sich wieder an die Worte der Schwester in der Klinik, die der Lernschwester auch über die Ernährung der hilflosen Patientin berichtete hatte. Ihr Magen sei nur Flüssigkeiten gewöhnt und sie müsste mit fester Nahrung langsam beginnen.
Dermaßen gestärkt machte sich Sophie daran, sich zu überlegen, was die nächsten möglichen Schritte waren. Sie horchte in sich hinein, und als Antwort bekam sie die Mitteilung, dass sich ihr Körper dringend nach Ruhe sehnte.
Sophie blickte wehmütig zum Bett hoch, doch sie wusste, dass die Kraft noch nicht reichen würde, um sich wieder hoch auf das Bett zu stemmen. Außerdem roch sie die stickige Bettwäsche auch noch vor dem Bett, und so beschloss sie, es sich vor dem Bett gemütlich zu machen.
Etwas halbherzig wischte sie den Staub weg, um wenigstens ihren Kopf nicht in den Dreck legen zu müssen, dann ließ sie sich auf die Seite fallen und streckte sich vor dem Bett aus. Gleich darauf war sie völlig erschöpft eingeschlafen.
* * *
»Was meinte Renate damit, wir müssten in Uniform kommen?« Paul war etwas ratlos. »Meint sie die Ketten für den Freitag?« Er blickte zu Maria, die sich umgezogen hatte und jetzt die Treppe herunter kam. Frau Bayer hatte sie zur Versammlung der Sponsoren eingeladen.
»Unsere Kostüme kann sie nicht meinen, die sind ja noch nicht fertig.« Maria war ebenfalls unsicher, wie die Anweisung gemeint war.
»Trauen wir uns allein mit den Ketten auf die Straße?« Paul war besorgt um das Ansehen seiner Freundin.
»Warum denn nicht.« Maria zeigte sich etwas mutiger.
»Ich hatte euch doch gesagt, ihr solltet in Uniform kommen.« Renate zeigte deutlich, dass sie von der Erscheinung von Maria enttäuscht war.
»Das haben wir doch gemacht?« Maria hielt ihre Arme hoch und wackelte etwas mit den Ketten. Sie spürte deutlich, dass Renate verärgert war, doch sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatten.
»Das kennen die Sponsoren schon, das wollen sie nicht sehen.« Renate gab sich Mühe, wieder etwas Freundlichkeit zu zeigen.
Paul hatte auch erkannt, dass sie ihre Betreuerin wohl falsch verstanden hatten. »Was war denn dann gemeint? Etwa das Gebet?«
»Entschuldigung«, Renate begann zu begreifen, dass es zum Teil auch ihr Fehler war. »Ja, das Gebet war gemeint. Ich hätte es deutlicher sagen müssen.«
»Es gibt Probleme?« Andrea kam mit einer ernsten Miene auf das Paar zu.
Maria kam nicht auf den Gedanken, zu fragen, wo die Reporterin her kam. Sie war eher froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen. »Sie wollen das Gebet sehen.«
Andrea warf einen Blick auf die Ketten, die Maria noch trug. »Falsches Kostüm?« Sie lächelte ein wenig.
»Ja, so kann man das auch sagen.« Maria zeigte ebenfalls etwas Galgenhumor, dann wandte sie sich an Paul. »Du musst mir die Ketten abnehmen und das Gebet anlegen.«
»Aber ich habe nichts dabei.« Auf einmal wurde er knallrot. »Und die Kettenschlüssel liegen daheim auf dem Tisch.«
»Ich habe gerade ein Déjà-vu.« Maria verdrehte die Augen.
»Ich könnte die Sachen holen, aber ich möchte dich nicht allein lassen« Paul war sichtlich verlegen.
»Und wenn wir so bleiben?« Maria blickte Frau Bayer an.
»Das geht nicht.« Renate war mindestens genauso verlegen wie Paul. »Der Baron hat viele Versprechungen gemacht, die wir jetzt einhalten müssen.« Sie zeigte auf die Tür zum Sitzungssaal. »Dort drinnen sitzt eine Herde Geier, die uns zerfleischen wird, wenn wir nicht das machen, was sie erwarten.«
Andrea sah auf einmal eine große Chance. »Ich werde die Sachen für euch holen. Und ihr werdet den Damen und Herren Rede und Antwort stehen.«
Es war Renate Bayer überhaupt nicht recht, dass sich die Presse auf diese Weise einmischte, doch eine Alternative wusste sie in der Situation auch nicht. »Was sollen wir den Sponsoren sagen?«
»Lassen sie mich reden.« Andrea gab sich sehr selbstbewusst. »Das Stichwort ist 'Flucht nach vorn'.«
Sie ging zur Tür. »Maria, Paul, kommt ihr.«
Als sie den Raum betraten, setzte sofort ein Geraune ein. »Das können sie mit uns nicht machen.« »Er versucht es schon wieder.« »Wo ist das versprochene Gebet, die Ketten kennen wir.«
Andrea bat um Ruhe. »Meine Damen und Herren, es liegt ein Missverständnis auf unserer Seite vor.« Sie wartete, bis sich Sponsoren beruhigt hatten. »Wir haben Paul und Maria die falsche Einladung zukommen lassen, deswegen sind sie mit den Ketten gekommen.«
»Und was gedenken sie jetzt zu tun?« Einer der Herren machte sich zum Wortführer.
»Ich werde das Missgeschick korrigieren und für Paul und Maria die richtige Ausrüstung holen.« Sie ging zur Tür. »Es dauert nicht lange, ich bin mit dem Auto da. In der Zwischenzeit wird Maria sicher gern von ihrer Ausbildung erzählen.« Sie verließ den Raum.
Maria blickte sich um. Ein paar wenige Herren erkannte sie, unter anderem war Herr Schwerterle anwesend.
»Lassen sich die Ketten nicht einfach abnehmen? Das sind doch nur Attrappen.«
»Nein, das geht nicht.« Herr Schwerterle mischte sich ein. »Die sind von uns originalgetreu gefertigt, also auch mit Schlössern.«
Die Tür ging auf und Herr Steinhagen betrat den Raum. »Ich bitte meine Verspätung zu entschuldigen.« Sein zweiter Blick fiel auf Maria. »So war das aber nicht abgesprochen.« Er suchte Frau Bayer. »Was ist passiert?«
»Ein Missverständnis.« Renate war sehr verlegen. »Frau Baseling holt gerade die richtigen Sachen.«
Rudolf runzelte die Stirn, doch dann nahm er auf dem Platz an der Kopfseite platz. »Nun dann warten wir.« Er ließ seinen Blick im Raum umherschweifen. Als er sah, dass Paul und Maria noch standen, bat er sie, nach vorn zu kommen und auf den Stühlen hinter ihm Platz zu nehmen.
Sie mussten nicht lange warten, dann betrat Andrea wieder den Saal. In der Hand trug sie eine Tasche und ein Schlüsselbund.
Paul und Maria standen sofort auf und gingen auf Andrea zu. Paul nahm sich die Schlüssel und öffnete Marias Ketten. »Es tut mir leid«, flüsterte er.
»Kein Problem.« Maria lächelte, denn insgeheim freute sie sich darauf, hier das Gebet zeigen zu dürfen.
»Jetzt wollen wir aber sehen, ob sie das wirklich können.« Einer der Sponsoren machte einen sehr ungeduldigen Eindruck.
»Herr Wetzler, bitte beherrschen sie sich.« Herr Steinhagen bat um Ruhe. »Maria kann etwas ganz Außergewöhnliches, aber wir dürfen sie nicht hetzen.« Er wandte sich an das Paar. »Lassen sie sich bitte nicht drängen, nehmen sie sich die Zeit, die sie brauchen.«
Maria rieb sich noch etwas die Handgelenke, dann legte sie ihre Arme auf den Rücken und brachte sie in Position. »Kann losgehen.« Sie lächelte Paul an.
Zu seiner eigenen Überraschung blieb Paul völlig ruhig, als er nach und nach die Riemen um Marias Arme legte und fest zog. Er gab sich diesmal sogar Mühe, auf einen eleganten und symmetrischen Verlauf der Riemen zu achten. Maria stand mit dem Gesicht zu den Sponsoren, so dass diese zunächst nicht sehen konnten, was Paul hinter ihrem Rücken machte.
»So, fertig.« Paul war erleichtert. »Sitzt es gut?«
Als Antwort drehte Maria ihren Kopf zu ihrem Freund und küsste ihn kurz auf die Wange. Sie wollte sich schon umdrehen, als sie von Herrn Steinhagen unterbrochen wurde. »Maria, warten sie noch einen Moment.«
Er erhob sich. »Bevor irgendwelche Fragen kommen, Maria ist seit mehreren Jahren im Training und hat in Amerika in der Klinik ihrer Mutter noch eine Spezialausbildung bekommen. Sie hat das Gebet schon über sechs Stunden getragen und stand dabei unter ärztlicher Aufsicht. Ihre Muskeln sind an diese besondere Haltung gewöhnt, und es werden deswegen keine Schäden auftreten. Dennoch sollten wir im Rahmen des Festes gut auf unsere Hauptdarstellerin acht geben und ihr viel Pausen gönnen.« Er drehte den Kopf zu Maria. »Jetzt können sie sich umdrehen.«
Maria hatte sofort begriffen, dass sie es auch etwas spannender machen musste. Ganz langsam begann sie mit der Drehung, und je weiter sie sich drehte, desto leiser wurde es im Saal. Als sie die Wand direkt ansah, war es so still, dass man die sprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören können.
»Schön und gut«, Herr Wetzler zeigte sich wenig beeindruckt. »Aber wiegt das die Baroness auf? Ich denke nicht.« Wieder setzte Gemurmel ein. »Der Baron hatte uns ursprünglich seine Tochter versprochen, die Baroness Sophie von Harsumstal. Wer ist schon eine Maria ...?« Er stutzte. »Wie war doch gleich der Nachname?«
Maria fühlte auf einmal einen großen Schlag in die Magengrube. Sie hatte Mühe, ihre Tränen zurück zu halten.
Paul erkannte sofort, was seine Freundin bewegte. »Komm, ich denke, wir werden hier nicht mehr gebraucht.«
Herr Steinhagen blickte Maria traurig hinterher. Genau das hatte er befürchtet, doch er wusste auch, dass er Maria diese Erfahrung nicht ersparen konnte.
Andrea hielt es nicht mehr auf ihrem Platz. Sie stand auf. »Wartet bitte.« Sie versuchte, Paul und Maria aufzuhalten, doch als sie Marias trauriges Gesicht sah, ließ sie sie gehen. Sie ging nach vorn zum Kopf der Tafel. »Meine Herren, was bilden sie sich eigentlich ein...«
Mehr hörten Paul und Maria nicht, denn sie hatten den Saal verlassen. Als sich die Tür geschlossen hatte, drehte sich Maria um, lehnte sich an Pauls Brust und begann bitterlich zu weinen. Paul legte seine Arme um seine Freundin und streichelte sie tröstend. Auch er war von diesem Auftritt mehr als geschockt.
Nachdem sich Maria etwas beruhigt hatte, zog er sie zu der kleinen Bank an der Seite. Fast unauffällig löste er die Riemen des Gebetes und gab so Maria ihre Arme wieder zurück.
»Oh Paul, das war so demütigend.« Endlich fand sie ihre Worte wieder.
»Lass dich davon nicht unterkriegen.« Paul wischte ihr die Tränen weg. »Du wirst die Katerina schön spielen, und du bist besser als die Baroness.« Er spürte, dass Maria Ablenkung gebrauchen konnte. »Komm, Anna hat sich zum Rudern angesagt.«
Traurig ergriff sie Pauls Hand und ließ sich hochziehen. »Lass uns gehen.«
* * *
Anna sah sofort, dass etwas Einschneidendes passiert sein musste. Als Paul sie über die Ereignisse informiert hatte, erkannte sie sofort, dass Maria Trost und Ablenkung gebrauchen konnte.
Endlich sah sie eine kleine Möglichkeit, sich erkenntlich zu zeigen. »Komm, Maria, du wolltest mir zeigen, wie man rudert.« Eigentlich mochte sie Sport überhaupt nicht, weil es sie an ihre bisherige Erziehung erinnerte, doch hier war eine Möglichkeit, sich für die empfangene Hilfe zu bedanken, ohne dass es aufgesetzt wirkte.
Maria seufzte noch einmal, dann gab sich einen Ruck. »Wir müssen uns umziehen.« Sie mochte das Rudern auch nicht, doch jetzt war es eine willkommene Ablenkung, um sich die traurigen Gedanken und die Demütigungen aus dem Gedächtnis zu rudern.
* * *
Etwas Gutes hatte Sophies Aufenthalt in ihrem Keller für sie selbst; sie war endlich von ihrem sonst immer so aufdringlichen Verehrer befreit. Dieser Michael lauerte überall und verfolgte sie normalerweise auf Schritt und Tritt. Doch die Männer, mit denen sie sich üblicherweise umgab, waren für ihn anscheinend abschreckend genug, so dass er nicht zu näher ihr vordringend konnte.
Sie wunderte sich die ganze Zeit, dass er sie im Krankenhaus nicht besucht hatte. Sie vermutete, dass er eine weiße Gipshülle wohl nicht sehen wollte. Immerhin hatte er jeden Tag frische Blumen ins Krankenhaus geschickt. Anfangs hatten sich die Schwestern noch über den heimlichen Verehrer lustig gemacht.
Sehen konnte sie die Sträuße immer nur kurz, wenn die Schwestern sie in ihr Blickfeld hielten. Aber riechen konnte sie die Blumen, und es war nie ein unangenehmer Geruch. Zumal er anscheinend jeden Tag auch noch andere Sorten für sie auszuwählen schien, die entsprechend einen anderen Duft hatten.
Sie konnten eigentlich nur von Michael sein. Es sprach sehr viel dafür. Zum einen war es die Ausdauer. Nur er brachte üblicherweise so eine Geduld auf. Und von ihren anderen Männerbekanntschaften wäre keiner auf so einen Gedanken gekommen. Von ihren Freundinnen konnte es auch keine gewesen sein, die waren eher auf sie neidisch gewesen.
Sie war mittlerweile so einsam, dass sie sogar einen Besuch von Michael als angenehme Abwechslung empfunden hätte. Er himmelte sie mit scheinbar endloser Geduld an, obwohl sie ihn stets mit der gleichen Energie ablehnte.
Sie wusste, dass sie sich als Erstes bei dieser Maria bedanken wollte. Sie war die Einzige, die sie jemals besucht hatte, nicht einmal ihr Vater war bei ihr gewesen. Er hatte sich nur mit den Ärzten unterhalten und sie dabei keines Blickes gewürdigt. Natürlich wusste sie, dass dieses Mädchen jetzt die Rolle spielte, die für sie gedacht war und auf die sie auch in den ersten Jahren hin gefiebert hatte. Eifersucht verspürte sie keine, denn seit dem Tod ihrer Mutter hatte ihr die Katerina immer weniger bedeutet.
* * *
Maria löste sich aus Pauls Armen, denn sie wollte früh ins Bett gehen, um sich noch einmal leise ins Kissen auszuweinen.
Doch sie wurde von ihrer Erzieherin aufgehalten. »Es hat sich noch ein Besuch angesagt, ein wichtiger Besuch.« Letzteres fügte sie hinzu, als sie Marias trauriges Gesicht sah.
»Wer kommt denn?« Maria blickte kurz auf. »Jemand vom Fest?« Sie war in einer Stimmung, in der sie am liebsten alles hingeschmissen hätte.
»Das wirst du dann schon sehen.« Die Erzieherin lächelte geheimnisvoll.
Sie mussten nicht mehr lange warten, als es klingelte. Mrs. Potter öffnete und bat fünf Herren herein.
Maria erkannte sie sofort, es waren einige der Sponsoren. Einer von ihnen trug einen Blumenstrauß. Maria erkannte ihn sofort an der Stimme, als er sich vorstellte. Es war der, der sie so tief gedemütigt hatte. Sie wollte am liebsten auf ihr Zimmer laufen, und nur der strenge Blick ihrer Erzieherin hielt sie davon ab.
»Wir möchten uns in aller Form bei ihnen entschuldigen.« Er reichte Maria den Blumenstrauß. »Sie werden eine tolle Katerina sein, und wir sind stolz, ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten mit unserem Geld unterstützen zu dürfen.«
Maria blickte den Herrn Wetzler fassungslos an. Sie fand keine Worte.
»Was ist denn passiert?« Paul erkannte sofort, das er für Maria sprechen musste. »Wo kommt der plötzliche Sinneswandel her?«
Jetzt war es an dem Herrn, sichtlich verlegen zu sein. »Frau Baseling hat uns ordentlich den Kopf gewaschen. Sie hat uns deutlich gemacht, welches die wirklich wichtigen Werte sind.«
Auch die anderen Herren traten vor und entschuldigten sich bei Maria. »Wir haben uns blenden lassen. Wir waren so auf die Baroness fixiert, dass wir ihre Fähigkeiten überhaupt nicht gewürdigt haben. Sie werden das toll machen, und es wird ein schönes Fest werden.«
Maria blieb sprachlos. Sie klammerte sich an dem Blumenstrauß fest.
»Wir nehmen die Entschuldigung an.« Paul spürte, dass er immer noch für sie sprechen musste.
Der Herr räusperte sich. »Meine Frau und ich geben am Sonntag einen Empfang für unsere Kunden. Wir würden uns sehr freuen, wenn wir sie als unsere Ehrengäste begrüßen dürften. Nehmen sie es bitte als eine Wiedergutmachung für die schreckliche Demütigung von vorhin. Es tut uns wirklich leid.«
Maria hob den Kopf. »Wir werden kommen, danke für die Einladung.« Ihre Stimme zitterte etwas.
* * *
Andreas Zorn war noch nicht ganz verraucht. Was war das für eine sch... arrogante Gesellschaft, die solche Prioritäten setze. Da zeigte ein junges unschuldiges Mädchen ein atemberaubendes Kunststück, und diese Herren hatten nur die Baroness im Kopf. Doch jetzt war sie neugierig, ob ihre Rede etwas bewirkt hatte. Sie fuhr noch mal zu Marias Haus und klingelte.
Mrs. Potter öffnete. »Maria ist aber schon zu Bett gegangen nach diesem Ereignis.«
Andrea winkte ab. »Ich wollte auch nur in Erfahrung bringen, ob meine Rede etwas bewirkt hat. Waren sie da?«
Mrs. Potter lächelte. »Denen haben sie aber gewaltig den Kopf gewaschen.« Sie zeigte auf den Blumenstrauß und berichtete kurz vom Besuch der Männer.
»Ich glaube, ich habe mich auch ziemlich aus dem Fenster gelehnt.« Andrea lachte. »Aber ich war so wütend.«
Mrs. Potter tat etwas sehr seltenes, sie streichelte der Reporterin über den Arm. »Das haben sie gut gemacht.«
»Das war es mir einfach wert.« Andrea spürte das Besondere des Augenblicks. »Wie geht es Maria? Ist sie darüber hinweg?«
»Sie schläft jetzt.« Mrs. Potter wurde etwas nachdenklich. »Es hat vielleicht auch etwas Gutes, es hat sie wieder etwas auf den Teppich zurück geholt.«
Andrea lächelte jetzt auch ein wenig. »Ich glaube, ich weiß, was sie meinen.« Sie verabschiedete sich.
* * *
Gestärkt und ausgeschlafen blickte Sophie sich in ihrem kleinen Reich um. Es gab tausend Sachen, die sie sofort geändert hätte, wenn ihre Muskeln die Kraft dazu gehabt hätten. Doch so war das Einzige, über das sie frei verfügen konnte, ihre Augen und ihre sonstigen Sinne. Und natürlich auch ihr Gehirn. So viel wie in den letzten Wochen hatte sie wohl noch nie in ihrem Leben nachgedacht.
Ganz oben auf ihrer noch nicht geschriebenen Liste stand das Bett mit dieser pekigen Bettwäsche. Sie ekelte sich sehr davor, doch sie wusste andererseits, dass sie keine Wahl hatte, als eine zweite Nacht darauf zu verbringen.
Irgendjemand hatte ihr zwar frische Bettwäsche bereit gelegt, und diese sah auch sehr verführerisch aus. Doch Sophie konnte ihre Lage und ihre noch vorhandene Kraft mittlerweile realistisch einschätzen, und deswegen wusste sie, dass sie noch zu warten hatte.
Außerdem wusste sie eigentlich nicht mehr, wie so ein Bett neu zu beziehen war. Sie hatte sich seit langem nicht mehr darum gekümmert, sondern nur dem Personal ihres Vaters Beine gemacht. Jetzt musste sie den Kopf schütteln über ihre so maßlose Arroganz von damals. Sie wollte nie durch Spuren in der Bettwäsche an die vorangegangene Nacht erinnert werden, deswegen hatte sie verlangt, dass ihr Bett jeden Tag neu zu beziehen war. Jetzt schämte sie sich für ihr Benehmen von damals.
Der Erfolg mit dem Dosenöffner ermutigte sie, sich das nächste Ziel vorzunehmen. Morgen Abend wollte sie ihren Kopf auf das frisch bezogene Kissen legen.
Doch zuvor galt es noch einen anderen Kampf zu gewinnen. Sie musste sich wieder hoch auf das Bett heben. Natürlich wusste sie, welche Bewegungen sie normalerweise machen würde, doch sie spürte im Moment auch, was sie mit welcher Bewegung ihren Muskeln abverlangte und vor allem, welche Kraft sie überhaupt abrufen konnte. Und es war nur sehr wenig.
Tränen liefen ihr über die Wange, als sie sich endlich auf der Matratze ausstrecken konnte. Die Berührung mit der klebrigen Bettwäsche bereitete ihre geradezu körperliche Schmerzen, doch sie wusste, dass sie es ertragen musste.
Kurz vor dem Einschlafen erinnerte sie sich auf einmal an den Haushaltsunterricht, den sie in ihrer frühen Jugend bekommen hatte. Damals musste sie auch ein Bett beziehen, doch es war so verdammt lang her. Trotzdem sah Sophie die nötigen Schritte auf einmal direkt vor ihren Augen, und sie glaubte sogar, die Stimme der Gouvernante zu hören.
Obwohl sie sich vor dem Kissen ekelte, war ihre Müdigkeit doch stärker, und zusätzlich geschwächt durch den so mühsamen Aufstieg auf das Bett schlief sie bald darauf ein... und träumte von einem leckeren Teller heißer Ravioli.
Samstag, 18. September 1984
»Sie ist noch oben.« Mrs. Potter sah Paul entschuldigend an. »Ich habe sie schlafen lassen nach diesem schrecklichen Tag gestern.«
»Ob ich wohl zu ihr gehen könnte?« Paul wollte nicht aufdringlich sein, aber er ahnte, dass Maria sich bestimmt freuen würde, wenn er sie wecken würde.
»Sie freut sich bestimmt, wenn sie dich beim Aufwachen sieht.« Dorothea hatte ein wenig Probleme, ihre latente Eifersucht unter Kontrolle zu halten. »Du solltest aber wissen, das heute ihr letzter freier Tag vor dem Fest ist. Außerdem hat sie Anna und Florian zum gemeinsamen Frühstück eingeladen. Sie müssten eigentlich bald kommen.«
»Okay, ich werde mal nach ihr sehen.« Paul ging zur Treppe.
»Kommt dann bitte herunter, wenn ihr sie hört.« Mrs. Potter blickte ihm hinterher.
Den Weg zu Marias Zimmer war er schon öfters gegangen, doch dieses Mal war er besonders angespannt. Er fragte sich immer wieder, wie es seiner Freundin wohl ergangen war nach dieser schweren Demütigung gestern. Er wäre gern bei ihr geblieben, doch er hatte gespürt, dass sie allein sein wollte.
Vorsichtig klopfte er leise an die Tür und steckte seinen Kopf durch die Tür. »Guten Morgen, mein Schatz«, sagte er, als er sah, dass sie die Augen schon auf hatte. »Wie geht es dir?«
Maria erwiderte den Gruß, dann richtete sie sich auf. »Es hat so weh getan.« Sie seufzte. »Ich war drauf und dran, alles hinzuwerfen.«
»Herr Wetzler hat sich doch bei dir entschuldigt.« Paul hoffte, seiner Freundin damit zu helfen. »Und Morgen sind wir bei ihnen eingeladen.«
»Du hast recht, ich sollte nicht nachtragend sein.« Maria schlug die Bettdecke beiseite und schwang sich aus dem Bett. »Wie spät ist es denn?«
Paul blickte auf seine Uhr. »Schon halb neun.« Nur nebenbei fiel ihm auf, dass seine Freundin neben dem Nachtkorsett noch das Keuschheitsensemble mit Slip und BH trug. Sie schien es wirklich wie Alltagskleidung zu betrachten.
»Ich hatte Anna und Florian zum Frühstück eingeladen, das war aber schon gestern morgen.« Sie sprach nicht weiter.
Paul begriff trotzdem, was sie sagen wollte. Sie hätte die Einladung gern zurückgenommen, wusste aber, dass dies sehr unhöflich wirken würde. So mussten sie sich dieser Pflicht stellen. »Es ist vielleicht auch gut, auf andere Gedanken zu kommen.« Er sprach aus, was er dachte.
»Ich bin dann im Bad.« Sie blickte ihn ein wenig verlegen an. »Magst du mal schauen, ob du ihr beim Tisch Decken helfen kannst?« Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie eingeladen hatte und sich jetzt gar nicht darum kümmerte.
»Gern.« Paul machte sich auf den Weg. Er war erleichtert, dass es Maria doch einigermaßen gut ging.
»Kann ich noch etwas helfen?«, fragte Paul höflich, obwohl er sah, dass der Tisch schon weitgehend gedeckt war.
»Du könntest noch zwei Flaschen Orangensaft aus dem Keller holen.« Mrs. Potter nahm sein Angebot wohlwollend zur Kenntnis. »Die Getränke sind gleich neben Marias Trainingsraum.« Doch dann hielt sie inne. »Wie geht es ihr?«
Paul war schon auf dem Weg zur Tür, als er stehen blieb. In ihrer Frage war ein ganz besonderer Unterton, der ihn aufhorchen ließ. Auf einmal erkannte er, was sie mit der Frage eigentlich sagen wollte. Er musste schlucken. »Sie wussten, dass es passieren würde?« Er blieb stehen.
»Ich bin letztendlich froh, dass es schon so früh passiert ist.« Sie seufzte kurz. »Es ist zwar schmerzhaft, so aus einem Traum aufgeweckt zu werden, doch es war nötig.«
»Sie wollte die Prinzessin sein, und alle Welt würde sich um sie drehen?« Paul dachte laut.
»Genau das meinte ich.« Mrs. Potter faltete die Servietten. »Natürlich darf man träumen, aber es ist auch wichtig, den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren.«
»Aber es war doch sehr ungerecht Maria gegenüber.« Paul wollte Marias Standpunkt verteidigen.
»Natürlich war es das.« Dorothea gab ihm Recht. »Aber es hat eben auch bewirkt, dass Maria wieder auf der Erde steht und nicht mehr auf ihrer Wolke Sieben schwebt.«
»Ein tiefer Fall mit einem harten Aufprall.« Paul wunderte sich, warum er es schaffte, so über Maria mit ihrer Erzieherin zu reden.
»Und es ist wie beim Fahrradfahren. Man muss wieder aufsteigen und weiter fahren.« Mrs. Potter blickte auf die Uhr. »Jetzt solltest du aber in den Keller gehen.«
Paul grinste. »Natürlich.«
* * *
Sophie öffnete die Augen, und diesmal wusste sie sofort, wo sie war. Sie vermied es allerdings, sich zu räkeln, denn dabei hätte sie noch mehr Stellen von dieser so ekelhaften Bettwäsche berühren müssen, deren Geruch sie sofort wieder wahrnahm.
In ihrem Traum hatte sie Besuch bekommen von ihrer Mutter, und diese hatte ihr gezeigt, wie sie sich in ihrem Verließ trotz aller Umstände gemütlich einrichten konnte. Sie hatte ihr ein paar einfache Rezepte verraten, mit denen sie ihren kulinarischen Alltag etwas verschönern konnte.
Wieder musste Sophie weinen, weil der Traum so intensiv und real gewesen war. Ihre Mutter stand auf einmal in ihrem kleinen Zimmer und hatte ihr beim Aufstehen geholfen. Dann hatte sie sich die Dosensammlung angesehen und ihr ein paar hilfreiche Tipps gegeben.
Sie hob ihre Hände vor das Gesicht und wischte sich die Tränen weg. Sie musste wieder an den Haushaltsunterricht denken, den sie in ihrer frühen Jugend bekommen hatte. Jetzt wurden ihr auch die Bemühungen ihrer Mutter bewusst, sie zu einer selbstständigen Hausfrau zu erziehen, auch wenn sie dieses sehr bald schon nach allen Regeln der Kunst sabotiert hatte.
Doch ihre Mutter hatte ihr schon verziehen. Das hatte sie ihr in dem Traum deutlich gesagt.
Deutlich roch sie die stickige Bettwäsche, und sie fühlte sich in ihrem Vorhaben bekräftigt, zumindest das Kissen neu zu beziehen, damit sie ihren Kopf etwas angenehmer zu Ruhe betten konnte. Das Laken und auch die Bettdecke auszutauschen, das lag bei Weitem noch nicht in ihren Kräften.
Anfangs hatte sie Angst gehabt, ihre Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie die Ravioli sehen würde. Doch zu ihrer Erleichterung hatte sie ihr sogar dazu geraten. »Sie schmecken auch kalt, wenn man nur hungrig genug ist.«
Trotzdem nahm sich Sophie auch vor, spätestens an einem der nächsten Tage einmal warme Ravioli zu sich zu nehmen. Und natürlich gab es auch noch diverse andere Dosen, bei denen zumindest das Etikett sehr lecker und viel versprechend aussah.
Durch die Wechsel im Dienstplan der Schwestern im Krankenhaus hatte sie einen gewissen Überblick über die Tage, die schon vergangen waren. Doch seit der Gips ab war, lag sie auf einer anderen Station, auf der sie die Schwestern nicht kannte. Und jetzt war sie ganz woanders und das Einzige, was sie diesbezüglich wusste war, dass sie schon zwei Mal übernachtet hatte. Sie fragte sich, ob es wohl möglich war, heraus zu kriegen welcher Wochentag war. Im Krankenhaus hatte sie die Wochenenden immer daran erkannt, dass insgesamt weniger Verkehrsgeräusche zu ihr ins Zimmer drangen.
Durch die lange Unbeweglichkeit war sie gezwungen gewesen, auf ihre Umgebung zu hören und insgesamt waren diese Sinne noch sehr aktiv. Sie fand es insgesamt etwas ruhiger als gestern, doch sie wusste auch, dass das Schloss ihres Vaters eher etwas abseits lag und nicht der komplette Verkehrslärm zu ihr durch dringen konnte.
Aber dafür hörte sie die Vögel im Schlosspark jetzt sehr deutlich, und obwohl sie sich das nicht eingestehen wollte, erkannte sie doch an dem unterschiedlichen Gesang der Vögel, wie spät es an dem jeweiligen Tag sein musste. Sie konnte es zwar nicht mit einer konkreten Uhrzeit belegen, doch es gab ihr zumindest eine grobe Orientierung.
Sechs Nudeln waren noch in der Dose, die sie gestern geöffnet hatte. Wenn sie zum Frühstück zwei davon essen würde und zu Mittag drei, dann wäre eine noch fürs Abendessen über. Und Morgen würde sie wieder den Kampf gegen den Dosenöffner antreten.
Unbewusst blickte sie zu dem kleinen Waschbecken. Ihr Cousin hatte doch tatsächlich daran gedacht, eine Zahnbürste und Zahncreme bereit zu legen. Sophie wusste auf einmal, was sie nach dem Frühstück als Erstes machen wollte. Das Prinzip des Vorabplanens hatte sie mittlerweile schon gut verinnerlicht. Da gab es den kleinen Schemel, auf den sie sich setzen konnte, und damit würde sie alle gut erreichen können.
Sie wusste, dass sie es nicht überstürzen durfte, doch sie sehnte sich danach, wieder selbst gehen zu können und nicht mehr im Dreck herum kriechen zu müssen. Sie nahm es sich als das Ziel für den nächsten Tag vor. Sie wollte aufstehen und mindestens zwei Schritte gehen. Sie war sich zwar unsicher, ob sie das ihren Muskeln schon zumuten durfte, doch die würden sich sicher sofort melden, wenn es ihnen zu viel werden würde.
* * *
Erst als er im Keller war, fiel Paul ein, dass er noch nicht in Marias Fitnessraum gewesen war. Doch es gab zum Glück nur wenig Türen, die er öffnen musste, um ihn und daneben den Raum mit dem Getränkelager zu finden. Auch den Orangensaft hatte er sofort gefunden. Er griff sich zwei Flaschen und ging zurück. Auf dem Weg noch oben hörte er die Türklingel. Das würden Anna und Florian sein.
Er sah es auf den ersten Blick. Annas Augen strahlten wie noch nie zuvor, und auch Florian machte einen sehr glücklichen Eindruck. Doch er wollte sie nicht überrumpeln.
Auch Maria hatte die Ankunft bemerkt und kam die Treppe herunter. Auch ihr fielen sofort die glücklichen Augen der beiden auf. Sie hielt sich nicht zurück. »Was ist los mit euch beiden? Ihr strahlt ja, als hättet ihr im Lotto gewonnen.«
Doch statt einer Antwort begrüßten sie erst einmal ihre Gastgeberin. Florian überreichte einen kleinen Blumenstrauß. »Vielen Dank für die Einladung.«
Mrs. Potter bedankte sich und bat ihre Gäste Platz zu nehmen, dann holte sie eine Vase.
Paul warf einen kurzen Blick auf den Strauß, als Florian grinste. »Ertappt!« Er wischte sich mit der Hand durch das Gesicht. »Deine Oma hat uns geholfen.«
Paul lächelte ebenfalls.
»Greift bitte zu.« Mrs. Potter bat ihre Gäste, es sich gut gehen zu lassen.
* * *
Sophie wollte diesmal etwas weniger schmerzhaft aus dem Bett fallen. Normales Aufstehen lag immer noch außerhalb ihrer Möglichkeiten. Den Kontakt mit der Bettwäsche konnte sie nicht vermeiden, doch diesmal stützte sie sich ein wenig ab, als sie sich aus dem Bett fallen ließ.
Sie hatte sich einen kleinen Plan gemacht, wie sie das Waschbecken erreichen wollte, jetzt hoffte sie, dass es auch genauso funktionieren würde. Sie wusste, dass sie nur die Kraft zu einem Versuch hatte, doch das Bedürfnis, sich die Zähne zu putzen, wurde immer größer.
Natürlich wäre sie auch gern einmal wie früher unter die Dusche gesprungen, doch das lag im Moment noch ganz außerhalb ihrer Reichweite und auch ihrer Möglichkeiten.
Sie versuchte, sich nach dem diesmal etwas sanfteren Fall aus dem Bett ein wenig zu erholen, dann machte sie sich auf den Weg zum Waschbecken. Wieder musste sie durch den Staub kriechen und auch diesmal rollten ihr dabei ein paar Tränen über das Gesicht. Doch sie wusste, dass sie bei weitem noch nicht kräftig genug war, um schon ausfegen zu können.
Trotzdem war sie ihrem Cousin dankbar, dass er ihr wenigstens Zahnbürste und -pasta besorgt hatte. Sie ertrug mittlerweile viel, doch ihren Mund wollte sie unbedingt sauber halten. Sie erschauderte, wenn sie daran dachte, was sie früher so alles in den Mund genommen hatte.
Endlich hatte sie den kleinen Schemel vor dem Waschbecken erreicht. Sie wartete, bis ihr Atem wieder ruhig ging, dann begann sie mit dem Projekt 'Besteigen des Hockers'. Sehr erfreut stellte sie fest, dass ihr Plan, den Hocker gegen den Unterschrank zu drücken und sich dann auf den Schemel hoch zu ziehen, relativ gut funktionierte. Trotzdem musste sie erst wieder zu Atem kommen, bevor sich sich um den nächsten Teil ihres Planes kümmern konnte.
Sie bemerkte sehr schnell, dass sie ihren Arm noch nicht so lange hoch halten konnte. Schließlich versuchte sie sich etwas an das Waschbecken anzulehnen und den Arm auf den Beckenrand zu legen. Sie war dabei, eine eigentlich selbstverständliche Tätigkeit neu zu entdecken.
Immer wieder musste sie von der rechten auf die linke Hand wechseln, weil ihre Handmuskeln ihr ihre aktuelle Schwäche deutlich vor Augen führten.
Als sie fertig war, fiel ihr Blick auf das Bett und sofort überfiel sie der Ehrgeiz, dass Bett neu zu beziehen. Doch dann sah sie in Gedanken ihre Mutter vor sich, die sie ermahnte, es langsam anzugehen und sich erst einmal von den Strapazen zu erholen.
* * *
Nachdem der erste Hunger gestillt war, hielt es Maria nicht mehr aus. »Jetzt möchte ich aber wissen, warum ihr strahlt wie die Honigkuchenpferde.« Sie hatte die Frage natürlich auf Englisch gestellt, nur das letzte Wort hatte sie Deutsch gelassen.
»Wie was?« Anna war verwundert.
»Ach«, Maria winkte nur kurz mit der Hand. »Das sagt man im Deutschen, wenn jemand sehr glücklich ist. Und ich möchte jetzt von euch den Grund dazu hören.«
Anna blickte ihren Freund an. »Magst du es erzählen?«
»Wir haben gestern noch einen Spaziergang gemacht und sind an der Kirche vorbei gekommen. Wir sind hinein gegangen, weil wir uns für die gelungene Flucht bedanken wollten.« Florian nahm einen Schluck Kaffee. »Eine junge Frau hat uns angesprochen, weil sie unser Englisch bemerkt hatte. Wir sind ins Gespräch gekommen, und es hat sich heraus gestellt, dass sie die Pfarrerin an der Kirche ist.«
»Und dann hast du gefragt.« Annas Stimme zeigte, wie glücklich sie war.
»Ich hatte mir gedacht, dass sie bestimmt 'nein' sagen würde, doch ich wollte es probieren.« Florian sprach etwas leiser.
»Was hast du denn gefragt?« Maria war mehr als neugierig.
»Nun ja.« Er blickte Maria lange an. »Deine Mutter hat uns ja Papiere geben, die sagen, dass wir verheiratet sind.« Er machte eine lange Pause. »Ich hatte sie gefragt, ob wir trotzdem noch kirchlich heiraten könnten.«
Anna lächelte sehr verträumt.
»Sie hat gesagt, dass es Morgen auf dem Bitgottesdienst durchaus eine Gelegenheit gäbe. Sie könne das noch problemlos integrieren.«
»Morgen schon?« Maria war erstaunt.
»Ja, für uns kam das auch sehr überraschend.« Anna lächelte, doch dann wurde sie traurig. »Ich habe leider nichts anzuziehen.«
»Was hattest du dir denn vorgestellt?« Mrs. Potter war auf einmal hellhörig geworden.
»Ich hätte sehr gern in einem weißem Kleid geheiratet.« Anna klang auf einmal sehr enttäuscht. »Aber ich besitze ja nicht einmal mehr ein Abendkleid.«
»Ich muss mal kurz telefonieren.« Mrs. Potter stand auf. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Welche Kleidergröße hast du?«
Anna nannte ihre Größe.
Mrs. Potter war verwundert. »Noch nie gehört.«
Florian erkannte, dass er helfen konnte. »Das sind die amerikanischen Größen.«
»Ach so, dann wird meine Freundin das sicherlich umrechnen können.« Sie ging auf den Flur zum Telefon.
Nach kurzer Zeit kam sie wieder. »Meine Freundin hat ein kleines Geschäft in der Innenstadt.« Sie lächelte geheimnisvoll. »Sie erwartet euch. Wenn ihr euch beeilt, dann kann sie euch sicher noch helfen.«
Trotzdem waren Anna und Florian noch sehr zögerlich. Sie waren irritiert, weil Marias Erzieherin fast so etwas wie ein Geheimnis darauf machte.
»Ihr geht bitte erst zu Selma, sie möchte euch auch noch etwas sagen.« Sie wandte sich an Paul. »Kommst du bitte kurz mit, ich muss dir etwas sagen.«
Paul stand auf und folgte der Erzieherin auf den Flur. »Meine Freundin besitzt ein Brautmodengeschäft, doch wenn Anna das jetzt schon erfährt, wird sie nicht mitgehen wollen.«
Paul verstand sofort, was gemeint war. »Sie soll es nicht vorher wissen.«
»Genau.« Mrs Potter sprach leise. »Du wirst mit Florian bei Selma bleiben, ihr könnt euch um den Garten kümmern. Selma wird Anna begleiten. Das ist Frauensache.«
»Das geht so nicht.« Woher Paul den Mut für den Widerspruch nahm, wusste er nicht. »Ich muss Maria ins Krankenhaus begleiten. Sie will die Baroness besuchen.«
Mrs. Potter ging zu seinem Erstaunen sofort auf seinen Einwand ein. »Das ist auch wichtig.« Sie überlegte einen Moment. »Wie wäre es so: Du und Maria bringt die beiden zu Selma und ihr geht dann weiter zum Krankenhaus. Selma geht dann mit Anna ins Geschäft.«
»Aber ob Anna sich das allein zutraut?« Paul dachte laut.
»Es ist zwar schmerzhaft, aber sie muss lernen, dass sie hier sicher ist.« Mrs. Potter lächelte. »Jetzt beeilt euch. Meine Freundin wartet schon auf euch.«
* * *
Sophie fragte sie sich insgeheim, wie lange sie wohl hier in diesem Kerker zu bleiben hatte. Sie hatte mittlerweile keine Angst um ihr Leben mehr, denn das hätten sie ihr schon öfters auf bessere Weise nehmen können. Sie war überzeugt, dass sie weiter leben sollte. Auch wenn sie im Moment überhaupt keine Idee hatte, wie ihre Zukunft aussehen würde.
So gesehen wollte sie auch gar nicht befreit werden. Sie bereute ihr früheres Leben und wollte jetzt nur noch dafür leiden. Sie sah es wirklich als die gerechte Strafe. Außerdem hatte sie Angst, Ihrem Bekanntenkreis wieder unter die Augen treten zu müssen.
Doch jetzt galt es erst einmal, den Blick nach vorn zu richten. Und da war das wirklich ekelige Kopfkissen, das jetzt einen neuen Bezug bekommen sollte. Heute Abend wollte sie ihren Kopf auf dem frisch bezogenen Kissen zur Ruhe betten.
Zunächst nahm sie den neuen Bezug zur Hand. Bisher musste sie sich nie mit der Bettwäsche befassen, dafür gab es das Personal. Das einzige, auf das sie bisher geachtet hatte, war ob das Kissen richtig herum gelegen hatte. Sie verfluchte sich für ihre Arroganz.
»Jetzt wollen wir uns das Kissen mal genauer ansehen.« Sie sprach mit sich selbst, um eine Stimme zu hören. Sie erinnerte sich dunkel an den Begriff »Kissenbezug« und begann zu überlegen. Es gab anscheinend das Kissen und etwas Stoff darum herum. Sie versuchte sich an die Details aus dem Haushaltsunterricht zu erinnern, doch es war so verdammt lang her.
Fast automatisch begannen ihre Finger, sich mit den Knöpfen zu befassen. Doch nachdem sie den ersten Knopf geöffnet hatte, musste sie innehalten. Die Muskeln ihrer Finger waren an ihrer Beanspruchungsgrenze angekommen. Ein Vorgang, den sie in den letzten Tagen schon oft erlebt hatte, und den sie insgeheim als Strafe für ihr bisheriges Leben angenommen hatte. Sie wusste, dass sie eine Pause machen musste und zu warten hatte.
* * *
»Warum darf ich Anna nicht begleiten?« Florian war vor dem Gedanken, sich von Anna trennen zu müssen, wenig begeistert.
»Florian, komm mal kurz mit.« Paul war froh, dass Marias Erzieherin ihn so gut vorbereitet hatte. Er wartete, bis Annas Freund ihr folgte, dann ging er so weit, dass sie außer Hörweite waren. »Es gibt in Deutschland einen Brauch. Der Bräutigam darf das Kleid seiner Braut vor der Hochzeit nicht sehen.«
»Diesen Brauch kenne ich auch.« Er lächelte kurz, dann realisierte er, was Paul ihm wirklich gesagt hatte. »Anna bekommt ein Brautkleid?«
»Behalte es bitte für dich.« Paul war froh, dass es so einfach war. »Und bitte mache ihr Mut, auch was die Trennung von dir betrifft.«
»Sie muss aber nicht allein in die Stadt.« Florian zeigte etwas Besorgnis.
»Meine Oma wird sie begleiten.« Paul hatte fast so etwas wie Stolz in der Stimme. »Es wird ihr ganz sicher nichts passieren.«
* * *
»Jetzt darfst du die Augen aufmachen.« Selma stand mit Anna vor dem Brautmodengeschäft und hatte den Arm um sie gelegt. Die zwanzig Meter nach der letzten Kreuzung hatte sie Anna gebeten, die Augen zu schließen oder nur auf den Boden vor sich zu schauen.
Anna hatte keine Probleme, sich ihrer Gastgeberin anzuvertrauen. Nur manchmal blinzelte sie auf den Boden vor sich. Jetzt hob sie langsam den Kopf, und als sie sah, was sie erwartete, brach sie in Tränen aus.
Mrs. Potter hatte auch Selma gut vorbereitet, denn diese schob Anna jetzt einfach voran in das kleine Geschäft. Die Inhaberin erwartete sie schon. »Schön, dass ihr gleich gekommen seid. Dorothea hat mir schon alles berichtet.«
Anna war sprachlos. Sie kämpfte mit den Tränen und wollte den Laden wieder verlassen. »Das kann ich nicht annehmen.«
»Das ist die Braut?« Die Inhaberin, die sich gegenüber Anna als Simone vorstellte, reichte ihr die Hand. »Jetzt bleib doch bitte. Mrs. Potter hat mir von eurer Situation berichtet und mich gefragt, ob ich euch ein gebrauchtes Kleid leihen könnte. Und ihr habt Glück, ich habe etwas für euch.«
Anna wurde immer noch von Selma festgehalten, doch ihr Fluchtinstinkt ließ nach. »Wir geben es wieder zurück?«
»Genießt euren schönsten Tag morgen, und ich werde das Kleid dann in den nächsten Tagen bei euch wieder abholen.« Simone wusste, was Anna bewegte. »Es wäre sehr nett, wenn ihr die Reinigungskosten übernehmen würdet.«
»Das machen wir.« Selma hielt Anna immer noch im Arm.
»Dann lass dich einmal ansehen.« Simone blickte Anna an. »Ich denke, wir werden nur wenig am Kleid ändern müssen.« Sie zeigte auf die Schneiderpuppe, die ein Kleid trug.
Als Anna ihren Blick auf die Puppe richtete, begann sie wieder zu weinen.
»Jetzt ist aber Schluss mit den Tränen« Simone gab sich für einen Moment ein wenig resoluter. »Sonst reicht die Zeit nicht.«
* * *
»Was ist so Wichtiges im Garten zu machen, dass Anna allein in die Stadt musste?« Maria ging langsam neben Paul her. Sie waren schon auf dem Klinikgelände, zu dem sie mit dem Bus hingefahren waren.
»Gar nichts.« Paul hatte ein Lächeln in der Stimme. »Aber du weißt doch, dass der Bräutigam das Kleid der Braut vor der Hochzeit nicht sehen darf.«
»Anna bekommt ein Brautkleid?« Maria blieb verwundert stehen.
»Deine Mrs. Potter kennt anscheinend die Inhaberin eines Brautmodengeschäftes, und diese hat zufällig einen Rückläufer in Annas Größe da.« Paul gab das wieder, was er erfahren hatte. »Anna soll es dann auch wieder zurückgeben, weil es ein Ausstellungsstück werden soll.«
»Ich freue mich für Anna.« Maria schmiegte sie etwas Paul.
»Jetzt lass uns weitergehen.« Es störte Paul ein wenig, die besondere Stimmung stören zu müssen.
Maria seufzte. »Wie wird es wohl nächste Woche sein?« Dann gingen sie weiter.
»Weißt du noch, auf welchem Zimmer Sophie lag?« Maria blickte ihren Freund kurz an. »Es ist schon so lange her.« Sie war ein wenig verlegen.
»Fragen wir doch einfach.« Paul ging an den Auskunftsschalter. »Wo finden wir die Baroness Harsumstal?«
»Die ist nicht mehr in dieser Klinik.« Die Schwester musste nicht lange überlegen. Dass die 'berühmteste' Patientin ihrer Klinik verlegt worden war, hatte sich sehr schnell herumgesprochen.
»Und wo ist sie jetzt?« Paul fragte das Naheliegende.
Die Schwester musste erst in den Unterlagen nachsehen, bevor sie Auskunft geben konnte. Sie nannte den Namen der neuen Klinik. Es war die Klinik des Nachbarlandkreises.
»Das ist zu weit weg.« Maria war enttäuscht und erleichtert zugleich.
»Beim letzten Mal war es richtig gruselig, sie so hilflos zu sehen.« Auf dem Rückweg sprachen sie erst nach einiger Zeit wieder.
»Willst du sie dort noch besuchen?« Paul blickte auf die Uhr. »Das könnte knapp werden.«
»Hätten wir denn ein Auto, um dort hin zu fahren?« Maria schien es abzuwägen.
»Nein, hätten wir nicht.« Paul wusste, dass sie sich sonst auf den Nahverkehr verlassen konnten. »Und mit Taxi ist es zu teuer.«
»Okay, so wichtig ist es dann auch wieder nicht.«
»Na, ihr zwei, wo kommt ihr denn her?« Andrea kam ihnen auf einmal entgegen.
»Wir wollten die Baroness im Krankenhaus besuchen, aber sie war nicht mehr da.« Maria klang etwas enttäuscht.
»Wurde sie entlassen?« Die Reporterin war verwundert.
Paul gab wieder, was er von der Schwester erfahren hatte.
»So so, verlegt in das Sankt-Bernward-Krankenhaus.« Andrea runzelte die Stirn. »Da werde mal ein Telefonat führen. Danke für die Auskunft.« Sie lächelte. »Was macht ihr heute noch?«
»Wir organisieren eine Spontan-Hochzeit.« Marias Augen leuchten, obwohl ihre Stimme zeigte, dass sie gern etwas anderes gemacht hätte. »Möchten sie auch kommen? Wäre nett, wenn sie ihren Freund mitbringen.«
»Wer wird denn heiraten?« Andrea war verwundert. »Ich habe gar keine Aufgebote gesehen.«
»Anna und Florian.« Paul hatte etwas Stolz in der Stimme. »Meine Oma hat das organisiert.« Doch dann wurde er verlegen. »Ich hätte noch eine Frage. Wir würden gern für einige Erinnerungsfotos sorgen. Viel zahlen können wir aber nicht.«
* * *
Andrea begriff die Zusammenhänge sofort. »Man müsste ihm einen besonderen Anreiz bieten.«
»Und was wäre das?« Paul hatte erkannt, dass er für Anna verhandeln musste.
Andrea hoffte, dass sie den Bogen mit ihrem Wunsch nicht überspannen würde. »Ich glaube, ein Motiv würde ihn sehr reizen. Dafür würde er es dann auch umsonst machen.« Sie wollte sich vorsichtig an den Wunsch ihres Freundes heran tasten.
»Und welches Motiv wäre das?« Paul hoffte, dass er es im Sinne von Anna richtig machte.
Andrea holte tief Luft. »Eine Braut im weißen Brautkleid und mit weißem Monohandschuh würde ihn sehr reizen.«
Paul musste schlucken, als er es erfuhr. »Ich weiß nicht, ob Anna dazu bereit ist.«
»Aber dafür würde er es sicher umsonst machen.« Andrea verdrehte ein wenig die Augen. »Mit dem Wunsch nervt er mich schon lange.«
»Wie soll ich das Anna bloß beibringen?« Paul war unglücklich, weil er Anna ihren schönsten Tag nicht verderben wollte.
»Ich rede selbst mit ihr.« Andrea hatte schon eine Idee, wie sie es der Braut schonend beibringen konnte.
* * *
»Leonie, hast du einen Moment Zeit?« Selma verfolgte einen Plan, doch dazu brauchte sie Hilfe.
»Frau Mohr?« Leonie drehte sich etwas mühsam um.
»Wie kommst du mit den neuen Fesselungen zurecht?« Selma blickte interessiert auf Leonies Körper, der schon erheblich in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war.
»Sehr gut.« Leonie wollte ehrlich sein. »Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Ich dachte, dass ich viel mehr Schwierigkeiten haben würde.«
»Das ist schön zu hören.« Selma war sehr fasziniert von dem jungen Mädchen, welches sich immer stärker in freiwillige Gefangenschaft begab. »Heute steht ein wichtiges Fest an, welches viel Arbeit mit sich bringt. Ich würde dir daher erlauben, die jetzt anstehende Verschärfung auf morgen zu verschieben.«
»Jetzt wäre das Halskorsett dran?« Leonie hatte sich insgeheim schon darauf gefreut, denn diese Art von Restriktionen mochte sie besonders gern.
Selma bestätigte Leonies Vermutung. »Ein schönes Exemplar.« Selma zeigte auf die Kommode, wo es schon deutlich sichtbar bereit stand. »Es enthält viele kleine Korsettstangen und wird deinen Kopf ganz sicher festhalten.«
»Es steht von allein.« Leonie hatte große Probleme, ihre Erregung zu verbergen.
»Ich brauche dich heute Abend als Bedienung.« Selma sprach nicht weiter.
»Ich möchte es tragen müssen.« Leonie hatte Schwierigkeiten, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Aber ich würde gern etwas anderes vorschlagen.« Sie hoffte, dass sie eine Option zum Handeln haben würde.
»Und was wäre das?« Selma bewunderte insgeheim dieses Mädchen, welches so fesselverrückt war.
»Meine Schwester sich sich mal ein Tablett machen lassen, bei denen die Handgriffe nach hinten verlängert sind.« Leonie zeigte mit ihren Armen, wie wenig Freiraum sie noch hatte. »Sonst könnte ich immer nur zwei Gläser tragen.«
Selma lächelte, denn sie hatte sich insgeheim auch schon Gedanken darüber gemacht. Eine Lösung war ihr allerdings noch nicht eingefallen. »Ich werde mich darum kümmern.«
»Dann bekomme ich jetzt das Halskorsett?« Leonie blickte geradezu sehnsüchtig auf die Kommode.
»Du scheinst dich ja richtig darauf zu freuen?« Selma war ehrlich fasziniert von Leonie.
»Ja.« Leonie senkte beschämt den Kopf. »Dann kann ich mich bis heute Abend schon daran gewöhnen.« Sie hielt den Atem an, als sie sah, dass Selma zur Kommode ging und das kleine Korsett in die Hand nahm.
»Ich würde dich ja bitte, mit anzufassen, aber ich glaube, du kommst mit deinen Armen nicht mehr dran.« Selma zog das Korsett auseinander und streifte es über Leonies Kopf.
Leonie keuchte, als sie die ersten Berührungen an ihrem Hals spürte. »Wenn ich daheim allein bin, kann ich es mir jederzeit wieder abnehmen, und damit hat es nicht so den Reiz.«
Selma zog langsam die Schnürung zusammen. »Ich mache das sehr vorsichtig. Ich möchte, dass es so streng wie möglich sitzt und du trotzdem noch problemlos atmen kannst.«
Leonie schaffte es nicht, ihr Stöhnen zu unterdrücken, als sie die zunehmende Enge spürte. Trotzdem hielt sie ihren Kopf zunächst einmal ruhig. Nach einiger Zeit hörte sie ein ihr sehr vertrautes 'Klick' und gleich darauf Selmas Stimme. »So, das war es.«
»Danke, Frau Mohr.« Leonie musste sich setzen. »Haben sie es abgeschlossen?« Leonie wollte wissen, ob sie das Geräusch richtig interpretiert hatte.
»Natürlich.« Selma streichelte ihr über das Gesicht. »Damit du nicht auf den Gedanken kommst, es dir von unseren Gästen abnehmen zu lassen.«
»Ach ja.« Leonie war etwas verlegen. »Wir müssen uns ja um die Hochzeit kümmern. Was ist denn noch alles zu tun?« Leonie gefiel der Gedanke sehr, in ihren so strengen Fesseln arbeiten zu müssen.
* * *
»Ich habe gehört, du heiratest morgen?« Andrea wollte sich ganz behutsam an ihr Anliegen herantasten.
Anna nickte etwas unsicher.
»Du möchtest doch sicher Hochzeitsfotos haben.« Andrea versuchte ihren Köder ganz behutsam auszulegen.
»Das wäre sicher sehr schön.« Doch dann wurde sie traurig. »Aber das kostet doch Geld und ich besitze bisher nur 20 DM.« Sie erinnerte daran, dass dies ihr erstes Taschengeld von der Zeitung war. »Fotos sind jetzt das letzte, was ich mir leisten wollte.« Sie verdrängte den Gedanken daran, dass sie in einem früheren Leben einmal sehr reich gewesen war.
»Mein Freund ist Fotograf«, begann Andrea. »Und er liegt mir schon länger in den Ohren, weil er mich mit einem ganz bestimmten Motiv sehen möchte.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn für ihn Modell stehen würdest. Er würde euch dann die Fotos auch kostenlos machen.«
»Es wäre schon schön, Erinnerungsfotos zu haben.« Anna schien laut zu denken. »Doch zu welchem Preis? Was will er denn sehen?« Annas Tonfall zeigte, dass sie mit dem Schlimmsten rechnete.
Andrea fühlte, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war. »Er möchte eine Braut im weißen Kleid und mit einem weißen Monohandschuh fotografieren.«
»Mehr nicht?« Anna war etwas verwundert. Sie hatte viel Schlimmeres erwartet.
»Du wärst dazu bereit?« Andrea war ehrlich erleichtert.
Anna fühlte, dass sie Andrea vertrauen konnte. »Ich hatte Nacktfotos befürchtet.«
»Er wird sich sehr freuen.« Andrea gab sich empört, doch insgeheim lächelte sie. Ihre Taktik war aufgegangen. »Er wollte noch einen Ballknebel im Mund sehen, aber das konnte ich ihm schon ausgeredet.«
»Was ist denn ein Ballknebel?« Anna sah nebenbei eine weitere Gelegenheit, sich zu bedanken.
»Ein Ball im Mund hindert dich am Sprechen.« Andrea war insgeheim gespannt, wie weit sie bei Anna gehen konnte.
»Und was ist so schlimm daran?« fragte Anna mit etwas Unverständnis in der Stimme.
Andrea spürte, dass sie ganz dicht am ihrem kleinen Ziel war. »Naja, du trägst ja auch den Handschuh dazu, das heißt, du kannst dir den Ball nicht mehr selbst abnehmen.«
»Es ist ja nur für das Foto.« Anna war in einer Stimmung, in der sie auch weit schlimmere Sachen zugesagt hätte.
»Ich kann ihm also sagen, dass er sein Traummotiv bekommen kann.« Andrea war ehrlich erleichtert. »Das wird ihn sehr freuen.«
»Von mir aus gern.« Anna strahlte. Die Aussicht, neben einer Traumhochzeit auch noch schöne Erinnerungsfotos zu bekommen, ließ ihre Stimmung wirklich in die Höhe steigen.
* * *
Erst gegen Mittag waren alle Knöpfe des Kissens geöffnet. Sophie hatte die Wartezeit auf ihre Finger dazu genutzt, darüber nachzudenken, was wohl die nächsten Schritte sein würden.
Von draußen hörte sie wieder die Kirchenglocken und diesmal konnte sie bis Zwölf mitzählen. Gleich darauf ertönte die Sirene für ihren wöchentlichen Probealarm und damit wusste Sophie endlich, dass heute Samstag war. Sie versuchte, es sich in ihren inneren Kalender aufzunehmen.
Doch zuvor wollte sie sich stärken. Sie griff wieder zur Ravioli-Dose und angelte sich ihre Mittagsportion heraus und ließ sie sich schmecken. Sie spürte, dass ihre Finger dabei weh taten. Sie hatte sie beim Öffnen der Knöpfe stark beansprucht. Sie beschloss, erst einmal eine Pause zu machen und mit den weiteren Schritten etwas zu warten.
Und sie freute sich schon sehr auf die Belohnung all ihrer Anstrengungen. Heute Abend würde sie den Kopf auf das frisch bezogene Kissen legen.
Die Knöpfe würde sie Morgen wieder zu machen. Bis dahin sollten sich ihre Finger erholt haben.
* * *
Es klingelte. Maria lief zur Tür. »Das werden Anna und Florian sein.« Doch als sie öffnete, wunderte sie sich, denn Fritz und Karin standen vor der Tür. Und Karin trug ihre linke Hand im Gips.
»Wir kommen gerade aus dem Krankenhaus.« Fritz Stimme zeigte, wie sehr er aufgewühlt war. »Karin fällt für die Barock-Pfeiffer die nächsten Wochen aus.«
»Was ist denn passiert?« Maria erkannte sofort die Tragweite dieses Unfalls.
»Ich bin gestolpert und unglücklich gefallen.« Karin lächelte etwas verlegen. »Zum Glück ist es nur die linke Hand. Ich kann sogar arbeiten.«
»Aber Flötespielen geht nicht.« Maria seufzte, als sie an die nächsten Wochen dachte. »Ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt.«
»Das kann man wohl sagen.« Fritz' Miene zeigte neben Verzweiflung auch eine Spur Hoffnung. »Was machst du morgen Vormittag?«
»Wir sind in der Kirche, weil Anna und Florian heiraten werden.« Maria ahnte, was als nächstes kommen würde.
»Außerdem ist es ja der traditionelle Bitgottesdienst für das Fest«, ergänzte Paul. »Und da ist Maria ja nicht ganz unwichtig.«
»Wir würden ja nur zu Beginn und zum Ende spielen, bitte helft uns.« Fritz schaute das Paar flehend an. »Wir müssten den Auftritt sonst absagen.«
»Was wird denn gespielt?« Maria versuchte abzuwägen.
Fritz nannte die Stücke. »Du würdest uns wirklich retten.«
»Ich müsste dann die erste Stimme spielen?« Maria war sich über die aktuelle Situation der Musikgruppe nicht ganz im Klaren.
»Für dich haben wir eine Vertretung gefunden, aber die mag auch nur die zweite Stimme spielen.«
»Ich mache es.« Maria reichte Fritz die Hand. »Wann trefft ihr euch?«
»Wie üblich eine Stunde vorher, damit wir es noch mal in Ruhe durchspielen können.« Fritz war erleichtert.
»Ich werde kommen.« Sie drehte sich zu Paul um. »Erinnere mich bitte daran, dass ich die Stücke noch üben muss.«
Es war Paul sichtbar nicht recht, dass Maria diesen Termin noch zusätzlich angenommen hatte, doch er wagte es auch nicht zu widersprechen, weil er wusste, wie wichtig Maria die Musik war. Außerdem hatte sie seit Beginn des Amerikaaufenthaltes darauf verzichten müssen.
* * *
»Na, habt ihr euren berühmten Patienten schon begrüßt?« Andrea telefonierte oft mit ihrer Schwester Nicole, doch diesmal hatte sie sogar einen konkreten Anlass.
»Wen meinst du?« Nicole wunderte sich etwas. »Wir hatten in den letzten Tagen keinen 'wichtigen' Neuzugang.«
»Gestern habt ihr doch die Baroness als Verlegung bekommen.« Andrea war ebenfalls verwundert.
»Welche Baroness?« Die Schwester war perplex.
»Na unser aller Sternchen, die Baroness Sophie von Harsumstal.«
»Und die soll bei uns sein?« Nicole nahm sich die Liste der Neuzugänge der letzten Tage zur Hand. »Da steht keine Baroness darauf. Wie kommst du darauf, dass die bei uns sein soll?«
»Bist du dir sicher?« Andreas Stimme zeigte ihre große Verwunderung. »In der hiesigen Klinik haben sie mir gesagt, dass sie zu euch verlegt wurde.«
»Bei uns wurde keiner eingeliefert. Da muss ich dich enttäuschen.« Nicole plauschte gern mit ihrer Schwester. Doch diesmal war es etwas Anderes.
»Und du bist dir ganz sicher?« Andrea hakte noch einmal nach.
»Warte kurz, ich frage noch mal in der Zentrale nach. Ich rufe zurück.« Nicole legte auf.
Andrea musste nicht lange auf den Rückruf ihrer Schwester warten. »Ja?«
»Ganz sicher keine Baroness bei uns.« Nicole bestätigte es noch einmal.
»Vielen Dank.« Andrea verabschiedete sich. »Wir müssen uns bald mal wieder treffen, dann erzähle ich dir, worum es geht.«
* * *
Andrea war sich sicher, dass sie jetzt handeln musste, weil sie genügend Indizien zusammengetragen hatte. Sie war sich sicher, dass die Polizeibeamten ihr zuhören mussten. Trotzdem zitterte sie ein wenig, als sie die Tür des Polizeireviews öffnete.
»Was wünscht die Presse von uns?« Natürlich war Andrea als Vertreter der öffentlichen Meinung auf dem Revier bekannt.
»Ich bin heute als Privatperson da.« Sie legte ihre mitgebrachten Unterlagen auf den Tisch. »Ich möchte Anzeige erstatten.«
Der diensthabende Polizist nahm ein Formular zur Hand und zückte den Kugelschreiber. »Um was geht es?«
»Um Entführung.« Andrea bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Entführt wurde die Baroness Sophie von Harsumstal. Und zwar von ihrem Vater.«
Der Beamte ließ den Kugelschreiber fallen. »Von wen?«
»Sie haben mich schon richtig verstanden.« Andrea war sich der Ungeheuerlichkeit ihrer Anschuldigung durchaus bewusst.
»Haben sie irgendwelche Beweise?« Das Verhalten des Beamten zeigte, dass er über Andreas Anschuldigung mehr als erstaunt war.
»Ich glaube, das ist ihre Aufgabe.« Andrea hatte sich vorher etwas über ihre Rechte informiert. Trotzdem war sie bereit, das Revier über Indizien zu informieren.
* * *
»Frau Mohr, hätten sie einen Moment Zeit für uns?« Anna und Florian hielten sich an der Hand, als sie bei ihrer Gastgeberin vor der Wohnungstür standen.
»Aber gern«, Selma bat ihre Gäste herein. Sie wartete, bis sie Platz genommen hatten, dann fragte sie. »Was kann ich für euch tun?«
»Wir sind um vier Uhr bei der Pfarrerin Frau Reger zum Traugespräch geladen.« Florian hielt kurz inne. »Was passiert denn da? Auf was müssen wir uns vorbereiten?«
Selma hatte von dem spontanen Hochzeitstermin schon erfahren. »Nun, sie möchte etwas über euch erfahren, um die Predigt möglichst persönlich gestalten zu können.« Selma blickte das Paar an. »Ihr solltet auf jeden Fall den Brief von Frau Beller mitnehmen.«
»Machen wir.« Florian hielt Annas Hand fest. »Wie viel müssen wir von unserer Vergangenheit erzählen?«
»Frau Reger ist zur Verschwiegenheit verpflichtet, und sie wird nur das von euch verwenden, zu dem sie eure Erlaubnis hat.«
»Wir möchten die Vergangenheit möglichst ruhen lassen.« Anna zeigte etwas Sorgen.
»Oh, macht euch da keine Sorgen. Sie ist gut und sie kann eure Situation schildern, ohne ins Detail zu gehen. 'Bei einem schweren Kampf konntet ihr euch aufeinander verlassen und euch gegenseitig Kraft geben.'«
»Sie hat uns dieses Formular gegeben, könnten sie uns beim Ausfüllen helfen?« Florian reichte ihr das Papier, welches sie von der Pfarrerin erhalten hatten. »Sie hatte leider kein englisches Exemplar.«
»Lasst mal sehen.« Selma nahm das Blatt entgegen und überflog es kurz. »Es ist für sie eine Stütze, um euch besser kennenzulernen.« Sie blickte das Paar einen Moment lang an. »Ihr könnt ihr auch euer Herz ausschütten, wenn euch etwas bedrückt.«
»Wird sie das dann verwenden?« Anna war besorgt.
»Ihr müsst ihr nur sagen, dass sie es für sich behalten soll.« Selma war bemüht, Vertrauen aufzubauen. »Sie ist zwar noch sehr jung, aber sehr zuverlässig.«
»In meiner Jugend hatte ich noch von meiner Hochzeit geträumt.« Anna wurde auf einmal sehr traurig.
Florian nahm seine Verlobte in den Arm und tröstete sie. »Denke nicht mehr daran. Das ist Vergangenheit.«
»Es könnte aber gut für euch sein, wenn ihr einmal euer Herz ausschütten würdet.« Selma wurde auf einmal sehr ernst. »Wenn ihr meint, dass ihr Frau Reger vertrauen könnt, dann traut euch, mit ihr zu reden. Es ist nie gut, solche Sachen allein mit sich herum zu tragen. Schließlich wird sie auch Seelsorger genannt.«
»Ich werde Anna ermutigen.« Florian versprach es.
»Wie viel wird sie denn über meine Familie wissen wollen?« Anna war besorgt.
»Ich denke, wenn sie den Brief von Frau Beller gelesen hat, wird sie in dieser Richtung nicht mehr viel fragen wollen.« Selma versuchte überzeugend zu wirken. »Aber wenn dir etwas auf der Seele liegt, solltest du den Mut haben, mit ihr darüber zu reden. Sie ist zur Verschwiegenheit verpflichtet.« Selma begann, das Formular auszufüllen. Dazu nahm sie die Papiere zur Hand, die Marias Mutter ihnen ausgestellt hatte.
»Und dann wird sie vielleicht auch noch den Ablauf eurer Zeremonie besprechen wollen. Hat sie gesagt, wann ihr dran kommt?«
»Nein, sie sagte nur, dass sie uns problemlos noch dazu nehmen kann.«
»Habt ihr einen besonderen Musikwunsch? Ein Lied, was ihr gern singen lassen wollt?« Selma dachte an die Gottesdienste, die sie schon so oft erlebt hatte.«
»Ein Lied würde mir gefallen.« Anna nannte den englischen Titel. »Ich weiß aber nicht, wie es bei ihnen heißt.«
»Meinst du das hier?« Selma sang die ersten Takte von 'Nun danket alle Gott'.
Anna hatte es sofort erkannt. »Das ist es.«
Selma trug den Wunsch in das Formular ein. »Auch einen Trauspruch könntet ihr euch überlegen.« Sie zögerte einen Moment. »Ich weiß aber nicht, ob sie welche auf Englisch parat hat.«
»Das werden wir sehen.« Florian nahm Anna wieder in den Arm. »Vielen Dank für ihre Hilfe.«
Als Anna und Florian gegangen waren, griff Selma noch einmal zum Telefon. »Dorothea, wir müssen etwas besprechen. Ich habe da eine Idee, wie wir das Wochenende für ein ganz bestimmtes Paar unvergesslich gestalten können.«
»Was schwebt dir denn vor?« Mrs. Potter war sprichwörtlich für jede Schandtat zu haben. »Und für wen?«
Selma berichtete von ihrer Idee. »Ich fände es traurig, wenn sie diese Zeit allein verbringen müssten.«
»Das ist aber sehr kurzfristig.« Mrs. Potter keuchte ein wenig.
»Heute Abend darf kommen, wer Lust hat. Und morgen sind doch sowieso alle in der Kirche wegen des Bittgottesdienstes. Und danach ist gemeinsames Essen in der Wirtschaft.«
»Du hast Recht, das lässt sich ganz gut nutzen.« Mrs. Potter war von der Idee ebenfalls angetan. »Ich werde jetzt auch ein paar Telefonate führen.«
* * *
Paul saß im Wohnzimmer von Marias Haus und blätterte fasziniert in der Anleitung, die er in dem riesigen Karton mit Marias neuem Korsett gefunden hatte. In der Broschüre gab ein paar Skizzen, die zeigten, wie die neuen Arm- und Handkorsetts anzulegen waren. Das Neue daran war die Möglichkeit, Marias Arm nahezu vollständig mit dem Ganzkörperkorsett zu verbinden. Soweit wie er das überblickte, würde man von Maria im Arm- und Handbereich keine einziges Stückchen Haut sehen.
Natürlich wurde er davon sehr in den Bann gezogen, doch er fragte sich andererseits auch, welchen tatsächlichen Zweck so ein ultrastrenges Korsett wohl haben würde. Es war hochwertig gearbeitet und musste ein Vermögen gekostet haben. So etwas ließ man nicht mal eben so nebenbei anfertigen, da musste ein Plan dahinter stehen.
Auch die Stiefel konnten fest mit dem Korsett verbunden werden, so dass Maria, wenn sie es einmal angezogen hatte, sich wohl überhaupt nicht mehr bewegen konnte und zu einer ganz bestimmten Körperhaltung gezwungen wurde.
Paul ließ das Heft sinken. Vielleicht war das ja der Zweck dieses Korsetts, sie würde lange in der gleichen Körperhaltung bleiben müssen. Wofür das gut war, das wusste er nicht, und die Broschüre gab darüber auch keine Auskunft.
Von oben waren die Töne von Marias Flötenspiel zu hören, und er fragte sich immer wieder, wann sie denn endlich fertig sei.
»Ah, hier bist du.« Mrs. Potter stand in der Tür. »Selma hat angerufen, sie bräuchte dringend wegen des Polterabends eure Hilfe. Sobald Maria mit dem Üben fertig ist, könnt ihr gehen.«
»Aber...« Paul stockte. »Aber wir wollten uns doch das neue Korsett ansehen.« Er verschwieg, dass er besonders von den neuen Möglichkeiten für Marias Arme fasziniert war.
Als Antwort blickte Marias Erzieherin auf die Uhr. »Was wollt ihr denn in eineinhalb Stunden machen? Mehr Zeit ist nicht mehr bis zum Polterabend.« Sie machte eine kurze Pause. »Das Anziehen wird mehrere Stunden dauern, und dafür braucht ihr dafür einfach mehr Zeit.«
»Sie haben Recht.« Paul erkannte, dass seine und Marias Pläne so nicht umsetzbar waren. »Doch was soll ich nur Maria sagen? Sie freut sich doch schon so sehr.«
»Ich weiß.« Zu seiner Überraschung seufzte Mrs. Potter. »Ich werde mit ihr reden.« Sie drehte sich um und verschwand aus Pauls Gesichtsfeld. Gleich darauf hörte er ihre Schritte auf der Treppe. Er vertiefte sich wieder in die Anleitung.
Bald darauf hörte er Schritte auf der Treppe, Schritte von mehreren Personen. Er stand auf.
»Schade, ich hätte es gern schon einmal ausprobiert.« Maria seufzte, als sie das Wohnzimmer betrat. Doch für das Glück von Anna war sie bereit, ihre Wünsche hintenanzustellen.
»Anna und Florian sind gerade beim Traugespräch.« Mrs. Potter gab wieder, was Selma ihr gesagt hatte. »Wenn sie zurückkommen, soll die Feier beginnen.«
Paul blickte wieder auf die Uhr. »Das wird aber sehr sportlich.«
»Deswegen sollt ihr auch sofort zu Selma kommen.« Mrs. Potter blickte auf den Karton mit dem Korsett. »Schade, ich hätte euch gern noch etwas stöbern lassen, doch die Zeit reicht dafür einfach nicht.«
Nur ganz nebenbei fiel Paul auf, dass Marias Erzieherin doch auch so etwas wie ein Herz für Marias Wünsche hatte. Doch jetzt waren andere Sachen wichtig.
* * *
Gemeinsam standen Anna und ihr Mann vor der Tür des Pfarrhauses. Florian hatte einen Strauß Blumen in der Hand, weil Selma ihm dazu geraten hatte. »Danke, dass sie sich noch so kurzfristig für uns Zeit genommen haben.« Er reichte der Pfarrerin die Blumen, als diese die Tür geöffnet hatte.
»Das ist nett.« Frau Reger lächelte. »Kommt doch bitte herein.« Sie führte das Paar in ihr Wohnzimmer, denn das war etwas persönlicher als das ein wenig kalte Büro. »Nehmt doch bitte Platz.«
Florian griff zu den Papieren, die sie mitgebracht hatten und legte sie auf den Tisch. »Diesen Brief sollten sie lesen.«
Frau Reger nahm das Schriftstück in die Hand und vertiefte sich in dessen Inhalt.
Anna griff nach Florians Hand und hielt sie fest.
Nach einiger Zeit ließ die Pfarrerin den Brief sinken. »Dann auch von meiner Seite ein herzliches Willkommen in Deutschland.« Sie blickte Anna und Florian lange an. »Möchtet ihr darüber reden?«
Anna zuckte etwas zusammen. »Ich wollte meine Vergangenheit eigentlich hinter mir lassen.«
Frau Reger zeigte viel Verständnis. »Gibt es denn etwas, dass ihr euch noch sagen wollt, bevor ihr vor Gott euer Bündnis eingehen werdet? Eure Worte werden diesen Raum nicht verlassen.« Sie ging zu Tür. »Ich hole euch unterdessen etwas zu trinken.«
Anna blickte Florian lange an, dann begann sie mit leiser Stimme zu sprechen. »Lieber Florian...«
* * *
Selma blickte immer wieder heimlich auf Leonie, die dabei war, mit unendlicher Mühe ein paar Brote zu belegen. Einerseits war sie fasziniert von dem so in Fesseln arbeitenden Mädchen, doch andererseits kamen sie auf diese Weise mit der Arbeit so überhaupt nicht voran. »Leonie, so geht das nicht.«
Das Mädchen hob verschreckt den Kopf und wurde rot.
»Du bist viel zu langsam.« Normalerweise hätte Selma so eine Situation mehr als genossen, doch heute war es einfach nicht brauchbar.
»Das geht so nicht schneller.« Bisher hatte Leonie es insgeheim für ein Spiel gehalten, doch jetzt spürte sie den Ernst der Situation.
»Ich muss dir die Arme frei machen, sonst wird die Party eine einzige Pleite.« Das Bedauern war deutlich in ihrer Stimme zu hören.
Wieder rasten die Gedanken durch Leonies Kopf, doch diesmal waren sie ganz anderer Art. »Es tut mir leid, dass ich noch nicht so viel Übung habe.«
»Daran arbeiten wir später.« Selma war für die Brücke recht dankbar. »Jetzt müssen wir erst einmal das Fest vorbereiten.« Sie trat hinter Leonie und öffnete die Kette, die ihre Ellenbogen zusammen hielt.
»Was liegt an?« Paul und Maria standen auf einmal in der Küchentür.
»Leonie, wie siehst du denn aus?« Maria war erstaunt.
»Das kann sie euch später erzählen, jetzt müssen wir erst einmal die Tische aufbauen.« Selma gab sich ein wenig resolut.
»Welche Tische?« Paul krempelte sich die Ärmel hoch.
»Den Wohnzimmertisch stellen wir auf die Terrasse als Buffet.« Selma gab wieder, was sie sich überlegt hatte. »Und dann könnt ihr die runden Stehtische aus der Garage holen, die kommen in den Garten.« Sie blickte sich kurz um. »Maria, du kümmerst dich um die Tischdecken, ich habe da einiges bereitgelegt.« Sie zeigte auf einen Stapel mit weißer Wäsche. »Leonie und Paul. Ihr tragt die Tische.« Sie blickte auf die Uhr. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
»Ist das nicht lästig, mit den Fesseln zu arbeiten?« Paul ging voran in die Garage. »Hier sind die Stehtische.«
»Schon«, Leonie keuchte etwas genervt, als sie versuchte, einen der Tische hochzuheben. »Können wir die zu zweit tragen?«
Paul spürte, dass Leonie über ihre Leidenschaft nicht unbedingt reden wollte. Gemeinsam trugen sie die Tische auf den Rasen.
»Langsam.« Leonie musste Paul erst bremsen. »So große Schritte kann ich nicht machen.« Sie lächelte etwas verlegen.
»Ich vergaß« Paul grinste.
Maria stand schon bereit und breitete über jeden der Tische eine Decke aus.
»Was ist noch zu tun?« Leonie keuchte ein wenig.
»Die Gläser aus dem linken Schrank bitte alle aufs Buffet an die rechte Seite.« Selma blickte wieder auf die Uhr.
»Wer wird denn alles kommen?« Maria freute sich für Anna und Florian.
»Eingeladen sind knapp zwanzig Leute.« Selma zählte auf. »Jeder bringt ein wenig zu Essen und zu Trinken mit, dann müsste es eigentlich reichen.«
* * *
»Hier sind schon die ersten Gäste.« Selma führte Andrea und ihren Freund Hans auf die Terrasse.
»Und wo ist die Braut?« Hans war aufgeregt, denn Andrea hatte ihm schon erzählt, dass Anna zu den Monohandschuh-Fotos bereit sein könnte. Er sollte sie aber auf jeden Fall noch mal selbst fragen.
»Sie sind noch bei Frau Reger wegen des Traugespräches.« Selma nahm den mitgebrachten Teller entgegen und stellte ihn auf das Buffet. »Ich habe ihr gesagt, dass sie etwas später kommen soll. Sie bringt das Brautpaar mit.«
»Das wird ein lustiger Polterabend.« Andrea grinste. »Keiner kennt die Brautleute und die Gäste müssen ihr Essen selbst mitbringen.«
Selma blickte verwundert auf, doch dann entdeckte sie Andreas Lächeln. »Danke für das Verständnis.«
»Wer kommt denn alles?« Andrea blickte auf die bereitgestellten Gläser.
»Ich habe Schwerterles eingeladen, sie kommen zu viert.« Selma berichtete, dass sie außerdem die Frau vom Brautmodengeschäft eingeladen hatte, weil sie auch eine Freundin von Mrs. Potter war. »Sie kommt mit ihrem Mann. Und Bayers und Greinerts kommen auch.«
»Da ist ja fast der ganze Festvorstand anwesend.« Andrea lächelte.
»Es bot sich an.« Selma grinste. » Es gibt bestimmt das eine oder andere zu besprechen und das können sie auch hier machen.« Selma holte tief Luft. »Nur Herr Steinhagen lässt sich entschuldigen, dafür hat er ein ganz tolles Geschenk vorbereitet.« Sie lächelte geheimnisvoll.
* * *
Maria und Leonie hatten sich an der Haustür postiert, um den eintreffenden Gästen gleich die Mitbringsel für das Buffet abzunehmen. Der Tisch vor dem Wohnzimmerfenster füllte sich rasch.
Doris ließ es sich aber nicht nehmen, ihre Platte selbst auf das Buffet zu stellen. Sie hatte sofort ja gesagt, als sie Selma gefragt hatte, ob sie zusammen mit Leonie beim Bedienen helfen könne.
Besonders glücklich war sie aber erst, als sie erfuhr, dass sie dabei ihre Ketten tragen durfte. »Die Gäste, die kommen, haben alle ein Bezug zum Fest, deswegen geht das.«
* * *
Das Ehepaar Reger kam wie gewünscht etwas später, und sie brachten neben zwei Platten auch gleich das Brautpaar mit.
»Was passiert denn heute?« Florian war verwundert. »Wieder so ein deutscher Brauch?«
»Es nennt sich 'Polterabend'.« Selma erklärte es. »Man feiert es am Vorabend der Hochzeit, und es soll den Brautleuten Glück bringen.«
Anna war sehr verwundert.
»Wie war es bei der Pfarrerin? Seid ihr sprachlich mit ihr zurecht gekommen?« Selma war neugierig.
»Ich hatte ja etwas Angst wegen der Vergangenheit.« Anna blickte zu Boden. »Aber sie war sehr verständnisvoll und wir konnten unser Herz ausschütten.«
»Sie ist gut, auch wenn sie noch so jung ist.« Selma führte das Paar auf die Terrasse. »Nun kommt, eure Gäste warten auf euch.«
* * *
Als Anna und Florian nach draußen traten, blieben sie vor Schreck stehen. Mit so vielen Leuten hatten sie nicht gerechnet.
»Ich freue mich, dass sie alle es so spontan möglich machen konnten, dieser Einladung zu folgen und auch noch etwas für das jetzt so reich gedeckte Buffet mitzubringen.« Selma machte eine Handbewegung in Richtung des Tisches.
Anna schlug die Hände vor das Gesicht.
»Bei einem Polterabend ist es üblich, auch kleine Geschenke zu überreichen.« Selma blickte zu den Gästen. »Wir stellen euch die Gäste vor und sie können euch ihr Geschenk überreichen.«
Selma wartete, bis alle Gäste vorgestellt waren und ihr Geschenk überreicht hatten, dann trat sie vor das Brautpaar. »Herr Steinhagen, der Direktor der hiesigen Sparkasse lässt sich entschuldigen. Er hat mich beauftragt, euch sein Geschenk zu überreichen.« Sie öffnete einen Briefumschlag. »Im Herbst wird eine Wohnung der Sparkasse frei. Er bietet sie euch an und würde euch für ein halbes Jahr die Miete schenken.«
Anna musste weinen.
Auch Florian hatte Probleme, Worte zu finden. »Vielen Dank für alles.«
Selma lächelte. »Und jetzt gibt es etwas zu trinken.« Sie blickte zur Terrassentür. »Leonie, Doris? Kommt ihr bitte?«
Zwei sehr stolze Mädchen traten aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse und trugen jeweils ein Tablett mit Gläsern vor sich. Doch das eigentlich Faszinierende waren die Ketten, die sie trugen. Sehr konzentriert setzen sie ihre Schritte und versuchten, die Tabletts möglichst würdevoll anzubieten.
* * *
»Maria, Paul, hättet ihr einen Moment Zeit?« Pfarrerin Reger stand neben Anna und Florian. Sie sprach zunächst auf Deutsch. »Ich möchte euch bitten, für Anna und Florian die Trauzeugen zu machen.«
Paul ergriff Marias Hand.
»Eigentlich müssten sie euch selbst fragen, aber ich glaube, sie würden sich nicht trauen.«
»Ja, das machen wir.« Maria gab die Antwort. »Ich freue mich so sehr für die beiden.«
* * *
Gegen halb neun musste Maria kurz verschwinden und gleich darauf waren die Klänge von Marias Musikgruppe zu hören. Anna bemerkte die Musiker erst, als sie schon das erste Stück spielten. Sie nahm Florians Hand, und gemeinsam traten sie nach vorn.
Anna war erstaunt, als sie Maria mit einer Flöte bei den Musikern entdeckte. Sofort musste sie an ihre Jugend denken, in der sie selbst auch sehr gern musiziert hatte.
Fritz überreichte dem Brautpaar nach dem letzten Stück ein kleines Geschenk, lobte aber auch Maria, die so kurzfristig für seine Frau Karin eingesprungen war. Doch dann wurde er etwas wehmütig. »Den Auftritt beim Fest müssen wir leider absagen.«
»Warum denn?« Maria erkannte sofort, wie sehr sie das bedrückte. »Kein Ersatz zu finden?«
»Nein, und Karin muss den Gips noch ein paar Wochen tragen.« Er zeigte auf die gebrochene Hand seiner Frau.
»Was ist denn los?« Anna hatte die betrübte Stimmung ebenfalls bemerkt, doch sie hatte nicht verstanden, worum es ging.
»Sie können nächste Woche beim Fest nicht auftreten, weil Karin sich die Hand gebrochen hat.« Maria übersetzte es.
»Vielleicht könnte ich aushelfen?« Anna lächelte verlegen.
»Du spielst Flöte?« Fritz war auf einmal hellhörig. »Magst du mir mal etwas vorspielen?«
»Ich habe bloß keine eigene Flöte.« Anna war etwas traurig. Ihre Flöte war einer der wenigen Gegenstände, die sie gern mitgenommen hätte.
»Du kannst auf meiner Flöte spielen.« Maria lächelte und reichte Anna ihr Instrument.
Anna nahm die Flöte entgegen und wollte schon die ersten Töne spielen, als sie von Fritz unterbrochen wurde. »Warte bitte. Hier ist es zu laut. Können wir zu dir nach oben gehen?«
* * *
Ein wenig später kamen Anna und Fritz wieder zurück. Beide strahlten deutlich. »Du wirst das gut machen.«
»Wann sind die Proben?« Anna war ein wenig aufgeregt «Und welche Stücke werden gespielt?«
»Du kommst Montag zu uns wegen des Kleides für das Fest. Dort können wir alles besprechen und die Stücke durchspielen.« Karin war hinzu getreten. Sie wusste, dass sie sich auf das Urteil ihres Mannes verlassen konnte. »Bestimmt wird dir etwas aus unserem Fundus passen.«
»Du strahlst ja noch mehr. Was ist passiert?« Florian hatte das Glück seiner Frau bemerkt.
Anna erzählte Florian, was sie mit Fritz ausgemacht hatte.
»Und das kannst du?« Er war erstaunt. »Einfach so ohne Probe?«
»Nein, natürlich nicht.« Anna lächelte. »Die Generalprobe für den Auftritt ist am Dienstag, und für mich gibt es am Montag noch eine extra Probe.«
»Und du mutest dir nicht zu viel vor?« Florian zeigte ein besorgtes Gesicht.
»Florian, bitte.« In diesem Moment sah sie sehr energisch aus. »Das ist endlich eine Gelegenheit, um etwas Dankbarkeit zu zeigen. Sie müssten den Auftritt sonst absagen. Und das auf dem wichtigsten Fest seit sieben Jahren.«
Florian erkannte, was Anna bewegte. »Ich bin stolz auf dich.«
* * *
Anna war erstaunt, weil sie Doris und Leonie schon wieder in den Ketten arbeiten gesehen hatte. »Es macht euch wirklich nichts aus, die Ketten zu tragen?«
Doris und Leonie hatten gerade die Getränketabletts abgestellt und waren dabei, sich über das Buffet her zu machen. »Ich liebe es, seine Ketten tragen zu müssen.« Doris Stimme hatte etwas sehr Verliebtes.
Auch Leonies Augen strahlten. »Es war schon immer mein Traum, gefangen zu sein und Fesseln tragen zu müssen. Hier erlebe ich das gerade sehr eindrücklich.«
»Ich bin gerade erst aus einem goldenen Käfig geflohen.« Anna seufzte ein wenig.
»Wer hat dich denn eingeschlossen?« Doris war ehrlich interessiert, doch als sie Annas Miene sah, entschuldigte sie sich sofort. »Ich wollte dich nicht daran erinnern. Ich nehme die Frage zurück.«
»Ach lass nur, vielleicht tut es mir ja auch ganz gut, wenn ich einmal darüber rede.« Sie holte tief Luft. »Bis vor einem Jahr habe ich noch das Leben einer reichen Tochter geführt.« Sie vermied es allerdings, ihren alten Namen zu erwähnen. »Doch dann trat Florian in mein Leben, und ich habe mich sofort in ihn verliebt, sehr zum Ärger meines Vaters.«
»Du sprichst gerade von mir?« Florian trat an ihre Seite.
»Ich erzähle gerade von unserem Kennenlernen.« Anna blickte ihn verträumt an.
»Wir sollen die Vergangenheit ruhen lassen.« Florian erinnerte seine Frau an das, was Marias Mutter ihnen eingebläut hatte.
»Du hast ja recht.« Anna seufzte. »Trotzdem, es war Liebe auf den ersten Blick, und wir sind dann zusammen durch die Hölle gegangen.« Sie machte ein trauriges Gesicht.
»Jetzt sind wir in Sicherheit.« Florian legte seinen Arm um seine Frau.
»Es ist wie ein Traum.« Anna schmiegte sich an ihn. »Ihr seid alle so gut zu uns.«
* * *
Andrea bat Anna zu sich, dann stellte sie ihren Freund Hans vor. »Das ist sie. Bitte sei vorsichtig mit ihr.«
»Du wirst mir meinen Traum erfüllen?« Er nahm sich die Worte seiner Freundin zu Herzen. »Eine Braut mit weißem Kleid und weißem Monohandschuh?«
»So war es vereinbart«, antwortete Anna etwas rätselhaft. Dass sie sich darauf irre freute, wollte sie nicht zugeben. Auch die Aussicht, noch einen Ball im Mund zu tragen und gegebenenfalls sogar sabbern zu müssen, wie Andrea sie gewarnt hatte, machte ihr nichts aus. Sie wollte einfach nur ihre Dankbarkeit zeigen.
Florian stand an ihrer Seite. »Was willst du machen?«
»Er macht uns schöne Hochzeitsfotos.« Anna strahlte.
»Und was ist der Preis?« Florian wusste, dass es fast nie etwas umsonst gab.
»Ich werde ihm bei einem ganz besonderen Motiv Modell stehen.« Anna lächelte etwas geheimnisvoll. »Maria leiht mir dazu ihren weißen Monohandschuh.«
Florian war zunächst sprachlos.
»Bitte erlaube es.« Anna war es trotzdem wichtig, seine Zustimmung zu bekommen. »So können wir uns etwas für die viele Hilfe bedanken.«
Florian wollte erst widersprechen, doch als er die glücklichen Augen seiner Verlobten sah, wusste er, dass er zustimmen musste, sonst hätte er ihr weh getan. Und das wollte er auf gar keinen Fall tun.
Sonntag, 19. September 1984
»Ich hatte einen Albtraum.« Maria berichtete ihrer Erzieherin von der Nacht, nachdem sie ihr einen guten Morgen gewünscht hatte.
»Was hast du denn geträumt?« Mrs. Potter nahm regen Anteil an Marias Leben.
»Das Kleid.« Maria seufzte laut. »Es war nicht fertig, und der Baron wollte meinen Handschuh nicht zulassen.«
»Und wie ist dein Traum ausgegangen?« Mrs. Potter lächelte.
»Ich bin vor dem Ball aufgewacht.« Maria lächelte ebenfalls, dann schüttelte sie den Kopf, als wolle sie ihren Traum vertreiben. »Heute ist ein wichtiger Tag.«
»Meinst du wegen des Gottesdienstes oder wegen Anna und Florian?« Mrs. Potter warf einen Blick auf den Kalender, auf dem dieser Tag rot angestrichen war.
»Oh!« Maria war verlegen. »Ich hatte jetzt nur an Anna und Florian gedacht.« Es war seit Jahren üblich, dass die Darstellerin der Katerina am Sonntag vor dem Fest das erste Mal den Handschuh trug.
»Hast du dir nicht etwas viel vorgenommen?« Mrs. Potters Gesicht zeigte ein paar Sorgenfalten. »Du trittst mit der Musik auf, stellst dich als Katerina vor und machst auch noch die Trauzeugin.«
»Aber doch nicht gleichzeitig.« Maria verdrehte die Augen. »Das schaffe ich locker.« Sie machte eine Pause. »Außerdem soll der Tag für unsere Braut unvergesslich werden.«
»Willst du dich in der Kirche umziehen oder gleich hier?« Mrs. Potter sah, dass Maria nur ihren Morgenmantel trug. »Du bist vorher noch zum Frühstück eingeladen.«
»Ich wollte mich zusammen mit Anna umziehen.« Maria blickte ihre Erzieherin etwas verunsichert an. »Das müsste doch gehen, oder?«
»Ja, das sollte gehen.« Sie nahm sich Marias Tasche von der Garderobe. »Ich werde schon mal deine Tasche packen, damit du alles dabei hast.«
»Notenständer, Noten, die Flöte und ein Monohandschuh.« Maria grinste. »Seltsame Zusammenstellung für eine junge Dame.«
Mrs. Potter lächelte ebenfalls.
* * *
Paul und Leonie waren schon sehr früh aufgestanden und hatten Pauls Oma beim Herrichten des Frühstücks sowie beim Tischdecken geholfen.
»Hole bitte noch ein paar Blumen für den Tisch, dann kannst du sie wecken.« Selma ließ ihren Blick über den sorgfältig gedeckten Tisch gleiten.
»Ob alles so klappt, wie wir uns das ausgemalt haben?« Paul zeigte eine gewisse Anspannung.
»Das wird sicher ein unvergesslicher Tag für die beiden.« Selma ging zum Tisch und rückte die Bestecke noch mal etwas zurecht.
»Ich gehe dann die Blumen holen.« Paul fragte sich, ob sie an alles gedacht hatten.
Gerade als er wieder hinein gehen wollte, sah er Maria die Straße entlang kommen.
»Blumen für mich?« Maria lächelte, dann gab sie Paul einen Kuss. »Einen wunderschönen guten Morgen.«
»Nein, die sind für den Frühstückstisch.« Paul lächelte ebenfalls, dann erwiderte er den Gruß.
»Sind sie schon wach?« Maria folgte ihm ins Haus.
»Ich wollte gerade nach ihnen sehen.« Paul stellte die Blumen in die Vase, die seine Oma schon bereit gestellt hatte.
»Wir haben die Haustür gehört.« Florian und Anna kamen die Treppe herunter. Es war sofort zu sehen, wie sehr sie diesem für sie so bedeutsamen Tag entgegen fieberten. Sie wünschten allen einen Guten Morgen.
»Nehmt Platz«, Selma zeigte auf den liebevoll gedeckten Tisch. »Und dann lasst es euch schmecken.«
* * *
»Das war sehr lecker.« Anna legte das Besteck weg. »Vielen Dank dafür.«
»Heute ist euer Tag, und er soll unvergesslich werden.« Selma lächelte.
»Wie geht es jetzt weiter?« Florian blickte an sich herunter. Er trug immer noch seine Alltagskleidung.
»Renate öffnet die Kleiderkammer des Festes. Dort werdet ihr sicherlich etwas Feierliches finden.« Selma drehte sich zu ihrem Enkel. »Paul wird dich dann zur Kirche bringen.«
Anna blickte auf, doch sie wagte es nicht, eine Frage zu stellen.
»Simone bringt das Kleid zu Marias Haus.« Selma hatte auch ohne Worte erkannt, was die aufgeregte Braut bewegte. »Wir werden dir beim Umziehen helfen und bringen dich dann zur Kirche.«
»Ich muss mich dann auch noch umziehen.« Maria lächelte ebenfalls. »Wir treten immer in den so schönen Sissi-Kleidern auf. Du wirst es gleich sehen.«
Anna wischte sich eine Träne von der Wange.
Das Telefon klingelte. Selma stand auf und ging dran. »Guten Tag, Frau Reger. Was können wir für sie tun?«
Sie hörte sich an, was die Pfarrerin zu sagen hatte. »Ja, das lässt sich einrichten. Ich sage ihnen Bescheid.« Dann verabschiedete sie sich.
»Leonie?« Selma kam zum Frühstückstisch zurück.
»Ja, Frau Mohr?« Leonie war über den Tonfall etwas verwundert.
»Frau Reger lässt anfragen, ob du und Doris bereit wären, für Anna die Brautjungfern zu geben.« Selma nahm wieder Platz.
»Wir wollten doch die Ketten vorführen.« Leonie fieberte schon lange auf diesen Auftritt hin, und sie war sich sicher, dass es Doris genau so ging.
»Frau Reger meint, dass das nicht stören würde, falls Anna nicht dagegen haben sollte.« Selma übersetzte es für Anna und blickte sie fragend an.
Zur Überraschung aller begann Anna zu weinen. »Ihr seid so gut zu mir.«
Selma übersah Annas Tränen. »Stören dich die Ketten, die sie tragen?«
»Nein, überhaupt nicht.« Anna wischte sich die Tränen weg. »Brautjungfern zu haben war schon immer mein Traum gewesen.«
»Dann sollten wir jetzt aufbrechen.« Selma blickte noch einmal über den Tisch. »Paul, du begleitest Florian zur Kleiderkammer. Frau Bayer wird dort auf euch warten.«
Sie drehte sich zu Leonie. »Du gehst zu Doris und Theo und nimmst sie mit in die Kirche. Doris wird sich bestimmt sehr freuen.«
Leonie lächelte. »Das glaube ich auch.«
»Anna, du wirst mich und Maria begleiten.« Selma stand auf. »Simone wartet bestimmt schon mit dem Kleid.«
* * *
»Herr Wetzler, was wollen sie denn schon hier?« Pfarrerin Reger war überrascht, den sonst so schwer beschäftigten Geschäftsmann jetzt schon in der Kirche anzutreffen. »Der Gottesdienst ist erst in einer Stunde.«
»Ich habe wohl eine große Dummheit gemacht, und ich wollte fragen, ob sie mir einen Rat geben können.« Er war sichtlich verlegen.
»Was ist denn passiert?« Wenn jemand um Hilfe bat, hatte Frau Reger immer Zeit.
Herr Wetzler gab einen Überblick über die Ereignisse, die sich beim Empfang im Rathaus abgespielt hatten. »Wir waren so dumm und haben nur auf den Titel der Baroness geschaut.«
Frau Reger nickte nur, sie spürte, dass er noch weiter reden wollte.
»Wir haben uns noch am Abend für unser Verhalten entschuldigt.« Seine Stimme wurde etwas leiser. »Und ich habe sie auch heute auf unseren Empfang eingeladen, aber ich habe trotzdem noch ein schlechtes Gewissen.«
»Und das wollen sie los werden?« Frau Reger hatte auf einmal eine Idee. Aus dem Traugespräch wusste sie, dass Anna und Florian für den Nachmittag bisher nicht geplant hatten. »Ich hätte da eine Idee.« Sie lächelte.
»Was ist es? Es darf auch gern etwas kosten.« Eigentlich war er es gewohnt, Probleme immer mit Geld zu lösen, nur in diesem Fall kam er damit nicht weiter.
»Heute heiratet ein ganz mittelloses Flüchtlingspaar bei mir im Gottesdienst.« Pfarrerin Reger hoffte, dass sie den Bogen nicht überspannte. »Sie könnten ihnen etwas Gutes tun und sie heute auch auf ihren Empfang einladen. Sie würden sich sicher freuen.«
»Und was soll ich meinen anderen Gästen sagen?« Er hatte noch Schwierigkeiten, sich mit der Idee anzufreunden.
»Sagen sie ihnen, sie wären Freunde ihrer Familie.« Die Pfarrerin blickte ihm tief in die Augen.
»Aber das ist doch nicht die Wahrheit...« Der Widerspruch kam etwas schwach von ihm.
»Sie können es zur Wahrheit machen.« Frau Reger hoffte, dass sie damit nicht nur Annas und Florians Hochzeitstag gerettet hatte, sondern ihnen auch einen guten Weg in die Zukunft gesichert hatte.
»Sie haben Recht.« Er gab ihr die Hand. »Vielen Dank für ihre Hilfe.«
* * *
Es kam Leonie schon etwas seltsam vor, mit den Ketten einfach so durch Landsbach zu gehen, wobei es bis zur Schmiede auch nicht weit war. Sie hielt den Blick weitgehend vor sich auf den Boden gesenkt, denn sie wollte nicht wissen, wie die Leute wohl auf sie reagieren würden. Erst als sie vor der Tür der Schmiede stand, wagte sie es, den Kopf zu heben.
Doris sprang sofort auf, als sie die Klingel hörte. Sie lief zur Tür und öffnete. Theo ging langsam hinter ihr her.
»Frau Reger hat angerufen.« Leonie war sehr aufgeregt. »Wir sollen für die Braut die Brautjungfern machen, mit den Ketten.«
Theo musste seine Verlobte auffangen. »Ich habe dir doch gesagt, dass da noch eine Überraschung auf dich wartet.«
»Du wusstest es?« Doris wurde wieder wach. »Und du Schuft hast mir nichts gesagt?« Sie blickte ihn empört an.
»Wenn du nicht gleich ruhig bist, nehme ich dir die Ketten ab.« Theo lächelte.
Es wirkte als Drohung. Doris schmiegte sie an ihn. »Das ist fast so schön, wie selbst mit Ketten vor dem Altar zu stehen.« Sie wusste, dass ihre Verwandtschaft für ihre Leidenschaft kein Verständnis hatte.
»Ähm!« Leonie räusperte sich. »Können wir dann gehen?«
* * *
»Du bist eine wunderschöne Braut.« Selma rollte einen großen Spiegel herein. »Damit du dich mal ganz sehen kannst.«
»Ob ich ihm so gefallen werde?« Anna war etwas zögerlich, als sie sich langsam dem Spiegel näherte. Nur zögerlich wagte sie einen Blick in den Spiegel. »Danke, danke, danke«, schluchzte sie, dann musste sie sich die Tränen wegwischen.
»Da fehlt aber noch etwas.« Selma grinste, während sie ein Kästchen in der Hand hielt.
Anna hatte Schwierigkeiten, durch den Tränenvorhang etwas zu erkennen.
»Das hier ist der Schmuck, den die Katerina nächste Woche auch tragen wird.« Selma klappte das Kästchen auf.
Anna wischte sich die Augen aus. »Ein Diadem und passende Ohrringe?« Wieder schluchzte sie.
»Es ist nur Modeschmuck« Selma lächelte etwas verlegen. »Das Fest hat keinen so großen Etat.«
Anna war nicht in der Lage, sich den Schmuck selbst anzulegen, ihre Hände zitterten zu sehr. Selma kam ihr zu Hilfe.
»Eine wunderschöne Braut.« Maria kam langsam die Treppe herunter.
Anna musste zweimal hinsehen, bevor sie Maria in dem Kleid erkannte. »Du siehst aber auch aus wie eine stolze Prinzessin.« Sie bewunderte vor allem den weiten Reifrock und Marias schmale Taille.
»Das ist unsere Uniform, wenn wir mit der Musik auftreten.« Maria blieb sachlich. »Nächste Woche wirst du etwas Ähnliches tragen.«
Marias Worte holten Anna ein wenig auf die Erde zurück. »Wir müssen dann gehen?«
Selma blickte auf die Uhr. »Maria trifft sich mit ihrer Musikgruppe etwas früher. Wir können uns noch etwas ausruhen.«
* * *
Wegen des Probealarms der Sirenen von gestern wusste Sophie, dass heute Sonntag war. Sie liebte den Sonntag, denn an diesem Tag wurden die Gläubigen mit Glockengeläut in die Kirche gerufen. Jeder einzelne Glockenschlag erinnerte sie an ihr bisheriges Leben und an ihren Vorsatz, von jetzt ab ein besseres Leben führen zu wollen.
Sie hatte schon öfters darüber nachgedacht, bei wem sie sich zu entschuldigen hatte. Diese Entschuldigungen waren Teil ihrer selbst auferlegten Buße. Dabei war es keine Buße im Sinne der Kirche, im Gegenteil, sie wusste, dass sie sich in der Vergangenheit oft danebenbenommen hatte und viele Leute vor den Kopf gestoßen hatte. Sie wollte alle ihre Vergehen dadurch aus der Welt schaffen, dass sie sich bei jedem einzelnen entschuldigte und versicherte, dass sie ab sofort ein besseres Leben führen würde.
Sie hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken gehabt, und es war ihr deswegen auch klar, warum ihr Vater sie so aus dem Verkehr ziehen musste. Sie war sich mittlerweile sicher, dass sie ihm ihren Zustand zu verdanken hatte, und wenn sie zu sich selbst ganz ehrlich war, sie hatte es auch verdient.
Nur in einem Punkt war sie sich nicht sicher. Würde sie ihrem Vater vergeben können, wenn sie ihm wieder einmal in die Augen blicken würde?
* * *
Paul steckte seinen Kopf noch einmal kurz aus der Kirchentür. »Sie sind da.« Er drehte sich zu Florian, der einen sehr eleganten schwarzen Anzug trug. »Jetzt darfst du sie sehen.« Er öffnete die Tür und ließ Florian nach draußen treten.
Der Bräutigam hatte sichtlich Mühe, die Fassung zu wahren, als er seine Braut erblickte, die gerade aus der Limousine des Sparkassendirektors ausstieg. Herr Steinhagen war am Samstag Abend verhindert, hatte aber seinen Wagen für die Hochzeit bereitgestellt. »Anna?« Er hatte Schwierigkeiten, Worte zu finden. »Du siehst einfach wunderschön aus.«
Anna strahlte ihn an. Sie fand vor Glück keine Worte.
Pfarrerin Reger trat zusammen mit Doris und Leonie aus der Kirche. Sie wartete höflich, bis die Brautleute sich begrüßt hatten. »Florian sagte mir, dass er dich zum Altar führen möchte.«
Anna blickte die Pfarrerin etwas verlegen an. In ihrer Familie war es Tradition, dass der Vater die Braut zum Altar führt. Doch sie wollte ihm nicht mehr unter die Augen treten, denn er hätte ihr die Verbindung zu Florian nie gestattet. Im Gegenteil, er wollte sie mit Gewalt zu einer anderen Hochzeit zwingen. Anna war unendlich glücklich, dass ihre Flucht geglückt war.
»Anna?« Pfarrerin Reger blickte die Braut aufmunternd an. Sie ahnte, was Anna in diesem Moment bewegte.
»Ja«, langsam fand sie ihre Sinne wieder. »Florian wird mich führen.«
»Doris, Leonie« Frau Reger drehte sich zu den beiden Mädchen um, die zitternd vor Aufregung hinter ihr standen. »Nehmt ihr bitte eure Position ein?«
Simone, die Inhaberin des Brautgeschäfts zeigte ihnen, wie sie die Schleppe zu halten hatten. »Warum tragt ihr denn die Ketten?« Im Gegensatz zu den anderen wusste Simone nicht, welche Aufgaben Doris und Leonie auf dem Fest hatten. Renate Bayer kam ihnen zu Hilfe und erklärte die Rollen, die sie auf dem Fest einnehmen würden.
»Das wird ein ganz außergewöhnlicher Brautzug.« Sie lächelte etwas verlegen. »Entschuldigt bitte meine Unwissenheit.«
Doris und Leonie sahen sich an der Kirchenpforte verwundert an. »Wenn ich nicht ganz genau wüsste, dass ich wach bin, würde ich meinen, ich träume.« Doris war mindestens genauso glücklich wie die Braut. Sie hätte es sich nie träumen lassen, ihre Ketten einmal so außergewöhnlich präsentieren zu dürfen.
»Seit ihr bereit?« Frau Reger ging zurück zur Kirchentür. »Ich muss dem Organisten ein Zeichen geben.«
* * *
In der Gemeinde hatte es sich schnell herumgesprochen, dass neben dem traditionellen Bittgottesdienst heuer auch eine Hochzeit stattfinden würde. Verwundert waren die Leute lediglich darüber, dass die Hochzeit nicht angekündigt war - so etwas war eigentlich nicht üblich. Und so kam es, dass die Kirche wirklich fast bis auf den letzten Platz besetzt war. Wer nicht wegen des Festes gekommen war, war bestimmt neugierig auf die so spontan angesetzte Hochzeit.
Wie üblich stand die Gemeinde auf, als Braut und Bräutigam langsam unter dem feierlichen Spiel der Orgel langsam nach vorne kamen und kurz vor dem Altar stehen blieben. Erst als sie sich auf die beiden Stühle gesetzt hatten, nahm auch die Gemeinde Platz. Frau Reger gab Fritz ein Zeichen, und gleich nachdem die Orgel verstummt war, begann Marias Musikgruppe mit ihrer vorbereiteten Intrade.
Pfarrerin Reger wartete ab, bis die letzten Töne des Vorspiels verklungen waren, dann begann sie mit der Begrüßung der Gemeinde. »Dies wird ein ganz besonderer Gottesdienst, denn wir wollen nicht nur um einen guten Festverlauf bitten, sondern wir werden auch Zeuge der Hochzeit von Anna und Florian, die sich heute vor Gott die Ehe versprechen wollen.«
Anna legte ihre Hand in die von Florian und lächelte ihn glücklich an.
»Begrüßt wurden wir von den Barock-Pfeifern, die auch nächste Woche auf dem Fest spielen werden.« Sie machte eine kleine Pause. »Sie werden sich vermutlich wundern, dass der Platz, auf dem üblicherweise die Darstellerin der Katerina sitzt, noch leer ist. Es hat einen ganz einfachen Grund. Maria Beller ist bei den Barock-Pfeifern für die Flötistin Frau Bernreu eingesprungen, die sich gestern die linke Hand gebrochen hat.« Sie gab Maria und Paul das verabredete Zeichen.
Paul stand auf und kam zum Altar, wo Maria schon auf ihn wartete. Sie reichte ihm demonstrativ den Handschuh, dann blickten sie kurz zur Pfarrerin.
»Wie sich sicher von den vergangenen Festen wissen, darf die Katerina eine Woche vor dem Fest schon einmal zeigen, dass sie sich gut auf die Rolle vorbereitet hat und den Handschuh, der fest zu der Rolle gehört, tragen kann.« Sie gab Paul den verabredeten Wink.
»Du zitterst ja?« Maria flüsterte leise, als sie Pauls Unsicherheit bemerkte.
»Nun ja, ich habe das ja auch noch nicht in solch großer Öffentlichkeit gemacht.« Er flüsterte ebenfalls. Trotzdem gewann er nach kurzer Zeit seine Selbstsicherheit zurück und konnte Maria den Handschuh für sie bequem anlegen. Als sich Maria daraufhin einmal um sich selbst drehte, war einen Raunen in der Kirche zu hören, denn so eng wie Maria hatte bisher keine Darstellerin den Handschuh tragen können.
»Ich möchte ihnen zwei weitere sehr engagierte Darstellerinnen vorstellen.« Sie bat Doris und Leonie nach vorn. »Frau Schwerterle und Frau Wolkenberg werden die Dienerinnen spielen, die die Katerina bei der Heimkehr von der Schlacht begleiten werden.« Sie machte wieder eine Pause. »Auch sie haben sich intensiv auf ihre Rolle vorbereitet.« Sie bat die Mädchen, einmal ihre Ketten zu zeigen.
»Ich glaube, ich träume.« Doris flüsterte leise.
Leonie war nicht minder fasziniert.
»Frau Wolkenberg wird jetzt auch noch eine weitere Aufgabe übernehmen. Unsere Brautleute sprechen nur Englisch, sie wird ihnen wichtige Teile des Gottesdienstes übersetzen.«
Leonie griff sich den bereitgestellten Stuhl und setzte sich wie abgesprochen hinter die Brautleute, so konnte sie unauffällig übersetzen und erklären, was gerade passierte.
* * *
Der Gottesdienst verlief zunächst ab wie gewohnt. Es wurde aus der Bibel gelesen, und Lieder wurden gesungen. Doch mit Beginn der Predigt wich die Pfarrerin von dem üblichen Schema ab.
Sie verwies zunächst auf die lange Tradition des Festes, welches in einer Woche stattfinden würde. Bedingt dadurch, dass es nur alle sieben Jahre stattfand, würden alle darauf hin fiebern, und es war für alle jungen Mädchen erstrebenswert, für die Rolle der Katerina ausgesucht zu werden.
»Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch an die Baroness erinnern, die ursprünglich für die Rolle ausgewählt war, und die jetzt wegen eines schweren Unfalls im Krankenhaus liegt. Sie wäre sicher eine gute Darstellerin geworden, doch der Tod ihrer Mutter vor fünf Jahren hatte sie etwas aus der Bahn geworfen. Wir hoffen für sie, dass sie wieder gesund wird, ihren weiteren Weg finden wird und stets erkennt, was richtig und erstrebenswert ist.«
Maria war erstaunt, wie gut sie hier einen Bogen geschlagen hatte, ohne die Baroness unnötig bloßzustellen.
»Maria Beller ist für sie eingesprungen und wir sind sicher, dass sie auch eine gute Katerina geben wird. Den folgenden Teil der Predigt möchte ich auf Englisch halten, denn er betrifft die Brautleute, die sich heute vor Gott die Ehe versprechen wollen.«
Als sie dann auf Englisch weiter sprach, blickten Anna und Florian erstaunt auf. Sie berichtete, dass Anna und Florian sich schon einige Zeit lang kannten und zusammen ein paar sehr schmerzhafte Abenteuer bestanden hatten.
»Dunkle Mächte haben ihr Glück bedroht und nur durch den selbstlosen Einsatz einer wichtigen Persönlichkeit ist es ihnen heute möglich, zusammen vor den Altar zu treten.« Sie blickte kurz zu Maria, ohne sie jedoch genauer zu erwähnen. Maria fiel zudem auf, dass sie es geschickt vermied, die Eltern von Anna und Florian zu erwähnen.
»In dem Gespräch mit ihnen haben sie mir auch anvertraut, dass sie sich gern für die viele Hilfe bedanken wollen, die sie bisher erfahren haben.« Dann gab sie eine Zusammenfassung ihrer Worte auf Deutsch.
»Möge Gott euch auf eurem weiterem Weg begleiten.«
* * *
Die eigentliche Trauzeremonie hielt Frau Reger komplett auf Englisch und verzichtete auch auf eine deutsche Übersetzung. Zum einen war es eine Sache der künftigen Eheleute, und zum anderen wussten die Kirchgänger ja, was der Inhalt der Zeremonie war. Und das 'Ja' auf Englisch 'Yes' hießt, bedurfte keiner weiteren Erklärung.
Auch Maria und Paul beantworteten die Frage an die Trauzeugen auf Englisch. Es ergab sich einfach aus dem Zusammenhang.
* * *
In dem Fürbittengebet wurde neben den üblichen Bitten auch für einen guten Verlauf des Festes gebetet. Traditionsgemäß trug die Katerina eine der Bitten vor, wobei ihr von ihrem Prinzen der Zettel gehalten wurde, von dem sie ablesen konnte.
Pfarrerin Reger hatte veranlasst, dass auch Doris und Leonie jeweils eine Bitte vorlesen durften. Sie hatte erkannt, wie viel es den beiden Mädchen bedeutete, in ihren Ketten so in die Öffentlichkeit gerückt zu werden. Dabei übersah sie gern, dass diese Beweggründe mit dem Fest überhaupt nichts zu tun hatten, und auch das ließ sich die Pfarrerin gar nicht anmerken.
* * *
»Traditionsgemäß findet nach diesem Gottesdienst auch wieder das gemeinsame Mittagessen im benachbarten Wirtshaus statt. Dort gibt es auch noch Gelegenheit, dem Brautpaar Glückwünsche auszusprechen.«
Sie machte eine bedeutsame Pause. »Wir haben dieses Jahr das Glück, eine besonders engagierte Katerina-Darstellerin zu haben. Maria steht nicht nur für ihre Rolle und machte zu dem noch die Trauzeugin für unser Brautpaar, sie spielt auch noch in der Musikgruppe mit, die diesen Gottesdienst so schön umrahmt hat.« Frau Reger gab Paul das verabredete Zeichen, dann wartete sie.
Paul und Maria standen auf, dann nahm Paul seiner Freundin den Handschuh ab. Dann nahm er wieder Platz.
Maria verzichtete auf die sonst übliche Gymnastik nach dem Abnehmen des Handschuhs, sie befürchtete, dass dies der Veranstaltung die Würde nehmen würde. Sie bewegte nur ihre Finger ein wenig, aber das versuchte sie zu verbergen, als sie langsam und würdevoll zu ihrem Stuhl bei den Barock-Pfeifern ging und dort Platz nahm.
Erst als Maria sich gesetzt hatte, sprach die Pfarrerin den Segen. Wieder sprach sie auch einen kleinen Teil auf Englisch.
Gleich nach dem Segen gab Fritz den Einsatz und die kleine Gruppe spielte das Schlussstück.
* * *
Unter dem feierlichen Klang der Orgel zog die Pfarrerin zusammen mit dem Brautpaar, den Trauzeugen und Brautjungfern aus der Kirche.
Als Anna und Florian durch das Kirchportal traten, wartete die nächste Überraschung auf sie. Die Tanzgruppe von Carlos, die auf dem Fest die Wachmannschaft stellte, hatte sich vor der Kirche im Spalier aufgestellt und sie bejubelten das Brautpaar.
Zahlreiche Leute kamen auf das Brautpaar zu, um ihnen zu gratulieren. Anna und Florian waren völlig perplex, weil sich wildfremde Leute um sie kümmerten. Mit so viel Freundlichkeit hatten sie wirklich nicht gerechnet. Frau Reger hatte die Gottesdienstbesucher im deutschen Teil der Predigt gebeten, sie nach der Kirche zu beglückwünschen, auch wenn sie sie nicht kennen würden. »Wir wollen ihnen einen unvergesslichen Tag bereiten.«
Frau Bayer bat dann die Festmannschaft zum gemeinsamen Gruppenfoto, und natürlich musste sich das Brautpaar vorn in die Mitte stellen. Das Foto war zwar eigentlich als Abschluss einer langen Vorbereitung gedacht, doch genauso gut konnte es dem Brautpaar als schöne Erinnerung an diesen Tag dienen.
Hans und Andrea sorgten dafür, dass sich die Anwesenden richtig zum Foto aufstellten, dann machte Hans die vom Vorstand bestellten Aufnahmen. Florian und Anna kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Nachdem die Fotos erstellt waren, trat Renate auf das Brautpaar zu und bat sie, mit ins Gasthaus zu kommen. »Bitte macht euch keine Gedanken, dieses Essen hätte auch ohne euch so stattgefunden. Wir würden uns aber sehr freuen, wenn ihr unsere Gäste wärt.«
Anna und Florian nahmen sich bei der Hand. Es war beiden anzumerken, wie sehr sie sehr die Freundlichkeit berührte. Florian schaffte es schließlich, sich mit belegter Stimme für die Fürsorge zu bedanken. »Danke, dass wir nicht allein sein müssen an diesem Tag.« Florian streichelte Anna über das Gesicht. »Es bedeutet uns sehr viel.«
Anna hingegen war ein wenig wehmütig, weil ihr 'schönster Tag' doch ganz anders verlaufen war, als sie es sich immer erträumt hatte. Ihren Vater vermisste sie gar nicht, aber ihre Mutter und deren Mutter hätte sie gern an ihrer Seite gewusst.
* * *
Die zweite Dose ließ sich schon viel leichter öffnen, weil Sophie jetzt die richtigen Handgriffe kannte. Dadurch konnte sie sich ihre Kraft jetzt auch ein wenig besser einteilen. Ihr Blick fiel auf die kleine Herdplatte. Ermutigt durch ihre bisherigen Erfolge machte sie sich auf die Suche nach einem Topf. Es störte sie auch nicht, dass sie immer noch auf dem Boden herumkriechen musste. Vielleicht schaffte sie es ja heute schon, sich eine warme Mahlzeit zuzubereiten.
Sie hatte vom Kochen genauso wenig Ahnung wie von Bettwäsche. Bisher hatte sie immer nur das Personal zusammengeschissen, wenn ihr etwas nicht geschmeckt hatte. Und zwar unabhängig davon, ob sie daheim war oder in irgendeinem Restaurant.
Auf der Dose stand eine Anleitung, und Sophie dachte sich sofort »Das werde sogar ich schaffen.« Sie hatte schon eine gewisse Selbstironie entwickelt.
Bei der Suche nach einem Topf hatte sie auch das für Ravioli passende Geschirr gefunden, so dass sie sich sogar den kleinen Tisch decken konnte. Sie wusste zwar, dass sie sich ihre Kraft immer noch einteilen musste, doch das Mittagsmahl am Sonntag war ihr etwas wert.
Während sie auf die Ravioli wartete, ließ sie ihren Blick über die Dosen schweifen, und sie überlegte sich schon, welche Dose sie als nächstes öffnen würde. Von Ravioli hatte sie jetzt genug.
* * *
Das Essen verlief weitgehend so, wie es vom Festvorstand geplant war. Nur die Platzverteilung war ein klein wenig anders als in den Jahren zuvor. Auf den Plätzen, auf denen sonst die Katerina mit ihrem Prinz gesessen hätte, saßen jetzt die Brautleute und neben ihnen hatte das Prinzenpaar Platz genommen.
Nachdem sich alle gesetzt hatten, wurden zunächst ein paar kurze Reden gehalten, die sich mit dem Fest befassten. Unter anderem bedankte sich Fritz im Namen seiner Barock-Pfeiffer für Marias spontanes Einspringen und lobte sie für ihr ausgezeichnetes Flötenspiel.
Auch Frau Reger ergriff die Gelegenheit, sich für die Einladung zu bedanken und erinnerte die Anwesenden noch einmal an die Bitte, die sie im Gottesdienst geäußert hatte.
Schließlich ergriff auch Florian das Wort. Das Sprechen fiel ihm schwer, denn er war wie seine Braut noch sehr ergriffen von der Freundlichkeit, mit der sie hier bei ganz wildfremden Leuten empfangen wurden. »Besonders möchten wir uns bei Frau Reger bedanken für diese wunderschöne Zeremonie.«
Als Vorspeise wurde Melone mit Schinken gereicht und es kehrte das erste Mal so etwas wie Stille ein. Nur ab und zu war so etwas wie ein Schluchzen von Anna zu hören, die Schwierigkeiten hatte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Natürlich hatte sie sich ihre Hochzeit anders vorgestellt, doch sie spürte, dass wirklich jeder im Saal bemüht war, sie als Freunde zu behandeln.
Nach der Vorspeise erhob sich Herr Greinert. »Nachdem der erste Hunger gestillt ist, möchte ich sie alle hier beim traditionellen Essen nach dem Bittgottesdienst willkommen heißen.« Er begrüßte diverse Personen mit ihrem Namen und dankte auch der Pfarrerin für die Ausgestaltung des Gottesdienstes. »Wir haben dieses Jahr die Ehre, auch ein echtes Brautpaar unter uns zu haben. Wir freuen uns, dass wir diesen Tag mit ihnen feiern dürfen.«
Nach der Hauptspeise erhob sich Herr Wetzler und bat um Aufmerksamkeit.
Maria blickte zu Boden, als sie sah, wer aufgestanden war.
»Ich glaube, ich habe da noch etwas gut zu machen.« Er blickte kurz zu Frau Reger, die ihm aufmunternd zu nickte. »Ich möchte sie zu diesem Festmahl einladen. Ich werde alle Kosten übernehmen.« Eigentlich hätte jeder sein Essen selbst bezahlen sollen.
Er wartete, bis der Applaus verklungen war. »Und dann wäre da noch etwas.« Er sprach plötzlich auf Englisch weiter. »Ich gebe heute Nachmittag einen Empfang für wichtige Geschäftsleute. Ich möchte sowohl das Prinzenpaar als auch das Brautpaar recht herzlich dazu einladen.« Er trat vor den Tisch des Brautpaares. »Bitte machen sie mir die Freude und seien sie heute meine Gäste.«
Florian stand auf und reichte ihm die Hand. Er war nicht zu einer Antwort fähig.
Bald nach der Nachspeise kamen Andrea und Hans herein, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass der Moment passend war. »Wir wollten das Brautpaar abholen zum Fototermin.«
Andrea hatte sich wieder den Redaktionsbus ausgeliehen, und so konnten sie bequem zum Schloss fahren. Dort gab es die besten Motive für Hochzeitsfotos. Und der Bus bot auch für Paul und Maria noch genug Platz.
Andrea und Hans waren ein eingespieltes Paar, was Hochzeitsfotos betraf. Andrea kümmerte sich um das Licht und Hans bediente die Kamera. Die Routine der beiden war deutlich zu spüren.
Doch je weiter die Zeit fortschritt, desto nervöser wurde Anna. Es lag nicht daran, dass sie den Monohandschuh tragen sollte, viel mehr sorgte sie sich um ihren Mann. Was würde er davon halten und vor allem, wie würde er reagieren, wenn er bemerkte, dass es ihr Spaß machte?
»So, das waren die normalen Fotos.« Hans legte die Kamera weg und ging auf Anna zu. »Du hattest mir etwas versprochen?«
Anna schluckte einmal heftig, dann blickte sie zu Paul und Maria, mit denen sie im Gegensatz zu Florian schon gesprochen hatte.
Maria nahm den Handschuh aus ihrer Tasche und reichte ihn wortlos ihrem Freund.
Paul begann sofort, Anna den Handschuh anzulegen.
»Was passiert jetzt?« Florian hatte Mühe, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten.
Anna schien damit gerechnet zu haben, sie ging kurz auf Maria zu und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
»Mache ich.« Maria grinste, dann wandte sie sich an Florian. »Hilfst du mir bei den Getränken? Die sind noch im Bus.«
Es brauchte erst noch einen auffordernden Blick von Anna, bis ihr Mann bereit war, Maria zu folgen.
»Paul braucht deine Hilfe nicht, er kann mit dem Handschuh sehr gut umgehen.« Maria war in diesem Moment froh, über ihre Arme zu verfügen. So konnte sie Florian etwas bewusster von Anna wegführen.
»Aber Anna braucht mich doch.« Florian blickte noch einmal in die Richtung seiner Frau.
»Den Handschuh tragen ist ganz normal, wenn man es gewöhnt ist.« Maria schob ihn weiter. »Und wir wissen beide, dass sie es ebenfalls gewöhnt ist.« Auf einmal hatte sie eine Idee. »Lass ihr bitte diese kleine Freude.«
»Wieso Freude?« Florian stutzte. »Willst du damit sagen, sie würde das gern machen?« Er war in diesem Moment fassungslos.
»Hast du ihre Augen gesehen, als Paul mit dem Handschuh anfing?« Maria wusste, dass es eine rhetorische Frage war, denn sie hatte gesehen, dass Florian nur Augen für Annas Arme hatte.
Florian zögerte. »Du meinst, es gefällt ihr?« Er wurde nachdenklich.
»Es wäre gut, wenn du es akzeptierst.« Sie holte tief Luft. »Und es wäre auch gut, wenn du endlich auch zu deinen Wünschen stehst.« Sie blickte ihm in die Augen.
Florian wollte etwas antworten, doch als er Marias energischen Blick sah, schluckte er seine Worte ungesagt herunter.
»Bondage ist natürlich nicht jedermanns Sache.« Maria ahnte, was er antworten wollte. »Und es erwartet auch keiner von dir, dass du Spaß daran hast.« Sie wusste im Moment nicht, wo die Worte herkamen. »Aber jetzt ist es wichtig, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Es spricht nichts dagegen, Sachen jetzt neu zu entdecken, die früher einmal einen ganz anderen Zweck hatten.«
Florian ergriff Marias Hand.
»Es ist nicht gut, wenn du dir bei jedem Wunsch erst überlegst, ob es Anna an die Vergangenheit erinnern könnte.«
Anna war ein klein wenig empört, als sie sah, dass Florian Marias Hand hielt. Doch dann sah sie sein nachdenkliches Gesicht, und sie erkannte, dass Maria gerade dabei war, ihm ins Gewissen zu reden. Sie blickte zu Maria und flüsterte ihr ein 'Danke' zu, dann warf sie ihrem Mann aus der Ferne einen Kuss zu. »Darf ich so auch aufs Foto?«
»Was macht ihr denn hier?« Leonie platzte geradezu vor Stolz und Glück. »Ich habe euch gesucht, denn ich wollte...«
»Wir machen Hochzeitsfotos.« Florian blickte Leonie glücklich an.
»Mit dem Handschuh?« Leonie schüttelte den Kopf.
»Weißt du, dass ist folgendermaßen...« Florian wollte es erklären, doch er wurde von Maria unterbrochen.
»Leonie, du störst.« Sie zeigte auf das Tor zum Schlosspark.
Leonie zog eine Schnute, dann trollte sie sich.
»Ich mag sie ja ganz gern, aber im Moment stört sie uns.« Maria lächelte.
Hans hatte mittlerweile einen neuen Film eingelegt. Auf dem alten wären zwar noch Bilder gewesen, doch die Bondage-Fotos wollte er selbst entwickeln und nicht ins Labor geben. Das gab sonst nur unnötige Fragen. »Du siehst echt toll aus«, lobte er Anna, als sie sich mit ihrem Kleid einmal drehte.
»Ich will doch gut aussehen, wenn ich so bezahle.« Sie lächelte.
Andrea kam dazu und auch sie kam nicht umhin, Annas sehr anmutigen Auftritt zu loben. »Es sieht wirklich toll aus.«
»Ist das jetzt so schwer?« Hans blickte seine Freundin vorwurfsvoll an.
Die Reporterin versuchte dem Blick ihres Freundes auszuweichen. Natürlich hätte sie den Handschuh auch gern getragen, vielleicht aber nicht so streng angelegt wie bei Anna und Maria.
Aber sie fürchtete sich vor dem Moment, wenn Hans die Kamera aus der Hand legen würde. In diesen Momenten behielt sie gern die Kontrolle und mit den Armen in der Lederhülle war das gar nicht möglich. »Jetzt mache deine Fotos.« Insgeheim versuchte sie zu verbergen, dass sie den Handschuh auch gern trug, doch nicht in Gegenwart ihres Freundes. Allerdings hatte sie sonst keinen, dem sie sich anvertrauen konnte, von ihrer besten Freundin einmal abgesehen.
* * *
Anna hatte ihre Umgebung nach kurzer Zeit völlig verdrängt. Sie konzentrierte sich nur noch auf das Arbeiten für die Kamera. Sie wollte, dass der Freund der Reporterin die Bilder bekommen konnte, die er sich wünschte.
Sie hatte keine Probleme, glücklich zu lächeln, obwohl sie durch den Handschuh relativ hilflos war. Sie wusste Maria und Paul in ihrer Nähe und natürlich auch ihren Mann. Außerdem war sie das Tragen eines solchen Handschuhs durchaus gewöhnt, wenn auch aus ganz anderen Gründen.
Sie befolgte brav alle Anweisungen, die Hans äußerte, und war trotzdem bemüht, immer ihr schönstes Lächeln zu zeigen. Und immer wieder sah sie zu Florian und versuchte, auch ihm ihr Glück zu zeigen.
Nur einmal wollte Hans einen traurigen Gesichtsausdruck haben, und obwohl Anna sich redlich bemühte, schaffte sie es nicht, ihr Strahlen zu verbergen.
Zu ihrer Erleichterung winkte Hans bald ab. »So wichtig ist es auch nicht.« Doch dann zögerte er. Er trat auf Anna zu und war etwas verlegen. »Andrea sollte dich noch etwas fragen. Hat sie?« Er war auf einmal wie verwandelt und seine Hände zitterten.
»Sie sagte etwas von einem Ball im Mund.« Anna blickte etwas unsicher zu Andrea, sie hatte Hans' Stimmungswechsel auch bemerkt.
»Und wärst du dazu bereit?« Hans Stimme war etwas leiser geworden, im Gegensatz zu seiner Nervosität.
»Warum nicht?« Anna war so glücklich, dass sie alles zugesagt hätte. Doch dann blickte sie zu Florian. »Ich soll jetzt den Ball im Mund tragen. Hilfst du mir?«
»Was muss ich tun?« Florian blickte etwas verunsichert auf seine Braut. Immer wieder gingen ihm die Worte durch den Kopf, die Maria ihm gesagt hatte.
»Andrea, bringst du mir bitte mal einen Ball für Anna?« Er vermied es, das Wort 'Knebel' zu benutzen, da er nicht wusste, ob Anna in dieser Richtung eventuell vorbelastet war.
»Du willst sie wirklich so fotografieren?« Andrea blickte mit gemischten Gefühlen auf die so glückliche Braut. Ob es wirklich gut war, ihr den schönsten Tag so zu verderben?
Doch als sie mit dem Ball zurückkam, sah sie, dass ihre Bedenken unnötig waren. Anna strahlte über das ganze Gesicht und blickte fast verlangend auf den Ball in ihrer Hand. Sie war fast etwas ungeduldig, als Andrea den Ball erst einmal mit einem Handtuch abwischte.
Es brauchte nur einen kurzen Blickwechsel zwischen ihr und Florian, dann legte die Reporterin Anna den Knebel an und verschloss die Schnalle im Rücken. »Achte bitte darauf, dass du die Lippen immer fest um den Ball legst, du tropft sonst auf das schöne Kleid.«
»Warum denn das?« Florian hatte der Knebelung seiner Braut eher misstrauisch zugesehen, jetzt wollte er es hinterfragen. Es ging ihm dabei aber weniger um Annas Gefühle, er hatte eher Angst, dass der Fotograf oder seine Freundin etwas Falsches antun konnten.
»Mit dem Ball im Mund kann man nicht schlucken.« Andrea lächelte etwas verlegen. »Und dann läuft der Speichel aus dem Mund, wenn man nicht aufpasst.«
Hans ließ die Kamera sinken, die er gerade wieder in die Hand genommen hatte. »Woher weißt du denn das?«
Andrea lächelte etwas verlegen. »Jetzt mach hin, das Modell wartet.«
Hans kam der Aufforderung nach, doch nicht ohne vor her ein »Komm du mir nach Hause« zu murmeln.
»Du kannst ihr ab und zu ein Taschentuch an die Lippen halten, dann muss sie nicht ganz konzentriert aufpassen.« Andrea hatte sich gut auf das Fotoshooting vorbereitet, sie ahnte, dass Hans wieder einmal sehr extravagante Wünsche haben würde, sobald das erste Eis gebrochen war.
Anna musste nur einmal kurz in Florians Richtung schauen und schon befreite er sie von dem überflüssigen Speichel in ihrem Mund. Dabei fragte sie sich, wie es wohl sein würde, wenn er nicht da wäre, und sie nicht so ein kostbares Kleid tragen würde.
Florian war wesentlich nervöser als seine Frau und manchmal musste Hans Maria bitten, ihn noch mal ein wenig abzulenken.
»Darf ich mir auch noch ein Motiv wünschen?« Florian blickte zwischen Anna und Hans hin und her.
»Sehr gern« Hans war so glücklich, dass Anna auf alle seine Wünsche eingegangen war. »Was ist es denn?«
»Ich möchte Anna so, wie sie gerade ist, in meinen Armen halten.« Florian lächelte. »Das wäre noch einmal eine schöne Erinnerung an dieses außergewöhnliche Fotoshooting.«
Anna blickte ihren Mann kurz, aber sehr verwundert an, dann senkte sie ihren Kopf und blickte zu Boden.
»Ich glaube, sie wartet auf sie.« Andrea war von der Atmosphäre mehr als gefangen. »Sie mag halt nichts sagen mit dem Ball im Mund.«
»Natürlich« Florian lächelte verlegen, dann trat er auf seine Frau zu. »Entschuldige, mein Schatz.« Er fasste sie unter das Kinn und küsste sie auf die Lippen und auf den Ball, den sie ihm strahlend entgegenstreckte.
»Bitte so bleiben.« Hans war begeistert. »Ich hatte mich nur nicht getraut, danach zu fragen.«
Sie nahmen noch ein paar andere Posen ein, die Florian vorher jeweils kurz erklärte. Er fand es sehr faszinierend, seine so schutzbedürftige Frau in den Armen zu halten.
»Jetzt solltet ihr den Ball wieder aus dem Mund nehmen.« Andrea mischte sich ein. »Nach einer gewissen Zeit wird es unangenehm und dann werden es auch keine schönen Bilder mehr.«
Hans blickte Andrea verwundert an. »Komm du mir nach Hause.« Dieses Mal sprach er es laut aus.
Florian hatte keine Mühe, die Schnalle zu öffnen.
»Halte dein Taschentuch bereit« Andrea erinnerte ihn an die Auswirkungen des Balles, den Anna im Mund trug.
Anna musste kurz ihren Kiefer etwas bewegen, dann war sie wieder in der Lage zu sprechen. »Von den Fotos würde ich gern eines meinem Vater schicken.« In diesem Moment sah sie grimmig aus. »Ich glaube, das würde ihn umbringen.«
Florian streichelte ihr vorsichtig über den Kopf. »Willst du den Handschuh dann auch ablegen?«
Anna seufzte nur, dann fühlte sie, wie ihr Mann sie aus dem Armgefängnis befreite. Wie sie es aus der Klinik gewöhnt war, machte sie ein paar Gymnastik-Bewegungen.
»Warum hast du dich überhaupt darauf eingelassen?« Florian machte sich immer noch Sorgen um seine Frau.
»Zum einen, damit wir Erinnerungsfotos haben.« Anna war sehr verträumt, doch auf einmal wandelte sie ihr Blick. »Es würde meine Familie rasend machen, wenn sie wüssten, auf was ich mich da einlasse.« Sie lächelte grimmig. »Und es macht mir Spaß, solange du dabei bist und mir zusiehst.« Sie gab ihm einen Kuss.
»Besser wäre es noch, wenn er dir die auch noch selbst Fesseln anlegt.« Maria klang auf einmal sehr verträumt. »Das liebe ich so an Paul. Es ist wie eine große Umarmung von ihm.« Sie warf ihm einen Kuss zu. »Ihr hättet mit Hans reden sollen, er wäre da sicher darauf eingehen.«
»Was ist so schön daran, gefesselt zu sein?« Florian gab sich alle Mühe, den sich neu auftuenden Welten offen aufgeschlossen gegenüber zu treten.
»Mir gibt es Geborgenheit und das Gefühl, dass ich aufgefangen werde.« Dass es außerdem noch einen ganz anderen Hintergrund hatte, behielt sie erst mal für sich.
»Du warst toll als Pony.« Anna lächelte etwas verlegen. »Von all den Lederriemen festgehalten zu werden muss schön sein.«
»Es ist aber noch mehr.« Marias Stimme schwärmte. »Du gibst für einen kleinen Zeitraum deine Persönlichkeit auf und bist nur noch ein Tier.«
»Und so etwas ist schön?« Florian war verwundert.
»Geschmackssache.« Maria lächelte. »Ich habe es in einer sehr vertrauensvollen Umgebung kennengelernt.« Fast etwas verliebt dachte sie an die Abenteuer auf Sebastians Hütte zurück.
»Ich glaube, ich möchte das später auch mal probieren.« Anna lächelte verlegen. »Wenn der ganze Trubel vorüber ist.«
* * *
»Anna, darf ich dich einmal etwas fragen?« Hans zitterte vor Aufregung. Er hasste sich dafür, dass er seine Nervosität nicht verbergen konnte.
»Ja gern.« Anna ahnte nicht, was kommen würde, obwohl sie seine Erregung bemerkte.
»Hättest du vielleicht Lust, dich öfters mal in Fesseln zu zeigen?« Er war froh, es ausgesprochen zu haben. »Du würdest dafür auch ein Honorar bekommen.«
Anna muss nicht lange überlegen. »Das mache ich sehr gern« Sie lächelte. »Solange es keine Nacktfotos sind.« Sie spürte, dass sie es so auch ein wenig ihrer Familie heimzahlen konnte, wenn sie sich zu solch provokanten Fotos hingeben würde. Doch dann glitt ein Schatten über ihr Gesicht. »Florian, was denkst du?«
»Werden sie sie anfassen?« Annas Mann war unsicher, was er von der Situation halten sollte.
»Komisch, Andrea hat mich das auch gefragt.« Hans grinste. »Es gibt da wohl einige Befindlichkeiten.«
Es entstand eine kleine Pause.
Schließlich räusperte sich Anna. »Würde es gehen, wenn Florian mir die Fesseln anlegt?«
»Das wäre eine gute Lösung.« Hans war erleichtert. Doch dann zögerte er. »Wenn ich ihm sagen darf, was er machen soll...«
»Warum sollte ich Anna das antun?« Florian war empört.
»Jetzt mache aber einmal einen Punkt.« Anna drehte sich mit funkelnden Augen zu ihrem Mann. Es war ihr anzusehen, dass sie mehr oder weniger explodieren wollte. Doch dann wurden ihre Züge weich. »Maria sagt, dass es ganz toll ist, wenn der Partner das mit einem macht.« Sie ergriff die Hand ihres Mannes. »Bitte lasse es uns ausprobieren.«
»Wie wäre es, wenn ihr nächsten Mittwoch zu mir kommt?« Hans spürte, dass eine Entscheidungshilfe gefragt war. »An dem Abend machen wir erst mal einen Trockenlauf, damit ihr euch daran gewöhnen könnt.«
»Was ist ein Trockenlauf?« Florian hatte immer noch Schwierigkeiten, sich an den Gedanken zu gewöhnen. »Werden die Knoten und Schnallen nicht geschlossen?«
»Doch schon.« Der Fotograf ahnte, dass er schon so gut wie gewonnen hatte. »Wir machen alles wie bei einem echten Foto-Termin, nur dass kein Film in der Kamera liegt.«
»Eigentlich schade.« Anna dachte laut. »Ich würde daran auch gern Erinnerungen haben.«
»Wie ihr wollt.« Hans war mehr als erleichtert. »Ihr könnt es euch bis Mittwoch überlegen.«
Andrea hatte den Dialogen schweigend zugehört. Er hatte sich selbst in diese Situation gebracht, jetzt sollte er auch sehen, wie er da wieder heraus kam. Und doch war Andrea unterschwellig eifersüchtig. Bisher hatte Hans sie immer mit seinem Wunschmotiv genervt. Jetzt erfüllte jemand anders seinen Wunsch. Auf der einen Seite war sie froh darüber, andererseits ärgerte sie sich ein wenig. Irgendwie kam es ihr nun wie eine verpasste Gelegenheit vor.
»Ich würde gern noch wissen, wofür die Bilder sind. Wer bekommt sie zu Gesicht?« Florian versuchte, ein wenig weiter zu denken.
»Ich plane da schon länger ein Kunstprojekt.« Er seufzte. »Alles andere würde die Öffentlichkeit nicht akzeptieren.« Er deutete an, dass er Anna wie ein echtes Modell bezahlen würde, allerdings nur, wenn er mit seinem Projekt Erfolg haben sollte.
»Wie hoch wäre das?« Florian spürte, dass er für Anna handeln konnte.
»Das Honorar liegt bei 100 DM pro Stunde.« Hans war etwas verlegen. »Ich kann das aber erst zahlen, wenn ich mit dem Projekt erfolgreich bin.«
»Das machen wir.« Anna hatte auf einmal einen sehr energischen Blick. »Was können wir schon verlieren?«
* * *
»Ich habe etwas Angst vor Claudia Wetzler.« Es kostete Maria einige Mühe, ihre Gedanken ihrer Erzieherin gegenüber auszusprechen. »Sie macht mir immer das Leben so schwer.«
»Ich glaube, es gibt da etwas, mit dem du sie sehr beeindrucken kannst.« Mrs. Potter lächelte.
»Und was wäre das?« Es war Maria anzusehen, dass sie nur sehr ungern zu dem Empfang der Familie gehen wollte.
»Herr Wetzler wird dich sicher bitten, das Gebet noch einmal zu zeigen.« Die Erzieherin machte eine bedeutsame Pause. »Wir wäre es, wenn du dazu die Ballettstiefel tragen würdest?«
»Aber...« Maria stutzte. »Wird das keine Fragen geben?«
»Dann sagst du ihnen einfach die Wahrheit.« Mrs. Potter gab sich zuversichtlich. »Die Stiefel helfen dir, das Gebet zu tragen.«
Maria war verwundert, doch zu einer Antwort war sie noch nicht fähig.
»Dir wird es nichts ausmachen...« Sie zögerte einen Moment. »Und die anderen werden sehr über dich staunen.«
Maria blickte immer noch sehr skeptisch. Eine Antwort blieb sie nach wie vor schuldig.
»Überlege doch mal.« Mrs. Potter hoffte, sich die richtigen Argumente bereitgelegt zu haben. »Herr Wetzler fühlt sich dir gegenüber verpflichtet. Und wenn du jetzt die Stiefel anziehst, wird er es akzeptieren müssen, und du kannst sie später auch noch tragen.« Wieder machte sie eine Pause. »Und glaub mir, die Frauen werden dich beneiden.«
»Claudia auch?« Maria hob ihren Kopf.
»Gerade die.« Mrs. Potter schmunzelte. »Aber sie wird vermutlich alles versuchen, damit man es ihr nicht ansieht.«
Maria hatte noch eine andere Sorge. »Könnten sie das Paul beibringen? Ich glaube, ich schaffe es nicht, ihm das zu vermitteln.«
»Das machst du schon selbst.« Mrs. Potter gab sich zunächst resolut, doch dann wandelte sich ihre Stimme. »Aber wenn es dir hilft, will ich gern dabei sein und dir beistehen.«
Maria war insgeheim fasziniert davon, wie schnell sich Mrs. Potter von der strengen Erzieherin zu verschworenen Freundin wandeln konnte.
»Maria, was ist mit dir?« Paul kannte seine Freundin schon lange genug um zu erkennen, dass sie etwas bedrückte.
Sie hielt den Kopf gesenkt, während sie antwortete. »Ich muss bei Wetzlers die Ballettstiefel tragen.«
Mrs. Potter räusperte sich.
»Ich möchte sie tragen.« Maria verbesserte sich.
Paul spürte die Spannung, die in diesem Moment herrschte. »Warum denn?« Dabei blickte er aber in Richtung der Erzieherin.
»Du kennst doch ihre Mitschülerin Claudia Wetzler?« fragte Mrs. Potter.
Paul stutzte für einen Moment, dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Das ist natürlich ein guter Grund.« Er blickte auf die Uhr. »Willst du sie sofort anlegen? Wir hätten noch etwas Zeit.«
»Gern.« Maria nahm erleichtert Platz.
»Wie wäre es, wenn du dazu den langen Rock trägst? Dann fällt es nicht sofort auf.« Mrs. Potter mischte sich ein. »Du solltest aber den Gehschlitz offen lassen, damit man es sehen kann, wenn man genauer hinschaut.«
Als Antwort machte Maria ein enttäuschtes Gesicht.
»Auf dem Rückweg kann Paul dir den Rock ja zu machen.« Mrs. Potter schmunzelte.
Maria wurde rot. »Natürlich.« Sie fühlte sich ertappt, denn insgeheim mochte sie es, wenn der Rock ihr die Beinfreiheit einschränkte. Und der Gedanke, dass Paul dafür verantwortlich sein würde, spornte sie zusätzlich an.
»Soll ich sie abschließen?« fragte Paul, nach dem er Maria die Stiefel angezogen hatte. Er blickte dabei zwischen Mrs. Potter und Maria hin und her.
»Nein«, antwortete Maria schnell. »Sie soll sehen, dass ich sie freiwillig trage.« Sie wusste außerdem, dass es ihr zusätzlichen Spott einbringen würde, wenn Claudia die Schlösser zu Gesicht bekommen würde.
* * *
Auf dem Empfang bei Wetzlers waren wirklich viele wichtige Leute geladen, unter anderem der Bürgermeister und diverse Chefs der hiesigen Firmen. Maria und Paul erfuhren erst durch die Begrüßung des Gastgebers, wer tatsächlich alles anwesend war.
»Anna und Florian haben heute geheiratet und ich freue mich sehr, dass sie als langjährige Freunde des Hauses ihren schönsten Tag trotzdem mit uns verbringen wollen.« Er wartete den Applaus ab, dann wiederholte er den Satz auf Englisch, um ihnen gleich darauf zuzuzwinkern.
»Und zum Schluss möchte ich ihnen meine Ehrengäste vorstellen.« Er gab Paul und Maria ein Zeichen. »Ich freue mich sehr, dass wir heute das Prinzenpaar des Katerinenfestes unter uns begrüßen dürfen.«
Paul und Maria deuteten eine Verbeugung an.
»Frau Beller beherrscht ein ganz außerordentliches Kunststück.« Er drehte sich kurz zu Maria. »Wir wären sehr stolz, wenn sie es uns nach dem Essen vorführen würden.«
Paul hielt Maria im Arm, als er auf einmal bemerkte, dass sie sich verspannte. »Was ist denn los?«
»Da drüben, Claudia.« Maria seufzte und blickte in Richtung der Treppe, auf der gerade die Tochter des Gastgebers theatralisch den Empfangsraum betrat. Sie war unauffällig, aber trotzdem elegant angezogen und trug den Kopf stolz erhoben. Sie wusste, wie sie als 'Tochter des Hauses' aufzutreten hatte.
Paul folgte dem Blick und sofort stieg auch seine Anspannung. Er wusste, dass er Maria beistehen musste, so wie damals schon.
Claudia begrüßte einige der Gäste und holte sich einige Komplimente ab. Dann trat sie auf Maria zu. »Hallo Maria.« Sie lächelte hintergründig. »Hübsch siehst du aus.«
Maria wurde sofort an die vielen Situationen auf dem Schulhof erinnert, bei denen sie den Spott ihrer Mitschülerinnen ertragen musste. Sie blieb trotz des Lobes misstrauisch.
Paul bemerkte, dass Maria ein sehr verkrampftes Lächeln zeigte, während Funken zwischen den Augen der beiden Mädchen zu sprühen schienen.
Claudia musterte ihr Gegenüber von oben bis unten. »Sind dir die Schuhe der Baroness nicht zu groß?«
Maria biss zunächst die Zähne zusammen. Claudia war sehr intelligent und gerade deswegen sie schaffte es, mit spitzen Bemerkungen ihre Gegenüber besonders schwer zu verletzen. Sie hatte sich auf den Empfang gefreut, doch jetzt wollte sie ihn am liebsten wieder verlassen.
Paul musste sie erst mit einem auffordernden Blick daran erinnern, dass ihre Erzieherin sie genau auf diesen Moment vorbereitet hatte.
Maria blickte Claudia kurz an, dann griff sie sich mit der Hand an den Rock und machte damit den Blick auf ihre Ballettstiefel frei. »Oh, ich trage meine eigenen Schuhe, und die passen mir besser.« Sie stellte ein Bein nach vorn. »Möchtest du sie einmal probieren?«
Claudia hatte sichtlich Mühe, die Contenance zu wahren. Ihre Miene zeigte deutlich, dass Maria 'gewonnen' hatte. Sie schluckte heftig und stotterte ein wenig.
Ihr Vater kam dazwischen, so dass ihr die Antwort erspart blieb. »Claudia, was machst du denn hier?« Herr Wetzler war ein wenig verwundert, seine Tochter auf seinem Empfang zu sehen. Normalerweise interessierte sich Claudia überhaupt nicht für die Belange der Familie.
»Ich wohne hier«, antwortete sie etwas schnippisch. »Hast du das schon vergessen?«
»Müsstest du nicht schon lange mit deinen Freundinnen auf der Piste sein?« Herr Wetzler blickte auf die Uhr.
»Ich wollte unbedingt deinen 'Ehrengast' sehen.« Claudia gab sich unbeeindruckt.
»Ich dachte, du kennst Maria aus der Schule?« Herr Wetzler streichelte seiner Tochter scheinbar liebevoll über den Kopf. »Hattest du denn eine so große Sehnsucht nach ihr?«
Maria grinste innerlich. Claudia konnte sehr verletzend sein, doch ihr Vater stand ihr in nichts nach.
Claudia verzog das Gesicht, dann ging sie demonstrativ wieder zurück zur Treppe. Sie blickte zu Boden, denn sie wollte nicht zeigen, dass sie gleich zweimal heftig getroffen war.
Paul blickte ihr nachdenklich nach. »Was war das jetzt?«
»Ein rotes Kreuz im Kalender.« Maria war seltsam erleichtert. »Wenigstens einmal habe ich 'gewonnen'.«
Mit seiner freien Hand streichelte er ihr über die Wange. Er sage nichts, doch er fühlte, wie sehr Maria ihren Triumph im Stillen genoss. Und doch kamen ihm die Mittel, mit denen Maria 'gesiegt' hatte, ein wenig seltsam vor. Seine Oma hatte ihm etwas über die Auswirkungen von hohen Absätzen auf die Körperhaltung erzählt, und seitdem war seine Achtung gegenüber seiner Freundin noch gestiegen, weil sie eine ungeheure Sicherheit auf diesen mörderischen Stiefeln zeigte.
»Schade, dass sie schon weg ist.« Maria flüsterte. »Ich hätte ihr gern noch das Gebet gezeigt.«
Paul blickte sich um. »Sie wird sicher auch beim Fest anwesend sein.« Er ahnte, wie wichtig Maria dieser Sieg war.
* * *
»Nachdem wir uns nun gestärkt haben, möchte ich zum Höhepunkt dieses Abends kommen.« Herr Wetzler wartete, bis Stille eingekehrt war. »Maria Beller wird uns nun ihr besonders Kunststück vorführen.« Er bat Paul und Maria, nach vorn zu kommen.
Maria ergriff Pauls Hand und zog ihn mit auf die kleine improvisierte Bühne.
»Wie sie ja wissen, ist in einer Woche das Katerinenfest, welches nur alle sieben Jahre stattfindet. Maria wird die erste Darstellerin sein, die die Originalhaltung trägt.« Es war deutlich zu spüren, dass er die Demütigung aus dem Rathaus vergessen machen wollte. Der Baron hatte sie zwar gebeten, Marias Gebet nicht zu erwähnen, doch er hielt seit einiger Zeit nicht mehr viel von dieser Familie, insbesondere seit die Reporterin ihnen so sehr den Kopf gewaschen und ihre Ansichten zurecht gerückt hatte.
Wieder gab sich Paul große Mühe, das Gebet besonders schön anzulegen. Er achtete auf den symmetrischen Verlauf der Riemen und war auch bemüht, sie genau so fest anzuziehen, dass Maria fast keinen Bewegungsspielraum mehr hatte, es ihr aber trotzdem nicht weh tat.
»Du bist aber gut geworden.« Maria keuchte ein wenig. Sie hatte seine Bemühungen sofort bemerkt.
»Ist es zu fest?« Paul hielt kurz inne.
»Nein, es sitzt sehr gut.« Maria versuchte, ein wenig mit den Armen zu wackeln. »Ich kann mich gar nicht mehr bewegen, doch es schneidet nicht ein.« Sie gab ihm einen Kuss. »So möchte ich es auch auf dem Fest tragen.«
Paul rückte die einzelnen Riemen noch etwas zurecht, dann zog er sich zurück. Doch er blieb gleich neben der Bühne stehen, weil er wusste, was für Maria wichtig war. Er wollte ihr den Auftritt gönnen und doch dicht an ihrer Seite sein.
Wie schon im Rathaus drehte sich Maria langsam um, um ihre Arme zu zeigen. Es war still im Raum, und nur langsam setzte ein Geflüster ein. Es schien, als traute sich keiner mehr laut zu sprechen. Maria war diesmal etwas gefasster, ein unhöflicher oder abwertender Kommentar würde sie heute nicht so schwer treffen. Doch zu ihrer Erleichterung es blieb ruhig.
Herr Wetzler musste sich erst räuspern. »So wird Frau Beller auch auf dem Fest auftreten, und wir freuen uns, das Fest und damit vor allem die Hauptdarstellerin unterstützen zu dürfen.«
Erst jetzt setzte begeisterter Applaus ein.
* * *
»Ich will jetzt endlich wissen, was für ein seltsames Spiel ihr mit Sophie spielt.« Michael hatte Franz-Ferdinand in seiner bevorzugten Studentenkneipe angetroffen.
»Was meinst du?« Der Cousin von Sophie wusste natürlich genau, was deren heimlicher Verehrer meinte, doch noch versuchte er, den Ahnungslosen zu spielen.
»Sophie ist nicht mehr in der Klinik.« Er rückte näher und Franz-Ferdinand spürte seinen Atem auf der Wange. »Und im Bernward-Krankenhaus ist sie nicht angekommen.« Er holte tief Luft. »Wo habt ihr sie hingebracht?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.« Der Neffe begann zu schwitzen.
»Ich weiß, was der Doktor und ihr Vater gemacht haben.« Michael rückte noch näher, weil er leiser sprechen wollte. »Bringe mich zu ihr oder ich gehe zur Polizei.«
»Das geht jetzt nicht.« Franz-Ferdinand versuchte Zeit zu gewinnen. »Im Moment schläft sie.« Er holte tief Luft, denn er hatte eine Idee, wie er das Unvermeidliche noch etwas hinauszögern konnte. »Außerdem möchte sie sich bestimmt erst schön machen für dich. Morgen bringe ich dich zu ihr.«
Zu seiner Erleichterung zeigte Michael sich damit einverstanden.
* * *
Franz-Ferdinand blickte noch einmal etwas angewidert auf die beiden Kartons, die er seiner Cousine bringen wollte. Einer enthielt noch einige Konservendose und in den anderen hatte er einige Gegenstände gepackt, die ihr den Aufenthalt in dem Kellerraum erträglich machen sollten. Unter anderem hatte er ein Radio eingepackt, damit sie sich etwas Ablenkung verschaffen konnte. Immerhin musste sie noch mindestens eine Woche dort bleiben. Erst nach dem Fest würde ihr Vater ihr sicher erlauben, den Keller wieder zu verlassen.
Natürlich war er von den vielen Männerbekanntschaften von Sophie mehr als angewidert, aber dennoch war sie seine Cousine und stand im Rang sogar etwas über ihm, so dass er eine gewisse Verpflichtung sah, sich um sie zu kümmern.
Den Besuch von Michael konnte er bis jetzt zwar um einen Tag hinauszögern, doch er musste der Erpressung nachgeben, da sonst alles aufzufliegen drohte.
Sophie würde sich sicher versuchen, sich zu befreien, doch er war sich sicher, dass er sie unter Kontrolle halten konnte. Wenn er ihr plausibel machen konnte, dass sie nur noch wenige Tage auszuhalten hatte, würde sie sicher nachgeben. Außerdem, so grinste er hinterhältig, würden die Gedanken an Michael sie erst einmal ablenken und sie würde ihre Gedanken an ihn erst einmal nach hinten schieben.
* * *
Sophie lag wieder auf dem Bett und war gerade aus ihrem Nachmittagsschläfchen erwacht. Sie genoss den Duft des frischen Kopfkissens und blickte fast verliebt auf die kleine Spüle, wo sie ihr Mittagsgeschirr zum Abtropfen hingestellt hatte. Nach dem sie ihre erste warme Mahlzeit mehr als genossen hatte, war ihr noch in den Sinn gekommen, den Teller und den Löffel gleich abzuwaschen.
Sie war ein wenig über sich selbst verwundert. Sie hatte heute mehr gearbeitet als sonst in einer ganzen Woche.
Auf einmal hielt sie den Atem an. Da waren Schritte zu hören.
Sophies Herz klopfte lauter. Würde er kommen, um sie zu befreien? Doch schnell verwarf sie den Gedanken wieder. Sie wusste mittlerweile, dass sie wegen des Festes aus dem Verkehr gezogen worden war, und das war erst in einer Woche.
Stolz blickte sie auf den kleinen Kalender, den sie sich gebastelt hatte. Aus dem kleinen Spielekarton hatte sie sich ein paar Figuren herausgeholt und eine für jeden Tag auf das kleine Brett gestellt. Jetzt stand die erste rote Figur dabei, und sie hoffte insgeheim, dass sie nur noch eine weitere rote Figur brauchen würde.
* * *
Sophie versuchte erst gar nicht, zu flüchten, als ihr Cousin den Raum betrat. Obwohl sie wusste, dass er die Tür offen lassen musste, verzichtete sie darauf, den Raum zu verlassen. Er würde sie schnell wieder einholen und sie zurückbringen, und sie hätte ihre wenigen Kräfte ganz umsonst geopfert. Im Gegenteil, sie war über den Besuch eher froh, denn es tat ihr gut, endlich einmal mit einem anderen Menschen reden zu können.
Doch sie erkannte sofort, dass ihn etwas bedrückte, als er mit zwei Kartons beladen in den Raum kam.
»Du erinnerst dich an Michael?« fragte er unvermittelt mit belegter Stimme.
»Wie könnte ich den vergessen.« Sophie verdrehte die Augen.
»Er wird dich besuchen.« Franz-Ferdinand war froh, es ausgesprochen zu haben. »Ich werde ihn morgen Abend zu dir bringen.«
Sophie hatte bisher angenommen, dass es würde nichts geben, was ihre Lage noch verschlechtern könne, doch jetzt wurde sie diesbezüglich eines besseren belehrt. Sie sank in sich zusammen. Zu einer Antwort war sie nicht fähig.
»Mache dich hübsch für ihn.« Er blickte zweifelnd auf das Bett, dann zeigte er auf die Kartons. »Ich habe dir etwas mitgebracht.«
»Warum?« Sophie schluchzte. »Warum tust du mir das auch noch an?«
»Er erpresst mich.« Franz-Ferdinand spürte die Verzweiflung seiner Cousine, doch er war noch nicht in der Lage, Mitleid zu empfinden. »Er will über Nacht bleiben. Wenn er dich nicht besuchen darf, geht er zur Polizei und lässt uns auffliegen.«
Dass diese Drohung für Sophie eigentlich eine frühe Befreiung darstellen würde, das erkannte sie in diesem Moment nicht.
»Ich habe dir ein Radio mitgebracht, damit kannst du dich etwas ablenken.« Er öffnete den einen Karton und nahm das Gerät heraus. »Soll ich es dir gleich anschließen?«
Sophie zeigte keine Reaktion, sie war noch dabei zu verarbeiten, was sie über den Besuch ihres so aufdringlichen Verehrers erfahren hatte.
»Dann bis morgen.« Franz-Ferdinand stellte die beiden Kartons auf den Tisch, während er mit dem Fuß die Tür aufhielt. Dann ließ er Sophie allein.
* * *
Es dauerte lange, bis Sophie wieder zu einer Regung fähig war. All ihre Euphorie über ihre Erfolge war verschwunden, und jetzt drehten sich ihre Gedanken nur noch um den Besuch von Michael, den sie so überhaupt nicht verhindern konnte.
Sie konnte sich gegen ihn noch weniger wehren als gegen ihren Cousin. Wenn er sie bisher bedrängte hatte, war stets jemand aus ihrem Bekanntenkreis bereit gewesen, ihn abzuwehren. Jetzt war sie allein und ihm ausgeliefert.
Immer wieder ging ihr das Wort 'Vergewaltigung' durch den Kopf und sie fragte sich, ob er wirklich so weit gehen würde. Immerhin hatte er ihr gegenüber schon oft entsprechende Andeutungen gemacht.
Sie dachte immer wieder an die Möglichkeiten, die ihr vielleicht noch blieben würden, um sich gegen Michael zu wehren. Doch zu ihrer Enttäuschung blieb nichts übrig. Sie würde den Besuch über sich ergehen lassen müssen. Verführung und Ablenkung, das waren die Taktiken, mit denen sie früher unliebsame Partner losgeworden war, doch dann verwarf sie es. Das hätte sie früher gemacht. Jetzt musste sie zu ihren Taten stehen.
Montag, 20. September 1984
Sophie hatte sehr unruhig geschlafen, weil sie wusste, was heute im Laufe des Tages passieren würde. In ihren Träumen hatte sie versucht, sich gegen seine Berührungen zu wehren, doch immer wieder spürte sie seine klebrigen Haut auf ihr. Überall versuchte er sie zu berühren. Erst nach dem Aufwachen stellte sie fest, dass ihre Gefühle echt waren, denn sie hatte jeden Kontakt mit der Bettwäsche für Berührungen von ihm gehalten.
Sie war sich sicher, dass sie noch so eine Nacht nicht mehr erleben wollte. Lieber würde sie auf dem Boden vor dem Bett übernachten, ihren Kopf dabei in das saubere Kissen gebettet.
In den wachen Momenten und insbesondere vor dem Einschlafen hatte sie immer wieder über die Situation nachdenken müssen, in der sie sich befand. Sie würde ihm hilflos ausgeliefert sein. Sie wusste, dass er stark war, das hatte er schon öfters gegenüber ihren angeblichen Freunden bewiesen. Sie wäre selbst in gesunden Zustand nicht stark genug gewesen, um sich gegen ihn zu wehren.
Sie hatte immer auf ihn herab geblickt, weil sein Vater nur ein einfacher Maurer war. Und sie hatte es ihn auch bei jeder Begegnung spüren lassen. Doch er war sehr anhänglich und ließ sich durch nichts vertreiben.
Er würde sie vergewaltigen, das war ihr klar. Jede einzelne Demütigung würde er ihr zurückzahlen, und es würde nur gerecht sein. Sophie war es grausam klar, dass er sie bestrafen würde. Noch schlimmer war allerdings die Erkenntnis, dass sie es auch nicht besser verdient hatte.
* * *
»Was liegt heute an?«, fragte Selma ihren Enkel nach der Morgenbegrüßung.
»Maria hat heute noch mal einen Termin in der Schmiede«, antwortete Paul nach kurzem Nachdenken.
»Nehmt Leonie mit.« Selma grinste. »Ich habe weitere Ketten für sie bestellt.«
»Warum machst du das?« Paul war ehrlich verwundert. »Warum muss sie so leiden?«
Selma sah ihren Enkel lange an. Schließlich antwortete sie ihm. »Weil sie es so will.«
Paul musste nur einen Moment über Leonie nachdenken, dann fiel ihm ein, wie viel Mühen Leonie auf sich genommen hatte, um auf der Hütte dabei sein zu können. »Sie hat immer noch keinen Partner, der auf ihre Wünsche eingehen kann?«
»Genauso ist es.« Selma seufzte. »Das Problem kann ich noch nicht lösen.«
»Und deswegen hältst du sie hier gefangen?« Paul blickte auf.
»So würde ich das nicht formulieren.« Selma richtete sich auf, um ihrer Stimme mehr Bedeutung zu verliehen. »Ich nehme ihr sofort alle Fesseln ab, wenn sie danach fragt.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Aber dann muss sofort sie unser Haus verlassen.«
»Ein hoher Preis.« Paul war zunächst etwas nachdenklich, doch dann grinste er. »Ein wirklich hoher Preis.«
* * *
Sophie war aufgestanden, doch heute hatte sie überhaupt keinen Appetit auf ein Frühstück. Es wäre sowieso nur ein Ravioli-Frühstück geworden, und heute war sie wirklich nicht in der Stimmung dazu. Sie war gestern so euphorisch gewesen nach ihren Erfolgen, und dann kam ihr Cousin und hatte sie mit der Ankündigung des Besuches so heruntergerissen.
Traurig fiel ihr Blick auf das Bett. Jetzt war zwar das Kissen neu bezogen, aber die restliche Bettwäsche stank geradezu nach all den Jahren, die sie schon aufgezogen war. Vermutlich war sie zuletzt noch in Benutzung gewesen. Sophie erinnerte sich dunkel an die Dienern, die als Letzte in dem Zimmer gewohnt hatte. Auch sie hatte sie nicht geschont mit ihren Eskapaden.
Sie fragte sich, wie viel sie wirklich von Michael wusste, und sie kam zu dem erschreckenden Ergebnis, dass es sehr wenig war. Für sie war er immer nur der Sohn des Maurers gewesen, und egal was er auch versuchte, er schaffte es nie, von ihr anerkannt zu werden.
Sophie hatte immer auf ihn herab geblickt und hatte ihn auch oft von ihren Bekannten demütigen lassen. Ja, ihre Bekannte. Dass sie nicht ihre Freunde gewesen waren, das hatte Sophie während der Zeit in der Klinik schmerzlich feststellen müssen. Sie wurde nur von zwei Leuten beachtet. Die eine war Maria, die jetzt die Rolle für sie spielen würde, und der andere war Michael, der fast täglich frischen Blumen ins Krankenhaus liefern ließ. Die Schwestern hatten schon mit dem Tuscheln angefangen, dass Sophie wohl einen heimlichen Verehrer haben müsse, doch sie bekam ihn nie zu Gesicht.
Sophie wusste, dass sie von Michael waren, und er musste ein Vermögen dafür bezahlt haben. Sie war sich nicht sicher, ob er sie nicht auch mal im Krankenhaus besucht hat. Sie konnte immer nur an die Decke starren, und seine Stimme hatte sie nie gehört.
Zum ersten Mal blickte sie an sich herunter, bisher hatte sie diesen Blick vermieden. Sie trug noch die Wäsche aus der Klinik in Form eines völlig unförmigen Nachthemdes. In einem der Kartons, die ihr Cousin mitgebracht hatte, wäre auch ein Spiegel gewesen, doch obwohl er sie aufgefordert hatte, sich für ihn hübsch zu machen, vermied sie es, sich im Spiegel anzusehen. Sie wollte von ihrem alten Leben gar nichts mehr sehen.
Sie hätte sich am liebsten auch ihre Haare abgeschnitten, doch sie hatte bisher weder eine Schere gefunden, noch hätte sie die Kraft gehabt, die Arme so lange nach oben zu halten.
Sie begann ein wenig Hoffnung zu schöpfen. Wenn sie so hässlich blieb, dann würde er vielleicht nicht mehr an ihr interessiert sein.
* * *
Etwas nachdenklich fuhr Andrea zum Haus von Frau Mohr. Sie hatte einen Plan für die Zukunft des frisch vermählten Paares und wollte sich jetzt dafür Rückendeckung holen. Sie sah, dass Pauls Oma gerade im Garten beschäftigt war. Sie parkte das Auto und stieg aus. »Guten Morgen, Frau Mohr.«
Selma erwiderte den Gruß. »Was wünscht die Presse von uns?«
Andrea hatte es sich schon lange abgewöhnt, sich von solchen Bemerkungen provoziert zu fühlen. Außerdem verfolgte sie heute ein Ziel, welches zunächst mit ihrem Job nichts zu tun hat. Sie berichtete von ihrer Idee.
»Das wäre aber sehr selbstlos von ihnen.« Selma blickte auf. »Warum machen sie das?«
»Ich habe meine Gründe.« Andrea wollte ihre Pläne nicht verraten. Das, was bisher von Anna bekannt war, erinnerte die Reporterin sehr an einen anderen Fall, bei dem es um eine Person im Zeugenschutzprogramm ging. Vielleicht gab es in Annas Vergangenheit ähnliches zu erfahren.
»Ich habe sie schlafen lassen.« Selma deutete mit der Hand auf das Haus. »Ich denke, sie werden beim Frühstück sitzen.«
»Können wir sie stören?« Andrea trippelte etwas ungeduldig.
»Ich denke schon.« Selma grinste. »Außerdem ist es mein Esszimmer.«
Andrea folgte ihr ins Haus.
Das Paar saß wie erwartet beim Frühstück. Florian stand auf und deutete eine Verbeugung an, als Selma mit Andrea den Raum betrat. »Vielen Dank für das wundervolle Frühstück.«
»Ich wollte euch eigentlich nicht stören, doch Frau Baseling hat ein für euch sehr wichtiges Anliegen.« Sie bat Andrea, Platz zu nehmen. »Ich hole ihnen noch einen Kaffee.«
Andrea wandte sich direkt an Florian. »Ich könnte dir einen Job besorgen, aber ich müsste vorher wissen, ob du dazu auch bereit bist.« Sie wusste, dass sie sich mit ihrem Plan weit aus dem Fenster lehnen würde, und deswegen wollte sie wenigstens sicher sein, dass Florian nicht noch abspringen würde.
»Ich wollte mich heute auf dem Arbeitsamt vorstellen.« Florian blickte kurz zu seiner Frau. »Um was handelt es sich denn?«
»So genau kann ich es dir noch nicht sagen.« Andrea wollte ihre Quellen nicht unbedingt offenlegen. »Ich weiß nur, dass sie einen akuten Personalmangel haben.«
»Um welche Branche geht es denn?« Anna mischte sich ein. Sie hatte im Gegensatz zu ihren Freund schon begriffen, dass die Reporterin hier ein wenig vom üblichen 'Dienstweg' abweichen würde. »Können wir wenigstens die Richtung erfahren?«
»Es handelt sich um das Hausmeister-Team im Krankenhaus.« Andrea lächelte verlegen. »Ich weiß, dass sie gerade große Personalprobleme haben. Sie wären dort für jede helfende Hand dankbar.«
»Hausmeister.« Florian wiederholte es ohne eine Regung in der Stimme.
»So heißt es offiziell.« Andrea hoffte, dass ihre kargen Recherchen ausreichen würden. »Sie haben vor allem die Aufgabe, sich um die vielen Maschinen der Klinik zu kümmern. Eigentlich ist das mehr eine Ingenieurstätigkeit. Es heißt nur noch nicht so.«
»Das klingt doch gut.« Anna ergriff Florians Hand, denn sie spürte, dass sie ihn noch überreden musste.
»Na gut, probieren wir es.« Florian war bewusst, dass er so gut wie keine Alternative hatte.
»Bist du mobil?« Andrea hatte sich vorab noch ein paar Fragen zurecht gelegt.
»In der Garage stehen ein paar Fahrräder.« Selma trug ein kleines Tablett herein und stellte es vor Andrea ab. »Davon könntest du dir erst einmal eines ausleihen.«
Anna streichelte nachdenklich Florians Arm. Sie blickte aus dem Fenster und fragte sich, ob sie wirklich das Richtige gemacht hatte. Sie hatten beide eine viel versprechende Zukunft in den Staaten ausgeschlagen, aber eine Zukunft, in der sie getrennte Wege hätten gehen müssen. »Aller Anfang ist schwer.«
Selma blickte Anna und Florian eindringlich an. »Ihr solltet das Angebot annehmen.«
* * *
Leonie hatte sich schon lange daran gewöhnt, dass sie bedingt durch die Ketten nur noch bestimmte Kleidungsstücke anziehen konnte. Doch es gefiel ihr, dass so stark in ihren Alltag eingriffen wurde.
Für den Besuch heute in der Schmiede sollte sie ihre Oberarme freilassen und einen Minirock tragen, da für ihre Ellenbogen und ihre Knie jetzt jeweils ein Kettenpaar angefertigt werden würde.
Leonie hatte sich schon mehrmals vor den Spiegel gestellt und ausprobiert, wie sie dann wohl aussehen würde und vor allem, wie viel Freiraum ihr dann überhaupt noch bleiben würde. Sie wusste nicht genau, ob sie sich vor den zusätzlichen Restriktionen fürchten oder sich darauf freuen sollte.
Wieder drehte sie sich vor dem Spiegel und fragte sich, ob ihr gewähltes Outfit wohl geeignet war, die Arbeiten in der Schmiede zu ermöglichen.
»Leonie, bist du fertig?« Die Stimme von Frau Mohr hallte durchs Haus.
Ein wenig seufzend setzte Leonie sich in Bewegung. Sie hatte sich schon lange daran gewöhnt, dass bei jedem Schritt von ihr die Ketten klirrten und ihren Aufenthaltsort verrieten. Auf eine Antwort verzichtete sie.
Doch als sie Frau Mohr zusammen mit Paul unten an der Treppe stehen sah, musste sie doch schlucken, und eine Träne lief ihre Wange herunter. Sie sah ein Hundehalsband mit einer dazu passenden Leine in der Hand ihrer Gastgeberin. Und Leonie wusste nur zu gut, dass Mohrs keinen Hund hatten. Das Halsband war für sie selbst.
»Leonie, freust du dich auf den Spaziergang?« Selma lächelte, doch dann wurde ihre Stimme unerwartet ernst. »Ich erwarte eine ehrliche Antwort.«
»Ich weiß nicht...« Leonie geriet ins Stocken. Doch auf einmal sah sie die Antwort direkt vor sich. »Ich wollte schon immer mal so präsentiert werden, das ist mir jetzt klar. Danke, dass sie es möglich machen.«
* * *
»Danke, ein guter Kaffee.« Der Chef der Zeitung stellte die Tasse weg, die ihm Anna gebracht hatte.
Anna lächelte verlegen. Eine Antwort blieb sie schuldig.
»Es war ein Test.« Er lächelte. »Andrea hat sicher schon davon erzählt?«
Anna verneinte.
»Bei uns ist jeder mit Kaffee kochen dran. Die Regel ist einfach: 'Wer den letzten Kaffee nimmt, muss die nächste Kanne kochen. Und deswegen testen wir unsere neuen Mitarbeiter.« Er blickte Anna an. »Nicht das sie denken, sie müssten hier nur Kaffee kochen.«
Annas Blick zeigte ihre Verblüffung. Die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, behielt sie lieber für sich. Denn sie ertappte sich selbst, wie sie dabei war, in die alten Erziehungsmuster ihrer Familie zurückzufallen. Eine Frau ihrer Familie musste nicht arbeiten, darum würden sich die zukünftigen Ehemänner kümmern. Sie als Tochter ihres Vaters hatte nur schön auszusehen.
Daraus zog Anna nun eine gewisse Motivation. Sie würde selbst arbeiten und sich so gegen den Willen ihres so übermächtigen Vaters stellen.
Doch dann seufzte sie. In einer deutschen Zeitungsredaktion gab es für eine Frau, die der Landessprache nicht mächtig war, nur wenige Arbeiten, die sie selbst ausführen konnte. Und Kaffee kochen gehörte leider dazu. Auch wenn der Chef ihr versicherte, dass er dies anders sehen würde.
»Andrea hat mich gebeten, ein wenig auf sie aufzupassen, bis sie von ihrer Mission zurückkommt.« Er lehnte sich zurück.
»Was muss ich denn so alles machen?« Anna war ein wenig nervös.
»Sie könnte mein bestes Pferd im Stall werden.« Der Redakteur spielte ein wenig mit einem Bleistift. Die Frage überhörte er bewusst.
Anna blickte ihn verständnislos an.
»Das ist eine deutsche Redewendung.« Er lächelte verlegen. »Alles, was sie anfasst, wird zu Gold.«
Wieder runzelte Anna die Stirn.
Er bemerkte, dass er nicht jede deutsche Redewendung ins Englische übersetzen konnte. »Sie hat mich um eine Assistentin gebeten, die für sie die Büroarbeit erledigen könnte.« Er seufzte. »Doch eine weitere Stelle ist einfach nicht drin.«
»Büroarbeit?« Anna sprach das Wort bewusst langsam aus.
»Es wäre gut, wenn sie schnell Deutsch lernen könnten.« Ihm war bewusst, dass dies sehr wichtigste Punkt für Annas Zukunft sein würde.
»Ich habe Französisch gelernt.« Auch wenn sie nicht hätte arbeiten sollen, war der Familie doch eine gute Ausbildung wichtig. »Aber Deutsch ist eine ganz andere Sprache.«
Der Chef machte sich eine Notiz. »Andrea ist gerade eine ganz heißen Sache auf der Spur.«»Seit ich sie auf das Fest angesetzt habe, leistet sie wirklich gute Arbeit.« Er lächelte und reichte ihr die Hand. »Ich hoffe, dass sie sie gut unterstützen können.«
* * *
»Hallo Maria, schön dass ihr da seid.« Theo und seine Verlobte begrüßten die kleine Gruppe in der Schmiede. »Paul, Leonie.«
»Danke, dass ihr euch für mich Zeit nehmt.« Maria war ein wenig verlegen.
Selma hatte die Schmiede darum gebeten, Leonie nicht unbedingt den Mechanismus zum Öffnen der Ketten zu zeigen. Entsprechend hatten Theo und seine Verlobte sich vorbereitet.
»Leonie, kommst du bitte zu mir?« Doris hatte sich mit ihrem kleinen Tischchen in die Nische verkrochen, so dass ihre Kundin der Schmiede den Rücken zukehren musste, wenn sie ihre neuen Ketten angemessen bekommen würde. »Bist du sicher, dass du das richtige tust?« Doris blickte Leonie verwundert an.
Leonie zögerte, denn sie wusste nicht, was sie antworten sollte.
»Wir hatten das auch ausprobiert, doch es hat mich zu sehr eingeschränkt.« Doris blickte verliebt zu Theo. »Ich war ihm gar keine Hilfe mehr.«
»Und zu langsam warst du auch.« Theo grinste.
»Ich hätte die nötigen Handgriffe alle neu lernen müssen«, seufzte Doris. »Und vieles wäre deutlich umständlicher geworden.« Wieder blickte sie Leonie ins Gesicht. »Bist du wirklich sicher, dass du das so haben willst?«
Leonie war deutlich verunsichert. »Frau Mohr hat es für mich ausgesucht.«
»Für mich wäre das zu heftig.« Doris schüttelte den Kopf.
Leonie kam ins Grübeln. Bisher war Doris ihr Vorbild gewesen, die so einen traumhaften Alltag in Ketten leben durfte. Doch das Ensemble, welches jetzt für sie ausgesucht war, war der Schmiedetochter zu streng. Leonie fragte sich, was für ein Weg wohl vor ihr liegen würde.
Natürlich wusste sie, dass ihr ein sehr bequemer Ausstieg zur Verfügung stand. Aber der Preis dafür war hoch, verdammt hoch. Leonie wollte ihr gerade entdecktes Paradies so schnell nicht aufgeben. Und bis zum Beginn des nächsten Semesters war noch so viel Zeit.
»Wo ist das Problem?« Theo begriff, dass er einschreiten musste. »Die Sachen sind bestellt, und eine Anzahlung wurde geleistet, also werden wir sie anfertigen. Doris, mache deine Arbeit.«
Er klappte eine schwarze Eisenleiste herunter, die Maria bisher für eine Zierleiste gehalten hatte, dann zog er an Leonies Halsband und bat sie, ganz dicht an die Stange heran zu treten. Gleich darauf wurde das Halsband an der Stange eingeklinkt. Leonie war auf einmal wie hypnotisiert. Sie ließ danach alles mit sich machen.
»Maria, wie geht es dir mit den Ketten?« Theo kam wieder zum eigentlichen Anlass des Besuches. »Gibt es bisher Probleme?«
Maria verneinte. »Alles bestens.« Mrs. Potter hatte ihr die Ketten wie von der Schmiede gewünscht am frühen Morgen angelegt, damit sie in der Schmiede eventuelle Probleme mit der Passform erkennen konnten.
»Zeig mir bitte zunächst mal den rechten Arm.« Theo öffnete die Schelle, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Leonie nicht zuschauen konnte.
Maria bemühte sich, ihren Arm still zu halten, während Theo damit beschäftigt war ihn zu inspizieren. Dankbar spürte sie, wie Paul ihr die Hand auf die Schulter legte.
Theo nahm Marias befreites Handgelenk in die Hand und betrachtete es ausführlich. »Doris, du hattest Recht. Am Scharnier müssen wir noch nacharbeiten.«
Maria war verwundert. »Ich spüre da doch gar nichts?«
Theo drehte ihren Arm ein wenig und zeigte ihr eine ein wenig gerötete Stelle. »Siehst du das hier? Wenn du es lange trägst, wird es weh tun.«
Maria wollte erst widersprechen, doch dann fiel ihr Blick auf Doris und ihre von Eisen umspannten Handgelenke. Sie erkannte, dass Theo und seine Verlobte ihre Arbeit anscheinend mit großem Ernst betrieben.
Er kontrollierte auch die anderen drei Schellen und ging dann schließlich mit den Ketten zu seiner Werkbank.
Leonie verfolgte die Unterhaltung mit großer Aufmerksamkeit. Theo schien ganz genau zu wissen, was er tat und wie er die Ketten anzufertigen hatte, damit sie die Trägerin wirklich lange tragen konnte. Leonie fühlte es an ihrem eigenen Körper, die Ketten hatten nirgends Spiel und saßen doch fest und sicher.
* * *
»Und was wollen sie nun von mir?« Der Chefarzt Albert Vogel wischte sich den Schweiß von der Stirn. Andrea Baseling hatte ihn gerade mit ihrem Wissen konfrontiert, dass Sophies Krankenakten offensichtlich manipuliert waren. »Wollen sie Geld?«
»Meine Güte, nein.« Andrea versuchte ein wenig zu schauspielern. »Ich möchte sie nicht erpressen.« Innerlich lächelte sie, denn genau das tat sie gerade. »Aber sie könnten einem jungen Mann etwas helfen.«
»Um was geht es?« Albert Vogel hatte in Gedanken schon mal sein Barvermögen abgeschätzt, zumindest den Anteil, an den er kurzfristig herankommen würde.
»Ein ausgebildeter Maschinenschlosser sucht eine Arbeit.« Sie wusste von der Aussichtslosigkeit von Florians Jobsuche. »Er hat es allerdings in Amerika gelernt und spricht kein Deutsch.«
Langsam dämmerte es Herrn Vogel, was Andrea tatsächlich vor hatte. Sie benutzte ihr Wissen über Manipulationen an seiner Klinik, um jemand anders Arbeit zu verschaffen. Er war von ihrem selbstlosen Einsatz beeindruckt. Auf einmal hatte er eine Idee. »Wenn sie einen Moment warten, dann habe ich vielleicht sogar etwas für sie.« Er telefonierte kurz.
Ein paar Minuten später betrat ein älterer Herr das Zimmer. »Herr Meyer, sie hatten doch geklagt, dass die Personalsituation in ihrer Mannschaft etwas angespannt ist.«
»Das ist noch höflich formuliert.« Er hatte bemerkt, dass eine Dame im Zimmer war, sonst hätte er es anders gesagt. »Einer ist im Urlaub und zwei Leute sind krank geworden.«
»Ich hätte einen gelernten Maschinenschlosser für sie.« Er blickte kurz zu Andrea. »Er spricht aber nur Englisch.«
»Und den soll ich einstellen?« Herr Meyer war nicht begeistert.
»Sehen sie es als erweiterte Probezeit.« Albert Vogel war jetzt von seiner Idee schon angetan. »Erst mal drei Monate Probe wie üblich, und wenn er sich ein Jahr lang bewährt, dann bieten wir ihm die Übernahme an.«
»Na gut, probieren wir es.« Herr Meyer hatte wenig Lust, mit seinem Chef zu diskutieren.
Albert Vogel wandte sich an Andrea. »Sagen sie ihm, dass er sofort anfangen kann.«
Andrea hätte zwar gern noch dafür gesorgt, dass er auch ein vernünftiges Gehalt bekommen würde, doch sie fühlte, dass sie den Bogen nicht überspannen durfte. »Ich danke ihnen für ihre Hilfe.« Sie verabschiedete sich.
* * *
Sophie hatte in dem Karton, den ihr Cousin vorbeigebracht hatte, auch etwas zu schreiben gefunden, und so machte sie sich nun daran, die Liste mit den Leuten niederzuschreiben, bei denen sie sich entschuldigen wollte. Bisher hatte sie die Liste nur im Kopf erstellt.
Ganz nach oben setzte sie den Butler ihres Vaters, denn er hatte wohl am Meisten und auch am Längsten unter ihren Launen zu leiden gehabt.
Sie musste zu ihrer eigenen Enttäuschung nicht lange nachdenken, und die Liste füllte sich rasch. Zumindest solange sie den Stift halten konnte. Sie musste immer wieder kleine Pausen machen, weil ihre Finger- und Handmuskeln die Belastung noch nicht gewohnt waren.
Während einer dieser Pausen überlegte sie, ob sie ihren Vater auch mit auf die Liste setzen sollte, schließlich hatte sie ihm den ganzen Schlamassel zu verdanken. Doch dann kam sie zu der Einsicht, dass es wohl von ihr selbst ausgegangen war und sie mehr oder weniger selbst ihren Vater mit ihrem Verhalten zu dieser Handlungsweise gezwungen hatte.
Sie machte sich auch noch eine zweite Liste mit den Sachen, die sie, falls sie jemals aus diesem Keller befreit wurde, anders machen wollte. Ganz oben stand der sonntägliche Gottesdienst, den sie ab sofort immer besuchen wollte.
Die Arbeit mit den beiden Liste hatte noch einen anderen Zweck, sie diente Sophie dazu, sich abzulenken. Abzulenken von dem Schicksal, welches heute Abend in Gestalt ihres Michaels auf sie warten würde. Obwohl sie es eigentlich verhindern wollte, ging ihr doch fast jede einzelne Demütigung durch den Kopf, die sie ihm angetan hatte. Er würde sie lange quälen, lange und grausam.
* * *
»Na, wie war es in der Schmiede?« Selma saß auf der Bank neben der Haustür und musterte Leonie, die etwas nachdenklich das Gartentor öffnete.
»Donnerstag wird es fertig sein.« Sie berichtete, dass bei ihr nach Marias Inspektion wieder die Gipsbinden zum Einsatz kamen. »Sie haben einen Abdruck von meinen Armen und Beinen gemacht.«
Selma nickte wissend. »So können sie ganz genau arbeiten, damit es gut passt und lange tragbar ist.« Unterschwellig klang etwas Sehnsucht in ihren Worten mit, die Leonie allerdings nicht bemerkte.
»Es wird wohl sehr streng werden.« Sie war etwas nachdenklich. »Doris hat gesagt, dass ihr diese zusätzlichen Fesseln zu streng wären, sie könnte dann nicht mehr arbeiten.«
»Das hat sie gesagt?« Selma hatte Probleme, ihre neutrale Miene zu bewahren. Insgeheim war sie fasziniert davon, wie sehr Leonie sich mit den Gedanken an ihre mögliche Zukunft zu befassen schien. Sie fühlte, dass sie darauf aufsetzen konnte. »Bis Donnerstag ist es noch lange hin, bis dahin hätte ich noch etwas anderes Gemeines, um dir den Alltag schwerer zu machen. Möchtest du es ausprobieren?«
Leonie seufzte. Schon wieder musste sie eine Entscheidung für ihren Alltag treffen, ohne dass sie konkret wusste, auf was sie sich einlassen würde. Sie äußerte ihre diesbezüglichen Bedenken.
»So sind die Spielregeln.« Selma lächelte in sich hinein. Sie liebte es, so mit den Gefühlen junger Mädchen zu spielen. »Du weißt, dass du jederzeit Nein sagen kannst und es damit beenden kannst.«
»Aber zu welchem Preis?« Leonie stöhnte. Sie wusste, dass sie dann das Haus verlassen musste und das wollte sie auf gar keinen Fall. »Okay, ich bin einverstanden.«
»Sie liegen auf dem Küchentisch.« Selma zeigte zur Haustür. »Magst du sie holen?«
Leonie seufzte noch einmal, dann ging sie ins Haus. Oberflächlich fürchtete sie sich vor dem Kommenden, doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie es genau so haben wollte.
Auf dem Küchentisch lag ein Gewirr von Metallstangen, Lederriemen und kleinen runden Scheiben. Auf den zweiten Blick erkannte Leonie, dass es sich um Beinschienen handelte. Sie hatte so etwas schon einmal auf Fotos gesehen, und sie hatte sich damals schon gefragt, wie es wohl sein würde, wenn sie diese Geräte einmal tragen würde. Natürlich kannte sie den Zweck dieser Schienen, sie dienten dazu, das Kniegelenk zu entlasten und nur kleine Bewegungen zu erlauben. Sie war damals ins Träumen geraten, wie es wohl wäre, wenn die Schienen ganz fest eingestellt wären, und jetzt ahnte sie, dass sie es gleich erfahren würde.
Mit zitternden Händen griff sie auf den Tisch und nahm sich die Foltergeräte in die Hand. Sie wusste, dass sie sie gleich an ihren Beinen tragen würde, und sie war sich nicht sicher, ob sie sich wirklich darauf freuen sollte.
Selma erwartete sie schon. »Es ist am besten, wenn du sie dir selbst anlegst. Ich passe nur auf, dass du es auch richtig machst.«
Leonie wusste, dass jeglicher Widerspruch zwecklos war. Seufzend setzte sie sich auf die Bank neben Frau Mohr und nahm eine der Schienen zur Hand. Sie blickte sie nur kurz an, dann begann sie sie um ihren Oberschenkel zu legen. »So ist es richtig?« Schließlich hatte sie ja schon auf dem Foto damals gesehen, wie es zu tragen war.
Selma sah sehr fasziniert zu, wie Leonie sich selbst die Beinschienen anlegte. »Du kennst dich damit aus?« Sie war ein wenig überrascht.
»Ich habe sie mal auf einem Foto gesehen.« Leonie wusste, dass sie Farbe bekennen musste. »Und sie haben mich schon damals fasziniert. Ich habe immer schon davon geträumt, einmal solche Schienen tragen zu dürfen.« Sehr schnell legte sie sich auch die zweite Schiene an.
Selma reichte Leonie wortlos zwei offene Schlösser. Die Schienen waren eine Spezialanfertigung, die man an einer Stelle so verschließen konnte, dass sie ohne entsprechenden Schlüssel nicht mehr abnehmbar waren.
Leonie verkniff sich jede Regung, als sie die Schlösser entgegen nahm. Doch innerlich war sie wild aufgewühlt. Wieder ging ein von ihr lange gehegter Traum in Erfüllung. Mit ruhiger Hand verschloss sie beide Beinschienen.
»Magst du mal etwas umher gehen?« Selma wollte einfach sehen, wie gut Leonie damit klar kommen würde.
Leonie stand auf und stellte fest, dass sie ihre Beine noch ganz normal bewegen konnte. Fast wäre sie enttäuscht gewesen, doch sie ahnte, dass Selma noch einen Trumpf im Ärmel haben würde.
»Jetzt komme mal her und zeige mir deine Knie.« Selma hatte Mühe, ihre Erregung zu verbergen. Sie hatte eigentlich schon nicht mehr damit gerechnet, noch einmal so ein Vergnügen genießen zu dürfen.
Leonie kam langsam näher. Sie ahnte noch nicht, was kommen würde.
»Stehst du bequem?« Fragte Selma noch einmal, dann griff sie nacheinander an die beiden Scheiben an den Kniegelenken.
Leonie hörte zweimal ein leises Klick. Noch begriff sie nicht, was gerade passierte. Oder sie wollte es nicht erkennen. Doch als sie dann wieder ein paar Schritte machen wollte, stellte sie zu ihrem Erstaunen fest, dass sie ihre Knie nicht mehr beugen konnte. Sie begann leise zu stöhnen.
»Siehst du den schwarzen Knopf an der Seite? Ich erlaube dir, ihn zu benutzen, wann immer du es brauchst.« Selma blickte zu Boden, um ihre tatsächlichen Gefühle zu verbergen.
Doch Leonie war ohnehin viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um darauf zu achten. Mit zitternder Hand drückte sie auf den Knopf und stellte fest, dass sie jetzt ihr Bein bewegen konnte.
»So kannst du es in einer anderen Haltung fixieren, wenn du dich zum Beispiel mal setzen möchtest.« Selmas Stimme wurde ernst. »Aber vor einem möchte ich dich ausdrücklich warnen. Wenn ich dich auch nur einmal dabei erwische, wie du die Sperre ganz heraus nimmst, dann setzte ich das mit dem Wusch nach Befreiung gleich und du wirst uns verlassen.«
Leonie begriff auf einmal den Ernst der Lage. Sie richtete sich auf und wurde fast so etwas wie feierlich. »Ich werde brav sein.« Sie drückte die beiden schwarzen Knöpfe, um sich setzen zu können.
Selma wartete ab, bis sie wieder neben ihr saß. »Du hast gemerkt, dass du dafür deine Hände gebraucht hast.« Sie wartete einen Moment, bis Leonie die ganze Tragweise des Satzes begriffen hatte.
»Das erfordert ja noch viel mehr Planung.« Leonie stöhnte.
»Du möchtest dich sicher dafür bedanken.« Selma hatte Mühe, ihr Gesichtsausdruck nicht zu verändern.
»Danke Frau Mohr, dass ich diese tollen Beinschienen tragen darf.« Sie schluckte. »Und auch dafür, dass sie mir meinen Alltag so mühsam machen.« Es kostete sie zwar Mühe, doch sie wollte einmal ihre Gedanken aussprechen, denn immerhin war es ein schon lange gehegter Wunsch von ihr.
* * *
Kommissar Klüver wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Reporterin Andrea Baseling hatte Anzeige erstattet gegen den Baron von Harsumstal wegen Freiheitsberaubung an seiner Tochter. Sie hatte viele Indizien und Vermutungen zusammengetragen, doch stichhaltige Beweise hatte sie bisher nicht geliefert.
Schließlich wäre es Aufgabe der Polizei, solchen Anfangsverdachten nachzugehen und sie auf Stichhaltigkeit zu überprüfen, hatte sie noch hinzugefügt.
Doch wie sollte Klüver ihm gegenübertreten? Der Baron war in der Gemeinde hoch angesehen, und ein formelles Ermittlungsverfahren gegen ihn würde viel Staub aufwirbeln, insbesondere so kurz vor dem Fest. Schließlich wusste er, wie er es machen würde.
Er ging zu seinem Chef. »Ich habe ein großes Problem.« Er holte tief Luft, dann schilderte er den Fall. »Ich möchte, dass sie mir einen Fall entziehen, weil ich befangen bin. Ich kenne den Baron schon seit der Schule, und ich denke, dass ich das nicht neutral bearbeiten könnte.«
»Ich bin froh, dass sie gleich zu mir gekommen sind.« Der weißhaarige Chef gab sich verständnisvoll. »Ich werde den Fall an die Nachbarstadt übertragen. Dort sind sie neutral.«
Klüver war sichtlich erleichtert.
»Machen sie jetzt aber bloß nicht den Fehler, den Baron zu warnen.« Der Chef blickte ihn mahnend an.
»Natürlich nicht.« Klüver hatte Probleme zu verbergen, dass er genau das vorgehabt hatte. Er verabschiedete sich.
Der Chef griff zum Telefon und wählte eine Nummer. »Grüß dich, Fritz«, sagte er zur Begrüßung, doch dann zeigte seine Stimme etwas Nervosität. »Wir haben da einen ganz heiklen Fall.«
Fritz Baseler hatte die Ermittlungen persönlich übernommen, nachdem ihm die Beamten vom Nachbarrevier die Unterlagen hatten zukommen lassen. Für ihn war die Beweislage ausreichend, und er hatte auch schon den Haftbefehl vom Staatsanwalt bekommen. Jetzt waren er, sein Kollege und ein Streifenwagen auf dem Weg zum Schloss.
Baron von Harsumstal saß in seinem Arbeitszimmer und sah die beiden Wagen in den Schlosshof fahren. Er wusste, dass der Besuch der Polizei nichts Gutes bedeuten konnte, doch er hoffte, dass sie nur ein paar neue Fragen haben würden. Er musste nur noch drei Tage durchhalten. Für Donnerstag hatte er den Notar zur Generalprobe eingeladen, damit dieser sich von den Talenten von Maria Beller überzeugen konnte. Er hatte keine Zweifel, dass er dann gleich über das Geld verfügen durfte.
»Da sind zwei Herren von der Polizei.« Der Butler meldete die Beamten wie üblich an, ohne das Gesicht zu verziehen.
»Bitten sie sie herein.« Es ärgerte ihn, dass er nie erkennen konnte, was sein Butler wirklich dachte.
»Danke, wir kommen schon zurecht.« Kommissar Baseler drängte den Butler beiseite. Kommissar Klüver vom Nachbarrevier hatte ihn diesbezüglich gewarnt.
»Baron Harsumstal, wir verhaften sie wegen des Verdachtes, einen Unfall vorgetäuscht und ihre Tochter entführt zu haben. Sie ist spurlos verschwunden.« Er zeigte den Haftbefehl vor. »Kommen sie freiwillig mit?«
Der Baron war bemüht, trotz der Umstände Würde zu zeigen. Langsam stand er auf. Insgeheim hatte er damit gerechnet, auf diese Weise aus dem Verkehr gezogen zu werden. »Bitte sagen sie meinem Anwalt Bescheid.« Er war sich sicher, dass sie keine stichhaltigen Beweise gegen ihn haben konnten. Sein Anwalt würde ihn sicher sofort wieder da herausholen. Es waren nur noch drei Tage, die er warten musste. »Wir können gehen.«
Kommissar Baseler war verblüfft. Er hatte mit etwas Widerstand gerechnet. »Dann gehen wir.«
Auf einmal fiel dem Baron siedend heiß ein, dass der Wagen, mit dem Sophie angeblich den Unfall hatte, noch völlig unbeschädigt in der Garage stand.. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, sich von dem Wagen zu trennen. Zu Geld machen wollte er ihn aber auch nicht, das hatte er für zu auffällig gehalten. Er würde einfach die Zeugenaussagen in Frage stellen, falls es die überhaupt geben sollte.
Er war sich trotzdem ziemlich sicher, dass sie ihm nichts nachweisen konnten, vorausgesetzt, sein Neffe würde seine Rolle spielen. Er hatte ihm diesbezüglich Anweisungen zukommen lassen.
* * *
Leonie und Anna mussten nicht lange warten, dann kam auch Florian von seinem ersten Arbeitstag nach Hause.
»Wie war es?«, wollte Anna sofort wissen. Sie erkannte, dass ihr Mann einerseits genervt, andererseits aber auch ziemlich zufrieden war.
»Es hat ewig gedauert, bis wir die Maschine wieder ans Laufen gebracht haben.« Er stöhnte ziemlich. »Die Klinik ist sehr primitiv ausgerüstet. Mit dem richtigen Werkzeug hätten wir das auch in Minuten geschafft.«
Anna war erleichtert. »Du konntest also helfen?«
»Entschuldige, mein Schatz.« Florian kam langsam wieder zu sich und begriff, was seine Frau wirklich hören wollte. »Sie haben mich mit offenen Armen aufgenommen, und ich konnte mich sofort sehr nützlich machen. Die Maschine war schon seit Wochen kaputt, und sie haben es bisher nicht geschafft, sie wieder zu reparieren.«
»Und du hast es geschafft?« Anna war aufgeregt.
»Sie waren so dankbar, dass sie mich gleich beim Chef vorgestellt haben.« Florian grinste ein wenig. »Wenn ich weiterhin so erfolgreich bin, dann will er die Probezeit auf ein halbes Jahr verkürzen.«
Anna fiel ihm um den Hals. »Ich bin so froh.«
»Und wie war dein Tag bei der Zeitung?« Florian erinnerte sich daran, dass auch seine Frau jetzt so etwas wie einen Job hatte.
»Sehr spannend.« Sie wurde etwas leiser. »Heute wurde der Baron verhaftet. Er soll seine Tochter aus dem Weg geräumt haben.«
»Ich störe die Wiedersehensfreude nur sehr ungern, doch wir sollten gehen, wenn wir noch rechtzeitig auf dem Amt sein wollen.« Leonie drängte zum Aufbruch. »Habt ihr die Papiere?«
»Hier ist alles drin.« Anna zog eine dicke Mappe aus ihrer Tasche und hielt sie kurz hoch.
»Dann lasst uns gehen.« Leonie ging zur Tür.
»Und du willst wirklich mit den Ketten und den Beinschienen durch die Stadt und aufs Amt?« Florian war sehr verwundert.
»Das erkläre ich euch unterwegs.« Leonie verdrehte die Augen. »Wir verpassen sonst den Bus.«
»Wir waren extra auf der Polizeistation und ich habe eine Bescheinigung, dass ich bis zum Fest die Ketten tragen darf.« Leonie hatte sich an die seltsamen Blicke und das Getuschel der Leute im Bus gewöhnt. Die Freude darüber, in aller Öffentlichkeit die Ketten tragen zu dürfen, war größer. Außerdem hatte sie außer Paul und Maria keine Bekannten in dieser Stadt, so dass sie sich auch nicht hätte verraten können. Und ihr näheres Umfeld war die fesselnden Aspekte ihrer Ketten sowieso gewöhnt. Nur an die Beinschienen hatte sie sich noch nicht so richtig gewöhnt. Sie fluchte mehrmals, als sie versuchte, ihre Beine wie bisher zu benutzten. Lediglich die HighHeels, die Maria ihr geliehen hatte, brachten ihr etwas Erleichterung beim Gehen.
»Was machst du, wenn das Fest vorbei ist?« Anna klammerte sich wegen einer Kurve an der Haltestange fest.
»Dann werde ich mich wieder meinem Studium widmen.« Sie verdrehte die Augen. »Psychologie.« Sie lachte. »Ich werde mal mein bester Kunde.«
Florian blickte Leonie verwundert an, doch eine Frage stellte er nicht.
»Nun ja, es muss ja einen Grund haben, warum wir Wolkenberg-Frauen so fesselverrückt sind.« Sie zeigte an sich herunter und lachte. »Nächste Station müssen wir aussteigen.«
Auf dem Rathaus mussten sie zu ihrer Überraschung gar nicht lange warten. Kurz nachdem sie sich angemeldet hatten, wurden sie auch schon hereingebeten.
Leonie zeigte zunächst ihre Bescheinigung vor und erklärte, dass sie für Anna und Florian übersetzen würde, weil diese kein Deutsch konnten.
»Welche Sprachen sprechen sie denn?« Die Angestellte warf einen Blick in die Papiere, die Anna und Florian vorgelegt hatten. »Englisch vermute ich?«
Leonie bestätigte es.
Zur allgemeinen Überraschung sprach die Sachbearbeiterin dann auf Englisch weiter. »Ich freue mich, dass ich meine Sprachkenntnisse mal wieder einsetzen kann. Das kommt hier auf dem Rathaus eher selten vor.«
Insgeheim war Leonie erleichtert, dass sie nicht übersetzen musste. So konnte sie ihren Auftritt in Ketten noch besser genießen und musste sich nicht auf ihre Sprachkenntnisse konzentrieren.
Es waren zwar viele Formulare auszufüllen, und Anna und Florian mussten diverse Unterschriften leisten, doch ansonsten verlief der Aufenthalt auf dem Amt ohne weitere Schwierigkeiten. Anscheinend hatte Marias Mutter die Papiere, die sie dem Paar mitgegeben hatte, gut vorbereitet. Nach einer halben Stunde standen sie wieder auf der Straße und warteten auf den Bus.
»Schade, dass es so schnell vorbei war.« Leonie wackelte etwas mit den Ketten.
»Mir hat es gelangt.« Anna stöhnte. »Ich hatte immer Angst, sie würden etwas merken.«
»Ich denke, wir sind hier in Sicherheit.« Florian legte den Arm um seine Frau. »Und jetzt wurde auch unsere Trauung anerkannt.«
»Wir sollten uns beeilen.« Leonie sah auf die Rathausuhr. »Ich glaube, Frau Mohr erwartet uns zum Kaffee.«
»Na, Leonie?« Selma begrüßte sie schon an der Haustür. »Hast du deinen Auftritt genossen?«
»Sehr, Frau Mohr!« Leonie war begeistert. »Sehr.«
* * *
Auf der Kommode lag etwas, und es war mit einem weißen Tuch abgedeckt. Leonie hatte es sofort bemerkt und war deswegen während der gemeinsamen Kaffeetafel mit ihren Gästen sichtlich nervös.
Anna und Florian hatten Leonies Unruhe durchaus bemerkt, doch sie wussten nicht, wodurch sie verursacht wurde. Auf jeden Fall wollten sie sich für die Hilfe auf dem Amt und vor allem auf dem Weg dahin bedanken. »Allein hätten wir da nie hingefunden.«
Leonie gab sich bescheiden. »Habe ich doch gern gemacht.« Dass sie ihren Auftritt mehr als genossen hatte, wollte sie in diesem Moment nicht zugeben.
Selma beobachtete sie heimlich und ergötze sich an der wachsenden Anspannung des Mädchens. Schließlich gab sie sich einen Ruck. »Leonie, du darfst nachsehen, was sich unter dem Tuch befindet.«
Leonie war so aufgebracht, dass sie fast hingefallen wäre, als sie ihre Beinschienen realisierte. Sie brachte ihre Beine in Gehposition, dann ging sie mit zitternden Händen zu der Kommode und hielt den Atem an, als sie langsam das Tuch hoch hob.
Sie wäre fast umgefallen, als sie erkannte, dass es zu den Beinschienen passende Armschienen waren. Sie erkannte sofort, dass auch ihre Armgelenke in Zukunft fixiert sein würden. »Aber das ist unfair«, entfuhr es ihr ganz gegen ihren Willen.
»Jetzt probiere sie doch erst einmal aus.« Selma genoss den Moment sehr. »Außerdem funktionieren sie anders.« Sie wartete, bis Leonie die Schienen in die Hand genommen hatte. »Das sind Federn drin, die deine Arme immer wieder zurückziehen werden. Wenn du eine andere Haltung einnehmen willst, musst du etwas Kraft aufbringen.« Sie beugte sich etwas vor. »Komm, lass sie dir anlegen.«
Leonie seufzte, dann reichte sie Selma die Gerätschaften und streckte ihre Arme aus. In ihr loderte wildes Feuer, denn ihr gefiel der Gedanken, dass fast jedes Gelenk von ihr unter fremder Kontrolle stand. Sie stöhnte, als sie spürte, wie sich das Leder um ihre Arme legte.
»So, das war es schon.« Selma lehnte sich zurück. »Wie gefällt es dir?«
Etwas misstrauisch begann Leonie ihre Arme zu bewegen. Nach und nach hellte sich ihre Miene auf. »Das wird mühsam.« Sie keuchte, doch gleichzeitig leuchteten ihre Augen.
* * *
Je weiter die Zeit fortschritt, desto nervöser und angespannter wurde Sophie. Ihre Verzweiflung über ihre Situation wuchs genauso, wie ihre Kraft abnahm.
Sie hätte auch gern ihre Gedanken abgeschaltet, doch ihr Gewissen erinnerte sie immer wieder an das, was sie heute Abend erwarten würde. Und sie wusste trotz ihrer Verzweiflung, dass es nur gerecht sein würde.
Sie hatte ihn immer zurückgewiesen, weil sein Vater nur ein einfacher Maurer war. Obwohl sie wusste, wie vernarrt er in sie war.
Das rächte sich jetzt. Sie wusste, dass sie sich jetzt nicht mehr gegen ihn würde wehren können. Das war ein Teil der Strafe, die sie jetzt über sich ergehen lassen müsse.
Sophie hatte erst daran gedacht, ein Schlafmittel zu benutzten, doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Erstens hatte sie keines, und zweitens würde sie es nur noch weiter hinauszögern. Besser jetzt ein Ende mit Schrecken als ein fortwährendes Leben in Angst.
Und es gab auch noch weitere Demütigungen, die auf sie warteten. Er würde sehen, dass sie sich von Dosenravioli ernährte. Früher konnte es nicht anspruchsvoll genug sein, und jetzt aß sie Nudeln in Tomatensoße aus einer Dose.
Mit etwas Wehmut dachte sie an die schöne Stimmung von Sonntag Mittag, wie sie sich selbst den Tisch gedeckte hatte und dann eine warme Mahlzeit genießen durfte. Sie war so stolz auf sich gewesen. Bis ihr Cousin vorbei kam und ihr die niederschmetternde Nachricht überbrachte.
Um ihr Leben fürchtete sie nicht, doch viel tiefer als jetzt konnte sie auch nicht mehr sinken.
* * *
Franz-Ferdinand ging gut gelaunt zum Schloss seines Onkels. In wenigen Tagen würden die im Moment sehr drückenden Probleme gelöst sein. Doch dann sah er die Miene des Butlers, und sofort wusste er, dass etwas Einschneidendes passiert sein musste. Es wunderte ihn ein wenig, denn sonst zeigte der Butler so gut wie nie irgendwelche Gefühlsregungen. »Was ist passiert?«
»Die Polizei hat gerade ihren Onkel verhaftet.« Die Stimme des Butlers zeigte, wie sehr er davon betroffen war.
Franz-Ferdinand verzichtete auf die Frage nach dem Warum. Er konnte es sich denken. »Hat er etwas für mich hinterlassen?«
»Ah, gut dass sie fragen.« Der Butler drehte sich um und griff zu einem Umschlag, welcher auf der Kommode lag. »Das hier soll ich ihnen geben, falls ihm etwas zustoßen würde.«
Der Neffe bedankte sich, dann ging er in die Wohnung, die er im Schloss nutzen durfte. Er ließ sich in den Sessel fallen, dann riss er den Umschlag auf und begann zu lesen.
* * *
»Ich habe keinen Termin, aber ich müsste den Notar dringend sprechen.« Franz-Ferdinand stand im Vorzimmer des kleinen Notariats und versuchte, mit seiner Miene die Dringlichkeit zu unterstreichen.
»Ich werde mal sehen, ob er da ist.« Die Vorzimmerdame stand auf und ging zu einer imposant aussehenden Tür. »Um was handelt es sich?«
»Es geht um die Vorgänge des Katerinenfestes.« Der Neffe war sich unsicher, wie viel er überhaupt erzählen durfte.
»Einen kleinen Moment.« Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich.
Erst jetzt fiel Franz-Ferdinand auf, dass die Dame einen für ein Notariatssekretariat sehr kurzen Rock trug. Außerdem schätzte er sie noch sehr jung ein. Er fragte sich, ob sie wirklich schon zwanzig war.
Die Antwort bekam er ein paar Momente später, als sich die Tür wieder öffnete. »Mein Vater lässt bitten.«
Franz- Ferdinand blickte so verwundert auf die Notarstochter, dass diese sich zu einer Erklärung genötigt sah. »Ich mache hier nur eine Urlaubsvertretung. Ich studiere Jura.«
»Was kann ich für sie tun, Herr Schleithal?« Der Notar zeigte auf zwei gemütlich aussehende Sessel. »Ich habe gehört, ihr Onkel wurde verhaftet.«
Ein weibliches Räuspern unterbrach ihn. »Entschuldigen sie bitte.« Er blickte zu seiner Tochter, die immer noch in der Tür stand. »Bringst du uns bitte einen Kaffee, Sonja?«
»Gern.« Sonja deutete einen Knicks an, dann schloss sie die Tür.
»Meine Tochter.« Der Notar lächelte. »Manchmal übertreibt sie.«
Der Neffe des Barons wartete einen Moment, dann trug er sein Anliegen vor. »Ich wollte mich vergewissern, dass es bei der Auszahlung des Geldes bleibt oder ob die Verhaftung meines Onkels einen Einfluss darauf hat.«
»Ich dachte mir schon, dass solche Fragen kommen.« Der Notar lächelte professionell, ohne seine wahren Gefühle zu zeigen. »Ich habe mich daher noch einmal intensiv mit dem Testament befasst.«
Es klopfte und Sonja servierte den Kaffee.
Franz-Ferdinand nahm einen Schluck. »Es bleibt doch bei der Auszahlung des Geldes?« Er wiederholte seine Frage.
»Das Testament ist in dieser Beziehung eindeutig. Das Geld wird an die Darstellerin der Katerina ausgezahlt, wenn diese auf dem Ball das Gebet auf dem Rücken getragen hat.«
Der Neffe war mit der Antwort nicht zufrieden. »War da nicht noch etwas mit 25 und Heirat?«
»Das Geld wird auf jeden Fall ausgezahlt, aber nur, wenn die Darstellerin verheiratet ist, darf sie sofort darüber verfügen. Bis dahin verwaltet es der Vorsitzende des Festvorstandes.« Er machte eine deutlich Pause. »Formal ist das immer noch ihr Onkel, auch wenn die Baroness die Rolle nicht spielt.«
Franz-Ferdinand begriff, dass er hier beim Notar nichts weiter erreichen konnte. Außerdem war ihm bei der Nennung des Namens seiner Cousine ein fast unprofessioneller Unterton aufgefallen. »Ich danke ihnen, dass sie sich für mich Zeit genommen haben.« Er verabschiedete sich.
Beim Verlassen des Büros konnte er nicht umhin, noch einmal einen Blick auf die Tochter des Notars zu werfen. Mit dem schwarzen Rock, der ziemlich weit über dem Knie endete, der dunklen Strumpfhose und der weißen Bluse strahlte sie eine unschuldige Erotik aus, die atemberaubend war. Die langen blonden Haare taten ihr Übriges, um seinen Blick noch ein paar Sekunden gefangen zu halten.
* * *
Franz-Ferdinand war erstaunt, als er Michael am verabredeten Treffpunkt abholte. Er trug ein braunes Jackett zu einer schwarzen Anzughose, eine unmögliche Krawatte, und er hielt neben einer Tasche einen winzigen Blumenstrauß in der Hand. Es war gut zu erkennen, dass er in dieser Kleidung nicht zu Hause war. Der Neffe hatte Mühe, nicht zu lachen, denn sein Gegenüber sah fast wie ein Clown aus. Es fehlten nur noch die zu großen Schuhe.
»Endlich.« Michael war geradezu euphorisch, als er zu Franz-Ferdinand ins Auto stieg. »Ich habe mir all die Jahre ausgemalt, was ich tun werde, wenn ich ihr allein gegenüberstehe. Jetzt werde ich es genießen.«
Der Neffe wartete, bis sein Gegenüber sich angeschnallt hatte, dann fuhr er los. Eine Antwort gab er nicht.
Immer wieder warf Franz-Ferdinand einen Blick auf den Nachbarsitz. Wieso brachte jemand zu einer geplanten Vergewaltigung Blumen mit? Er fragte sich, was Sophie wohl von diesem Anblick halten würde. Auf den zweiten Blick sah er ja sogar recht ansprechend aus, doch so wie er seine Cousine einschätzte, würde es unter normalen Umständen keinen zweiten Blick geben. Sophie war in dieser Beziehung gnadenlos.
Insofern hatte er nicht einmal ein schlechtes Gewissen, denn Sophie hatte ihn und vor allem seinen Onkel ziemlich viel Mühe gemacht. Von ihrem völlig überheblichen Benehmen einmal abgesehen.
Natürlich interessierten sich viele Männer für Sophie, und alle, die Geld oder einen Titel vorzuweisen hatten, wurden in ihren Dunstkreis aufgenommen. Wem sie allerdings eine Nacht schenkte, entschied sie recht spontan. Doch Michael war nur der Sohn eines Maurers und damit weit weg von Sophies Niveau.
Franz-Ferdinand war durchaus bewusst, was dieser Besuch für seine Cousine bedeuten würde, doch er war der Meinung, dass sie für ihre Arroganz durchaus einmal zu bezahlen hatte.
Nur für einen Moment ging ihm durch den Kopf, dass mit der Verhaftung seines Onkels der Erpressungsversuch durch Michael eigentlich ins Leere lief, doch er verdrängte dies schnell wieder. Außerdem hatte seine Cousine ihren so aufdringlichen Verehrer schon so oft abgewiesen, es war einfach nur gerecht, wenn er jetzt doch noch eine Chance bekommen würde.
Je näher sie dem Schloss kamen, desto nervöser wurde Michael, und der Blumenstrauß, an dem er sich fast krampfhaft festzuhalten versuchte, wackelte immer stärker. Manchmal glaubte Franz-Ferdinand so etwas wie Sabbern bei Michael zu bemerken. Nur für einen kurzen Moment bedauerte er seine Cousine.
Erst als Franz-Ferdinand auf den Schlosshof fuhr, ergriff er wieder das Wort. »Ich muss dich aber mit ihr einschließen.«
Michael wurde deutlich sichtbar aus seinen Gedanken gerissen. »Es reicht, wenn du mich am nächsten Morgen abholst.« Er hob die mitgebrachte Tasche hoch. »Ich will mit ihr frühstücken.«
Franz-Ferdinand war in diesem Moment fassungslos und wieder fragte er sich, ob das,, was er vor hatte, wirklich richtig war.
* * *
Karin brachte die Neuigkeit mit zur extra für Anna angesetzten Probe. »Heute wurde der Baron verhaftet!«
»Weswegen?« Fritz war erstaunt. »Was wird ihm denn vorgeworfen?«
»Er soll seine Tochter entführt haben.« Es war Karin anzuhören, dass sie es noch für ein Gerücht hielt.
»Aber die war doch im Krankenhaus.« Fritz sprach seine Gedanken aus.
»Aber da ist sie jetzt nicht mehr«, Karin gab wieder, was sie von der Reporterin gehört hatte. »Sie sollte verlegt werden, doch im neuen Krankenhaus ist sie nicht angekommen. Es ist nicht bekannt, wo sie sich jetzt aufhält.«
»Jetzt lasst uns proben.« Fritz nahm sein Instrument zur Hand.
Anna erwies sich als sehr talentiert. Sie hatte den Geist der Stücke nach kurzer Zeit begriffen und übernahm stellenweise sogar die Führung.
Maria hatte Anna begleitet, damit sie ihr zu den einzelnen Stücken vielleicht noch den einen oder anderen Tipp geben könne, doch sie stellte erstaunt und mit einem leichten Anflug von Eifersucht fest, dass Anna sogar sehr viel besser Flöte spielte als sie selbst.
»Du rettest uns.« Karin saß neben ihr und beglückwünschte sie zu ihrem Talent.
Auch Fritz war sehr angetan. »Du rettest uns wirklich das Fest. Wir hätten unseren Auftritt sonst absagen müssen.«
»Habt ihr schon wegen des Kleides geschaut?« Fritz wandte sich an Karin. »Das Korsett muss ja nicht sein, aber ein passender Reifrock wäre schon schön.«
»Worum geht es?« fragte Anna auf Englisch. »Ich habe 'Korsett' verstanden.«
Karin nahm Anna beiseite. »Damit es gut aussieht, tragen wir Frauen ein Korsett unter dem Kostüm, weil es eine schlanke Taille macht und auch der Mode von damals entspricht. Aber damit ist es noch schwieriger, Flöte zu spielen, weil die Bauchatmung wegfällt.«
Anna hatte sich ein weites T-Shirt angezogen. Doch jetzt nahm sie die Hand von Karin und legte sie auf ihren Bauch. Sie schämte sich zwar, dass sie immer noch Kleidung der Familie trug, und nur, weil Marias Mutter sie darum gebeten hatten, trug sie weiterhin die Korsetts.
»Lass uns kurz mal nach den Röcken schauen.« Karin war auf einmal sehr zuversichtlich.
* * *
»Ah, hier seid ihr.« Robert Greinert hatte ein besorgtes Gesicht, als er den Probenraum betrat. Er wandte sich an Maria. »Deine Erzieherin wusste nicht genau, was ihr vorhattet.«
Maria übersah den unterschwelligen Vorwurf. »Wir begleiten Anna zu ihrer Probe mit der Barock-Pfeifern.« Doch dann bemerkte sie seinen Gesichtsausdruck. »Was ist passiert?«
»Wie ihr sicher schon wisst, wurde der Baron verhaftet.« Er warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. »Es ist sehr wahrscheinlich, dass er deswegen für das Fest ausfällt.« Er machte eine bedeutsame Pause. »Morgen möchte ich eine große Versammlung abhalten, um zu besprechen, wie es weitergehen soll. Und heute wollte ich mit euch und Renate besprechen, an was wir alles zu denken haben.«
»Ah, hier seid ihr.« Renate Bayer steckte den Kopf zur Tür herein. »Wie soll es jetzt weitergehen?«
»Was gibt es eigentlich zu besprechen?« Maria drängte sich ein wenig vor. »Das Fest wird doch stattfinden, oder?«
»Ich hatte kurz einmal über eine Absage nachgedacht.« Robert Greinert gab sich etwas resigniert. »Erst die Hauptdarstellerin, und jetzt auch noch der Vorsitzende.«
»Das darfst du aber nicht machen.« Renate war enttäuscht. »Denk doch nur, wie ganz Landsbach darauf hin fiebert.«
»Lasst uns nach nebenan gehen, dann stören wir die Musiker nicht.« Robert öffnete die Tür zum Nachbarzimmer.
* * *
Sophie hatte das Auto in den Hof rollen hören, und gleich darauf nahm sie die Schritte von zwei Männern wahr, die immer näher kamen. Sie hatte oft nachgedacht, wie sie Michael empfangen sollte. Sie könnte sich wehren und dabei ihre so mühsam zurückerlangten Kräfte vergeuden. Oder sie würde einfach alles über sich ergehen lassen, dann würden ihre Kräfte vielleicht noch reichen, sich danach zu waschen.
Ihr Cousin hatte ihr einige Kosmetika mitgebracht und sie aufgefordert, sich hübsch für ihn zu machen, doch das hatte sie völlig ignoriert. Es war nur ein ganz kleiner Strohhalm zum daran Festklammern, doch vielleicht war er von ihrem Äußeren so abgestoßen, wenn sie ihm so wie sie war unter die Augen treten würde.
Sie hatte nur einmal in den Spiegel geschaut und ihn sofort voller Abscheu wieder beiseite gelegt. So wie sie war, hätte sie keinem mehr unter die Augen treten können. Natürlich hätte sie sich zumindest ihre zerzausten Haare bürsten können, doch tief in ihrem Inneren spürte sie, dass sie das Recht auf Schönheit mit ihrem bisherigen Verhalten verspielt hatte.
Sie hatte sich schon bald nach dem Mittagessen auf das Bett gelegt, und hatte immer wieder darüber gegrübelt, dass sie diese offensichtliche Strafe verdient hatte. Umso mehr, als sie Michael nicht einmal auf die Liste der Leute gesetzt hatte, bei denen sie sich entschuldigen wollte.
Als sie die Geräusche der Tür hörte, schloss sie die Augen. Vielleicht würde es wenigstens schnell gehen, dachte sie noch, doch dann verwarf sie den Gedanken. Er würde sie lange leiden lassen, und Michael würde sein Werkzeug sein. Trotzdem wusste sie, dass sie sich auch für diese Strafe bei ihm mit einem Gebet bedanken würde. Denn er war gerecht.
* * *
Robert Greinert wartete, bis alle im Raum waren, dann schloss er die Tür. »Was müsste denn alles geändert werden?« Die Frage stellte er kurz in den Raum.
»Eigentlich hat er ja keine Rolle im Spiel.« Maria dachte laut, nachdem sie sich gesetzt hatten.
»Ja, er macht jeweils die Begrüßung, hält eine kurze Rede und begrüßt die Ehrengäste.« Robert Greinert griff zu den Unterlagen, die er mitgenommen hatte. »Das würde ich auch noch hinkriegen.«
»Du willst seine Aufgaben mit übernehmen?« Renate war im ersten Moment verwundert.
»Für morgen habe ich die außerordentliche Versammlung einberufen.« Robert Greinert wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich würde da gern mit einer Lösung hinein gehen und nicht mit Problemen.«
»Lasst uns noch einmal den Anlauf des Festes durchgehen.« schlug Renate vor. »Damit wir nichts vergessen.«
* * *
Michael hatte sich diesen Moment seit langen immer wieder ausgemalt. Er hatte wiederholt davon geträumt, wie es wohl sein würde, wenn er ihr frei begegnen durfte und was er dann mit ihr machen würde. Doch jetzt, als er an das Bett trat, erkannte er sofort, dass er ihre Situation einfach nicht ausnutzen durfte. Er sah, wie verletzlich und hilfsbedürftig sie auf einmal war, und er warf alle seine Pläne über den Haufen. Dieses Mädchen brauchte vor allem Hilfe. »Kann ich etwas für dich tun?« fragte er mit leiser Stimme.
Sophie lag auf dem Bett und hatte die Augen geschlossen. Sie hatte gehört, wie sich die Tür öffnete und wie jemand eingetreten war. Gleich darauf hörte sie das Schließen der Tür.
Deutlich war seine Anwesenheit zu spüren. Er benutzte immer noch dieses billige Deo, und er hatte anscheinend auch Rasierwasser aufgetragen. Innerlich grinste sie verzweifelt, er hatte sich auch noch für sie schön gemacht. Deutlich hörte sie seinen Atem und erkannte die Schritte, die langsam näher kamen.
»Kann ich etwas für dich tun?« hörte sie seine Stimme, und voller Verwunderung schlug sie die Augen auf. Zu einer Antwort war sie nicht fähig.
»Soll ich dir das Bett fertig beziehen?« Er hatte gesehen, dass ein Bettlaken und ein Bettbezug bereit lagen in der gleichen Farbe, die das Kissen schon hatte. »Die alte Bettwäsche stinkt ja geradezu.«
»Dass würdest du tun?« Sophie richtete sich auf und begann auf einmal zu weinen. »Das ist alles so demütigend. Ich spüre jetzt, was ich dir alles angetan habe und du hältst trotzdem zu mir.« Woher ihre Worte kamen, wusste sie in dem Moment allerdings nicht.
»Was hast du denn erwartet? Dass ich über dich herfalle?« Er verschwieg ihr, dass er genau das vorgehabt hatte. Doch in dem Zustand, in dem sich Sophie jetzt befand, war zunächst einmal Hilfe wichtig.
Als Antwort konnte sie nur weinen, gerade zu schluchzen.
»Darf ich dich in den Arm nehmen?« Michael spürte, dass sie Trost brauchen konnte.
Sophie hob den Kopf und nickte. Zu klaren Gedanken war sie in diesem Moment nicht mehr fähig.
»Ich glaube, du möchtest auch duschen.« Michael setzte sich neben sie und legte den Arm um sie. Dabei übersah er bewusst, dass Sophies Haut schon seit Wochen nicht mehr in Berührung mit Wasser gekommen war.
»Ich würde sehr gern duschen.« Sophie schluchzte wieder. »Aber mir fehlt die Kraft.« Der Wunsch nach Reinlichkeit war größer als die Abscheu vor der Nähe von Michael. »Ich kriege die Tür nicht auf.« Sie hatte kein Problem damit, ihre Schwäche zu offenbaren. Sehr viel tiefer konnte sie ohnehin nicht mehr sinken.
Michael reichte ihr die Hand und half ihr aufzustehen. »Du stellst dich jetzt erst mal unter die Dusche, und ich kümmere mich um das Bett.«
Schließlich hielt es Sophie vor Spannung nicht mehr aus. »Warum fällst du nicht einfach über mich her und wir bringen es hinter uns? Das möchtest du doch, und ich habe es mehr als verdient.«
Michael wartete, bis sie sicher auf ihren Beinen stand. »Ja, verdient hättest du es.« Er reichte ihr die Hand und zog sie zur Duschkabine. »Aber jetzt sind erst mal andere Sachen wichtig.«
»Michael?« Sophies Stimme war leise. »Kannst du mir das Nachthemd aufmachen? Ich komme da nicht dran.«
Er kam der Bitte nach und nur ganz nebenbei fiel ihm auf, dass sie endlich einmal seinen Namen ausgesprochen hatte. »Machst du Gymnastik?«
»Spinnst du?« Sophie drehte sich zu ihm um. »Warum fragst du jetzt so einen Schrott?« Dass sie ihm ihren nackten Körper präsentierte, hätte sie damals nicht gestört, und jetzt war es ihr egal.
»Es wäre aber wichtig.« Er holte tief Luft. »Du lagst jetzt fast zwei Monate im Gips, und warst danach noch einige Tage fixiert. Dabei bilden sich die Muskeln zurück und die müssen langsam wieder aufgebaut werden. Gymnastik wäre da optimal.«
»Woher weißt du das?« Sophie vermutete, dass er ihr immer Blumen gebracht hatte, während sie im Krankenhaus gewesen war, doch sie war sich nicht sicher.
»Ich studiere Medizin.« Er versuchte, möglichst beiläufig zu klingen. »Und ich habe ein Praktikum in der Klinik gemacht, während du da warst.«
Sophie gab es einen großen Stich ins Herz. Sie erkannte, dass sie ihn bedingt durch ihre Vorurteile völlig falsch eingeschätzt hatte. »Von dir waren die Blumen?«
»Ich habe auf dich aufgepasst, während du in der Klinik warst.« Er berichtete davon, dass er täglich nach ihr gesehen hatte. »Ich wusste von Anfang an, was sie mit dir gemacht hatten.«
»Warum hast du mich nicht befreit, wenn du es wusstest?« Sophie war kurz davor, in ihr altes Weltbild zurückzufallen.
»Es hätte mir keiner geglaubt.« Er versuchte sich etwas verlegen zu rechtfertigen. »Und außerdem konnte ich so oft in deiner Nähe sein.«
»Du bist verrückt.« Sophie konnte nicht verhindern, dass es wie ein Vorwurf klang.
»Jetzt dusche dich erst mal.« Er zog die klemmende Tür der Dusche mit viel Mühe auf und legte noch ein Handtuch bereit. »Ich mache dir inzwischen das Bett.«
In Sophie gingen die Gefühle völlig wild durcheinander. Er studierte Medizin und war gerade dabei, ihr Bett zu beziehen. Sie hatte sich die Begegnung mit ihm viel schlimmer vorgestellt. Doch sie wusste auch, dass ihr noch die ganze Nacht zusammen mit ihm bevorstand.
Sie war sich nicht sicher, ob seine Ritterlichkeit vielleicht nur Fassade war. Doch im Moment genoss sie das Wasser auf ihrer Haut.
Schließlich stellte sie die Dusche ab. Sofort bekam sie von ihm ein Handtuch hereingereicht.
Als sie die Dusche verließ, blickte sie sich verwundert um. Der Dreck auf dem Fußboden war weg und es lag auch kaum mehr Staub herum. »Was ist denn hier los?«
Ich dachte, ich machte mich etwas nützlich.« Michael lächelte etwas verlegen. »Dann kannst du dir die Kraft für die Gymnastik sparen.«
»Ich habe nichts zum Anziehen.« Sie war ehrlich etwas verlegen. Sie hatte sich nur das Handtuch um den Körper gewickelt. Und im Gegensatz zu früher stand sie bei diesem Satz dieses Mal nicht vor einem vollen Kleiderschrank.
»Ich schaue mich mal um.« Er öffnete ein paar der Schranktüren, doch die meisten der Schränke waren leer. »Hier wären ein paar Arbeitskittel.«
Sophie erinnerte sich daran, dass ihr Kerker früher die Wohnung eines der Dienstmädchen gewesen war. »Besser als gar nichts« Sie seufzte, dann griff sie sich einen der Kittel, den Michael ihr entgegen hielt. »Neue und schöne Kleider muss ich mir erst wieder verdienen.«
Bei dem Ton wurde Michael hellhörig. »Du hast dich aber verändert.« Es war fast so etwas wie Bewunderung in seinen Worten zu hören.
»Ich hatte in dem Gipspanzer auch viel Zeit zum Nachdenken.« Sophie seufzte. »Ich habe wohl in der Vergangenheit viel falsch gemacht.«
Michael blickte sie nur an. Jede Antwort von ihm hätte sie noch weiter verletzt, und das wollte er in diesem Moment vermeiden.
Als sie das Bett sah, brach sie in Tränen aus. »Es war so ekelhaft mit der Bettwäsche, aber ich hatte es wohl auch nicht besser verdient.«
»Jetzt ist sie ja gewechselt.« Michael grinste ein wenig. »Freust du dich schon auf die Nacht?«
Sophie blickte ihn verwundert an, doch in diesem Moment konnte sie nicht erkennen, was er wirklich dachte. Außerdem hatte sie sich bisher völlig in ihm getäuscht. »Ich weiß nicht.« Sie wollte ehrlich sein. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es nach Essen duftete und dass der kleine Tisch für zwei Personen gedeckt war. Es brannte sogar eine Kerze.
»Ich habe ein paar Dosen geöffnet, erwarte also nichts Großartiges.« Michael war etwas verlegen. Er hatte zwar Sachen für das Frühstück dabei, doch auf ein Abendessen war er nicht eingerichtet.
»Arroganz ist eine schlechte Eigenschaft. Das haben ich nach einigen Dosen Ravioli gelernt.« Sophie blickte immer noch fast hypnotisiert auf den Tisch. »Wo hast du denn all die Sachen her?«
»Die waren im Kühlschrank.« Michael war etwas zunächst etwas verwundert. Doch dann begriff er die Zusammenhänge. »Ich habe ihn beim Saubermachen entdeckt. Er war etwas versteckt und die Tür ging sehr schwer auf.«
Sophie verschwieg, dass sie den Kühlschrank noch gar nicht entdeckt hatte. Es war ihr recht, dass er ihre fehlende Kraft dafür verantwortlich machte. »Was musst du bloß von mir denken, wenn ich dir so im Kittel gegenüber sitze.«
Michael verkniff sich den Vergleich zu dem sprichwörtlichen Mehlsack, weil zwischen ihm und ihrem jetzigen Äußeren kein so großer Unterschied war. »Es kommt nicht auf das Äußere an. Die inneren Werte zählen.« Er hatte es nur beiläufig geäußert, doch es hatte bei Sophie große Wirkung.
»Ich habe wirklich alles falsch gemacht.« Sie schluchzte wieder. »Mein ganzes Leben ist ein einziger Fehler.«
»Jetzt lass uns erst mal das Essen genießen.« Michael nahm ihren letzten Satz mit großer Genugtuung auf, doch er stellte seine Gefühle wieder einmal hinten an.
* * *
Anna hatte Marias Flöte geputzt und legte sie wieder zurück in den Koffer. Ihre Augen strahlten. Bei den Stücken, die sie geprobt hatten, war keines dabei gewesen, was ihr auch nur im Ansatz Sorgen gemacht hatte. Sie war sehr erleichtert und zugleich glücklich, weil es eine weitere wenn auch indirekte Gelegenheit war, sich zu bedanken.
»Du strahlst ja so?« Florian hatte die ganze Zeit in der Ecke gesessen und zugehört, jetzt war er aufgestanden und stand neben ihr.
»Ich kann ihnen helfen.« Sie war sehr glücklich. »Ohne mich müssten sie die Auftritte absagen.«
Fritz kam auf das Paar zu. »Wir gehen jetzt noch eine Runde etwas trinken, und ich möchte euch dazu einladen.«
Anna und Florian versuchten eine ablehnende Handbewegung, doch Fritz blieb dabei. »Bitte, ihr müsst mitkommen. So eine talentierte Musikerin.«
»Wir haben aber kein Geld.« Florian war es unangenehm, es ansprechen zu müssen.
»Ich sagte doch schon, ihr seid eingeladen.« Er ahnte, was die beiden bewegte. »Die Getränke zahlt der Verein.«
»Lass uns mit gehen.« Anna blickte ihren Mann verliebt an.
»Robert und die anderen werden sicher auch mitkommen« Karin hatte die kleine Diskussion verfolgt. »Ich bin gespannt, wie es weiter gehen wird.«
* * *
Michael blickte sehr zufrieden auf den Körper von Sophie, die in seinen Armen eingeschlafen war. Sie hatten sich lange unterhalten, über die Vergangenheit, über falsche Freunde und über die wirklich wichtigen Sachen im Leben. Sophie erzählte von den Erlebnissen in der Klinik und Michael berichtete von seinem Medizinstudium.
Er hatte nicht das bekommen, was er sich von dem Abend erhofft hatte. Doch er fühlte, dass er etwas anderes viel Wichtigeres bekommen hatte, nämlich einen Schlüssel zu Sophies Herz. Dabei war es weniger Liebe in sexueller Hinsicht, sondern eine tiefergehende Liebe, so wie zwischen Bruder und Schwester.
Er wusste, dass sie ihn nie mehr abweisen würde, nicht weil er sie erpresste, sondern weil sie nun Vertrauen zu ihm hatte und ihn schon jetzt als einen echten Freund bezeichnete. Und die Freundschaft und das damit verbundene Vertrauen war ihm wichtiger als ein kurzes Sex-Abenteuer.
Sophie hatte auch von Maria erzählt, der einzigen Besucherin im Krankenhaus. Dass sie ihr die Rolle weggenommen hatte, spielte dabei keine Rolle mehr. Sie hätte es nicht besser verdient, hatte sie mehrmals betont.
Lange nach dem gemeinsamen Abendessen hatte er ihr die Hand gereicht, um ihr beim Aufstehen zu helfen, dann hatte er sie zum Bett gebracht. Sie kuschelt sich sofort in seine Arme, was er sehr positiv bemerkte.
Es tat ihr gut, seine Berührungen zu spüren. Er war geradezu zärtlich und er genoss ihre Nähe und ihre Verletztlichkeit. Und sie fühlte sich bei ihm immer geborgener.
»Warum hast du mir jeden Tag neue Blumen gebracht und vor allem immer andere Arten?« Sie blickte ihn dankbar an.
»Ich wusste, dass du sie riechen kannst.« Michael dachte jetzt zwar anders über die Vergangenheit, dennoch sagte er hier die Wahrheit.
»Es war eine sehr angenehme Abwechslung.« Sie blickte ihn verträumt an.
»Ich habe nie an den Unfall geglaubt.« Michael sprach endlich aus, was ihn schon so lange bewegte.
»Und warum hast du nichts unternommen?« Sophie stellte diese Frage noch einmal.
»Ich konnte nichts beweisen, und ich hätte mich gegen den Chef der Klinik stellen müssen. Wer glaubt schon einem Praktikanten im achten Semester.« Michael seufzte. »Außerdem war ich von der Strenge des Verbandes fasziniert. Es war irgendwie ein Gänsehautgefühl, dich darin zu wissen.
»Oh, das wird überschätzt. Es ist hauptsächlich langweilig.« Sie lachte über ihre Selbstironie. »Anfangs glaubte ich, verrückt zu werden. Die Worte aus der Bibel haben mir Trost gegeben.«
»Serina hat dir vorgelesen.« Michael hatte sich mit der Schwester ab und zu über ihre Motivation dazu unterhalten.
»Ich kannte ihren Namen nicht, nur den Dienstplan kannte ich auswendig.« Sie lächelte. »Ich wusste immer schon vorher, wer zur Tür herein kommen wird. Und ihre Schritte konnte ich auch unterscheiden.«
Michael streichelte ihr vorsichtig über den Kopf, doch zu einer Antwort war er in diesem Moment nicht in der Lage.
»Der Himmel ist schön. Du glaubst ja gar nicht, wie viel verschiedene Wolkenarten es gibt.« Sie geriet in Schwärmen. »Ich konnte den Regen riechen. Ich wusste immer, wann es zum Regnen anfangen wird.«
»Zum Glück ist der Gips wasserfest.« Die Worte kamen fast automatisch aus seinem Mund.
»Ich hätte gar nicht gedacht, dass ich so enthaltsam sein kann.« Wieder lachte sie. »Seit zwei Monaten hatte ich keinen einzigen Orgasmus.«
»Das heißt, eine Berührung von mir müsste reichen.« Michaels Stimme war leise, dann begann er sie vorsichtig zu streicheln. Er rechnete immer noch mit einer Ablehnung.
»Hör bitte nicht auf.« Ihre Worte waren zwischen ihrem Stöhnen fast nicht zu hören.
Seine Finger mussten nicht einmal in die Nähe ihrer erogenen Zonen kommen, schon explodierte sie geradezu.
»Das war schön, Michael. Danke schön.« Sie schioss die Augen und war gleich darauf eingeschlafen.
Michael blickte etwas verblüfft auf den Körper, der sich ihm so hilfebedürftig anvertraute. Natürlich wäre er auch gern auf seine Kosten gekommen, doch er wusste tief in seinem Inneren, dass das eben Erlebte sehr viel wertvoller für die Zukunft sein würde.
Außerdem hatte sie ihn schon wieder bei seinem Namen genannt. Das war etwas, dass ihm sehr viel bedeutete. Er blickte sich noch etwas im Raum um, dann fielen auch ihm die Augen zu.
* * *
»Hat dir der Tag gefallen?« Selma hatte große Mühe, ein ernstes Gesicht zu machen, während sie Leonie in ihrem Zimmer aufsuchte.
»Ja, Frau Mohr.« Leonie musste erst schlucken, bevor sie antworten konnte.
»Ich wollte dir die Kette an den Ellenbogen abnehmen, damit du gut schlafen kannst.« Selma bereitete den nächsten Köder vor. »Du musst morgen ausgeschlafen war.«
Leonie war ein gewisser Unterton aufgefallen, der sie aufblicken ließ. Sie schaute ihre Gastgeberin neugierig an, doch sie traute sich nicht, diese Andeutung zu hinterfragen.
Doch Selma wusste, wie sie Leonie besonders subtil quälen konnte. »Ich habe ein hübsches Paar Handschuh für dich, du wirst sie sicher gern tragen.« Sie beugte sich hinunter zum Bett und löste die Befestigung der Ellenbogenkette.
»Danke, Frau Mohr.« Leonie war zunächst erleichtert, ihre Arme wieder etwas freier bewegen zu können. »Ich freue mich auf die Handschuhe.« Sie hörte ihre Worte und fragte sich, wer ihr die Worte in den Mund gelegt hatte.
Dienstag, 21. September 1984
Sophie wurde wach, weil sie ungewohnte Geräusche hörte. Sie passten so gar nicht zu der Klinik, in der sie schon so viel Zeit verbringen musste. Doch schon bald erkannte sie, dass sie gar nicht mehr in ihrem Krankenzimmer war, sondern im Keller des väterlichen Schlosses. Das war auch der Grund, warum sie die Mücke an der Decke nicht mehr sah. Dieses Motiv hatte sie in den letzten Monaten fast ständig vor den Augen.
Sie verzichtete darauf, sich zu räkeln, denn dabei hätte sie Teile der ekelhaften Bettwäsche berühren müssen. Sophie hielt innerlich die Luft an, um den Geruch nicht einatmen zu müssen. Doch dann stutzte sie. Der Geruch war weg. Vorsichtig begann sie sich zu bewegen.
Sie hatte wunderbar geträumt. Ein Prinz war zu ihr gekommen und hatte für sie gekocht und ihr auch die Bettwäsche gewechselt. Wieder hielt sie inne. Die Bettwäsche war gewechselt und es roch nach leckerem Frühstück, nach Rührei und Speck.
»Ah, die Prinzessin ist wach.« Michael stand auf einmal vor ihr. »Einen wunderschönen Guten Morgen wünsche ich dir, liebe Sophie.«
Schlagartig war Sophie wach, und sofort war auch die Erinnerung an den gestrigen Abend wieder da. Sie erwiderte den Gruß vorsichtig.
»Ich wollte gern mit dir frühstücken, darum habe ich mir erlaubt, dafür einiges mitzubringen.« Er zeigte auf den kleinen liebevoll gedeckten Tisch.
Sophie hielt ihren Blick noch ein wenig gesenkt. Sie vermied es, ihn nach den Ereignissen des vergangenen Abends zu fragen. Sie erinnerte sich eigentlich nur noch an den so schönen Höhepunkt, den sie gestern in seinen Armen gehabt hatte. »Das sieht lecker aus.« Sie gab sich trotzdem Mühe, etwas Nettes zu sagen.
»Dann komm.« Er reichte ihr die Hand. »Es ist alles fertig.«
Doch auf einmal entzog sie ihm ihre Hand und begann zu weinen. »Warum tust du das?« Sie schluchzte. »Warum bist du so nett zu mir?« Sie wischte sich durch das Gesicht. »Ich habe dich doch so schlecht behandelt.«
»Das warst nicht du.« Michael wurde auf einmal ebenfalls sehr nachdenklich. »Ich habe dich schon bewundert, als deine Mutter noch lebte. Es war mir klar, dass es dich aus der Bahn geworfen hat.« Er spürte, dass sie jetzt etwas Halt gebrauchen konnte. Er setzte sich neben sie und legte den Arm um sie. »Lass die Vergangenheit hinter dir.« Er hoffte, dass es die richtigen Worte waren.
Sophie wischte sich die Tränen weg. »Du hast recht.« Irgendwie gaben ihr seine Worte Mut. »Was hast du denn Leckeres vorbereitet? Seit drei Tagen esse ich nur Ravioli.«
»Genau so etwas habe ich mir gedacht.« Michael versuchte sie erneut, sie zum Aufstehen zu bewegen. »Ich habe einiges mitgebracht.«
Sophie blickte auf den Tisch und war verzaubert. »Ein Sektfrühstück?«
»Ich hoffe, es wird dir schmecken.« Michael reichte ihr wieder die Hand.
Sophie ergriff die Hand und ließ sie auch nicht los, als sie schon sicher auf ihren noch etwas wackeligen Beinen stand.
* * *
Leonie sah ein wenig unglücklich an sich herunter. Es gab jetzt nur noch einen etwas unförmigen Kittel, den sie sich allein anziehen konnte. Für jedes andere Kleidungsstück hätte sie Hilfe gebraucht, und noch sie war zu stolz, um darum zu bitten.
Sie hatte sich auch gar nicht für die Nacht umgezogen. Sie hatte es gestern Abend probiert, musste aber bald einsehen, dass es mit den neuen Restriktionen viel zu anstrengend werden würde.
Um ihre Unterwäsche aus Stahl musste sie sich zum Glück auch keine Sorgen machen. Denn die war pflegeleicht und ließ sich problemlos mit der Dusche reinigen, selbst wenn sie sie am Körper trug.
Sie stöhnte ein wenig, denn es lag ein Alltag vor ihr, der anstrengender war als alles, was sie sich bisher zu träumen gewagt hatte. Dennoch sie war in die Restriktionen, die Pauls Oma ihr auferlegt hatte, geradezu verliebt. Deutlich spürte sie den Muskelkater in den Armen und sie nahm sich für heute vor, nur noch die notwendigsten Bewegungen auszuführen.
Sie war jetzt schon zwei Mal der Meinung gewesen, dass es nicht mehr strenger oder gemeiner werden konnte, doch stets hatte Frau Mohr eine diesbezügliche Überraschung für sie bereit gehabt.
Und ihre Gastgeberin war unerbittlich, denn sie bestand darauf, dass Leonie sie stets weiter bedienen und vor allem im Haushalt helfen sollte. Immerhin zeigte sie aber Verständnis dafür, dass jetzt alles etwas länger dauerte. Sie gab so Leonie keinen wirklichen Anlass zur Klage.
Leonie wollte sich auch deswegen nicht beschweren, weil sie Angst hatte, sich wieder so einen Knebel einzuhandeln. Es war ihr sehr unangenehm, wenn sie damit sabbern musste, und vor allem, weil man diese Spuren noch lange danach auf ihrer Kleidung sehen konnte.
An sich gefielen ihr die Knebel, vor allem die mit dem strengen Kopfgeschirr. Es war schön, überall am Kopf die Riemen zu spüren, doch für den Alltag war es nicht brauchbar. Sie fragte sich, ob es noch andere Möglichkeiten gäbe, sie sprachlos zu machen.
Sie musste streng genommen nur wenig machen im Haushalt, aber bedingt durch ihre Fesseln war es genau soviel, wie sie auch schaffen konnte.
Doch einmal hörte sie Selma sich beklagen. »Du bist zu langsam, Leonie. Was würde dein Mann sagen, wenn du ihn so langsam bedienst.«
Der Satz war beiläufig geäußert, doch er bewirkte einen wahren Sturm in Leonies Gedanken. Sie hatte sich schon immer eine Beziehung erträumt, in der sie eine Gefangene war. Und Selma zeigte ihr, wie schön es werden könnte.
Gestern hatte Frau Mohr ihr angekündigt, dass sie heute eine besondere Art von Handschuhen tragen müsse. Leonie fragte sich immer wieder, was wohl die besonderen Eigenschaften dieser Handschuhe sein würde. Dabei war sie sich sicher, dass sie es lieber nicht wissen wollte.
* * *
Maria hatte schon lange auf diesen Tag hingefiebert. Heute würde sie zum ersten Mal das Katerinenkleid anprobieren. Entgegen ihrer Gewohnheiten stieg sie heute sehr früh aus dem Bett und war sogar noch vor ihrer Erzieherin wach, was sonst nur äußerst selten passierte.
»Ich habe schon Kaffee gekocht.« Maria saß etwas verlegen am Küchentisch, als sie Mrs. Potter noch etwas verschlafen in der Küchentür stehen sah. Dann schob sie noch ein »Guten Morgen« hinterher.
Mrs. Potter erwiderte den Gruß, dann wurde ihre Stimme ungewöhnlich ernst. »Du hast schon mitbekommen, dass gestern der Baron verhaftet wurde.«
»Ja, Karin hat gestern nach der Probe schon berichtet.« Maria hatte dieses Mal einen Wissensvorsprung. »Ihr Mann wird wieder den Vorsitz übernehmen wie beim letzten Fest.«
Mrs. Potter stutzte für einen Moment, doch dann lächelte sie. »Ihr wart gestern nach der Probe noch zusammen und habt Informationen ausgetauscht?«
»Stellen sie sich vor, Robert hatte schon darüber nachgedacht, dass Fest abzusagen.« Marias Stimme zeigte, wie entsetzt sie über die Idee war.
»Ich entnehme deinem Tonfall, dass das Fest also trotzdem stattfinden wird.« Die Erzieherin begann den Tisch zu decken.
»Sie wollen es heute auf einer Sitzung offiziell machen.« Maria stand auf und half beim Tisch decken. Trotzdem war ihre Nervosität deutlich zu spüren.
* * *
Selma musste nicht lange warten, bis Marias Erzieherin am Telefon war. »Ich hätte da ein kleines, aber wichtiges Anliegen«, erklärte sie gleich nach der Begrüßung.
»Kein Problem.« Mrs. Potter blickte auf die Uhr. »Um was geht es denn?«
»Doro, kannst du Maria auf etwas vorbereiten?« Selma hatte sich lange überlegt, wie sie es zu formulieren hatte, damit ihre Freundin es richtig aufgenommen wurde.
»Mache ich.« Ihre Stimme wurde etwas leiser, fast verschwörerisch. »Um was geht es denn?
»Sie hat das letzte Mal ein wenig unpassend reagiert, als sie Leonie gesehen hat.« Selma erzählte kurz, was sich zugetragen hatte.
»Was ist denn mit Leonie?« Mrs. Potter wusste natürlich, dass ihre Freundin früher einmal eine strenge Erzieherin gewesen war.
Doch Selma war zunächst mal etwas verlegen. Sie blieb die Antwort zunächst schuldig.
»Mit mir kannst du frei sprechen.« Dorothea ahnte, was ihre Freundin bewegte.
Trotzdem dauerte es noch einen Moment, bis Pauls Oma sprechen konnte. »Leonie hat alte Sehnsüchte in mir geweckt.«
»Du magst es, wenn die Mädchen so hilflos sind.« Mrs. Potter sprach ihre Vermutung aus.
»Du verstehst mich.« Das Grinsen war durch das Telefon zu hören. »Leonie ist so leidensfähig, und ich glaube, sie hat sogar Spaß daran. Auch wenn sie das gar nicht wahrhaben möchte.«
»Was hast du denn mit ihr vor?« Mrs. Potter konnte ihre Neugier nicht verbergen.
»Ich will ihr heute nach und nach die Finger und dann die Handgelenke fixieren.« Sie berichtete von ihrer Idee. »Es wäre gut, wenn Maria davon wüsste und Leonie nicht danach fragt.«
»Wie viel darf ich ihr denn erzählen?« Dorothea hatte die Idee verstanden und war durchaus bereit, das Spiel mitzuspielen.
»Was du willst.« Selma hatte diesbezüglich keine Vorbehalte. »Vielleicht kommt sie selbst ja auch auf den Geschmack.« Sie lachte kurz. »Nach der Hütte halte ich das sogar für wahrscheinlich. Ich werde auch Paul mit einbeziehen. Ich hoffe, ihm wird es auch gefallen.«
»Aber Maria macht das erst nach dem Fest.« Die Erzieherin wusste, dass sie ihren Schützling vor allzuviel Stress bewahren musste, selbst wenn er von so vertrauter Seite kam. »Ich hoffe nur, dass Paul damit Maria keinen Grund zur Eifersucht geben wird.«
»Darüber musst du dir keine Gedanken machen. Ich passe schon auf.« Sie lachte wieder. »Außerdem möchte ich Leonie verkuppeln.« Sie berichtete kurz von ihren Plänen.
Doch Mrs. Potter musste sie unterbrechen »Ich glaube, Maria kommt.« Sie verabschiedeten sich.
* * *
»So, das ist für Leonie.« Selma legte ein Lederbündel und einige glänzende Stangen auf Leonies Platz am Frühstückstisch, nachdem sie deren Teller beiseite gestellt hatte.
Paul stellte den Kaffee auf den Tisch und setzte sich neben seine Oma. Leonies Platz war noch leer.
Paul hob das Lederbündel hoch und betrachtete es. »Was ist das?« fragte er, obwohl er die Form eines Handschuhs erkannte.
»Das sind spezielle Handschuhe. Die habe ich früher einmal in verschiedenen Größen anfertigen lassen.« Selma klang dabei etwas wehmütig. »Leonie soll sie heute kennenlernen und tragen.«
»Und was ist das Besondere daran?« Paul hielt einen der oberarmlangen Handschuhe hoch, so dass er ihn in voller Länge betrachten konnte.
»Damit lassen sich Leonies Finger einzeln versteifen.« Selma zeigte auf die glänzenden Stangen, die noch auf dem Tisch lagen.
Paul betrachtete sich den Handschuh genauer. Auf einmal glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Man schiebt die Stangen hier in diese kleinen aufgenähten Hüllen?« Er blickte seine Oma neugierig an.
»So ist es.« Selma grinste. »Und bis sie merkt, was es mit den Handschuhen genau auf sich hat, ist es schon zu spät für sie.«
»Kann sie sie nicht mehr selbst ausziehen?« Paul war etwas verwundert.
»Um das Handgelenk können sie verschlossen werden.« Seine Oma zeigte die Stelle an ihrem Arm. »Aber das ist gar nicht nötig. Sie wird es nicht schaffen, die Schnürung am Oberarm zu öffnen.«
Paul wollte gerade fragen, welche Schnürung gemeint war, als wieder ein Lächeln über sein Gesicht glitt. »Der Handschuh ist über den ganzen Arm zu schnüren.«
»Genau« Selma bestätigte seine Vermutung. »Ansonsten müssten wir ihr die Ketten abnehmen, um ihr den Handschuh anzulegen.«
Paul legte den Handschuh wieder auf Leonies Platz auf dem Tisch. »Warum quälst du Leonie so sehr?«, fragte er etwas nachdenklich. Die Frage wollte er schon lange stellen.
Die Antwort seiner Oma war kurz. »Weil sie es so will.« Doch dann lächelte sie. »Und außerdem erinnert es mich an alte Zeiten.«
»Aber sie kann sich doch jetzt schon kaum noch bewegen.« Paul warf noch einmal einen Blick auf den Handschuh. »Damit kann sie ihre Gelenke nicht mehr selbst öffnen«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Ich freue mich schon auf den Moment, wenn sie es realisiert.« Selma grinste wieder.
»Maria ist da anders.« Paul blickte auf. »Ob ich es bei Leonie auch mal probieren dürfte?«
»Vor allem darfst du kein Mitleid zeigen, auch wenn sie dir noch so leid tut.« Die Stimme seine Oma war auf einmal recht ernst. »Sie mag es, wenn sie deutlich, aber ganz sanft gedemütigt wird, sozusagen mit Niveau. Es ist eine Gratwanderung.«
Paul blickte seine Oma verwundert an.
»Mache es bitte nicht zu offensichtlich. Sie ist nicht deine Dienerin.« Das Wort 'deine' hatte sie besonders betont.
Paul verzichtete auf eine Antwort, denn Leonies langsam näherkommende Schritte waren zu hören.
* * *
»Ich wusste gar nicht mehr, wie gut so ein einfaches Brötchen mit Butter und Marmelade schmecken kann.« Sophie wischte sich mit der Servierte den Mund ab und blickte auf den immer noch sehr liebevoll aussehenden Frühstückstisch.
Michael streichelte ihr nur einmal kurz über die Hand. Eine Antwort gab er nicht.
»Ich war eine furchtbar verzogene Göre, der nichts heilig war.« Sophie seufzte.
»Möchtest du, dass ich widerspreche?« Michael blickte ihr ins Gesicht.
»Nein.« Sophie lachte. Doch dann wurde sie nachdenklich. »Ich habe so viel wieder gut zu machen.« Sie blickte auf die Liste, die sie gestern beiseite gelegt hatte. »Ich hatte dich nicht einmal auf die Liste gesetzt. Ich habe deine Fürsorge einfach nicht verdient.« Ihre Stimme wurde bei dem letzten Satz etwas traurig.
»Ich denke, du hast jetzt genug gebüßt.« Michael lehnte sich zurück. »Jetzt wird es Zeit, nach vorne zu blicken.«
»Du und Maria, ihr wart die einzigen, die sich um mich gekümmert haben.« Sophie erinnerte sich an die traurige Zeit im Krankenhaus.
Michael verzichtete darauf zu fragen, wer Maria war. Außerdem hatte er eine Ahnung, wer damit gemeint sein könnte. »Franz-Ferdinand wird mich um neun Uhr abholen, so hatten wir das ausgemacht.«
Sophie begriff sofort, dass er sie im Keller zurücklassen würde. »Ich weiß nicht, ob ich es mir wirklich schon verdient habe, doch ich hätte einen Wunsch.«
»Und der wäre?« Michael stand auf und begann, das Geschirr zusammenzustellen.
»Könntest du mir wohl eine Bibel kaufen? Ich zahl dir das Geld auch später einmal zurück.« Es war Sophie wichtig, nicht mehr so auf Pump zu leben und ihre angeblichen Freunde immer nur auszunutzen.
»Aber natürlich mache ich das.« Er strich ihr einmal über den Kopf. »Ich hebe auch die Quittung auf.« Er hatte erkannt, wie wichtig ihr das war.
Sophie lächelte verlegen. »Ich möchte darin lesen.«
Das Geräusch eines Autos auf dem Kiesweg war zu hören. Michael erkannte sofort, dass er abgeholt werden würde.
Sophie hatte das Geräusch auch gehört. Sie war auf einmal traurig. »Könntest du mir noch einen Gefallen tun?« Das Sprechen fiel ihr schwer.
»Und der wäre?« Michael hielt in seiner Bewegung inne.
»Was für Gymnastikübungen müsste ich denn machen?« Sie hatte ein gewisses Leuchten in den Augen, als sie dies fragte.
»Ich führe sie dir einfach vor. Pass gut auf.« Er sprach hastig, denn die Schritte von Franz-Ferdinand waren schon zu hören.
* * *
Leonie betrat das Esszimmer und wünschte Selma und Paul einen guten Morgen, dann ging sie langsam auf ihren Platz. Sie musste sich erst zu ihren Knien herunterbeugen und die Gelenke öffnen, bevor sie sich setzen konnte. Sie hatte Mühe, ihre Verlegenheit zu verbergen, denn sie zeigte nicht gern, wie sehr sie durch die Schienen schon in ihren Bewegungen gehemmt war. »Ist das für mich?«
»Das sind die Handschuhe, die du ab heute tragen wirst.« Selma hatte ein leichtes Leuchten in den Augen.
Leonie war viel zu neugierig, um an das Kräfteschonen zu denken, was sie sich selbst auferlegt hatte. Sie bog ihren Arm mit einiger Kraft nach oben, griff sich einen der Handschuhe und hielt ihn in die Höhe. »Oh, ein Opernhandschuh zum Schnüren.« Sie lächelte verlegen. »Spannend.«
»Dürfen wir sie dir gleich anlegen?« Selma hatte Mühe, ihr Grinsen zu verbergen.
Leonie war viel zu neugierig, um hier eine Falle zu vermuten. »Gern.«
»Paul, hilfst du mir?« Selma gab ihrem Neffen einen Wink, dann stand sie auf. »Jeder schnürt einen Arm.«
Leonie wollte wegen Paul erst protestieren, doch dann ließ sie es geschehen. Warum sollte Selmas Enkel sie nicht auch berühren dürfen. Außerdem hatte sie Hunger und hoffte, dass es so schneller gehen würde.
»Strecke bitte deine Arme aus, dann können wir dir die Handschuhe am besten anziehen.« Selma hatte große Mühe, sachlich zu bleiben.
»Die Armschienen nehmen sie mir nicht ab?« Leonie war etwas verwundert.
»Nein, warum denn?« Selma zeigte eine Öffnung der Handschuhe in der Höhe des Ellenbogengelenks. »Die Schienen sollten auch so bedienbar sein.«
Für einen kurzen Moment hatte Leonie gehofft, diese mehr als lästigen Armschienen loszuwerden, doch jetzt musste sie einsehen, dass Selma und Paul ihr die Handschuhe einfach darüber ziehen würden.
»Wir machen nur die Schlösser ab, weil die etwas auftragen würde.« Selma nahm ihren Schlüsselbund zur Hand und nahm Leonie die Schlösser ab. Dann nahm sie sich die Handschuhe vom Tisch und reichte Paul den für den einen Arm, den anderen nahm sie selbst zur Hand und erklärte kurz, wie er anzulegen war.
Paul hatte keine große Mühe, die Handschuhe um Leonies Arm zu schnüren.
»Es muss vor allem gleichmäßig fest angezogen werden, da sich sonst Druckstellen bilden könnten«, sagte sie mehr zu sich selbst.
Leonie sah fasziniert zu, wie ihre Arme zuerst in der schwarzen Lederhülle verschwanden. Dabei fühlte dann, wie sie das Material immer enger um ihre Arme legte.
»In die Schleife bringen wir ein kleines Schloss an, dann kommt Leonie nicht in Versuchung.« Es machte Selma deutlich sichtbar Spaß, das arme Mädchen so hinzuhalten und ihr so etwas wie Hoffnung auf eine Befreiung zu machen, obwohl sie doch wusste, wie sicher diese Handschuhe waren. Sie zeigte Paul, wie das Schloss anzubringen war, so dass die Schleife nicht mehr aufziehbar war.
Nachdem Paul sein Schloss auch angebracht hatte, wurde gefrühstückt und obwohl es Leonie sehr schwer fiel, langte sie doch auch kräftig zu. Allerdings verzichtete sie auf die Butter und bestrich sich das Brötchen nur mit der Marmelade. Das war etwas, was sie bisher so nicht gemacht hatte.
Selma sprach sie darauf an.
»Butter ist zu fett.« Leonie gab sich ein wenig bockig.
»Gut, dass es nicht an den Armschienen liegt.« Paul hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.
Leonie wurde rot und senkte den Kopf. Natürlich lag es an den Restriktionen, die sie an den Ellenbogen trug und die ihr jede Bewegung ihrer Arme erschwerte, doch das wollte sie nicht zugeben.
* * *
Mrs. Potter lehnte sich zurück und ließ den Blick noch einmal über die leeren Frühstücksteller gleiten. Sie spürte, dass der Moment gut war. »Selma hat mir aufgetragen, dich um etwas zu bitten.«
»Und was wäre das?« Maria blickte auf.
»Es geht um Leonie.« Die Erzieherin hoffte, die richtige Wortwahl zu finden. »Selma hält sie ja mehr oder weniger gefangen, weil sie sich das so wünscht.«
»Und was habe ich damit zu tun?« Maria fragte sich, was Pauls Oma von ihr erwarten würde.
»Sie bittet dich, Leonies Fesseln und ihren Zustand nicht zu bemerken oder so zu tun, als wäre es ganz selbstverständlich, solche Fesseln zu tragen.« Die Erzieherin hoffte, die richtigen Worte gefunden zu haben.
»Hinterhältig.« Maria musste grinsen. »Darf ich erfahren, um was es geht? Ihre Ketten kenne ich doch schon.«
»Sie wird ihr heute ein paar besondere Handschuhe anziehen, und damit kann Selma ihre Finger einzeln versteifen.« Dorothea war sich nicht sicher, ob sie es schon richtig beschreiben hatte. »Genaueres hat sie mir aber nicht gesagt.«
»Ich würde ja schon gern wissen, wie es genau funktioniert.« Marias Augen leuchteten.
»Sie bittet uns ausdrücklich, dass wir uns nichts anmerken lassen sollen.« Mrs. Potters Stimme klang ernst, doch ihre Miene zeigte ein Grinsen.
»Schade, ich hätte gern die Details gewusst.« Maria lächelte etwas verlegen.
»Du kannst dich mit Paul beraten. Er hat die Handschuhe auch gesehen.« Sie hielt einen Moment inne. »Und vielleicht hat Selma ja auch ein paar Handschuhe in deiner Größe.«
»Aber bitte erst nach dem Fest.« Maria verdrehte die Augen, doch dann wurde sie nachdenklich. »Neugierig wäre ich schon.« Sie hatte auf einmal einen fast verträumten Blick. »Ich habe mich schon immer mal gefragt, wie das wohl sein würde, wenn man gefesselt ist und es sieht keiner.«
»Ihr macht das schon. Und es ist auch richtig, dass erst nach dem Fest angehen zu wollen.« Mrs. Potter stand auf. »Was stand denn in dem Artikel?«
»Haben sie ihn noch nicht gelesen?« Maria war erstaunt. Doch dann fiel ihr ein, dass ihre Erzieherin dafür morgens meistens keine Ruhe fand. »Der Baron wurde verhaftet und man hat seine Tochter noch nicht gefunden.«
»Er hat sie bestimmt ins Schloss gebracht.« Mrs. Potter dachte an das Naheliegende.
»Das wurde durchsucht und sie haben keine Spur von ihr gefunden.« Maria blickte noch einmal auf die Zeitung. »Nur das angebliche Unfallauto wurde in der Garage vorgefunden.«
»War es repariert?« Ihr Tonfall zeigte, dass sie davon auch überrascht war.
»Das hat die Reporterin Andrea auch gefragt.« Maria gab wieder, was sie aus dem Artikel erfahren hatte. »Doch bei der Schwere der Verletzungen von Sophie hätte das Auto einen Totalschaden haben müssen. Es ist komisch.«
»Ich lese mir den Artikel später durch.« Mrs. Potter blickte kurz auf den Kalender. »Was liegt heute an?«
»Ich bin heute Vormittag auf die Vorstandssitzung eingeladen.« Marias Seufzer zeigte, dass sie davon wenig begeistert war, doch dann hellte sich ihre Stimme auf. »Und heute Nachmittag darf ich das erste Mal das Kleid anprobieren.«
»Das echte?« Mrs. Potter wusste auch, dass zwei Kleider angefertigt wurden. Es war bisher nur nicht klar, warum der Baron das so in Auftrag gegeben hatte.
»Das echte.« Maria lächelte. »Darauf freue ich mich.«
»Das glaube ich dir.« Mrs. Potter strich ihr über den Arm.
Maria war erneut verwundert, wie schnell Mrs. Potter von der strengen Erzieherin zu ihrer vertrauten Freundin wechseln konnte. Sie empfand ein dankbares warmes Gefühl und realisierte, dass Mrs. Potter bei aller Strenge eigentlich immer ihre Freundin gewesen war. »Und heute Abend wollte ich Anna auf die Probe begleiten.«
Die Erzieherin runzelte ihre Stirn. »Nimmst du dir nicht etwas zu viel vor?«
»Ja schon.« Maria seufzte. »Aber das bringt die Rolle wohl so mit sich.«
»Dass du das Gebet tragen kannst, wird sich schnell herumsprechen.« Es lag etwas Bewunderung in ihrer Stimme.
»Es war eine blöde Idee, es bei der Landung tragen zu wollen.« Maria hatte es bisher nicht geschafft, die Erinnerung an dieses schreckliche Ereignis zu verdrängen.
»Das denke ich nicht.« Mrs. Potter musste ihr widersprechen. »Du konntest das nicht wissen und außerdem ist Rudolf sehr verschwiegen.«
Maria seufzte. »Andrea hat angerufen, sie fragt, ob sie bei der Anprobe heute dabei sein kann. Sie möchte vielleicht ein paar Fotos machen lassen.« Sie verdrehte die Augen.
»Das soll sie ruhig machen. Du wirst berühmt, und das hast du dir mehr als verdient.« Wieder streichelte die Erzieherin Maria über den Kopf.
»Meinen sie?« Maria war noch etwas skeptisch.
* * *
»Leonie, möchtest du erst den Tisch abräumen oder soll ich dir erst wieder die Ellenbogen-Kette anbringen?« Selma wischte sich den Mund ab und legte ihre Serviette weg, dann nahm sie noch einen Schluck Kaffee. Gestern Abend hatte Selma ihr die Kette abgenommen, weil es sich ohne leichter schlafen ließ. Doch jetzt sollte sie wieder angebracht werden.
»Ich könnte dir helfen.« Paul war fasziniert von dem Mädchen, welches sich von seiner Oma immer strenger fesseln ließ, sich darüber trotzdem nicht beklagte und außerdem noch versuchte, sich nützlich zu machen.
Leonie war dies gar nicht recht. Es reichte eigentlich schon, dass sie sich für solche banalen Tätigkeiten so abmühen musste, auf Zuschauer wollte sie gern verzichten.
»Lass dir ruhig von Paul helfen.« Selma wusste natürlich, was ihren Schützling bewegte. »Es wäre falscher Stolz, solche Angebote nicht anzunehmen.«
Paul stand auf und reichte ihr das Tablett.
Leonie lehnte es ab. »Danke, aber mit der Ellenbogenkette kann ich das nicht tragen.« Es kostete sie sehr viel Kraft, es auszusprechen.
Selma trat hinter sie und brachte die Kette an einem der Ellenbogen an. »Leonie?« fragte sie nur.
Leise seufzend drückte Leonie ihre Arme nach hinten und wartete, bis Selma die so gemeine Kette angebracht hatte.
Doch Paul wollte dabei bleiben. »Wenn du es voll stellst, dann trage ich es für dich.«
Leonie suchte bei Selma eine Antwort, doch diese hatte ihren Blick abgewandt. »Meinetwegen.« Ihr wäre es lieber gewesen, Paul wäre verschwunden und sie hätte sich allein abmühen müssen.
»Wenn ihr in der Küche fertig seid, kommt bitte noch einmal zu mir.« Selma ging zu Leonies Platz und sortierte die unterschiedlich langen dünnen Stangen, die noch auf dem Tisch lagen.
Paul hatte nicht nur bei Tragen des Tabletts geholfen, sondern auch beim Beladen und beim Wegräumen in der Küche geholfen. Er war sehr neugierig darauf, wie Leonie auf die Versteifung ihrer Finger reagieren würde. Jetzt ging er voran ins Wohnzimmer, schaute jedoch ab und zu nach hinten, um sich zu vergewissern, dass Leonie ihm auch wirklich folgte.
»Oh, ihr seid schon fertig?« Selma war ehrlich erstaunt.
»Paul hat mir etwas geholfen.« Sie war sichtlich verlegen, denn es war ausgemacht, dass sie sich um die Küchenarbeiten kümmern sollte.
Selma übersah es bewusst. Auch sie war viel zu gespannt auf Leonies Reaktionen. »Leonie, komm bitte zu mir und reiche mir deine Hand.« In ihrer Hand hielt sie einige der kleinen Stangen.
Leonie kam der Aufforderung nach und streckte ihre Arme aus.
»Hast du dir die Handschuhe schon etwas genauer angesehen?« Selma hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Es war schon so ewig lange her, dass sie zuletzt einem Mädchen diese Handschuhe anlegen durfte.
Leonie verneinte. »Wäre das wichtig?« Sie hätte dazu ihre Arme beugen müssen und das kostete Kraft, doch das wollte sie nicht zugeben.
»Dir wäre sonst vielleicht aufgefallen, dass die Handschuhe teilweise doppellagig gearbeitet sind.« Selma zeigte auf die vielen Nähte, die auf dem Handschuh aufgenäht waren. »Dies ist nicht nur zur Zierde.«
Leonie hielt den Atem an. Den Gedanken wollte sie nicht weiter denken.
»Wir beginnen jetzt mal mit den kleinen Fingern.« Sie nahm die kürzeste der Stangen und schob sie in die schmale Hülle auf Leonies Handschuh. Die Stange bewirkte, dass Leonie ihren kleinen Finger jetzt nicht mehr beugen konnte. Gleich darauf behandelte Selma die andere Hand auf die gleiche Weise. »In einer Stunde kommt die nächsten beiden Finger dran. Du kannst dir schon mal überlegen, welche das sein sollen.«
Leonie war fassungslos. Ihre schlimmsten Befürchtungen in Bezug auf die Handschuhe waren wahr geworden. Und sie hatte deutlich erkannt, dass noch genügend Stangen zur Verfügung standen, um alle ihre Finger zu fixieren. Eine Träne lief ihr die Wange herunter, doch sie verzichtete darauf, sie wegzuwischen.
»Du möchtest dich vielleicht für die neuen Handschuhe bedanken?« Selma liebte diesen Moment, wenn die Mädchen die wahre Strenge ihrer Fesselung erkannten.
Leonie schluckte heftig, doch dann regte sich wieder dieses Gefühl tief in ihrem Inneren. »Danke für diese schönen Handschuhe.«
* * *
Franz-Ferdinand wartete, bis Michael sich angeschnallt hatte, dann fuhr er los. Er war über die Stimmung, die im Keller geherrscht hatte, etwas verwundert. Er hatte bei Michael eher so etwas wie Triumph erwartet und bei Sophie eher Niedergeschlagenheit, doch es war zu seiner Überraschung ganz anders gewesen. Er wagte nicht, eine Frage zu stellen, doch ihm fiel auf, dass der Beutel, den Michael gestern dabei gehabt hatte, jetzt leer war.
»Wann kannst du mich wieder zu ihr bringen?« Michael war der Erste, der wieder zu Reden begann.
»Warum?« Der Neffe des Barons war über den Tonfall verwundert. Jetzt hatte er fast etwas Verliebtes. »Hattest du nicht deinen Spaß?«
»Sie tut mir so leid.« Er ignorierte seine Frage. »Sie hat mich gebeten, ihr eine Bibel zu besorgen.«
Franz-Ferdinand hatte sich schon lange abgewöhnt, sich über die Eskapaden seiner Cousine zu wundern. »Also heute Abend wieder?«
»Heute Abend geht es nicht, weil ich mich in der Burschenschaft sehen lassen muss.« Michael winkte ab. »Aber morgen.«
»Gleicher Ort, gleiche Zeit?« Franz-Ferdinand hoffte, dass Michael sich damit begnügen würde.
»Gern.« Michael hatte sich schon überlegt, was er Sophie kochen konnte in dem kleinen Verließ. Er überlegte lange, ob er die Frage stellen durfte. Schließlich rang er sich durch. »Wie lange muss sie denn in dem Keller bleiben?«
Franz-Ferdinand begriff sofort, dass er Michael bei Laune halten musste, wenn er nicht riskieren wollte, dass sie auffliegen würden. »Bis nach dem Fest. So hatte es mein Onkel wohl geplant.« Er seufzte etwas. »Ich kann ihn jetzt ja nicht mehr fragen.«
»Verständlich.« Michael grinste. Natürlich hätte er auch auf die sofortige Befreiung von Sophie bestehen können. Doch dann riskierte er, dass sie eventuell in ihr altes Verhaltensmuster zurückfallen würde. Doch so lange er sie in dem kleinen Kellerraum wusste, konnte er sie ganz sicher für sich allein haben.
* * *
Leonie stand vor dem Spiegel in ihrem Zimmer und blickte mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Faszination auf ihre Arme. Jetzt war ihr erst aufgefallen, dass es neben den Nähten auf ihren Fingern noch mehr dieser Nähte gab und alle hatten ungefähr den gleichen Abstand zueinander. Mit den Augen fuhr Leonie die Nähte entlang. Drei davon verliefen vom Handteller bis zur Mitte ihres Unterarms und ebenso gab es drei Doppel-Nähte von der Mitte ihres Unterarms zu ihrem Oberarm.
Obwohl sie sich dagegen zu wehren versuchte, malte sie sich doch aus, was es mit diesen Nähten auf sich haben könnte. Es war deutlich, dass auch hier diese Stangen hinein gesteckt werden könnten, und dann wäre ihr gesamter Arm unbeweglich. Sie seufzte, denn sie wusste, dass ihre Hausherrin weiterhin auf die Erledigung ihrer Arbeiten bestehen würde. Doch wie sollte das gehen, wenn sie ihre Hände nicht mehr benutzen konnte.
»Leonie, die Stunde ist um.« Selma stand im Treppenhaus und rief nach oben.
Leonie setzte sich seufzend in Bewegung. Natürlich war ihr klar, dass ein einziges Wort genügend würde und sie würde ihr alle Fesseln abnehmen. Doch der Preis dafür war zu hoch. Sie nahm sich vor, es durchzustehen. Sie hatte mittlerweile ein wenig Übung darin, auch mit fixierten Kniegelenken Treppe zu steigen. Denn für jede Stufe die Gelenke öffnen, war ihr zu anstrengend, weil sie dafür ihre Arme ein wenig strecken musste.
Selma wartete schon im Wohnzimmer und hatte auf dem Wohnzimmertisch die Stangen der Länge nach sortiert. »Nun, welche Finger sollen es sein?«
»Bitte die Ringfinger.« Leonie fiel das Sprechen schwer.
»Links und Rechts?« Selma blickte Leonie ins Gesicht. »Wir können aber auch erst eine Hand fertig machen.«
In Leonie arbeitete es heftig. »Dann bitte erst die linke Hand. Ring- und Mittelfinger bitte.« Sie versuchte, ruhig zu bleiben, doch innerlich tobte es in ihr. Langsam hob sie ihren linken Arm, dann sah sie zu, wie Selma die nächsten beiden Stangen an ihre Plätze schon und ihr so zwei weitere Finger wegnahm.
»Frau Mohr, darf ich eine Frage stellen?« Das Sprechen fiel ihr sehr schwer in dieser Situation.
»Gern, Leonie.« Selma genoss die Situation sehr. »Was möchtest du wissen?«
»Da sind ja noch mehr dieser Nähte auf dem Handschuh. Damit könnten sie mir beide Arme komplett fixieren, wenn ich das richtig sehe.« Sie schaffte es allerdings nicht, am Schluss des Satzes die Stimme zu heben.
»Das hast du richtig erkannt.« Selma lächelte. »Das ist mit diesen Handschuhen möglich.«
»Und werden sie das auch tun?« Leonie war sich nicht sicher, ob ihr so eine Frage überhaupt zustand, doch sie war von dem Gedanken, so streng fixiert zu werden, sehr fasziniert.
Doch zu ihrer Überraschung antwortete Selma mit einer Gegenfrage. »Möchtest du es denn?« Insgeheim ahnte sie schon, wie Leonie antworten würde.
»Ich würde schon gern wissen, wie es sich anfühlt, sich gar nicht mehr bewegen zu können.« Leonie seufzte. »Aber werde ich die Fesseln auch wieder loswerden?«
»Du weißt, dass du jederzeit um deine Freilassung bitten kannst, und ich werde ich sofort von allem Fesseln befreien.« Selma liebte es, auf diesem Register zu spielen.
Leonie seufzte, doch eine Antwort gab sie nicht. Immer wenn sie glaubte, dass es nicht mehr strenger gehen könnte, kam die nächste Überraschung in Form von noch strengeren Fesseln.
»Wenn du dich an die Handschuhe gewöhnt hast, dann könntest du mir beim Hausputz helfen.« Selma hatte sich schon überlegt, wie sie Leonie besonders subtil quälen konnte.
* * *
Erleichterung, Wehmut und Dankbarkeit, das waren die Gefühle, die Sophie jetzt empfand. Der Besuch von Michael war ganz anders verlaufen, als sie es für sich sich erwartet hatte. Sie mochte gar nicht mehr an die Sachen denken, die sie ihm zugetraut hatte, denn er war ganz anders gewesen.
Natürlich war er immer noch der Sohn eines Maurers, doch er studierte Medizin und hatte sich immer um sie gekümmert, als sie in der Klinik war.
Sophie schämte sie sehr dafür, wie sie ihn in der Vergangenheit behandelt hatte. Obwohl sie ihn nach allen Regeln der Kunst gedemütigt und ignoriert hatte, hielt er trotzdem zu ihr.
Was hatte er gesagt? Sie wäre nicht sie selbst gewesen, sondern durch den Tod der Mutter aus der Bahn geworfen worden. Sie wollte es nur zu gern glauben, dennoch hatte sie ein Leben gelebt, dessen sie sich jetzt schämte. Und die Liste mit ihren Entschuldigungsvorhaben war sehr lang.
Sie hatte sich auf das Bett gesetzt und blickte sich im Raum um. Es sah alles so verändert aus, seit er da gewesen war. Er hatte ausgefegt und Staub gewischt. Er hatte für sie gekocht und sie hatten gemeinsam gefrühstückt.
Und ... er hatte ihr einen Orgasmus beschert, fast ohne sie berühren. Und es hatte so gut getan, sich danach in seine Arme zu kuscheln.
Ob er ihr den Wunsch nach einer Bibel erfüllen würde? Sophie war schon lange klar, dass sie ein besseres Leben führen wollte, sobald sie die Gelegenheit dazu hatte. Und Lesen in der Bibel war ein guter Anfang, wie sie fand.
Ganz spontan falteten sich ihre Hände und ohne dass sie es geplant hatte, begann sie ein kleines improvisiertes Dankgebet zu sprechen. Sie wusste, dass er sie hören würde.
* * *
»Ah, sehr schön, dass ihr gekommen seid, Maria.« Robert Greinert sah etwas bedrückt aus, als er Paul und Maria im Rathaus begrüßte. »Nehmt bitte Platz.«
Maria blickte sich um. Fast alle der Gesichter erkannte sie, wenn sie auch bei einigen der anwesenden Herren die Namen nicht parat hatte. Auch Herr Wetzler war anwesend.
Eigentlich war Werktag und fast jeder hätte an seinem Arbeitsplatz sein müssen. Doch das Fest war für Landsbach so wichtig, dass diese außerordentliche Vorstandsitzung hohe Priorität hatte. Es standen neben dem Prestige auch diverse finanzielle Gründe dafür, dass Fest nicht abzusagen. Ein Stuhl war demonstrativ leer gelassen. Es war der, auf dem die letzten Male immer der Baron gesessen hatte.
Robert erhob sich und bat um Gehör. Er gab noch einmal einen kurzen Überblick über die bisherigen Ereignisse, betonte dabei die Verhaftung des Barons und machte auch darauf aufmerksam, dass dessen Tochter noch nicht wieder gefunden war. Er hatte es nicht ausgesprochen, doch es war im Saal zu spüren, dass bisher keiner die Baroness vermisst hatte.
»Ich habe mich daher entschlossen, kommissarisch den Vorsitz zu übernehmen und wollte hier fragen, ob alle mit meinen Vorschlag einverstanden sind.« Er nahm wieder Platz.
Es gab die eine oder andere Wortmeldung, doch sie drehten sich meist nur um irgendwelche unwichtigen Details. Nur ein Notar bat Herrn Greinert um einen Termin, nachdem die Versammlung beendet sein würde.
Herr Greinert hatte alle Wortmeldungen abgewartet, dann erhob er sich noch einmal. »Ich würde über mein Vorhaben gern abstimmen lassen.« Er blickte in die Runde. »Ist jemand gegen meinen Vorschlag?«
Ein etwas nervöser Blick in den Saal erfolgte, doch kein Arm erhob sich. Es gab nur eine Enthaltung.
»Gut, nachdem dies geklärt ist, möchte ich den Festvorstand zu einer Besprechung einladen.« Er blickte zu Renate und auf das Prinzenpaar. »Wir möchten den Ablauf noch einmal im Detail durchgehen und prüfen, ob wir etwas ändern müssen.«
Einige Herren erhoben sich und verließen den Raum.
»Und wir müssen uns überlegen, was wir der Presse erzählen.« Herr Greinert hatte es mehr zu sich selbst gesagt.
»Wie wäre es mit der Wahrheit?« Andrea war aufgestanden und trat nach vorn an den Tisch.
»Wer hat denn die Presse eingeladen?« Im ersten Moment war der neue Vorstand etwas konsterniert.
»Ich möchte auch, dass es ein schönes Fest wird.« Die Reporterin machte sich ein paar Notizen. »Warum sollten wir das Fest mit einer Lüge beginnen?«
Robert wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Was wollen sie also schreiben?«
»Heute habe ich berichtet, dass er verhaftet wurde, morgen werden sie lesen können, warum.« Andrea hatte sich auf die Ereignisse gut vorbereitet. »Und auch, was mit seiner Tochter passiert ist.«
»Sie werden nicht dazu aufrufen, dass Fest abzusagen oder zu boykottieren?« Aus Sicht des Vorstandes war es das Naheliegende.
»Warum sollte ich?« Andrea war verblüfft, wie genau sie die Reaktionen vorhergesehen hatte. »Ich möchte Maria den Triumph nicht verderben.«
»Darf ich sie zu unserer Sitzung einladen?« Robert Greinert spürte, dass die Flucht nach vorn wohl die beste Taktik war. »Dann können sie ihre Leser auch gleich über die anstehenden Änderungen informieren.«
»Sehr gern.« Andrea grinste innerlich. Das war mehr, als sie sich erhofft hatte. »Ich danke sehr für die Einladung.«
* * *
Immer nervöser blickte Leonie auf die Uhr, während sie im Wohnzimmer Staub wischte. Eigentlich hatte sie großen Spaß daran, in ihren Fesseln zu arbeiten, und sie mochte es, wenn bei jeder Bewegung, die sie machte, die Ketten und Lederriemen sie darauf aufmerksam machten, dass ihr Freiraum sehr begrenzt war.
Und jetzt trug sie auch noch diese so seltsam faszinierenden Handschuhe. Sie waren über die gesamte Länge bis zur Achselhöhle geschnürt und selbst, wenn sie ihre Arme und Hände noch hätte frei bewegen können, war doch die Schnürung auch noch mit einem Schloss abgeschlossen. Und wo der Schlüssel dazu war, wusste Leonie nicht.
Natürlich wusste sie, dass ein Wort von ihr sie sofort befreien würde, doch sie war von ihrer Hilflosigkeit viel zu fasziniert, um sie aufzugeben. Außerdem hielt Frau Mohr immer wieder eine Überraschung für sie bereit. Immer wenn Leonie glaubte, es könne nicht mehr strenger werden, wurde sie von ihr vom Gegenteil überzeugt.
»Nun Leonie, hast du dich schon entschieden, welche Finger ich dir jetzt nehmen darf?« Selma genoss den Umgang mit der immer hilfloser werdenden Leonie sehr. »Denke daran, dass heute der Hausputz ansteht.« Sie hatte gerade erst geputzt, doch das wollte sie ihrem Schützling nicht anvertrauen. Es sah einfach so süß aus, wenn sie sich so sehr mit den Fesseln abmühte und bei fast jeder Bewegung leise stöhnte.
»Ist die Stunde schon um?« Leonie tat, als würde sie erschrocken auf die Uhr sehen. Tatsächlich hatte sie die Zeit die ganze Zeit im Blick gehabt und teilweise sogar die Minuten mitgezählt.
Das Schlagen der alten Pendeluhr beantwortete die Frage.
Seufzend hielt Leonie Frau Mohr ihre linke Hand entgegen. »Bitte Zeigefinger und Daumen.« Bisher hatten die fixierten Finger nicht wirklich gestört, weil sie mit den verbliebenen Finger die abzustaubenden Gegenstände meistens noch gut bewegen konnte.
Selma griff sich die nötigen Stangen und schon sie langsam in die kleinen Hüllen auf Leonies Hand.
Leonie betrachtete es mit einem Gemisch aus Furcht und Faszination. Doch erst als Frau Mohr ihre Hand wieder los ließ, wagte Leonie es, ihre Finger zu bewegen. Und wie schon bei den bisherigen Fingern war ein Beugen der Finger nicht mehr möglich. Selbst der Daumen wurde durch den Handschuh etwas abgespreizt festgehalten. Ihre linke Hand war jetzt vollkommen nutzlos.
Ein seltsames Gefühl durchfuhr ihren Körper. Nur mühsam fand sie die Worte, um sie bei Selma zu bedanken. »Vielen Dank für die strengen Fesseln.« Leonie wusste schon gar nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie hatte sich bestimmt schon das eine oder andere Mal wiederholt. Und doch war es die schönste Zeit ihres bisherigen Lebens, weil sie in einer sehr vertrauenswürdigen Umgebung immer strenger gefesselt wurde und dabei trotzdem noch zu arbeiten hatte.
Leonie war dabei aber viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, sonst hätte sie sicher gemerkt, dass Selma sie oft beobachtete und sich an ihren Mühen sehr ergötzte. Genauso liebte Frau Mohr es, die nächsten Fesseln schon mal bereitzulegen und dann zu sehen, wie sehr ihr Schützling sich davon beeinflussen ließ.
Bisher hatte Leonie mit einem Staubtuch gearbeitet, doch dann sah sie, was Selma schon bereitgelegt hatte. Es war ein Staubwedel an einer kurzen Stange. Und am anderen Ende sah Leonie zwei Lederriemen. Einer davon hatte am Ende eine Schnalle. Sie stöhnte sofort, denn sie hatte erkannt, was dieser Gegenstand bedeutete. Sie hatte es oft genug auf Fotos gesehen. Sie würde das Ende der Stange in den Mund nehmen und die Riemen würden die Stange wie ein Knebel an ihrem Kopf festhalten.
Es würde sehr demütigend werden. Doch dann hielt sie in ihren Gedanken inne. Es war ja nur konsequent. Wenn sie zu Putzen hatte und dabei ihre Hände nicht mehr benutzen konnte, dann musste der Staubwedel anders festgehalten werden. Und ihr Mund war dazu sehr gut geeignet.
»Was ist los, Leonie?« fragte Selma fast etwas scheinheilig. »Ich an deiner Stelle würde mich jetzt beeilen, bevor es so richtig mühsam und anstrengend wird.« Sie liebte es, die Mädchen auf so eine ganz gemeine Weise weich zu kochen.
Leonie seufzte noch einmal. Sie verzichtete auf Widerspruch, obwohl sie gern gesagt hätte, wie gemein sie das alles fand. Doch sie hielt ihren Mund, denn zum einen bestand immer die Gefahr, weggeschickt zu werden, und zum anderen fühlte sich Leonie immer mehr in einem Paradies, welches sie zuvor nie gekannt hatte. Es hatte auch nichts mit Erregung zu tun, es war einfach nur schön.
* * *
Sophie war überrascht. Ihr Cousin hatte ihr ein tatsächlich ein neues Radio mitgebracht, inklusive Verpackung und Anleitung. So hatte sie keine Problem, es auszupacken und auch gleich in Betrieb zu nehmen. Irgendwie war sie gespannt, wieder etwas Kontakt zur Außenwelt zu bekommen. Sie wollte erfahren, was sich mittlerweile alles in der Welt zugetragen hatte.
Doch in dem Zimmer hatte sie nur Empfang von einem kleinen Privatsender. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Vater den Schlossturm für eine Sendeanlage zur Verfügung gestellt hatte. Es kam vor allem Werbung und für die volle Stunde waren Nachrichten angekündigt. Sophie war von der Werbung genervt, doch sie wollte die Nachrichten nicht verpassen, so zwang sie sich dazu, die Spots zu ertragen.
Es war gleich die erste Meldung, die sie elektrisierte. Ihr Vater war verhaftet worden, weil er seine Tochter entführt haben soll. Sophie seufzte. Von ihr gäbe es keine Spur, obwohl das Schloss durchsucht worden war.
Sophie war die Lust auf weitere Neuigkeiten vergangen. Sie schaltete das Radio wieder aus und legte sich auf das Bett, um zu Grübeln.
Sie fragte sich, ob sie wirklich befreit werden wollte. Vor ihr auf dem Tisch lag die lange Namensliste der Personen, die sie verletzt zu haben glaubte. Und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, sich bei jedem einzelnen ernst- und glaubhaft zu entschuldigen, war sie doch froh, wenn sie dies noch etwas hinauszögern konnte.
Außerdem, dass wurde ihr nach einiger Zeit immer deutlicher klar, hatte sie Angst vor der Welt da draußen. Es würde nicht mehr die Welt sein, in der sie bisher gelebt hatte, und sie wollte diese alte Welt auch nicht mehr zurück bekommen. Sie wusste, dass sie sich ihr Leben neu aufzubauen hatte.
Hier war sie im Moment glücklich. Sie hatte ein Bett, zu Essen und jetzt sogar noch ein Radio für die Unterhaltung. Eigentlich hatte sie alles, was sie brauchte. Sie machte jetzt auch fleißig die Gymnastikübungen, die Michael ihr empfohlen hatte. Und sie freute sich sehr auf die Rückkehr von ihm. Er würde ihr eine Bibel besorgen und vorbei bringen. Vielleicht würde er wieder über Nacht bleiben.
* * *
Immer wieder hatte Leonie auf den Staubwedel geschaut, den Selma so demonstrativ auf die Kommode gelegt hatte. Sie war sich über ihre Gefühle völlig im Unklaren. Sie hatte einerseits Angst vor dieser offensichtlichen Demütigung, andererseits hatte sie schon oft davon geträumt, so ein Ding im Mund führen zu müssen.
»Ich nehme an, jetzt machen wir mit Ring- und Mittelfinger der rechten Hand weiter.« Selma hatte die entsprechenden Stangen schon in der Hand.
Leonie wusste, dass sie es nicht weiter hinauszögern konnte. Sie seufzte und streckte ihre Hand aus. Bisher war das Arbeiten mit dem Staubtuch gerade noch möglich, auch wenn sie es immer mal wieder ablegen musste, um Gegenstände beiseite zu stellen. Doch wenn das mit ihren Fingern so weiterging, wäre auch diese Freiheit bald weg.
»Als nächstes könntest du den Tisch decken.« Selma war noch dabei, die Stangen in die Hüllen der Handschuhe einzufädeln.
Leonie blickte ein wenig verzweifelt auf die Stangen, die noch übrig waren und schielte ein wenig auf die Nähte auf ihren Handschuhen. Wenn alle Finger fixiert waren, würden die mittellangen Stangen zum Einsatz kommen und ihr die Handgelenke fixieren. Und die ganz langen Stangen würde ihre Ellenbogen versteifen. Sie seufzte ganz leise. Es war ja nicht so, dass sie nicht schon öfters die Arme in irgendeiner Weise gefesselt hatte, doch so subtil wie jetzt war es noch nie gewesen. Sie trug nur ein paar Handschuhe und doch war sie hilfloser, als in jeder anderen Fesselung.
Doch dann erkannte sie, was den Aufenthalt bei Frau Mohr so außergewöhnlich machte. Sie trug die Fesseln in ihrem Alltag und Selma zwang sie mehr oder weniger dazu, trotz ihren Restriktionen zu arbeiten. Und das machte sie sehr an.
»So, das war es schon.« Selma ließ Leonies Hand wieder los.
»Danke, Frau Mohr, dass ich für sie so arbeiten darf.« Leonie wusste nicht, wer ihr den Satz auf die Zunge gelegt hatte, doch im Moment waren es die Gedanken, die sie gerade beschäftigten. Sie blickte auf die verbliebenen Stangen, aber sie sagte nichts dazu.
Selma war diesem Blick gefolgt. Natürlich ahnte sie, was Leonie bewegte. »Die kurzen Stangen sind für die Handgelenke und die langen für die Ellenbogen.« Sie blickte Leonie ins Gesicht. »Ich sehe, dass du dich schon darauf freust.«
Leonie verzichtete auf eine Antwort. Leicht grimmig griff sie sich das Staubtuch und machte dort weiter, wo sie aufgehört hatte.
* * *
Michael gingen immer wieder die traurigen Augen von Sophie durch den Kopf, während er sich in dem kleinen Büchergeschäft umsah. Er hatte bewusst die 'evangelische Buchhandlung' aufgesucht, weil er hoffte, dass sie hier ein gewisse Auswahl an Bibeln haben würden.
»Kann ich ihnen helfen?« Eine junge etwas pummelige Frau kam auf ihn zu.
Michael trug seinen Wunsch vor.
»Haben sie bestimmte Vorstellungen?« Die Verkäuferin führte ihn zu einem Regel.
»Eine schöne Bibel. Es soll ein Geschenk sein.« Natürlich wusste er, dass er versprochen hatte, die Quittung aufzuheben, doch er hatte sich auch vorgenommen, ihr die Bibel zu schenken.
»Was machst du denn hier?« Franz-Ferdinand war überrascht, Michael in der evangelischen Buchhandlung anzutreffen.
»Sie wünscht sich eine Bibel.« Michaels Stimme zeigte seine Verlegenheit.
»Lässt sie sich schon wieder von vorn bis hinten bedienen?« Er war verärgert.
»Wie soll sie es denn anders machen?« Michael merkte, dass er Sophie verteidigen musste.
»Und du springst sofort, wenn sie pfeift?« Franz-Ferdinand hatte die Zusammenhänge noch nicht erkannt.
»Sie tut mir leid.« Es war Michael nicht recht, dass er sich an dieser Stelle rechtfertigen musste. Er wandte sich wieder der Verkäuferin zu und wählte das Exemplar aus, welches etwas edler aussah, ohne das es übertrieben wirkte. »Die hier nehme ich.«
»Soll ich sie als Geschenk einpacken?« Die Verkäuferin versuchte zu verbergen, dass sie das Gespräch mitangehört hatte.
»Oh ja, bitte.« Michael gefiel die Idee.
Franz-Ferdinand schüttelte den Kopf. »Sie hat dich ganz schön um den Finger gewickelt.«
Michael wollte erst widersprechen, doch dann begriff er, dass er die Vorurteile von Sophies Cousin nicht so einfach ausräumen konnte. Außerdem war er sich sicher, dass Sophie sich ehrlich geändert hatte und ihre neue Linie weiter durchziehen wollte. »Bis Morgen Abend.« Er hatte keine Lust, weiter mit Franz-Ferdinand zu diskutieren.
* * *
»Ist die Stunde wirklich schon um?« Leonie sah verblüfft zur Uhr. Sie war gerade erst mit dem Tischabräumen fertig geworden. Es war aber auch sehr mühsam, jeden Teller einzeln tragen zu müssen und dabei auch nur noch Trippelschritte machen zu können.
»Du kommst mit den Handschuhen ja gut zurecht, wie ich sehe.« Selma hielt die letzten der kurzen Stangen in der Hand.
»Bitte hören sie auf, mich zu quälen.« Leonie blickte erschreckt auf, als sie realisierte, was sie gerade gesagt hatte. Denn erst nachdem sie es ausgesprochen hatte, fiel ihr auf, dass es auch als eine Bitte um Befreiung interpretiert werden konnte. Doch zu ihrer Erleichterung ging Selma nicht darauf ein.
»Aber ich quäle dich doch nicht.« Sie begann, die Stangen in die Hüllen zu schieben. »Ich erwarte lediglich, dass du mir etwas bei der Hausarbeit hilfst.«
»Aber ich kann doch nichts mehr anfassen.« Obwohl sie die Antwort kannte, versuchte sie so etwas wie leichten Widerstand. »Wie soll ich denn so abstauben?«
»Fragst du das wirklich ernsthaft.« Selma blickte auf die Kommode.
»Ich will das Ding nicht in meinem Mund haben.« Obwohl Leonie wusste, dass sie einen aussichtslosen Kampf kämpfte, versuchte sie sich zu sträuben.
»Aber wie willst du es denn sonst festhalten?« Selma genoss den Moment sehr. Es war schöner als sie es sich erträumt hatte. »Mach mir einen Vorschlag, wie du sonst arbeiten möchtest.«
Es war ein Kampf, den Leonie mit sich selbst ausfochte. Schließlich begriff sie, dass sie nachgeben musste. »Ich möchte den Staubwedel benutzen.«
»Eine gute Entscheidung.« Selma lächelte. »Eine sehr gute Wahl.«
Leonie seufzte tief, dann schloss sie die Augen und öffnete sie ihren Mund.
»Jetzt kannst du den Mund langsam zumachen.« Selma hatte die Riemen hinter Leonies Kopf verschlossen.
Als Leonie langsam der Aufforderung nachkam, war sie überrascht. Ihre Zähne füllten so etwas wie Gummi.
Auf diesen Moment hatte Selma gewartet. »Das ist eine Spezialanfertigung. Durch das Gummi kannst du den Staubwedel einfach festhalten und sicher führen.« Sie streichelte Leonie über den Kopf. »Ich möchte doch nicht, dass du mir etwas kaputt machst.«
Leonie blickte Selma an und hatte dabei Tränen in den Augen.
»Du darfst dich auch gern bei mir bedanken.« Selma setzte sich in den Sessel, der hinter Leonie stand.
Leonie versuchte einen Knicks, doch ihre Beinschienen erlaubte ihr die nötige Bewegung nicht.
»Du kannst mit dem Regal weiter machen.« Selma nahm sie die Zeitung zur Hand und tat, als würde sie lesen. In Wirklichkeit freute sie sich sehr auf den Moment, wenn Leonie erkennen würde, dass sie mit ihren Finger nun nicht mehr in der Lage sein würde, die Beinschienen zu öffnen. Denn dazu müsste sie ihre Zeigefinger anwinkeln und das war nun nicht mehr möglich.
* * *
Die Schneiderin Roswita Bartels schaute auf die Uhr, als es klingelte. Es hatten sich einige Leute angesagt, die bei Marias Kostümprobe dabei sein wollten. Sie war gespannt, wer als erstes eintreffen würde.
Roswita wusste ungefähr, was Maria Beller vorhatte und wie sie auf dem Fest auftreten wollte, doch so richtig glauben konnte sie es noch nicht. Gut, das Kleid war so gut wie fertig, obwohl sie mit dieser außergewöhnlichen Armhaltung überhaupt keine Erfahrung hatte. Sie warf noch einmal einen Blick auf die Schneiderpuppe, auf der ihre Arbeit für die Anprobe bereit stand.
Es sah schon sehr seltsam aus, eine schmale Taille und keine Öffnungen für die Arme. Wenn man nur von vorn schaute, sah es wirklich aus, als hätte die Trägerin keine Arme. Erst wenn sie von hinten betrachtet, war zu sehen, wo die Arme versteckt waren. Aber das so ein junges Mädchen zu so einer Haltung in der Lage war, das erstaunte sie doch sehr.
Sie ging zur Haustür und öffnete sie. Eine junge Frau stellte sich vor. »Guten Tag, ich bin Sonja Schrumm, mein Vater hatte einen Termin für mich ausgemacht.«
Roswita erwiderte den Gruß und bat ihren Gast herein. »Ich erinnere mich. Sie sollen sich das Kleid und die Armhaltung darunter genau ansehen. So hatte er es gesagt.«
»Ja«, Sonja bestätigte es. »Das hat er mir auch gesagt.«
»Wissen sie warum?« Die Schneiderin fand das Kleid zwar auch faszinierend, ihr kam es aber komisch vor, dass sich ein Notar dafür interessierte.
»Das habe ich ihn auch gefragt, doch er hat mir keine Antwort gegeben.« Dass sie heimlich die Unterlagen zum Fall 'Katerinenfest' gelesen hatte, behielt sie lieber für sich.
»Maria müsste gleich kommen, nehmen sie doch bitte solange Platz« Roswita zeigte auf die bereitgestellten Stühle. »Darf ich ihnen in der Zwischenzeit etwas anbieten? Vielleicht einen Kaffee?«
»Ja gern«, Sonja folgte der Bitte und setzte sich auf einen der Stühle. Sie trug noch ihre Bürokleidung, den etwas zu kurzen knielanger Rock und eine weiße Bluse. Ihre langen blonden Haare trug sie offen.
Frau Bartels steckte kurz den Kopf aus der Tür. »Judith?« Dann wandte sie sich wieder ihrer Besucherin zu. »Arbeiten sie für ihren Vater?«
»Im Moment mache ich eine Urlaubsvertretung.« Sonja lächelte etwas verlegen. »Ich bin Jura-Studentin und stehe kurz vor dem zweiten Staatsexamen.«
»Dann werden sie sicher einmal die Kanzlei ihres Vaters übernehmen?« Roswita blieb an der Tür stehen.
»Er hat es mir schon angeboten.« Sonja lächelte. »Aber ich weiß es noch nicht. Und jetzt muss ich mich auch noch nicht entscheiden.«
»Du hast gerufen, Mama?« Judith, die Tochter der Schneiderin kam in den Raum. Sonja schätzte sie 13 oder 14.
»Machst du bitte Kaffee für meine Gäste?« Es wurde deutlich, dass die Schneiderin nicht oft solchen Besuch hatte.
Judith bestätigte es etwas missmutig.
»Bitte mache gleich die große Kanne, Maria wird auch gleich kommen.« Roswita sah ihre Tochter ermutigend an. »Ich habe das Geschirr schon bereitgestellt.«
»Wegen dieses blöden Festes wird so ein Aufwand getrieben.« Judith verzog das Gesicht. »Extra deswegen ein neues Kleid.«
»Sie kann halt etwas, was du nicht kannst.« Roswita Bartels wurde etwas ungeduldig. »Jetzt mach, um was ich dich gebeten hatte.«
»In den Ferien arbeiten.« Judith schmollte etwas, doch dann verließ sie das Schneiderzimmer.
* * *
Paul und Maria waren auf dem Weg zur Schneiderin, wo sie das Kleid probieren sollten. »Ich bin schon sehr auf ihre Arbeit gespannt.« Marias Stimme zeigte ihre große Nervosität.
»Du hast es noch gar nicht gesehen?« Paul war erstaunt.
»Nein«, bestätigte Maria. »Sie hat nur einmal bei mir maßgenommen.«
»Ein maßgeschneidertes Kleid für meine Prinzessin.« Paul grinste. Ein wenig Stolz schimmerte in seinen Worten durch.
»Naja, von der Stange wird es das ja wohl kaum geben.« Maria lächelte. »Wie wird es wohl aussehen?«
»Naja, bestimmt so ähnlich wie das bei Grünbergs.« Paul erinnerte sich gern an den damaligen Moment, als seine Freundin das kostbare Kleid anprobieren durfte.
»Das hatte den Reißverschluss aber auf dem Rücken.« Maria hatte ein Schmunzeln in der Stimme. »Da hätte ich vielleicht mit den Fingern dran kommen können.«
Paul war über seine Freundin erstaunt, eine Antwort gab er nicht.
»Ich hatte mir gewünscht, dass das Kleid hochgeschlossen ist und keinen Ausschnitt hat.« Maria gab wieder, was sie damals mit der Schneiderin und Frau Bayer ausgemacht hatte.
»Dann könnte sie den Reißverschluss ja vorn anbringen.« Paul legte den Arm um seine Freundin. »Dann wäre er vor deinen Fingern geschützt.«
Maria stupste Paul in die Seite. »Du Schuft.« Doch dann blieb sie kurz stehen und blickte ihn verlangend an.
Paul nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss. »Lass uns weiter gehen, sie wartet bestimmt schon auf uns.«
»Gefällt dir so etwas?« Marias Stimme klang etwas verträumt. »Das mit dem Reißverschluss meine ich.«
Jetzt war es an Paul, stehen zu bleiben. »Du bist mir auch nicht böse?«
Maria verneinte. Irgendwie spürte sie die Wichtigkeit dieses Moments.
»Ich finde es sehr faszinierend, wenn du so in dem Kleid eingesperrt bist.« Seine Stimme zitterte leicht. Es fiel ihm nicht leicht, seine innersten Gedanken auszusprechen. »Aber natürlich würde ich dich sofort wieder herauslassen.«
»Schade.« Maria sagte nur diese eine Wort und das auch nur sehr leise.
»Was sagtest du?« Paul war sicher, sich verhört zu haben.
»Ich träume schon lange davon, dass ich gefangen bin.« Marias Stimme hatte etwas sehr schwärmerisches. »Und der Prinz, der kommt, umsorgt mich, aber er lässt mich weiter die Fesseln tragen. Er würde mich nur befreien, wenn mir echte Gefahr droht.«
»Wie meinst du das?« Nur in seinem Unterbewusstsein begriff er, welche Wünsche mit Maria in Erfüllung gehen könnten. Wünsche von denen er nicht einmal selbst wusste, dass er sie hatte.
»Ich möchte mich auch gegen die Fesseln wehren dürfen und dagegen kämpfen, ohne dass es etwas nutzt.« Maria blickte zu Boden.
»Wie wäre es, wenn ich dich nach den Anprobe nicht aus dem Gebet heraus lassen?« Paul wusste nicht, woher die Worte kamen.
»Du darfst es mir aber nicht vorher ankündigen.« Maria war amüsiert.
»Natürlich, du hast ja recht.« Paul grinste. »Und außerdem: Was hatten wir auf der Hütte gelernt? 'Topping from the Bottom' ist böse.«
Maria lachte. »Es erfordert sehr viel Vertrauen.«
»Natürlich.« Paul hatte auf einmal einen Kloß im Hals. »Jetzt lass uns weiter gehen.«
Maria seufzte.
* * *
Judith hatte sich mit dem Kaffeekochen extra etwas Zeit gelassen. Sie wollte ihn servieren, wenn diese Maria da war. Es gab diverse Gerüchte in der Stadt, dass Maria für das Fest etwas Außergewöhnliches vorführen wollte, und die Schülerin hatte erkannt, dass sie zumindest in diesem Moment dicht an der Quelle saß. Wenn sie es nur geschickt genug anstellte, dann würde sie das Geheimnis jetzt schon sehen können.
Es klingelte.
»Ich gehe hin.« Judith sah eine gute Gelegenheit, Maria schon einmal zu Gesicht zu bekommen.
Frau Bartels war zwar erleichtert, dass Judith ihr ab und zu Haushaltsarbeiten abnahm, weil sie sich dann besser ihrer Arbeit widmen konnte, doch jetzt hatte ihre Tochter ganz offenbar andere Motive. Sie ging ebenfalls zur Haustür und schickte ihre Tochter zurück in die Küche. »Was macht der Kaffee?«
»Och menno!« Judith schmollte ein wenig, doch dann ging sie zurück zur Küche.
Frau Bartels öffnete die Haustür und bat das Paar herein. Sie hatte gehofft, Maria würde vielleicht schon dieses ominöse Gebet tragen, doch die beiden sahen aus wie ein ganz normales Paar.
»Ich bin schon sehr gespannt.« Maria wollte etwas Nettes sagen, auch um ihre Nerven etwas zu beruhigen.
»Ich auch.« Die Schneiderin sagte, dass sie etwas Ungewöhnliches wirklich zum ersten Mal machen musste. »Ich bin sehr gespannt, ob es passen wird. Kommt bitte herein.«
Auf dem Weg ins Schneiderzimmer begegneten sie Judith, die das Kaffeetablett vor sich trug.
Judith stellte das Tablett auf den Tisch und wollte sich schon wieder etwas missmutig zurück ziehen, als sie von ihrer Mutter aufgehalten wurde. »Bleib hier, Judith, du musst mir bei der Anprobe helfen.« Sie sagte es in einem Ton, der vermuten ließ, dass Judith dies wohl nur sehr ungern tat. Doch dann zwinkerte sie ihrer Tochter dabei kurz und heimlich zu.
»Ja Mama«, antwortete Judith etwas betrübt, doch dann realisierte sie erst, was ihre Mutter gerade gesagt hatte. Es war sonst nämlich nicht üblich, dass Judith bei den Schneiderarbeiten helfen musste. Sie blickte ihre Mutter erstaunt an. »Danke Mama.« Langsam erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
* * *
»Das ist Sonja Schrumm.« Die Schneiderin stellte die Tochter des Notars vor. »Ihr Vater hat darum gebeten, dass sie bei der Anprobe dabei sein darf. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen.«
»Nein, natürlich nicht.« Maria seufzte ein wenig. »Es werden noch mehr Leute kommen.« Sie hatte Andrea versprochen, dass sie bei der Anprobe dabei sein durfte. Sie hatten der Reporterin viel zu verdanken.
»Wollen wir gleich anfangen?« Frau Bartels zeigte auf die bereitgestellten Stühle. »Habt ihr das Korsett dabei? Wie war doch gleich der Name? Irgendetwas mit Aphrodite?«
»Es nennt sich 'Venus-Korsett'.« Paul versuchte, seiner Stimme einen nüchternen Klang zu geben. Er wollte verheimlichen, dass er sehr aufgeregt war.
»Dann war meine Eselsbrücke mit den Griechen doch nicht passend.« Roswita lachte.
Maria war Pauls Nervosität natürlich nicht entgangen. Dafür kannten sie sich schon zu gut. »Was ist denn los?« fragte sie ihn leise, als er mit den Riemen näherkam.
»Ach nichts.« Paul schwieg. Er wollte nicht zugeben, dass Marias Wunsch nach echter Fesselung ihn etwas aus der Bahn geworfen hatte. Bisher hatte er es immer mit dem Programm für ihre Mutter in Verbindung gebracht. Doch jetzt begriff er, dass es auch Marias eigener Wunsch war. Und noch viel wichtiger, Maria setzte großes Vertrauen in ihn. Er versuchte, sich ein wenig zu beruhigen.
Sonja war näher getreten. »Das ist also das berühmte Venuskorsett?« Sie bat Paul, es ihr einmal zu zeigen.
Paul blickte etwas irritiert zu Frau Bartels. Er war über die Störung etwas verwundert.
»Das geht schon in Ordnung.« Die Schneiderin nickte ihm freundlich zu. »Frau Schrumm soll sich im Auftrag ihres Vaters das Kleid und das Anlegen ganz genau ansehen.«
»Hier ist das Korsett.« Paul reichte es Sonja. »Ich muss ihr ohnehin erst das Gebet anlegen.«
Sonja nahm das Korsett entgegen und betrachtete es ausführlich.
»Judith, schau dir genau an, was Paul macht. Vielleicht musst du mir später mal dabei helfen.« Sie sagte es im gleichen Ton wie vorhin schon.
Judith hatte Mühe, ihre Freude nicht zu zeigen. Das »Ja, Mama« kam deswegen etwas gequält, doch es bewirkte das Richtige.
Paul fühlte sich durch die Schneiderstochter ermutigt, zu erklären was er gerade im Begriff war zu tun. »Zuerst muss Maria die Arme auf den Rücken legen, dann kann ich mit den Handgelenken beginnen.«
Maria kam der indirekten Aufforderung nach. Ihr war im Gegensatz zu ihrem Freund das Spiel zwischen Mutter und Tochter nicht entgangen, doch sie hatte kein Problem, ihr Können zur Schau zu stellen. Sie ahnte, dass es in Zukunft diese Situation noch öfters geben würde.
* * *
»Jetzt komm endlich.« Andrea war aufgebracht. Wie fast jedes Mal trödelte ihr Freund und deswegen musste sie schon oft auf Bilder zu ihren Reportagen verzichten. Diesmal hatte sie ihn gerade aus dem Haus und ins Auto prügeln müssen.
Etwas missmutig stieg Hans aus und nahm sich die kleine Kamera aus dem Handschuhfach.
»Wo ist deine Ausrüstung.« Andrea war empört.
»Eine Kleideranprobe.« Hans Stimme zeigte, was er von Andreas Vorhaben hielt.
»Ich hatte dir doch gesagt, dass es etwas Großartiges zu Knipsen gibt.« Andrea wurde wütend. »Warum glaubst du mir nicht?«
»Ich habe sie doch dabei.« Hans hielt die kleine Pocketkamera hoch.
Direkt vor dem Haus der Schneiderei gab es keinen Parkplatz, so dass sie ein paar Schritte gehen mussten. Andrea stand schon an der Haustür, während Hans ihr langsam hinterher kam. Es war deutlich zusehen, wie wenig Lust er hatte, seine Freundin zu begleiten. Als er endlich neben ihr stand, drückte Andrea auf den Klingelknopf.
Judith ging zur Tür und öffnete. »Kommen sie herein. Sie sind in der Schneiderei.« Sie bemerkte, dass Andrea etwas zögerte. »Die erste Tür links. Folgen sie mir einfach.«
Das Paar kam der Aufforderung nach und zusammen betraten sie die Schneiderwerkstatt.
Andrea blickte sich sofort mit berufsmäßigen Instinkt um, während Hans noch etwas missmutig auf den Boden schaute. Er hatte zunächst nur gesehen, dass Maria in Unterwäsche da stand und deswegen hatte er höflich weggesehen. Doch es arbeitete in ihm, denn etwas war seltsam. Er riskierte einen zweiten vorsichtigen Blick und erkannte, was Maria gerade machte oder besser, er bemerkte die außergewöhnliche Armhaltung, die der junge Mann ihr anscheinend gerade anlegte.
Auf einmal ergriff ihn Hektik. »Andrea, ich muss noch mal kurz weg.« Er streckte die Hand aus. »Bitte gib mir den Wagenschlüssel.«
Andrea griff in ihre Handtasche und reichte ihm die Schlüssel. Sie sagte nichts, doch ihr Blick zu ihm brachte deutlich zum Ausdruck, was sie gerade dachte. 'Ich hatte es dir doch gesagt, du Trottel.'
Kaum hatte er sich den Schlüssel gegriffen, als er schon aus dem Raum stürmte.
Andrea blickte sich etwas verlegen um. »Er holt die große Ausrüstung.« Sie seufzte laut und sprach dann mehr zu sich selbst. »Ich hatte ihm gleich gesagt, dass es hier eine Sensation zu knipsen gibt, doch er wollte es mir nicht glauben.«
Frau Bartels räusperte sich. »Judith, wenn Herr Mohr mit dem Gebet fertig ist, kannst du noch etwas Kaffee kochen gehen.«
»Ja, Mama.« Die Stimme der Schneiderstochter zeigte, wie sehr angespannt sie war.
Nur ganz nebenbei erkannte Maria, dass Andrea bisher wirklich dicht gehalten und das kleine Geheimnis noch nicht verraten hatte. Sie fühlte sich genötigt, kurz 'Danke' zu sagen.
Andrea verstand natürlich sofort, was Maria bewegte. »Ich möchte es ganz spannend machen.«
* * *
Selma hatte genüsslich zugesehen, wie sehr sich Leonie mit dem Staubwedel an ihrem Mund abgemüht hatte. Jetzt war es Zeit, einzugreifen und ihren eigentlichen Plan weiter zu verfolgen. »Leonie, ich denke, jetzt hast du genug gearbeitet.« Sie trat auf ihren Schützling zu und nahm ihr den Staubwedel ab.
Leonie bedankte sich wieder. »Danke, dass ich einmal so arbeiten durfte.«
»Oh, nicht der Rede wert.« Selma sog die Gefühle des Mädchens geradezu auf. »Das können wir gern noch öfters machen. Ich habe noch mehr Zimmer, die geputzt werden müssen.«
Leonie sah Frau Mohr ein wenig erschrocken an. Sie hatte eigentlich mit einer anderen Antwort gerechnet.
Selma legte den Staubwedel wieder auf die Kommode und trat an Leonie heran.
Wieder liefen ein paar Tränen über Leonies Wangen, denn sie sah, dass Frau Mohr jetzt vier der etwas längeren Stangen in der Hand hatte.
»Für jede Hand zwei.« Selma versuchte sachlich zu bleiben, doch innerlich war sie auch wild aufgewühlt.
»Jetzt werden sie mir die Handgelenke nehmen?« Irgendetwas in Leonie zwang sie dazu, dies zu fragen.
»So ist es, mein Liebes.« Selma hatte große Mühe, ein neutrales Gesicht zu zeigen. »Darf ich dann bitten?«
Seufzend strecke Leonie ihren Arm nach vorn und schloss die Augen. Trotzdem fühlte sie, wie sich nacheinander die zwei Stangen ihren Weg in den Hand bahnten und ihre Hand völlig unbeweglich machte. Sie begann zu keuchen, denn obwohl ihr die Nähe von Frau Mohr bewusst war, fühlte sie doch eine immer stärker werdende Erregung.
»Ist es denn so schlimm?« Selma hatte das Keuchen natürlich bemerkt, und sie glaubte, auch die wahre Ursache zu kennen. Trotzdem wollte sie ihre Vermutung von Leonie bestätigen lassen.
Leonie war sich nicht sicher ob es richtig war, das Thema anzusprechen, doch sie wusste sich sonst keinen Rat. »Ach Frau Mohr, ich kann mich sonst erleichtern, in dem ich mich berühre. Doch das geht jetzt nicht.« Sie seufzte ein wenig erleichtert, weil sie ihre Sorgen ausgesprochen hatte und Frau Mohr dabei ruhig geblieben war. »Die ganzen Fesseln törnen mich so sehr an.« Sie blickte bei dem Satz zu Boden, denn sie schämte sich und versuchte, ihre Röte ein wenig zu verstecken.
»Ich verstehe dich sehr gut, Leonie.« Selma war fasziniert von dem Mädchen. Sie schien wirklich gerade zu platzen. Pauls Oma war erstaunt, dass sie den Mut aufgebracht hatte, ihre intimsten Gedanken mit ihr zu teilen. »Ich werde darüber nachdenken und ich glaube, ich kenne ein Mittel, mit dem ich dir deine Situation etwas erleichtern kann.«
Leonie blickte langsam auf. Ein wenig Hoffnung keimte in ihr auf. Doch sie traute sich nicht zu fragen, wann oder was dies sein würde.
»Morgen früh wirst du sehen, was ich für dich gefunden habe.« Selma ahnte, dass Leonie genau das hätte fragen wollten.
»Danke, Frau Mohr.« Leonie senkte wieder ihren Kopf und blickte sich um.
»Lass uns ein wenig fernsehen.« Selma schaltete den Apparat an. »Magst du dich nicht setzen?« Sie verfolgte damit aber eigentlich einen ganz anderen Plan.
Leonie hatte es sich angewöhnt, ihre Kniegelenke nur noch dann zu öffnen, wenn es gar nicht anders ging, denn es kostete sie viel Kraft in den Oberarmen. »Danke, ich bleibe lieber stehen.«
»Ich finde es ungemütlich, wenn du die ganze Zeit stehst.« Sie gab ihrer Stimme einen etwas eindringlicheren Klang. »Setze dich bitte.«
Leonie seufzte, dann streckte sie ihren Arm und versuchte, an ihr Kniegelenk zu fassen. Auf einmal entfuhr ihr ein Fluch.
»Leonie, was ist los?« Selma hatte Mühe, ihr Grinsen zu verbergen.
»Ich kann die Gelenke nicht mehr bedienen.« Auf einmal hob sie ihren Kopf. »Sie haben das gewusst und wollen mich jetzt demütigen.«
»Wo denkst du hin.« Selma genoss die Situation in vollen Zügen. Natürlich hatte Leonie Recht, doch dass musste das Mädchen nicht erfahren. »Wenn du mich fragst, mache ich dir die Gelenke mal kurz auf.« Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie an Leonies Knieschienen und öffnete die Riegel. Leonie konnte sich in den Sessel setzen.
Selma nahm dann ebenfalls Platz, nachdem sie die Knie in der sitzenden Stellung wieder fixiert hatte. »Jetzt lass uns mal sehen, was das Fernsehen bringt.« Das Ganze war natürlich nur ein Vorwand, denn es warteten noch zwei weitere einschneidende Erlebnisse auf Leonie. Und Selma wollte sie im Moment erst einmal ein wenig ablenken.
Leonie war viel zu aufgewühlt, um dem Geschehen auf dem Bildschirm zu folgen. Sie dachte immer wieder über ihre Lage nach und blickte sehr fasziniert auf die vielen Einschränkungen, die sie mittlerweile an ihrem Körper trug. Alle waren genauso unauffällig wie effektiv. Leonie fühlte fast so etwas wie Geborgenheit.
* * *
Es klingelte wieder. Judith legte die Kaffeedose beiseite und ging zur Haustür. Auf Höhe des Arbeitszimmers rief sie ein 'Ich gehe schon'.
Als sie die Haustür geöffnet hatte, wurde sie von Hans fast umgerannt, so eilig hatte er es. Er trug zwei große Umhängetaschen und rollte eine große Kiste vor sich her. Er stürmte gleich in die Werkstatt und scheuchte seine Freundin auf. »Los, helfe mir, die Scheinwerfer aufzubauen.«
Andrea verdrehte die Augen, dann griff sie zu. Es wurde deutlich, dass sie ihrem Freund schon öfters geholfen hatte, denn sie musste nichts fragen und die kannte alle Handgriffe.
»Jetzt kann es losgehen.« Hans fummelte noch etwas an der Kamera herum, dann blickte er auf und suchte das Motiv, welches ihn so erregt hatte.
Paul war gerade dabei, die Schnürung vom Venus-Korsett noch einmal nachzuziehen. Es war eine Maßanfertigung und war so gearbeitet, dass es über Marias Armen in der Gebetshaltung gezogen vollständig geschlossen werden konnte, ohne das es auf ihre Arme Druck ausübte.
»Moment mal bitte, was wird das hier?« Roswita Bartels war sehr erbost über das, was die Presse in Person von Andrea und Hans gerade in ihrer Werkstatt veranstaltete. »Packen sie das sofort wieder ein.«
Andrea und Hans hielten in ihren Bewegungen inne und blickten sich verunsichert an. »Aber sie hatten doch gesagt, dass ich bei der Anprobe dabei sein darf.«
»Ja, sie dürfen dabei sein, aber nicht ein ganzes Photostudio.« Frau Bartels war sehr aufgebracht. »Sie ruinieren mir meine ganze Werkstatt.«
Maria erkannte, dass sie vermitteln musste. Sie war der Reporterin immer noch sehr dankbar, auch dafür, dass sie bisher das kleine Geheimnis bewahrt hatte. »Frau Bartels, darf ich sie mal kurz allein sprechen?« Sie wandte sich an Paul. »Bist du fertig?«
Paul nickte, er war gerade mit dem Anlegen des Vernuskorsetts fertig geworden.
»Kommen sie mit in meine Küche.« Frau Bartels ging voraus, nicht ohne noch einmal darauf zu bestehen, dass Andrea und Hans ihre Sachen sofort wieder einzupacken hatten.
Maria wartete, bis die Küchentür geschlossen war. »Frau Bartels, wir haben Frau Baseling sehr viel zu verdanken. Wir wollten ihr so etwas Dankbarkeit zeigen.«
»Aber deswegen dürfen sie mir doch nicht die ganze Werkstatt durcheinander bringen.« Die Schneiderin war noch sehr aufgebracht.
»Bitte erlauben sie ihnen ein paar Fotos.« Maria gab wieder, wie sehr sich die Reporterin auf diesen Moment gefreut hatte.
»Ich habe ja nichts dagegen, wenn sie das eine oder andere Fotos macht, meinetwegen auch mit Blitzlicht.« Frau Bartels Stimme zeigte, dass sie sich schon ein wenig beruhigt hatte. »Aber bitte ohne diese monströsen Scheinwerfer.«
»Ich werde es ihr erklären.« Maria ging wieder in Richtung der Tür. »Könnten sie mir bitte die Tür aufmachen. Mir fehlen da gerade ein wenig die Möglichkeiten.«
Jetzt war es an der Schneiderin, etwas verlegen zu sein. »Ach Kind, ihre Arme.« Erst jetzt hatte sie wirklich realisiert, in welchem Zustand Maria sich im Moment befand. »Natürlich, warten sie bitte.«
Als Maria vor der Werkstatttür wieder warten musste, streichelte ihr die Schneiderin kurz über den Kopf. »Sie sind ein tapferes Mädchen.« Dann öffnete sie die Tür.
Maria ging auf die Reporterin zu. »Andrea, darf ich dich mal kurz sprechen?«
Die Reporterin war gerade dabei, einen Ständer für den Scheinwerfer einzupacken. »Was ist denn, Maria?« Ihre Stimme zeigte, dass sie ein wenig eingeschnappt war.
»Frau Bartels hat ja nichts dagegen, dass ihr ganz normale Fotos macht.« Sie blickte auf die Kiste mit den beiden Scheinwerfern, die noch offen stand. »Einfach mit der Kamera und einem Blitzlicht. Würde das gehen?«
Ein Lächeln glitt über das Gesicht der Reporterin. Natürlich wusste sie, dass ihr Freund seine Bilder, wenn er sich dann mal dazu entschlossen, stets gut ausgeleuchtet machen wollte, doch sie spürte auch, dass Maria ihnen hier eine Brücke bauen wollte. Sie drehte sich zu ihrem Freund. »Bitte nur mit der Kamera und dem Blitzlicht.« Dabei setzte sie eine Miene auf, von der sie wusste, dass Hans sie respektieren würde.
Doch der war in Gedanken schon ganz woanders. Er war langsam auf Maria zugekommen und stand jetzt hinter ihr. Es war deutlich, wie sehr er von dem Venuskorsett fasziniert war. »Ich dachte immer, das wäre eine Legende.«
»Hans, hast du mich verstanden?« Andrea war verwundert darüber, dass er gar nicht auf ihren so energischen Blick eingegangen war.
»Was hast du gesagt, Liebes?« Er blickte erschrocken auf.
»Nenne mich in der Öffentlichkeit nicht 'Liebes'«, zischte sie ihm leise zu. »Nur die Kamera mit Blitzlicht. Mach was daraus.« Sie wusste durchaus, dass er auch in einer dunklen Umgebung noch brauchbare Bilder zaubern konnte.
Hans klappte die Kiste zu und murmelte sich etwas in den nicht vorhandenen Bart. Dann griff er zu seiner Kamera, nicht ohne immer wieder auf das Venuskorsett zu schauen. Er nahm die Kamera hoch und wollte schon das erste Bild machen, als Andrea sich vor die Kamera stellte.
»Was soll das, Liebes?« Er war verärgert.
»Wir sind hier, um uns das Kleid anzuschauen. Davon brauche ich Bilder für meinen morgigen Artikel.« Ihre Stimme war auf einmal sehr energisch. »Maria in Unterwäsche will keiner sehen.«
»Aber das ist doch die eigentliche Sensation.« Hans ließ die Kamera sinken. Er wusste, dass seine Freundin entsprechende Fotos wirklich verhindern würde. Wenn er sich gegen sie stellen würde, riskierte er es, dass sie den ganzen Film aus der Kamera riss. »Ein Venuskorsett und ich darf keine Bilder davon machen.« Er war sichtlich betrübt.
»Können wir dann mit der Anprobe beginnen?« Frau Bartels hatte die Schneiderpuppe herangeholt und nahm das Kleid vorsichtig herunter. »Maria, kommen sie bitte?« Sie sah den verzweifelten Blick von Hans. »Ich sage, wenn sie knipsen dürfen.
* * *
Wieder klingelte es, und Judith machte sich seufzend auf den Weg. Kurz darauf kam sie mit dem Neffen des Barons zurück. »Ein Herr Franz-Ferdinand Freiherr von Schleihtal.« Sie lass es von einer kleinen Karte ab.
Maria verdrehte die Augen. »Was will der denn hier?«, flüsterte sie leise, so dass es nur die direkt um sich herumstehenden Personen hören konnten.
»Keine Ahnung.« Paul flüsterte ebenfalls.
»Können wir ihn irgendwie ablenken?« Maria war seine Gegenwart unangenehm.
Franz-Ferdinand räusperte sich. »Guten meine Damen, meine Herren.« Er deutete etwas übertrieben eine kleine Verbeugung an. »Mein Onkel schickt mich.«
»Ihr Onkel sitzt im Gefängnis«, fuhr Andrea dazwischen. »Falls sie das noch nicht mitbekommen haben.«
Doch den Einwand übersah er. »Ich soll hier die Kleideranprobe beaufsichtigen.«
»Was machen sie denn hier?« Sonja hatte den Mann wiedererkannt, der gestern erst bei ihr im Büro war.
»Das könnte ich sie auch fragen.« Franz-Ferdinand war erfreut, die Vorzimmerdame des Notars hier wieder zu treffen. Und er sah auch sofort, dass sie immer noch ihre so unschuldig erotischen Sachen trug.
Frau Bartels sah den beiden einen Moment zu, dann ging sie kurz zu Sonja und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Sonja lächelte. »Mache ich«, antwortete sie, dann ging sie langsam zum Fenster.
Maria sah erstaunt, dass der Neffe ihr hinterher ging. »Was haben sie ihr gesagt?« fragte Maria leise, als die Schneiderin sich wieder mit ihrem Kleid befasste.
»Ich glaube gesehen zu haben, dass es zwischen den beiden gefunkt hat, zumindest von Seiten des Herrn. Und Ich habe Frau Schrumm gebeten, ihn ein wenig abzulenken.«
Maria entglitt ein erleichtertes 'Danke'.
»Jetzt wäre ein guter Moment für ein Foto.« Frau Bartels war ein paar Schritte zurückgetreten.
Maria sah atemberaubend aus. Über einem weit schwingenden Reifrock kam ihre schmale Taille sehr gut zur Geltung, die durch ihr Korsett und den breiten Rock noch schmaler wirkte. Oben war das Kleid wie von Maria gewünscht hochgeschlossen und von vorn sah es wirklich aus, als hätte sie keine Arme. Erst von hinten erkannte man, wo ihre Arme versteckt waren. Venuskorsett und Kleid ergänzten sich hier hervorragend und gaben Maria eine Gestalt, die wirklich als außerordentlich schön zu bezeichnen war.
Hans zückte sofort den Photoapparat und knipste ein paar Bilder. Man merkte es ihm deutlich an, dass er viel lieber das Venuskorsett abgelichtet hätte, doch da waren ihm das Kleid und vor allem seine Freundin im Weg.
»Das war es?« Maria war immer noch sehr nervös. Immerhin bestand jetzt die Möglichkeit, dass Paul sie nicht aus dem Gebet befreien würde. Sie hatte sich schon öfters so etwas gewünscht, hatte sie aber nie getraut, den Wunsch zu äußern. Vor allem war ihr wichtig, dass er es einmal gegen ihren Willen machen würde. Sie hatte mittlerweile so viel Vertrauen zu ihm, dass sie bereit war, sich ihm so weit auszuliefern, denn sie wusste, dass er trotz allem auf sie aufpassen würde und sie vor jedem wirklichem Schaden bewahren würde.
»Nein, bei weitem nicht.« Frau Bartels war verwundert. »Für sie sind zehn Kleider bestellt, die müssen wir alle noch anprobieren.«
»Zehn Kleider?« Maria war verwundert.
»Bestellt wurden sie von Rudulf Steinhagen.« Roswita schmunzelte. »Sie haben einen offensichtlich einen Verehrer.«
»Das heißt, mit dem Kleid für das Fest sind sie fertig?« Andrea sah ihre Chance. »Dann hätten wir es.« Sie ging zu Hans und nahm ihm die Kamera weg. »Wir gehen jetzt.«
Jetzt fiel es Maria auch wieder ein. Der Chef der Sparkasse hatte die Kleider in Auftrag gegeben mit dem Wunsch, dass Maria sie bei den diversen Auftritten im Katerinenjahr tragen sollte. Das war aber schon vor ihrem Aufenthalt in den Staaten gewesen. Jetzt musste sie sich erst einmal setzen.
Andrea ging zu Frau Bartels und flüsterte ihr kurz etwas zu.
Die Schneiderin lächelte. »Machen wir.« Dann wandte sie sich an Paul und Maria. »Ihr könnt euch kurz etwas ausruhen.«
Paul wollte erst widersprechen, doch dann sah er, wie die Schneiderin ihm kurz zu zwinkerte und dabei kurz in Richtung des Fotografen blickte.
Paul begriff sofort. »Maria, wir machen noch eine Pause.« Er legte den Arm um sie.
Maria zuckte ein wenig zusammen, denn er hatte sie noch nicht in den Arm genommen, wenn sie das Gebet trug.
Paul spürte sofort, dass etwas anders war als sonst. »Entschuldige bitte, ich hatte nicht daran gedacht.«
Doch Maria schüttelte kurz den Kopf. »Das kannst du ruhig öfters machen. Es fühlt sich gut an, deine Arme zu spüren.« Sie gab ihm einen Kuss.
Andrea musste ihren Freund fast aus dem Raum schieben. Sie wollte verhindern, dass er das sogenannte Venuskorsett noch einmal zu Gesicht und vor allem vor die Kamera bekam.
Erst als sie das Auto weg fahren hörten, meldete sich Frau Bartels wieder. »Jetzt können wir weiter machen.« Sie trat an den Vorhang an der Wand und öffnete ihn.
Maria verschlug es den Atem, als sie sah, was dort an den Kleiderbügel und teilweise auch auf Schneiderpuppen auf sie wartete. »Die sind alle für mich?«
»Es wäre gut, wenn sie ihrer Freundin jetzt das Venuskorsett wieder ausziehen und die Arme frei machen.« Die Schneiderin blickte sie beide aufmunternd an.
»Natürlich.« Paul fragte sich, ob er sein Vorhaben wirklich durchgezogen hätte. Es war einfach eine unpassende Gelegenheit gewesen. Aber er fühlte sich durch ihre Reaktion ermutigt und in seinen Gefühlen bestätigt.
* * *
Das Konsortium hatte ihr als Teil der Anerkennung einen erste Klasse-Flug spendiert. Eigentlich legte Frederike darauf überhaupt keinen Wert, doch jetzt genoss sie es, dass sie viel Platz hatte und vor allem, dass es ruhig war. Kurz nachdem der Flieger die Reiseflughöhe erreicht hatte, kippte sie die Rückenlehne nach hinten und lehnte sich zurück. Sie freute sich darauf, nach viel zu langer Zeit endlich wieder einmal in ihre alte Heimat zu kommen.
Zumal es einen wunderschönen Anlass gab. Ihre Tochter würde auf dem Katerinenfest die Hauptdarstellerin sein. Ihren Freund hatte sie schon kennengelernt und war sehr von ihm angetan.
Sie war schon lange nicht mehr in Landsbach gewesen. Sie war gespannt, was sich so alles verändert hatte. Und sie war auch sehr neugierig, ob Anna und Florian wirklich sicher angekommen waren. Um sie nicht versehentlich verraten zu können, hatte sie jeglichen Kontakt zu ihnen vermieden, und auch Frau Mohr hatte sie entsprechende Anweisungen gegeben.
Immer wieder musste sie an die turbulenten Wochen denken, als Maria wieder einmal in der Klinik war. Kurz zuvor hatte ein Investor die Klinik übernommen und sie durfte das Krankenhaus nur noch unter ihm leiten, und das auch nur, weil sie durch ihre Kompetenz beeindruckt hatte.
Es war ein Glücksfall, dass sich gerade zu dem Zeitpunkt der Herzog Breganza aus Brasilien in der Klinik einquartiert hatte. Die Klinik hatte häufig prominenten Besuch, doch so gravierende Folgen hatte so ein Prominenten-Besuch nur selten.
Er war so mächtig und reich gewesen, dass er dem Investor einfach die Anteile an ihrer Klinik abkaufen konnte und ihr geschenkt hatte. Als Geschenk. Frederike war darüber immer noch sprachlos. Natürlich wusste sie, dass sie sich dies mit ihrer Arbeit auch verdient hatte. Denn sie hatte der zukünftigen Schwiegertochter vom Herzog zusammen mit ihrer Tochter beigebracht, wie man das berühmte Gebet auf dem Rücken trainieren und damit erlernen konnte.
Maria würde dieses Gebet auch auf dem Katerinenfest tragen und damit die erste Darstellerin überhaupt sein, die dieses Kunststück zustande brachte. Natürlich war dies nur möglich, weil Marias Körper seit Jahren an Korsetts und Monohandschuhe gewöhnt war.
»Was wünschen sie zu Trinken?« Die Stimme der Stewardess riss sie aus ihren Gedanken.
»Bitte ein Glas Sekt.« Frederike wollte noch auf ihren Erfolg beim Konsortium anstoßen, doch sie hatte dazu bisher einfach keine Zeit gefunden. Die ehrwürdigen Herren hatten ihren vorläufigen Bericht anerkannt und warteten jetzt nur noch auf einen guten Verlauf des Festes.
Sie dachte noch einmal an den Moment, als sie wirklich leibhaftig vor ihnen stand.
Ein Mitglied hat ihr heimlich signalisiert, dass sie schon mal den Sekt kaltstellen könne. Natürlich nur, wenn Maria dieses Fest wirklich so spielen würde, wie es geplant war.
Und sie solle in ihrer Klinik schon mal ein paar Zimmer frei machen für die ersten Probantinnen. Ein paar Mädchen kämen für eine erste echte Anwendung ihres Programms durchaus in Frage.
Frederike seufzte innerlich. Sie wollte die Fälle der ihr vorgeschlagenen Mädchen auf jeden Fall noch prüfen und sich mit den Mädchen persönlich auch unterhalten, um sich selbst ein Bild zu machen. Diese Klausel hat sie noch in ihr Programm aufgenommen, bevor sich es dem Konsortium vorgelegt hatte. Sie wollte solche Fälle wie Anna Kennedy unbedingt vermeiden.
Es war richtig, die Mädchen auf der richtigen Bahn zu halten, notfalls sogar unter Zwang, aber es war nicht Aufgabe des Programms, ihr Herz zu brechen und sie mit Gewalt zu einer Hochzeit zu zwingen, die sie nicht wollten.
Die Stewardess brachte den Sekt.
Frederike hielt das Glas hoch und stieß in Gedanken mit ihrer Tochter an. Letztendlich hatte sie ihr es zu verdanken, dass sie jetzt wirklich eine eigene Klinik besaß.
Doch dann musste sie schmunzeln. Ihrer Tochter hatte sie auch ein ganz anderes Erlebnis zu verdanken. Immer wieder musste sie an das Kleid denken, dass sie auf der Geburtstagsfeier des Herzogs getragen hatte. Sie hatte sich dem Dresscode des brasilianischen Hochadels anpassen wollen und hatte ein Kleid gewählt, dass das Verstecken der Arme ermöglichte.
Sie hatte Maria gebeten, ihr das Kleid zu schließen, und diese hatte es sehr wörtlich genommen. Sie hatte nicht nur den Reißverschluss im Rücken zugemacht, sondern sie hatte auch die Armfixierung geschlossen, so dass sie in dem Kleid tatsächlich gefangen war.
Es waren neue Erfahrungen für sie. Und sie stellte fest, dass sie diese Art von Gefühlen gar nicht mochte.
Die Leute auf der Feier waren alle sehr freundlich zu ihr, und ein hübscher und sehr zuvorkommender junger Mann in einer Livre hatte sich um ihr persönliches Wohl gekümmert. Er war unaufdringlich und doch sehr aufmerksam. Letztendlich reichte es, ihn kurz anzusehen oder die Augenbrauen anzuheben, schon war er an ihrer Seite.
Und er schien auch immer gleich zu wissen, was sie bedurfte.
Sie hatte erst Skrupel, sich von ihm füttern zu lassen, doch er machte es mit einer solchen Ruhe und Würde, dass sie glaube, sie wäre schon immer eine brasilianische Prinzessin gewesen.
Am Abend hatte er sie sogar auf ihr Zimmer gebracht und ihr die Fesseln gelöst, dann hatte er sich sehr unauffällig entfernt.
Wenn sie ehrlich zu sich war, dann hatte sie es schon genossen, dass er sich so aufmerksam um sie gekümmert hatte und sie wirklich wie eine Prinzessin von vorn bis hinten bedient hatte. Es gab keinen einzigen Moment, in dem sie ihre Arme wirklich vermisst hatte.
Und doch konnte sie jetzt auch etwas besser nachempfinden, was sie ihrer Tochter über all die Jahre abverlangt hatte und ihr Respekt vor ihren Leistungen stieg noch einmal.
Es war Weihnachten vor fünf oder sechs Jahren und sie saßen zusammen vor dem Fernseher, um die jährliche Ausstrahlung der Sissi-Filme zu genießen.
»Ach Mama, ist Sissi nicht wunderschön in ihren Kleidern? Und was für eine tolle Figur sie hat!« Maria schwärmte deutlich für das, was sie auf dem Bildschirm zu sehen bekamen. »So schön möchte ich auch sein. Heute sieht ja niemand mehr so toll aus. Was würde ich darum geben, auch so ein Kleid tragen zu dürfen!«
»Das ist kein Wunder, Kind. Sie trug ein ganz enges Korsett, ließ sich jeden Tag so eng schnüren, dass sie kaum noch atmen konnte. Und sie ließ sich sogar in ihre Kleider einnähen, damit sie gut saßen!« Auch ihre Mutter war von den Leben der berühmten Prinzessin fasziniert. »Alleine kam sie da nicht mehr heraus, sie war auf Hilfe angewiesen.« Sie seufzte. »Solche Einschränkungen nimmt heute natürlich keiner mehr auf sich. Und außerdem verformt sich dadurch ihr Brustkorb dauerhaft.« Sie blickte ihre Tochter warnend an.
»Was bedeutet das?« Maria ließ sich von den vorsichtigen Warnungen nicht beeindrucken.
»Sie bleib zwar so schön, bekam aber zeitlebens nicht so viel Luft wie die Leute ohne Korsett.« Frederike erklärte die Zusammenhänge.
»Und du meinst, sie war wirklich eingeschlossen in ihren schönen Kleidern?« Die Faszination war Maria deutlich anzusehen. »Warum hat sie das nur auf sich genommen?«
»Naja, sie war eine Kaiserin. Und die Kaiserin opferte sich für ihr Volk auf.« Ihre Mutter gab wieder, was sie aus der Historie wusste.
»Sie hat Ungarn erobert und die Italiener besänftigt.« Maria gab den Inhalt der Filme kurz wieder. »Und sie wurde vom Volk bewundert, weil sie so viel auf sich nahm.«
»Naja, der Film übertreibt aber auch an der einen oder anderen Stelle.« Sie musste etwas Wasser in den Wein genießen.
»Mama, ich möchte auch so schön wie Sissi werden.« Maria hatte auf einmal dieses Leuchten in den Augen, welches ihre Mutter fürchtete. »Du machst doch in der Klinik immer Korsetts für deine Patienten mit krummem Rücken! Kannst du nicht ein Sissi-Korsett für mich zu Weihnachten machen lassen?«
»Ich weiß nicht, mein Schatz.« Frederike hatte den Gedanken bisher noch nicht erwogen. »Das wäre zwar schon möglich, wenn ich darüber nachdenke... aber das sind alles Maßanfertigungen, die einen Haufen Geld kosten, und sehr viel Arbeit machen.« Sie machte eine Pause, um ihre Worte zu betonen. »Du wirst das ausprobieren, es wird Dir zu eng und unbequem sein, und dann ist das teure Ding umsonst gemacht worden und liegt in der Ecke, nur für eine Laune.«
»Nein Mama, das will ich wirklich!« Maria wusste schon immer, wann es sich zu kämpfen lohnt. »Es ist mein Herzenswunsch. Und damit ich es mir nicht anders überlegen kann, musst du das Korsett abschließbar machen, damit ich darin eingeschlossen bin wie Sissi, und nur mit deiner Hilfe wieder herauskomme!« Sie holte tief Luft. »Wenn ich bald mit dem Tragen anfange, solange ich noch wachse, dann kann ich auch noch so eine wunderschöne Figur bekommen!« ihre Augen leuchteten.
»Na, ich weiß nicht... und was willst du in der Schule machen?« Frederike suchte fast verzweifelt nach Argumenten, um ihrer Tochter die Idee noch ausreden zu können. »Du könntest keinen Sport mehr machen, und du müsstest das Korsett unter normaler weiter Kleidung verstecken.« Sie holte tief Luft. »Und wenn es dir wirklich ernst ist mit dauerhaftem Figurtraining, dann müsstest du auch nachts ein Korsett im Bett tragen.«
»O ja Mama, das will ich alles tun!« Maria war nicht zu bremsen. »Du musst mir eben ein Attest schreiben, dass ich wegen meines Kreislaufes nicht am Sport teilnehmen kann, wenn ich weniger Luft bekomme! Machst du mir bitte mein Korsett? Bitte bitte bitte!«
Frederike nahm wieder einen Schluck Sekt und lächelte. So hatte es angefangen, mit Sissi, der berühmten österreichischen Kaiserin. Und wenn sie heute den Film schaute, musste sie immer wieder an die Ereignisse von damals denken.
Zwei Monate waren vergangen. Maria kam von der Schule nach Hause, ihre weite Bluse verdeckte das Korsett ganz gut. Sie lief zu schnell die Treppe hinaus, und aus Sauerstoffmangel wurde ihr schwarz vor Augen. Frederike konnte sie gerade noch auffangen, als sie zusammen sackte. Sie legte sie auf das Sofa, öffnete ihr die Bluse und wollte ihr das Korsett öffnen.
»Nein Mama, nicht das Korsett öffnen!« Maria war wieder zu sich gekommen und wehrte sich. »Es geht schon wieder!«
»Ich war von Anfang an dagegen. Sieh nur, was passiert ist!« Frederike wusste, dass sie einschreiten musste. »Du bekommst einfach keine Luft in diesem engen Korsett, das kann ich nicht verantworten!«
Doch Maria widersprach. »Aber ich will es so! Bitte lass mich weitermachen!«
»Aber Kind, so geht es einfach nicht weiter!« Frederike kämpfte um ihre Tochter. »Was ist, wenn du auf der Straße ohnmächtig wirst?«
»Dann müssen wir eine andere Lösung finden.« Maria wurde auf einmal etwas nachdenklich. »Mir ist aufgefallen – wenn ich die Arme ganz zurücknehme, dann weitet sich mein Brustkorb, und ich bekomme mehr Luft. Aber das ist zu anstrengend, ich kann meine Arme nicht so halten. Kann man nicht was an dem Korsett machen?«
»Naja, man könnte natürlich Schulterriemen anbringen, einen Geradehalter, der dir die Schultern zurückzieht, dann weitet sich der Brustkorb, wie Du sagst.« Frederike fühlte, dass die Diskussion eine Richtung nahm, die ihr überhaupt nicht gefiel. »Du müsstest auch täglich Übungen machen, bei denen du die Ellbogen zusammenbringst. Dabei müsste dir jemand helfen, und sie zusammendrücken.« Sie seufzte. »Aber das schaffe ich mit der Arbeit nicht! Und außerdem wird das ganze noch unbequemer für Dich, das kann ich Dir nicht zumuten!«
»Aber ich will es unbedingt!« Maria war in ihrer Begeisterung nicht zu bremsen. Bitte mach mir solche Schulterriemen. Und wenn ich diese Übungen nicht alleine machen kann – kannst Du mir nicht einfach täglich für zwei Stunden die Arme hinter dem Rücken zusammenbinden? Dann dehne ich meinen Brustkorb die ganze Zeit!«
»Maria, willst Du das wirklich?« Als Mutter war sie entsetzt über so einen Vorschlag. »Ich soll dich fesseln? Das darf aber nie jemand erfahren!«
»Ja bitte, Mama« Maria blickte sie mit großen Augen an. »Ich will das wirklich!«
»Nun, erzähle es bitte niemandem, aber ich werde dir einen großen weichen Handschuh machen, der beide Arme umschließt und der eng geschnürt werden kann.« Wieder holte sie tief Luft. »Den musst Du dann aber wirklich täglich tragen, wenn er etwas nützen soll!«
Maria fiel ihrer Mutter um den Hals »Mama, Du bist die beste Mama der Welt!«
Etwas wehmütig blickte Frederike aus dem Flugzeugfenster und nahm wieder einen Schluck Sekt. Der Pilot hatte gerade durchgegeben, dass sie jetzt den Atlantik erreicht hatten.
Die Stewardess hatte ein neues Glas Sekt gebracht, wieder nahm Frederike einen Schluck. Das neue Glas hatte eine angenehmere Temperatur, weil er kalt war. Das bisherige Glas war warm geworden. Deutlich erinnerte sie sich an das nächste so einschneidende Ereignis.
Frederike kam sichtlich bewegt nach Hause. Natürlich hatte Maria sofort gefragt, was passiert wäre, doch ihre Mutter hatte sie auf das Abendessen vertröstet.
Maria wusste, dass es nicht bringen würde, wenn sie vorher drängelt, so bezwang sie ihre Neugier und wartete geduldig auf das Abendessen.
Schließlich begann Frederike zu erzählen. »Maria, erinnerst Du Dich - ich hatte Dir erzählt, dass ich ein paar Patienten habe, die incognito ins Krankenhaus kommen, weil sie zu alten Fürstenhäusern gehören und nicht von der Klatschpresse verfolgt werden wollen. Einer davon, ein älterer Herr, ist sehr nett, wir verstehen uns sehr gut und sprechen auch privat über unsere Familien.«
Maria lehnte sich zurück und lauschte gespannt.
»Ich habe ihm vor einem Monat von Dir erzählt. Dass Du so leben möchtest wie Kaiserin Sissi, und was Du alles auf Dich nimmst - das Korsett, die Geradehalter, den Monohandschuh, das Nachtkorsett, und die Bettfesseln, damit Du Dich im Korsett nicht herum wälzt - und das alles ganz freiwillig, ja eigentlich gegen meinen Willen!« Sie machte eine kurze Pause. »Erst wollte er mir das alles überhaupt nicht glauben, aber nun bewundert er Dich sehr!«
Maria lächelte ein wenig.
»Er sagte, dass die jungen Damen in seiner Familie überhaupt nicht prinzessinnenhaft leben, und er macht sich große Sorgen um ihre Zukunft.« Frederike zögerte ein wenig. »Heute habe ich ihn wieder getroffen, und er machte mir ein Angebot, das ich sofort abgelehnt habe. Er insistierte aber, und ich musste ihm versprechen, Dir zumindest davon zu erzählen!«
Frederike zögerte ein wenig. Nicht alles, was ihr der Herr erzählt hatte, wollte sie ihrer Tochter weiter geben. Viele von seinen Freunden hatten ähnliche Probleme mit ihren Töchtern, und alle hatten Angst, dass sie sich zu vulgären Flittchen wie Paris Holton oder ähnlich entwickeln könnten, und damit die Familien zugrunde richten würden.
»Und was war das Angebot?« Noch war Maria neugierig.
Frederike blickte etwas unglücklich auf ihre Tochter. »Eine echte Prinzessin, so sagt er, muss für das Volk beziehungsweise für ihre Familie leben und dafür täglich Opfer bringen und Verzicht üben, ja sich vielfältigen Einschränkungen unterwerfen und Selbstbeherrschung üben.« Sie holte tief Luft. »Er möchte seine Töchter gerne wieder zu Prinzessinnen erziehen, wusste aber nicht, wie das in der heutigen Zeit gehen soll, bis ich ihm von Dir erzählte.«
»Aber was hat er dir angeboten?« Maria hatte bemerkt, dass ihre Mutter auf die eigentliche Frage noch nicht geantwortet hatte.
»Es ist nicht so einfach zu erklären.« Frederike begriff, dass ihre Tochter nicht locker ließ.
Maria zwang sich, den Ausführungen ihrer Mutter zuzuhören.
»Ganz eindeutig müssen potentielle Erbinnen streng und konservativ erzogen werden, dabei ihre Charakter zu Verzicht und Selbstaufopferung geformt werden. Sie sollten natürlich gesellschaftlich gut aussehen und sich von innen heraus entsprechend benehmen, nicht nur angelernte Verhaltensmuster vorschieben und bei der ersten Gelegenheit wieder abwerfen.« Frederike nahm einen Schluck Tee. »Körperlich sollen sie natürlich auch einigen Idealen entsprechen, und hierbei sollten viktorianische Erziehungsmethoden eine große Rolle spielen.«
»Komm zum Punkt.« Maria wurde ungeduldig.
»Er möchte, dass Du und ich helfen, ein Erziehungsprogramm für Prinzessinnen zu entwickeln. Du bist dabei die erste Prinzessin, die alles ausprobieren soll.« Frederike blickte auf den Tisch, während sie weiter sprach. »Die Einzelheiten sind allerdings sehr hart, dafür ist auch die Belohnung großzügig. Er und seine Freunde bezahlen jegliche Kleidung, Einrichtung, Korsetts und Apparaturen, die Du dafür benötigst, dazu Deine Ausbildung inklusive einem erstklassigem Studium, wenn du lange genug durchhältst.«
Maria hielt die Luft an.
»Aber wie gesagt, die Bedingungen sind sehr hart. Du müsstest weiterhin dein Korsett und dazu täglich für einige Zeit den Monohandschuh tragen.« Frederike hatte vor innerer Anspannung Mühe zu sprechen. »Du musst weiterhin ganz normal in die Schule gehen und alle besondere Kleidung verbergen. Ein wesentlicher Teil der Prinzessinnenausbildung soll sein, dass du ständig Verzicht und Selbstbeherrschung üben sollst. Du wirst daher in Deiner Kleidung eingeschlossen, und du musst dir wann immer möglich zusätzliche Fesseln und Einschränkungen selbst anlegen, von denen du nur mit fremder Hilfe wieder befreit werden kannst, um deine Hingabe zu beweisen.«
Maria schloss die Augen.
»Den ganzen Tag über wirst du restriktive Kleidung tragen und leichte Fesseln. Freie Zeit kannst du dir nur verdienen über Extra-Zeit in strengen Fesseln, damit du dich für alles anstrengen musst und nichts als selbstverständlich bekommst.« Frederike vermied es, ihrer Tochter ins Gesicht zu blicken. »Das schlimmste dabei ist aber, dass sie, um eine objektive Forschung durchführen zu können, nicht wollen, dass wir nach einer Eingewöhnungszeit noch ständig zusammen sind, damit ich nicht weich werde.«
Frederike kam zu dem Punkt, der ihr am meisten Sorgen bereitete. »Du würdest in einem halben Jahr dann von einer Gouvernante betreut werden, und ich - na ja, sie bieten mir die Leitung einer kompletten Klinik in den USA an. Dort könnte ich meine normale Arbeit tun, soll aber gleichzeitig weitere Korsetts, figurbildende Apparate, restriktive Kleidung und versteckte Fesseln entwickeln, die du dann in den Ferien, wenn du mich besuchst, ausprobieren sollst.« Jetzt hatte sie es ausgesprochen und war damit erleichtert, dass sie das Versprechen, dass sie dem alten Herrn gegeben hatte, auch eingehalten hatte.
»Ich habe natürlich gleich gesagt, dass das überhaupt nicht in Frage kommt, aber er wollte nicht hören...« Erste jetzt bemerkte sie, dass Marias Wangen gerötet waren und das sie heftig zu atmen begann. »Was hast du, Kind? Ist dir nicht gut?«
Maria zitterte, bis sie bei den letzten Worten ihrer Mutter ins Keuchen kam, und ein Schauer ihren Körper durchlief....
Frederike war auch jetzt noch beeindruckt davon, welchen Eindruck ihre Worte auf ihre Tochter hatten. Es war ihr erst später klar geworden, dass sie allein wegen ihrer Worte einen Orgasmus gehabt hatte. Als Wissenschaftlerin war sie natürlich begeistert, doch als Mutter brach es ihr fast das Herz, wenn sie daran dachte, was sie damals ihrer Tochter zumuten wollte.
Das Forschungsprojekt und die Klinik reizte sie gewaltig, und Maria war ebenfalls fasziniert von dem Projekt der Prinzessinenausbildung. Warum auch nicht - welches Mädchen sieht sich nicht im Turm eingesperrt, vom Drachen bewacht und auf den Prinz wartend, wobei der für sie anfangs in weiter Ferne liegt.
Natürlich verlangte sie von ihrer Tochter die Zustimmung zu ihrem Vorschlag, und sie hätte auch ein 'Nein' sofort akzeptiert, doch sie wusste auch, welcher Druck allein durch die Frage auf Maria lastete. Einerseits wusste sie, dass die Existenz und Klinik ihrer Mutter daran hing, andererseits wurde ihr die Finanzierung einer Spitzen-Ausbildung oder eines Studiums versprochen, wenn sie nur lange genug an dem Programm teilnehmen würde.
Vor ihr lag auch der Brief eines Konsortiumsmitglied, der alles ins Rollen gebracht hatte. Sie nahm ihn zur Hand und lass ihn noch einmal.
[...] Ihre Planung, ihre Zöglinge werden für das Mittagsschläfchen irgendwie festgeschnallt, hat bei mir einige Gedanken ausgelöst, die ich mit ihnen teilen möchte.
Nach meinem Verständnis ist das Ziel der Prinzessinnen-Ausbildung für das Mädchen eine tadellose perfekte Figur, stets tadellose Haltung sowie eine gewisse Eigeninitiative, ihr Leben auf diese Weise zu führen, sich selbst stets tadellos zu halten und sich selbst ständig Einschränkungen aufzuerlegen, um selbst perfekt zu sein. Daraus folgt dann auch die notwendige Geisteshaltung und Charakterformung.
Das Ziel soll NICHT sein, die Mädchen ständig in Bondage zu halten, um sie zu kontrollieren und zu brechen. Damit werden sie nur rebellisch. Nein, sie brauchen diese vordergründige Begründung, um sich (ggf. widerwillig) dem Programm zu fügen...
Ich denke, unsere Vorbilder sollten hier Tara sowie die Geschichte "And so to Bed" sein. Bei beiden kommen jede Menge Fesseln und Fesselgeräte vor, die aber vordergründig als Schönheits- und Haltungstraining dienen und zumindest in der zweiten Geschichte "ausschließlich" so gerechtfertigt werden. Alle Fesselungen und Fesselgeräte sollten also so begründet werden. Wichtig ist, daß ihre Zöglinge sich viele kleine Dinge selbst anlegen können (siehe Handschuhe, Cape) und dies auch tut, von denen sie sich selbst aber nicht befreien können.
Weiterhin können sie ja auch noch an größeren Geräten arbeiten, bei denen genau kontrollierbare Versuchsbedingungen wichtig sind, daher werden die Damen überall exakt und reproduzierbar fixiert. Vieles können sie sich selbst anlegen (oder einsteigen), können sich selbst aber nicht mehr befreien.
Ein wichtiger Effekt dieser Richtung ist, daß vordergründig jeder Aspekt von "Bondage", und Gefangenschaft, damit Unfreiwilligkeit in diesem Sinne wegfällt. Das viktorianische Haltungs- und Korsettraining ist ja ab frühem Mädchenalter verbürgt und hat vordergründig keinen sexuellen Aspekt im Training selbst, soll heißen, obwohl es natürlich jede Menge Effekte bei den Mädchen hatte, wurden diese offiziell totgeschwiegen und unterdrückt.
Alle Fesseln, die sie tragen werden, sollen also einen angeblichen "therapeutischen Nutzen" haben. Wir hatten das Cape, Hut und Handschuhe zum Sonnenschutz, enger Unterrock und Kniefesseln dienen der damenhaften Schrittlänge. Das Korsett ist eh klar, Schulterriemen dienen der korrekten Haltung, das Training im Monohandschuh der Weitung des Brustkorbes und Figurbildung.
Das Halskorsett soll sie nicht einfach immobilisieren, sondern ihre Hals strecken und die Muskeln dehnen, einmal in die Länge, ein anderes streckt ihr den Kopf nach hinten, sodaß sie nur direkt nach oben schauen kann - auch diese viktorianische Methode taucht auf, um an eine aufrechte Haltung zu gewöhnen. Idee hinter all den viktorianischen Erfindungen war, den Körper in eine übertriebene Version der gewünschten Haltung zu zwingen, damit er sich nach Abnehmen der Geräte etwa in die gewünschte Haltung "entspannt", ohne in die ursprüngliche schlampige Haltung zurückzukehren - sozusagen wird damit die "Ruhelage" verschoben.
Das Mittgasschläfchen dient tatsächlich der Entspannung, sie sollen es daher gemütlich haben. Nur sollen sie wirklich schlafen und ruhig sein, daher dürfen sie eine gepolsterte gemütliche schwarzlederne Zwangsjacke tragen und in einen Beinsack schlüpfen. Dazu bekommen sie eine einfache gepolsterte lederne Schlafhaube aufgesetzt mit dicken Ohrpolstern, die die Augen bedeckt, Mund und Nase aber frei lässt.
Strenger sieht es dann nachts aus - sie bekommen wie in "and so to bed" eng geschnürte Arm- und Beinkorsetts angelegt, dazu die Bettstiefel, die den Fuß strecken. Darüber dann das Nachtkorsett, welches bis zu den Knien geht. Damit können sie die Beine in den Beinkorsetts noch ein Bißchen bewegen - wie schon besprochen ist ein bisschen Restbeweglichkeit viel reizvoller als völlige Immobilisierung!
Eine Stoffmaske mit Nachtcreme auf dem Gesicht, bekommen sie dann eine gepolsterte Lederhaube, die den ganzen Kopf umschließt, eng auf den Kopf geschnürt. Ob sie dazu ein Halskorsett tragen möchte, entscheideen sie täglich selbst.
(Man beachte: hier kommt nirgends ein Knebel als eindeutiges Bondage-Instrument vor - in der Mittagsschlaf-Haube kann sie noch küssen und sprechen (aber nicht hören), nur die Nachthaube umschließt den ganzen Kopf und macht auch das Sprechen unmöglich.)
In manchen Nächten sollten sie vielleicht noch gestreckt werden - dazu wird sie an Armen und Beinen wie auf einer Steckbank gezogen (sonst liegen die Arme parallel zum Körper, werden vielleicht mit einfachen Hüftriemen noch gesichert). Dann liegt auch der Kopf in einer Glisson-Schlinge und wird gestreckt. Alle Streckfesseln haben dann eine Federwaage und einen kleinen Flaschenzug eingearbeitet, und die jeweilige Betreuerin stellt jede Spannung genau nach Vorschrift des Trainingsplans ein.
Tagsüber mag es weitere Geräte zum Haltungs- und Figurtraining geben, die alle mal drankommen müssen, aber nicht täglich. Besonders gut gefällt mir das Foto des Haltungstrainingsgestells, das ich ihnen geschickt hatte. Es ist eine erweiterte Version des Monohandschuhs, da die Arme noch weiter nach hinten gestreckt werden. Das mögen sie auch öfters benutzen. Übrigens kommen hier aus ganz praktischen Gründe doch HighHeels ins Spiel, seien sie gemäßigt, denn sie erleichtern das Geschnürtsein sowie den Monohandschuh oder das Gestell erheblich, denn der Körper streckt sich in eine Haltung, in der die Schultern und Arme besser zusammengenommern werden können, und auch die Taille wird duch die gestreckte Haltung schmaler, das Korsett darurch besser zu tragen. Ohne darauf groß herumzureiten, sollte sie ganz selbstverständlich ein unauffälliges Paar Trainings-HHs haben .
Aus Tara können wir die Badewanne mit dem Deckel und Kopfbrett übernehmen, eine Sitzsaune (diese schönen Schwitzkästen mit Kopfbrett) ist sicher auch vorhanden. Bei beiden können sie die Zeit und Temperatur selbst einstellen, können sie dann vor Ablauf der Zeit aber nicht mehr öffnen. Im Falle der Sitz-Sauna stellen sie beim Hinsetzen ihre Füße in Fußringe und führt die Arme wie bei dem o.g. Gestell in zwei Ringe ein, ggf. hinter dem Rücken. Sobald die Sauna geschlossen ist, gibt es keinen Platz mehr, sich herauszuwinden, obwohl die Ringe als solche nicht gespannt/abgeschlossen sind. [...]
* * *
»Ich bin fassungslos.« Hans war aufgebracht. »Da trägt das Mädchen die Sensation schlechthin und ich darf es nicht fotografieren, weil meine Freundin es mir verbietet. Was ist dir los?«
Andrea blieb ihm Gegensatz zu ihrem Freund ganz ruhig. »Maria ist etwas Besonderes und darüber wache ich.«
»Nur ein Foto hätte ich gebraucht.« Er stöhnte. »Ein Venuskorsett! Das wäre die Sensation!«
»Für wen?« Andrea ahnte, dass sie gerade eine neue Seite ihres Freundes kennenlernte.
Auf einmal war Hans etwas ruhiger und murmelte etwas vor sich hin, was Andrea nicht verstand. Erst nach einiger Zeit rang er sich zu einer Antwort durch. »Du hast die Zusammenhänge nicht verstanden.«
»Dann erkläre es mir.« Andrea ahnte, in welche Richtung das Gespräch gehen würde. »Was ist so wichtig an der Unterwäsche einer 18-Jährigen.« Natürlich wusste sie schon, was ihn wirklich bewegte, doch das wollte sie zunächst nicht zugeben. »Zumal man kaum etwas von ihrer Haut gesehen hat.«
»Du hast gar keine Ahnung.« Hans setzte ein Schmollgesicht auf.
»Hängt es vielleicht mit den speziellen Fotos zusammen, die du von der kleinen Amerikanerin machen willst?« Andrea hatte Probleme, ihre latente Eifersucht unter Kontrolle zu halten. Sie wusste, dass Hans Spaß an Fesselungen hatte, doch sie selbst war nicht bereit, sich ihm auf diese Weise auszuliefern.
Wenn er sich dann andere Modelle suchte, gab es ihr natürlich Grund, eifersüchtig zu sein. Es war eine Gradwanderung. Sie würde sich ja vielleicht sogar einmal in Fesseln präsentieren, aber sie hatte Angst vor dem, was passierte, wenn er die Kamera weglegen würde. Dann war sie nicht bereit, die Kontrolle abzugeben.
»Das ist rein beruflich.« Hans wollte sich und seine Pläne verteidigen. »Wenn ich die Fotos verkaufen kann, dann bekommt sie ihren Anteil.«
»Und das hast du ihr auch schon gesagt.« Andrea schien einen Haken gefunden zu haben.
»Nicht direkt.« Hans war etwas verlegen. »Ich habe ihr nur angedeutet, dass sie damit Geld verdienen kann.«
»Ich werde bei eurem ersten Fotoshooting dabei sein.« Andrea hatte spontan einen Plan ausgearbeitet. »Und ich stelle mich solange zwischen sie und die Kamera, bis du ihr die volle Wahrheit gesagt hast. An wen willst du die Fotos überhaupt verkaufen?«
»Verrätst du deine Informanten?« Hans glaubte, ein Mittel zur Gegenwehr gefunden zu haben.
»Natürlich nicht.« Andrea verdrängte den Gedanken daran, dass sie es schon mehrmals aus Versehen fast getan hätte.
»Siehst du«, Hans fühlte Oberwasser, »ich kann meine Auftraggeber auch nicht verraten.«
»Du wirst es Anna sagen und ich bin bei dem Gespräch dabei.« Andrea wollte sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. »Und ich gehe erst, wenn Anna mit der Wahrheit einverstanden ist.« Sie nahm sich vor, mit Anna vorher noch ein Gespräch zu führen.
Hans seufzte nur.
»Und was Maria betrifft, du kannst sie sicher nach dem Fest fragen, ob sie dir einmal dieses besondere Korsett vorführt. Und wenn du Glück hast, ist sie vielleicht sogar zu Fotos bereit.« Andrea wollte ihm eine Brücke bauen, denn sie brauchte ihn natürlich für ihre Reportagen.
Wieder seufzte Hans als Antwort.
»Das sind nur fünf Tage«, rechnete Andrea ihm vor. »Das ist nicht mal eine Woche.«
»Na gut.« Hans schien besänftigt. »Frieden?« Er reichte ihr die Hand.
Andrea nahm kurz die Hand vom Lenkrad und schlug ein. »Frieden!«
* * *
»Leonie, kommst du bitte?« Selma stand in der Wohnzimmer und hielt die letzten vier Stangen für die Handschuhe in der Hand. »Drehe dich bitte mit dem Rücken zu mir und strecke deine Arme aus.«
Leonie wirkte ein wenig traurig, als sie der Bitte nachkam. Jetzt würde sie das letzte Gelenk an ihren Armen fixiert bekommen. Doch innerlich tobten wilde Gefühle, die sie so bisher nicht kannte.
Sie schloss die Augen, denn sie wollte nicht sehen, wie jetzt auch ihren Ellenbogen fixiert wurde. Dennoch spürte sie deutlich, wie die Stange durch den langen Handschuh geschoben wurde.
Nur einmal machte sie kurz die Augen auf, als sie fühlte, wie Selma die Verriegelung ihrer Armschienen löste. »Die brauchen wir ja nun nicht mehr.«
Leonie seufzte leise und wartete, bis Selma mit den Armen fertig war.
»Das war es schon.« Selma war froh, dass Leonie sie in diesem Moment nicht angesehen hatte, denn sonst hätte sie gesehen, wie aufgewühlt sie in diesem Moment war. Es war schon sehr lange her, dass sie einem Mädchen zum letzten Mal diese Handschuh vollständig angelegt hatte. »Du möchtest dich sicher wieder bedanken.«
Tief seufzend drehte Leonie sich um und sagte den Satz, den sie zu hassen begann. »Danke, Frau Mohr für die neuen Fesseln.« Es liefen ein paar Tränen über ihr Gesicht, die sie laufen lassen musste.
»Wenn du möchtest, kannst du dich auf den Zimmer zurückziehen und dich etwas ausruhen.« Selma hatte große Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten, denn sie wusste, was gleich passieren würde.
Sie tat so, als wolle sie zurück ins Wohnzimmer, doch sie blieb gleich nach der Tür so stehen. Leonie konnte sie nicht mehr sehen.
Gleich darauf hörte sie einen heftigen Fluch und noch bevor sie auf den Flur treten konnte, hörte sie Anna Stimme von oben.
»Leonie, was ist denn?« Anna sah nur, dass Leonie vor der ersten Treppenstufe stand und sich mit einem seltsam ausgestreckten Arm an der Wand abstützte.
»Ich komme die Treppe nicht mehr hoch.« Sie sagte es aber mehr zu sich selbst. Es war genügend demütigend. Annas Mitleid wollte sie nicht sehen.
»Warum denn das?« Florian kam hinter Anna her.
»Leonie braucht keine Hilfe.« Selma blickte zu dem Paar, dass langsam die Treppe herunter kam. »Noch mal etwas ausgehen?« Sie versuchte, die Situation als ganz normal erscheinen zu lassen.
»Wir haben heute unseren ersten Deutschkurs.« Annas Stimme zeigte, dass sie sich darauf freute.
»Na dann viel Spaß dabei.« Selma wartete, bis die Haustür hinter dem Paar wieder geschlossen war. »Leonie, beeile dich. In einer Stunde gibt es Abendessen.«
»Frau Mohr, das ist so gemein?« Leonie hielt es für den Moment nicht mehr aus.
»Was meinst du?« Selma war neugierig, über was sich das Mädchen wohl als erstes beklagen würde.
»Ich kann doch meine Beinschienen nicht mehr öffnen.« Wieder lief eine Träne über ihre Wange.
»Ach ja?« Selma versuchte ganz belanglos zu klingen. »Nun, vielleicht kommst du ja auch so die Treppe hoch?«
Leonie nahm sich der Aufgabe mit dem Mut der Verzweiflung an, doch nach zehn Minuten gab sie erschöpft auf. »Es geht nicht.« Auf einmal erkannte sie ihre wahre Lage. Sie war jetzt wirklich im Haus gefangen, denn sowohl an der Haustür als auch an der Terrassentür waren ein oder zwei Stufen. Die beiden Treppen nach oben und nach unten in den Keller waren jetzt ein unüberwindbares Hindernis.
»Ja, du hast recht.« Selma kam wieder aus dem Wohnzimmer zurück. »Treppensteigen geht jetzt nicht mehr.«
»Wo soll ich denn jetzt schlafen?« Leonie blickte Selma unsicher an.
»Ich glaube...« Selma musste sich räuspern, weil sie in diesem Moment so angespannt war. »Ich glaube, Schlafen ist jetzt noch dein geringstes Problem.«
»Wie meinen sie das?« Leonie ahnte noch, welcher Tiefschlag gleich kommen würde.
»Wie willst du denn jetzt essen?« Selma genoss es sehr, das arme Mädchen so subtil zu quälen.
Leonie versuchte ihre Hand zum Mund zu führen, doch sie musste erkennen, dass die Benutzung ihrer Hände nicht mehr möglich war. »Frau Mohr, ich kann so nicht essen.« Sie blickte auf ihre Arme, die sie beide demonstrativ nach vorn streckte.
»Ja und?« Selma zuckte demonstrativ mit den Schultern.
»Wollen sie mich verhungern lassen?« Aus Leonie begann leichte Verzweiflung zu sprechen.
»Du hast doch noch deinen Mund?« Selma legte ihren Köder aus.
»Wie soll ich denn so essen?« Leonie erkannte noch nicht, was kommen würde.
»Wie essen denn die Tiere?« Selma musste kurz den Kopf wegdrehen, sonst hätte ihr Grinsen sie verraten.
Leonie brauchte einen Moment, dann erstarrte sie. »Nein, Nein. Das können sie nicht von mir verlangen.«
»Das mache ich ja auch gar nicht« Selma sog den Moment mit voller Lust auf. »Aber wenn du etwas essen möchtest, dann weißt du jetzt, wie es noch möglich ist.«
»Das mache ich nicht. Nie!« Leonie war empört. »Lieber gehe ich hungrig ins Bett.«
»Das ist deine Entscheidung.« Selma lächelte insgeheim. Ihr Schützling reagierte genauso, wie sie es für ihre nächsten Schritte brauchte.
* * *
Es gab nur eine Stelle im Raum, wo das Radio schwachen Empfang hatte. Sophie bekam auch nur einen Sender herein, den des neu gegründeten Lokalradios wegen der Antenne auf dem Schlossturm. Die Verhaftung war natürlich Tagesgespräch.
Sie war zunächst erleichtert, doch dann kam sie ins Grübeln. Sie war immer noch hier gefangen und sie wusste nicht, wann sie befreit wurde. Sie hoffte nur, dass es nach dem Fest sein würde. Denn dessen war sie sich sicher, sie war wegen des Festes aus dem Verkehr gezogen.
Anfangs hatte sie Angst, dass sie gar nicht mehr befreit wurde, doch dann wurde ihr bewusst, dass mindestens noch zwei Personen wussten, wo sie war. Und da sie wusste, wie anhänglich Michael war, war sie sich sicher, dass er bestimmt keine Ruhe geben würde, bis sie gefunden beziehungsweise befreit war.
Sie begriff so langsam, dass im Moment ihr Leben von fremden Personen abhängig war. Und sie war sich nicht sicher, ob sie jemals das Tageslicht wieder sehen würde. Doch sie war zuversichtlich. Irgendwann würde er der Meinung sein, dass sie genug gelitten hatte und dann würde er für ihre Befreiung sorgen. Doch dann seufzte sie. Bei dem Blick auf ihr Sündenregister würde es sicher noch lange dauern.
Gestern um diese Zeit war Michael gekommen. Ihr Engel, der so viel für sie getan hatte, und zum ersten Mal seit langen Jahren fragte sie sich, ob sie sich auch genügend für seine Hilfe bedankt hatte. Sie wusste, dass sie in der Vergangenheit solche Hilfe immer als eine Selbstverständlichkeit angesehen hatte, die sie oft genug sogar eingefordert hatte. Was war sie doch für ein arrogantes Biest gewesen.
Ihr Blick fiel auf den Schreibblock. Sie riss sich ein neues Blatt ab und schrieb langsam eine Überschrift darauf. »Meine schlechten Eigenschaften« war auf dem Zettel zu lesen und gleich darunter schrieb sie zwei Worte: 'Arrogant' und 'Undankbar'.
* * *
»Jetzt weißt Du, was ich mit Leonie vorhabe.« Selma lehnte sich zurück. »Aber dazu brauche ich eure Hilfe.«
»Das ist aber sehr gemein. Sie kann sich ja überhaupt nicht mehr dagegen wehren.« Paul grinste hinterhältig. »Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Mit Fernsteuerung.«
Selma lächelte nur. »Ich habe eben meine Kontakte.«
Paul war erstaunt. Eigentlich dachte er, dass er seine Oma kennen würde, doch seit Leonie im Haus war, entdeckte er immer neue Seiten an ihr.
»Und warum soll Maria dabei sein?« Er hatte angenommen, das wäre nur eine Sache zwischen Leonie und seiner Oma.
»Nun, ich dachte, dass sie vielleicht auch auf den Geschmack kommen könnte.« Selma hatte auf einmal ein seltsames Lächeln im Gesicht.
Natürlich hatte Paul seiner Oma erzählt, was sich in der Klinik ungefähr abgespielt hatte, auch wenn er bei gewissen Details doch oberflächlich geblieben war. »Und du meinst, Maria könnte das gefallen?«
»Deswegen soll sie ja dabei sein.« Selma strich ihrem Enkel über den Kopf. »Es wäre mal ein Test, um zu sehen, auf welcher Seite sie wirklich steht.«
»Wie meinst du das?« Paul wusste nicht, an was seine Oma dachte.
»Nun, es wäre interessant zu erfahren, wie sie reagieren wird.« Selma lächelte. »Wird sie mit Leonie leiden oder sich eher an ihrem Leid ergötzen?« Sie machte eine Pause. »Du hast sie auf der Hütte erlebt. Was meinst du?«
Paul zuckte mit den Schultern. Maria hatte ihn schon so oft überrascht, dass er wirklich nicht sagen konnte.
»Ich werde dann Leonies Schlaftrunk zubereiten.« Selma stand auf. »Ich bin mir sicher, dass sie darauf eingehen wird, wenn ich ihr einen Strohhalm hinein steckte.«
»Und du bist sicher, das sie es trinken wird?« Paul war etwas skeptisch.
»Wenn nicht, dann kannst du sie etwas zum Trinken animieren.« Selma dachte laut. »Sie wird zumindest ein wenig hungrig sein. Darauf können wir aufbauen.«
Paul gefiel der Gedanke, an dieser Gemeinheit aktiv mitzuarbeiten. »Wo ist sie denn im Moment?«
»Sie ist im anderen Gästezimmer.« Selma grinste. »Ich habe ihr beim Hinlegen auf das Bett geholfen. Sie weiß, dass sie rufen soll, wenn sie etwas braucht.«
»Nanu?« Paul wunderte sich.
»Sie wird sicher bald merken, dass sie nicht mehr allein aufstehen kann.« Selma spitzte kurz die Ohren. »Ich habe die Tür nur angelehnt, damit wir sie rufen hören können.«
Paul grinste. »Soll ich ihr den Schlaftrunk nicht sofort bringen?«
»Nein, das wäre nicht gut.« Selma blickte auf die Uhr. »Der Trank wirkt nur eine knappe halbe Stunde. Wir müssen warten, bis Maria hier ist, bevor wir anfangen.«
»Könnte Maria ihr nicht den Trunk geben?« Paul dachte laut.
Doch Selma wiegelte ab. »Ich möchte Maria da nicht mit hinein ziehen. Leonie soll ihr weiter vertrauen dürfen.« Sie blickte kurz aus dem Fenster. »Wann wollte sie kommen?«
»Sie wollte Anna auf die Probe begleiten und wollte sie hier abholen.« Paul gab wieder, was er wusste.
»Ich rufe Doro an und sage ihr, dass sie sie ein wenig früher vorbei schicken soll.« Selma grinste.
* * *
Sophie zählte die Glockenschläge, und je weiter die Zeit fortschritt, desto klarer wurde es ihr, dass Michael heute wohl nicht mehr kommen würde. Trotzdem nahm sie sich vor, wach zu bleiben, um für ihn auf alle Fälle bereit zu sein.
Sie blickte wieder auf ihre mittlerweile zwei Listen, die sie pflegte. Die Personenliste war mittlerweile ziemlich vollgeschrieben und Leonie ahnte, dass es lange dauern würde, bis sie diese abgearbeitet hatte.
Auf der zweiten Liste standen bisher ihre schlechten Eigenschaften. Doch dann hörte sie in sich hinein. Gab es auch gute Eigenschaften, die sie schon notieren durfte? Geduld gehörte mittlerweile dazu. Die Wochen im Gipspanzer hatten ihr ein ganz anderes Zeitgefühl vermittelt. Sie nahm sich den Zettel zur Hand und schrieb im unteren Sechstel mit etwas kleinerer Schrift 'Meine guten Eigenschaften', darunter setzte sie das Wort Geduld.
Im Krankenhaus hatte immer wieder gewartet, ob nicht doch einer ihre angeblichen Freunde sie besuchen würde, doch keiner von ihnen hatte sich blicken lassen. Mittlerweile wusste sie, dass sich neben den Schwestern und Ärzten nur zwei Personen sich um sie gekümmert hatten. Maria hatte sie einmal besucht und Michael war bedingt durch sein Praktikum ständig in ihrer Nähe gewesen. Und er hatte sogar jeden Tag für frische Blumen gesorgt.
Auf einmal wurde Sophie bewusst, dass sie sich noch gar nicht bei ihm für all das bedankt hatte. Sie ärgerte sich, dass sie schon wieder dabei war, in ihr altes Leben zurück zu kehren. Dabei hatte sie sich vorgenommen, alles bisherige hinter sich zu lassen und von jetzt ab ein besseres Leben anzufangen.
Sie würde ihm einen Brief schreiben. Und es gab viel, was sie ihm sagen wollte und für das sich sich bedanken wollte. Sie riss sich den nächsten Zettel vom Block herunter und begann zu schreiben. »Lieber Michael...«
* * *
Paul hatte sich einen Plan überlegt, wie er es anstellen konnte, dass er Leonie den Schlaftrunk geben konnte, ohne dass sie Verdacht schöpfen würde. Er wusste, dass sie jetzt im alten Gästezimmer lag, doch sie wusste nicht, dass er es wusste. Es würde also möglich sein, aus irgendeinem Vorwand in das Zimmer zu platzen und sie dann zu 'entdecken'. Dann würde er mit ihr ins Gespräch kommen und alles weitere würde sich ergeben.
Also stolperte er in das Zimmer und tat ein wenig erschrocken, als er Leonie auf dem Bett liegen sah. »Was machst du denn hier?« Er trat an das Bett heran. »Warum bist du denn nicht in deinem Zimmer?« Es fiel ihm auf, dass sie ein total verweintes Gesicht hatte. »Du hast geweint?«
»Ach Paul.« Sie seufzte tief. »Ich habe immer davon geträumt, einmal überall gefesselt zu sein und mich gar nicht mehr bewegen zu können.«
»Ja und?« Paul tat ein wenig ahnungslos, doch er war über Leonies aktuellen Zustand informiert.
»Es ist nicht nur schön.« Leonies Stimme wurde leiser. »Anfangs war ich begeistert von deiner Oma, doch jetzt habe ich Angst.«
»Angst wovor?« Paul war neugierig, was jetzt kommen würde.
»Angst, dass sie mich verhungern lässt« Leonie schluchzte wieder. »Ich müsste mit dem Mund essen, weil ich meine Arme nicht mehr benutzen kann.«
Auf einmal hatte Paul eine Eingebung. »Maria und ich haben in der Klinik etwas Tolles kennengelernt.« Er hoffte, so das Thema in die Richtung auf den Schlummertrunk lenken zu können. »Man tut das Essen in den Mixer, tut noch etwas Flüssigkeit hinzu und mixt alles durch. Das lässt sich dann mit einem breiten Strohhalm trinken.«
Leonies Augen begannen zu leuchten. »So etwas geht?« Sie schien wieder Hoffnung zu fassen. »Ich wollte nicht wie ein Schwein essen müssen, aber mit dem Strohhalm könnte das wirklich gehen.«
Paul fühlte, dass er sie so gut wie am Haken hatte. »Hattest du schon Abendbrot?«
Leonie schüttelte den Kopf und hob ihre Arme hoch. »Hier, fühlte mal.«
Paul war insgeheim von den Handschuhen sehr fasziniert gewesen. Er nahm Leonies Angebot gern an. »Das ist ja alles total steif.«
»Am Anfang hatte ich mich noch gefreut, weil es etwas dickeres Leder war.« Leonie schluchzte wieder. »Aber jetzt merkte ich, wie gemein es ist.«
Auch Paul wollte noch einmal sicher gehen. »Du weißt aber, dass nur ein Wort von dir reicht und sie lässt dich gehen.« Immerhin hatte ihm seine Oma dazu geraten, es zu erwähnen.
»Ich weiß« Leonie gab sich trotzig. »Ich hatte auch schon darüber nachgedacht, aber noch möchte ich es durchhalten.«
»Soll ich dir etwas zu essen machen?« Paul grinste. »Ich meine etwas zu trinken.«
»Das wäre sehr nett.« Leonie blickte ihn bittend an. »Und vielleicht kannst du mir hoch helfen. Ich kann nicht mehr alleine aufstehen.«
Paul ergriff den Arm, den Leonie ihm entgegen streckte und zog daran, bis Leonie aufrecht saß und sich abstützen konnte. »Danke. Ich will mal sehen, ob ich den Rest allein schaffe.«
»Ich suche mal den Mixer.« Paul blickte noch einmal auf Leonie, dann verließ er das Zimmer.
Einen Moment später hörte Leonie ein leise Surren aus Richtung der Küche und fast zufrieden rutschte sie langsam zur Bettkante vor. Es war für sie sehr ungewohnt, so gut wie alle Gelenke versteift zu haben, doch jetzt, wo ihre Ernährungsprobleme gelöst waren und sie nicht aus einem Napf essen musste wie ein Schwein, da fand sie auch wieder Gefallen an ihrer Situation.
Zwei Mal ertönte der Mixer noch, dann nach einer kurzen Pause hörte sie seine Schritte und gleich darauf öffnete sich die Zimmertür.
»Ihr Abendessen, Madame.« Paul versuchte einen Scherz, allerdings nur um seine Nervosität zu überspielen. Er trug ein kleines Tablett vor sich, auf dem ein großes Glas mit einer milchigen Flüssigkeit stand, und darin steckte ein Strohhalm.
»Wir haben so große Strohhalme noch nicht, ich muss morgen mal zum Einkaufen.« Er hielt ihr das Glas so vor den Körper, dass sie den Strohhalm leicht mit dem Mund erreichen konnte.
Eine Falle vermutete Leonie nicht. Sie ergriff sich den Strohhalm mit den Lippen und trank es in einem Rutsch aus. »Danke, das war gut«, antwortete sie, als sie den Halm wieder losgelassen hatte.
»Was hast du heute noch vor?« Paul versuchte ein wenig Smalltalk, denn er wollte erreichen, dass Leonie sich wieder auf das Bett legen wollte.
»Oh ich wollte noch eine kleine Wanderung machen und an meinem Pullover weiter stricken.« Sie blickte ihn energisch an.
Paul war sich nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. »Du machst was?« In diesem Moment hatte sie ihn wirklich verblüfft.
Doch dann grinste sie. »Das war Sarkasmus.« Sie wackelte mit den Armen. »Meinst du, ich kann so irgendwas machen?«
»Soll ich dir beim Hinlegen helfen?« Paul hoffte, mit dieser Suggestivfrage Erfolg zu haben.
Es wirkte wie gewünscht. »Ich glaube, ich werde müde.« Leonie blickte ihn dankbar an, als er sie wieder auf dem Bett zurecht rückte.
»Einen schönen Abend noch.« Paul lächelte, als er mit dem Glas und dem Tablett zur Tür ging.
»Vielen Dank für alles.« Leonie war hörbar erleichtert.
»Jederzeit wieder.« Paul schloss die Tür und grinste. Wenn Leonie wüsste, für was sie sich gerade bedankt hatte.
* * *
»Na, hat sie getrunken?« Selma war sehr gespannt, ob ihr Enkel mit der kleinen List Erfolg gehabt hatte. Doch dann fiel ihr Blick auf das leere Glas und sie grinste nur noch.
Paul stellte das Tablett auf die Spüle. »Und jetzt?«
»Wir müssen noch ein wenig warten, dann kann es losgehen.« Sie blickte zu Maria, die sich etwas unsicher umsah.
»Was habt ihr denn vor?« Pauls Freundin ahnte, das Paul und seine Oma irgend etwas im Schilde führten.
»Ich habe schon alles, was wir brauchen bereitgelegt.« Selma zeigte auf den Küchentisch. Marias Frage überging sie.
Maria sah einen seltsamen flachen Kasten, einen Plastik-Schmetterling und zwei seltsame schwarze stachlige aussehende Gummiteile. »Und was ist das?«
»Ich habe euch hergeben, weil ich ein paar helfende Hände gut gebrauchen kann.« Selma übersah Marias Frage zunächst, doch dann stutzte sie. »Willst du es erklären?« Sie blickte ihren Enkel an und zwinkerte ihm dabei zu.
Paul keuchte zunächst ein wenig, dann trat er an den Tisch heran. »Diese schwarzen Igel kommen von innen in den Metall-BH.« Er vermied es, Maria dabei anzusehen.
Maria nahm einen davon in die Hand und ließ ihn zwischen ihren Fingern wandern. Sie spielte etwas mit den kleinen Gumminoppen, dann nahm sie ihre zweite Hand zu Hilfe und strich mit den Noppen über die Handinnenfläche. »Hinterhältig« war ihr Kommentar.
Dann blickte sie auf den Schmetterling. »Leonie trägt doch auch einen Gürtel.« Sie nahm ihn in die Hand. »Was soll sie denn dann damit?« Es schimmerte durch, dass Maria im Gegensatz zu den Gumminoppen wusste, was es mit dem Schmetterling auf sich hatte.
»Ich denke, jetzt können wir anfangen.« Selma kam zum Tisch, nahm die Gegenstände in die Hand und reichte sie Paul. »Kommt ihr?«
Maria verzichtete auf die Frage, was sie denn vor hatten. Zum einen würde sie es gleich sehen, und zum anderen waren die Gegenstände mehr als eindeutig. Sie bedauerte Leonie ein wenig, denn diese Sachen waren durchaus geeignet, eine junge Frau in den Wahnsinn zu treiben.
Leonie lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett und lächelte friedlich.
»Was hast du ihr denn gegeben.« Paul hatte einen Anflug von schlechtem Gewissen.
»Ein altes Hausmittel, diesmal nur ein wenig in der Dosis verstärkt.« Selma versuchte belanglos zu klingen, dann griff sie ihr Schlüsselbund und öffnete zunächst den Metall-BH. Nebenbei achtete sie darauf, dass Maria alles gut verfolgen konnte. Sie war einfach gespannt, wie das Mädchen wohl reagieren würde. »Gib mir bitte mal die Gumminoppen.« Sie streckte ihre Hand aus.
Pauls Hand zitterte leicht, als er erst den einen und dann den anderen Gegenstand an seine Oma weiter reichte.
»Hier innen sind kleine Halterungen, man muss die Dinger nur hinein schieben und sichern.« Selma zeigte kurz das Innere der Halbkugel.
Maria begann kurz zu husten.
»Was ist denn?« Selma hatte mit so einer Reaktion gerechnet.
»In meinem BH sind auch solche Halterungen.« Maria sprach leise. »Ich habe mich immer gefragt, wofür die wohl sind.«
»Willst es mal ausprobieren?« Selma versuchte, ganz belanglos zu klingen. »Ich habe noch mehr von den Gummidingern.« Sie klappte den BH von Leonie zu und brachte das Schloss wieder an. »Auch in verschiedenen Größen.«
»Nach dem Fest.« Paul strich Maria über das Gesicht.
»Die hätte ich gern bei Wetzlers getragen oder auf der langweiligen Sitzung.« Maria lächelte verträumt. »Dann hätte ich etwas Abwechslung gehabt.«
Selma blickte Paul kurz, aber eindringlich an, dann machte sie sich daran, Leonies Keuschheitsgürtel zu öffnen.
Maria ergriff Pauls freie Hand und drückte sie. Was gerade mit Leonie passierte, schien sie doch sehr zu bewegen.
»Hier wird der Schmetterling einfach eingeklipst.« Selma drückte den Vibrator auf das Schrittblech. »Und frau merkt ihn beim Tragen kaum.« Gleich darauf schloss Selma den Gürtel wieder.
Maria drückte Pauls Hand etwas fester. Nur ein dünnes Kabel verriet jetzt, dass Leonie jetzt noch ein Spielzeug mehr am Körper trug.
»Man sollte ihn aber zwei Mal am Tag reinigen, sonst wird es schnell ungemütlich.« Selma bemühte sich, sachlich zu bleiben. »Aber das erkläre ich ihr morgen.«
»Zwei Mal pro Tag.« Maria wiederholte es fast mechanisch. In ihr schien es heftig zu arbeiten.
»Jetzt brauche ich eure Hilfe.« Selma sah zu ihrer Zufriedenheit, dass Maria Pauls Hand fest hielt. »ihr müsst sie auf die Seite drehen, damit ich den Batteriekasten und den Empfänger für die Fernbedienung anbringen kann.«
Von Maria war wieder ein Keuchen zu hören, doch dann ließ sie Pauls Hand los und half ihm dabei, Leonies Körper in die gewünschte Position zu bringen.
Selma hatte die beiden Kästen hinten auf dem Gürtel befestigt und steckte das Kabel vom Schmetterling in die entsprechende Buchse an dem Empfänger. Auch zwischen ihm und dem Batteriekasten wurde noch ein Kabel gelegt. »Das ist die Schwachstelle an dem System. Wenn man genug hat, braucht man sich nur die Kabel abziehen und es ist Ruhe.«
»Du musst mir dazu den Handschuh anlegen.« Maria war auf einmal sehr verträumt. »Oder noch besser das Gebet.« Sie gab Paul einen Kuss.
Paul war ehrlich erstaunt. »Du magst so etwas?«
»Wenn es von dir kommt, schon.« Maria wurde auf einmal etwas rot. »Und natürlich darfst nur du die Fernbedienung benutzen.«
Selma tat, als hätte sie den kleinen Dialog überhört. »Die Kombination kann einen fertig machen.« Sie lächelte ein wenig nachdenklich. »Ich wette, dass Leonie spätestens morgen Mittag nach einem Knebel fragt.«
Aus dem Treppenhaus waren Geräusche zu hören.
»Ach, ich muss Anna auf die Probe begleiten, das hatte ich ihr versprochen.« Es tat Maria etwas weh, aus dieser schönen Stimmung gerissen zu werden. »Kommst du mit?« Sie blickte Paul verlangend an.
»Gern.« Paul hatte einiges Interesse daran, mit Maria ein Gespräch zu führen, ohne das seine Oma dabei war. Marias Reaktionen hatten ihn sehr ermutigt. Doch dann erkannte er, dass Anna immer in Marias Nähe sein würde und das war ihm auch nicht recht.
* * *
Anna hatte Paul und Maria gefragt, ob sie sie wieder zur Probe begleiten könnten. »Florian hat zu tun.«
Paul blickte etwas verlegen auf. Er konnte mit dieser Art von Musik wenig anfangen.
Maria stand auf. »Das mache ich gern.« Nach einem kurzen Blick erlöste sie ihn. »Du kannst hier bleiben.«
Paul lächelte sie mit einem Gemisch aus Dankbarkeit und Verlegenheit an.
»Nanu?« Karin war erstaunt. »Wo habt ihr denn eure Männer gelassen?« Sie begrüßte die beiden Mädchen herzlich.
»Florian studiert die Pläne des Krankenhauses.« Anna erklärte, dass er dort jetzt im Hausmeisterteam mitarbeitete.
»Und Paul?« Fritz kam eben zur Begrüßung.
»Der hatte keine Lust, mit zu kommen.« Maria lächelte. »Ich glaube, ihm bedeutet diese Musik nicht so viel.«
»Naja, dann können wir ja anfangen.« Fritz deutete auf die bereitgestellten Stühle. »Nehmt Platz.«
Heute gab es in der Probe zwei Zuhörer: Maria und Karin, die es sich hatte nicht nehmen lassen, mit ihrer verletzten Hand in die Probe zu kommen. Wie üblich hielt Fritz seine übliche Motivationsrede, doch diesmal begrüßte er noch einmal ausdrücklich Anna, die so kurzfristig eingesprungen war.
Anna war glücklich. Sie hatte mit den zu probenden Stücken überhaupt keine Probleme. Sie verstand sich auch musikalisch sofort mit den anderen und man konnte meinen, sie hätten schon immer so zusammen gespielt. Selbst als sie an einigen Stellen den Einsatz für die anderen Musiker geben musste, tat sie das mit einer Selbstverständlichkeit, die atemberaubend war. Und nebenbei konnte sie einen Teil ihrer so empfundenen Schuld abarbeiten.
Maria war begeistert. Sie war richtig stolz darauf, dass sie und ihre Mutter sich so für Anna eingesetzt hatten.
Mittwoch, 22. September 1984
»Leonie, bist du schon wach?« Selma äußerte die Frage, nachdem sie auf ihr Klopfen an der Zimmertür ihrer 'Gefangenen' ein leises Brummen gehört hatte.
»Guten Morgen, Frau Mohr.« Leonie blinzelte noch etwas verschlafen und versuchte sich etwas zu räkeln, doch sofort bemerkte sie, wie wenig sie sich nur noch bewegen konnte. »Ich dachte, es wäre ein Traum gewesen.« Sie war etwas verlegen.
»Ich dachte mir, dass du vielleicht Hilfe beim Aufstehen gebrauchen könntest?« Selma hatte Mühe, ihr Grinsen zu unterdrücken, denn in Wirklichkeit wollte sie natürlich dabei sein, wenn Leonie ihre neuen Quälgeister entdeckte. Sie ergriff Leonies Arm und zog sie hoch.
»Danke Frau Mohr.« Leonie war ehrlich dankbar. Doch dann stutzte sie und blickte erstaunt an sich herunter. Sie trug noch die Kleidung vom Vortag, die nur aus dem hässlichen Kittel bestand. Als sie versuchte, ihren Arm nach vorn zu bringen, bemerkte sie sofort die Wirkung der Handschuhe, die sie auch noch trug.
»Was ist denn, Leonie?« Selma hatte die Verwunderung in ihrem Blick durchaus bemerkt.
»Da hat mich eben etwas am Busen berührt.« Sie blickte verwundert an sich herunter. »Ich trage doch diese Metalldinger. Wie geht das?«
Selma fand, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war. »Du hast gestern einen Schlaftrunk bekommen.« Sie machte eine deutliche Pause. »Und dann haben wir deine Rüstung geöffnet und etwas hinein getan.« Sie griff in ihre Tasche und holte ein weiteres dieser schwarzen Gummiteile heraus, um es Leonie kurz zu tragen. »Dies sind ab sofort deine neuen Begleiter.«
Leonie keuchte, als sie realisierte, was die Worte ihrer Gastgeberin für sie und ihren bisher schon so mühevollen Alltag bedeuteten. Eine Antwort gab sie nicht.
»Und einen Schmetterling hast du auch bekommen.« Selma schaffte es nicht mehr, ihr Grinsen zu verbergen. »Er wird mit einer Fernbedienung gesteuert.« Sie holte den zweiten Gegenstand aus ihrer Tasche und drückte auf einen Knopf.
Sofort stöhnte Leonie auf und gleichzeitig flossen ein paar Tränen über ihr Gesicht. »Danke Frau Mohr.« Ihre Stimme wurde leiser. »So etwas habe ich mir immer schon gewünscht.«
Selma glaubte sich verhört zu haben. »Was sagtest du?«
Leonie fand jetzt etwas mehr Mut zum Reden. »Das war mein innigster Wunsch, aber ich habe mich nie getraut, es zu äußern.«
Selma war in diesem Moment ehrlich sprachlos. Erst nach einiger Zeit schaltete sie den Schmetterling wieder aus und zog Leonie vom Bett hoch. »Soll ich dir im Bad helfen?«
Für Leonie war es der nächste Tiefschlag. Sie wollte zunächst widersprechen, doch dann realisierte sie ihren Zustand. Dadurch, dass ihre Arme und Hände fixiert waren, war sie vollkommen hilflos. Sie seufzte leise ein 'Ja'.
* * *
Sophie erwachte und warf sofort einen sehnsüchtigen Blick auf die Tür. Seit Michael da gewesen war, erwachte langsam in ihr der Wunsch, die Welt draußen wieder betreten zu dürfen. Auch wenn ihr klar war, dass es nicht mehr die Welt sein würde, die sie gewohnt war. Und sie hatte Angst, den Leuten wieder zu begegnen, denen sie in der Vergangenheit so oft weh getan hatte.
Den weißen Umschlag, der vor der Tür lag entdeckte sie erst, als sie sich im Bett aufsetzte. Sofort stand sie auf, und als sie näher kam, erkannte sie ihren Namen auf dem Umschlag. Sie hob den Umschlag auf und öffnete ihn mit zitternden Händen.
Liebe Sophie,
ich schreibe dir heute Abend noch einen Brief, denn heute konnte ich dich nicht besuchen. Während ich ihn schreibe, weiß ich noch gar nicht, wie ich ihn dir überhaupt überreichen soll. Franz-Ferdinand hatte mir gestern die Augen verbunden, bevor er mich zu dir brachte. Ich hoffe, dass er ihn dir bringen kann.
Die Bibel für dich habe ich gekauft, aber ich möchte sie dir persönlich überreichen.
Ich hoffe, du konntest mit meinen etwas hastigen Gymnastik-Tipps etwas anfangen, zur Sicherheit lege ich noch eine Broschüre bei, auf der gute Übungen abgebildet sind.
Sophie hatte sich erst über den großen Umschlag gewundert, jetzt sah sie die in Hochglanz gedruckten Seiten und seinen mit der Hand geschriebenen Brief. Er hatte eine angenehme und leicht lesbare Schrift, die gar nicht vermuten ließ, dass sie zu einem angehenden Mediziner gehörte. Sophie las weiter.
Ich möchte mich noch einmal für die schöne Zeit mit dir bedanken, auch wenn die Nacht etwas anders verlaufen ist, als ich es mir erträumt hatte.
Sophie lies den Brief wieder sinken. Die Nacht war wirklich ganz anders verlaufen, als sie es erwartet oder besser befürchtet hatte. Immer wieder musste sie an das sehr leckere Essen denken, mit dem er sie verwöhnt hatte. Und dann hatte er sie auf dem Bett in den Arm genommen und einfach nur gestreichelt. Es hatte so gut getan, endlich wieder einmal Berührungen auf ihrem Körper zu spüren. Und sie fühlte auch keinerlei Scham, als sie in seinen Armen gekommen war, sondern nur Glück, welches aber bald danach von der aufsteigenden Müdigkeit verdrängt wurde.
Als sie die weiteren Zeilen des Briefes las, fiel ihr ein, dass sie ihm auch noch für so Vieles danken wollte. Und dabei spielten die beiden gemeinsamen Mahlzeiten überhaupt keine Rolle. Es hatte so gut getan, endlich wieder mit einem Menschen reden zu können und vor allem verstanden zu werden.
Er schrieb von der baldigen Prüfung, die er machen musste, und dass für ihn dann ein Jahr im Ausland an stand. Sophie fühlte etwas, dass sie seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr erlebt hatte, dass Gefühl von echter Freundschaft. Sie war sich sicher, dass sie mit ihm in Kontakt bleiben würde, falls sie jemals wieder aus diesem Keller befreit werden würde.
Am Ende des Briefes kündigte er wieder einen Besuch für den heutigen Abend an. Sophie war sofort elektrisiert, als sie die Zeilen las. Sie suchte den kleinen Spiegel und seit langer Zeit blickte sie wieder hinein.
Sie erschrak fast, denn es blickte sie ein Gesicht an, das sie fast nicht mehr als ihr eigenes erkannt hätte. Es war nicht in Schminke ertränkt, sondern zeigte eine natürliche Schönheit, derer sie sich lange Zeit geschämt hatte. Auch ihre Haare lagen wild durcheinander. Sie griff zu der Bürste, die als einziges auf der winzigen Konsole unterhalb des Spiegels lag. Wenigstens die Haare wollte sie schön tragen, auch wenn sie ab jetzt auf Haarspray und dergleichen verzichten wollte.
Sie blickte an sich herunter und wieder realisierte sie, dass sie nur die Wahl hatte zwischen einem altem Arbeitskittel oder dem Nachthemd aus der Klinik. Und beides war selbst für ihre aktuellen Verhältnisse hässlich und unansehnlich. »Ich habe es noch nicht besser verdient.« Und dabei verdrängte sie den Gedanken an die vollen Kleiderschränke, die lediglich zwei Stockwerke über ihr standen.
Ihr Blick fiel auf ihren jetzigen Luxus in Form des Radios, doch sie hatte wenig Lust auf den einzig erreichbaren Sender, bei dem die Werbung nur ab und zu einmal durch etwas Musik unterbrochen wurde. Während sie sich langsam die Haare bürstete, dachte sie darüber nach, wie sie Michael heute Abend empfangen sollte. Sie hatte mittlerweile keine Scheu mehr zu zeigen, dass sie sich auf seinen Besuch freute und wie gut ihr seine Nähe tat. Sie war ihm unendlich dankbar, dass er sich so viel Zeit für sie nahm.
* * *
»Ich habe Paul bewusst ausschlafen lassen, das habe ich gestern noch mit Doro so ausgemacht.« Selma erklärte Leonie ihre Beweggründe. »Maria und er sollen sich noch einmal ausschlafen dürfen, bevor morgen der ganze Trubel losgeht.«
Leonie blickte etwas sehnsüchtig durch die Küchentür auf den so liebevoll gedeckten Frühstückstisch, doch sie schwieg.
»Ich denke, wir warten, bis Paul so weit ist, oder?« Selma blickte ihren Schützling fragend an.
Leonie zuckte mit den Achseln, eine der wenigen Bewegungen, die sie noch zustande brachte. »Von mir aus.«
Es war ihr ganz recht, wenn das Thema Nahrungsaufnahme noch etwas hinausgezögert wurde. Es hatte ihr schon mehr als gereicht, dass sie ihm Bad von Frau Mohr wortwörtlich von vorn bis hinten bedient werden musste.
Sie musste alles mit sich geschehen lassen, sowohl das Reinigen nach dem großen Geschäft als auch das Putzen der Zähne. Jede einzelne Handlung machten Leonie immer wieder schmerzlich bewusst, dass sie über ihre Arme und Hände selbst nicht mehr verfügen konnte. Und das Gefühl der Demütigung war groß.
Doch noch war sie zu stolz, um um ihre Befreiung zu bitten. Denn immerhin lebte sie im Moment ihren Traum, von dem sie lange nicht geglaubt hatte, dass man ihn je verwirklichen konnte.
* * *
Paul saß schon am Frühstückstisch und hatte große Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen, als er sah, wie sehr Leonie sich bemühte, trotz der vielen Restriktionen, die sie überall an ihrem Körper trug, einigermaßen würdevoll von der Küche zum Frühstückstisch zu gehen.
Als sie Paul am Tisch bemerkte, war sie etwas verlegen. »Wehe, wenn du lachst«, fauchte sie ihn an.
Selma betrat hinter ihr das Esszimmer. »Leonie, in deinem Zustand wirken solche Drohungen äußerst lächerlich.« Sie genoss es sehr, das Mädchen auch mit Worten zu quälen.
Noch bevor Leonie an ihrem Platz angekommen war, blieb sie stehen und begann auf einmal zu stöhnen.
Paul war schon sehr gespannt, wie sich der ständige Kontakt mit dem Vibrator an so prominenter Stelle auswirken würde, und jetzt konnte er es live erleben. Und er war mehr als fasziniert davon.
Doch viel zu schnell war von Leonie ein enttäuschter Seufzer zu hören, der anzeigte, dass die Vibrationen an so prominenter Stelle schon wieder aufgehört hatten.
Selma trat auf Leonie zu, um ihr die Kniegelenke kurz zu öffnen, damit sie sich an den Tisch setzen konnte.
»Danke.« Leonie sprach leise, denn sie fürchtete sich sehr vor dem, was als nächstes kommen würde, die Nahrungsaufnahme. Würden sie einfach zusehen, wie Leonie wie ein Tier würdelos mit dem Mund essen würde oder würden sie etwas Mitleid haben und ihr beim Essen helfen?
Zu ihrer Erleichterung stand auf ihrem Platz schon ein Glas mit weißem Inhalt und einem Strohhalm.
»Diesmal ist es kein Schlaftrunk.« Paul grinste etwas, als er sah, wie Leonie das Glas ein wenig argwöhnisch beäugte.
»Wir besorgen noch größere Strohhalme, dann kannst du auch dein Mittagessen auf diese Weise zu dir nehmen.« Selma sah interessiert zu, wie Leonie vorsichtig den ersten Schluck aus dem Glas sog.
»Das schmeckt gut.« Sie blickte ihre Gastgeber etwas verlegen an. »Vielen Dank.«
Selma war der Meinung, dass es Zeit war für den nächsten Tiefschlag. »Hier ist die Verschärfung für den heutigen Tag.« Sie stellte ein breites Halskorsett auf die Kommode. »Schaue es dir an, solange du deinen Hals noch drehen kannst.« Selma liebte es, so mit den Gefühlen der Mädchen zu spielen.
Leonie blickte zur Konsole und erkannte auf den ersten Blick, dass es ein sehr strenges Halskorsett war. Es würde von ihrer Kinnspitze bis hinunter auf ihre Brust reichen und sie erkannte jetzt schon, dass sie dann ihren Kopf auch nicht mehr bewegen konnte. Wieder stöhnte sie, denn auch der Vibrator war kurz angegangen.
»Sobald das Glas leer ist, werde ich es dir anlegen.« Selma wusste, was ihre Worte bewirkten.
Leonie stutzte erst ein wenig, dann beugte sie sich zu ihrem Strohhalm und begann wieder zu saugen. Diesmal hörte sie erst auf, als das Glas leer war. Dann blickte sie wieder zur Kommode.
»Paul, hilft du mir?« Selma ging zur Kommode und nahm sich das Halskorsett, um es dann Paul zu reichen. »Du kennst dich ja auch damit aus.« Sie zwinkerte ihm zu.
Paul nahm das Halskorsett und legte es um Leonies Hals, während das Mädchen das eine oder andere Mal leicht aufstöhnte.
»Sie freut sich über die nächste Verschärfung.« Selma wunderte sich etwas über das viele Stöhnen, denn sie hatte den Vibrator abgeschaltet.
Es war Leonie doch wichtig, es richtig zu stellen. »Nein, dieser kleine Eindringling quält mich.«
Selma nahm die Fernbedienung zur Hand und zeigte sie Leonie, wie sie ein und aus schaltete.
»Sind sie sicher, dass es funktioniert?« Leonie hatte sich überzeugt, dass der Vibrator eigentlich abgeschaltet sein müsste. »Jetzt geht es schon wieder los.« Sie stöhnte jetzt etwas heftiger. »Schade, es hat schon wieder aufgehört.« Sie sank ein wenig in sich zusammen.
»Ich werde mir noch einmal die Bedienungsanleitung durchsehen.« Selma gab zu, dass sie das Gerät neu gekauft hatte und es bisher noch nicht ausprobiert hatte. »Jetzt machen wir erst mal das Halskorsett fertig.« Sie griff sich die Schnur und begann, sie in die Löcher am Korsettrand einzufädeln.
Leonie stöhnte wieder, als sie die zunehmende Enge um ihren Hals spürte. Immer wieder versuchte sie auf die Fernbedienung zu sehen, wenn sie wieder einen Impuls an ihrer so empfindlichen Stelle spürte.
»Es wäre etwas leichter für uns, wenn du nicht ständig wackeln würdest.« Selma versuchte es mit neutraler Stimme zu sagen.
»Entschuldigung, aber dieses Ding spinnt immer zu.« Leonie stöhnte noch einmal, doch dann versuchte sie ihren Kopf still zu halten.
»Okay, das war es.« Selma setzte sich an den Frühstückstisch und griff sich ein Brötchen, um es aufzuschneiden.
Auch Paul hatte wieder Platz genommen und tat es seiner Oma gleich.
Das weitere Frühstück verlief in Schweigen, nur gelegentlich unterbrochen von Leonies entweder lustvollem oder enttäuschten Stöhnen, wenn der Vibrator wieder nur für ein paar Sekunden lief.
Paul nahm sich noch einmal die Anleitung zur Hand und kontrollierte auch die Einstellungen auf dem Steuergerät. »Wenn ich das richtig sehe, dann hast du das Zufallsprogramm aktiviert.« Er blickte von seiner Oma kurz zu Leonie, die gerade dabei war, etwas bleich zu werden.
»Oh, das war keine Absicht.« Selmas Stimme zeigte ehrliches Bedauern. »So sehr wollte ich dich am Anfang noch nicht quälen.«
Wieder stöhnte Leonie.
»Das Programm hat eine Laufzeit von acht Stunden und kann vorher nicht unterbrochen werden.« Dass ein Herausnehmen der Batterien noch eine Option war, behielt Paul allerdings für sich.
Leonie war erregt und entsetzt zugleich. Insgeheim hatte sie sich so etwas immer schon gewünscht, doch zum einen hatte sie nie den Mut gehabt, danach zu fragen, und zum anderen war sie sich auch nicht sicher, ob sie es wirklich so lange durchhalten würde.
Wieder stöhnte sie leicht. »Das werde ich ...« Sie konnte nicht weiter sprechen, stattdessen musste sie kurz aufstöhnen. »Das werde ich aushalten.« Sie gab sich sehr zuversichtlich. »Ich habe schon Schlimmeres ertragen.«
Paul blickte sie etwas verwundert an.
»Allerdings war ich dabei nicht so völlig hilflos.« Wieder stöhnte sie auf, dieses Mal etwas lauter.
* * *
Schon beim Anflug auf München hatte Frederike wehmütig aus dem kleinen Fenster des Fliegers geschaut und verträumt über ihre Zeit in der Landeshauptstadt nachgedacht. Später hatte sie die Liebe in das beschauliche Landsbach geführt, und dort besaß sie immer noch das Haus, in dem jetzt ihre Tochter zusammen mit der Erzieherin wohnte. Sie freute sich schon sehr darauf, die Gefilde ihrer Jugend und ihrer Studentenzeit wieder zu sehen.
Gleich nach der Landung durfte sie aussteigen und musste dabei etwas vergnügt an Ereignis ihrer Tochter denken, die direkt aus dem Flieger heraus von der Polizei nach Landsbach gebracht wurde. Frederike hatte arge Bedenken wegen des Gebets während der Landung gehabt, doch sie hatte es nicht gewagt, ihrer Tochter davon abzuraten. Dazu verdankte sie ihrer Tochter zu viel. Doch diesmal wartete kein Polizeiwagen und Frederike konnte nach den üblichen Formalitäten sofort ihre Koffer abholen.
Das Konsortium hatte ihr den Flug erster Klasse bezahlt, und sie hatte auch eine unterschriebene Kostenübernahmeerklärung für sämtliche Fahrtkosten bekommen. Sie war kurz in Versuchung, zunächst einen Abstecher nach München in die Innenstadt zu machen, doch ihre Liebe zu der alten Kleinstadt war doch größer. München konnte sie sich auch noch später ansehen.
So schob sie ihren Kofferwagen zum Taxistand und nahm das erste Taxi, das sich bereit erklärte, sie bis Landsbach zu fahren.
Der Fahrer war nett und begann sofort ein Gespräch, als er den leichten amerikanischen Einschlag bemerkte. »Mal wieder in der alten Heimat?«
»Sie haben recht.« Frederike war verblüfft über die Menschenkenntnis. »Es ist schon lange her, dass ich weggegangen bin.«
»Dem Gepäck nach ist es aber nur ein kurzer Urlaub.« Der Fahrer startete den Motor und fuhr los.
»In Landsbach findet das Katerinenfest statt.« Frederike machte es sich in dem Sitz bequem.
»Und deswegen kommen sie extra aus den Staaten?« Der Fahrer war etwas verblüfft.
»Hört man das?« Frederike lächelte. »Meine Tochter spielt die Hauptrolle.«
»Das ist natürlich ein Grund.« Der Fahrer lächelte zurück. »Da sind sie bestimmt sehr stolz.«
»Oh ja.« Frederike lehnte sich zurück.
In Landsbach ließ sie das Taxi kurz am Friedhof warten, denn als erstes wollte sie das Grab ihres Mannes besuchen, der schon so früh verstorben war. Es war damals ein Schock für sie gewesen, dass sie und die anderen Ärzte ihm bei dieser tückischen Krankheit nicht helfen konnten. Maria war noch sehr jung, als es passierte, und deswegen wuchs sie fast ganz ohne Vater auf.
Dann brachte das Taxi sie zu ihrer alten Freundin, die sie besuchen wollte, weil sie zusammen mit ihr und Marias Erzieherin einen kleinen Streich ausgeheckt hatten.
* * *
Sophie wusste noch ungefähr, wohin Michael gezeigt hatte, als er den Kühlschrank erwähnt hatte. Sie machte sie auf die Suche. Er war tatsächlich etwas versteckt unter dem Waschbecken gleich neben dem Boiler für das warme Wasser.
Seufzend erinnerte sie sich an die Worte von Michael, als er sagte, dass die Tür nur schwer zu öffnen war. Sophie hoffte sehr, dass ihre Kraft dafür schon ausreichend sein würde. Auf noch einmal Ravioli zu Frühstück hatte sie nun wirklich keine Lust.
Sie kniete sich vor das Gerät, holte tief Luft und zog mit aller Kraft an dem Türgriff. Zu ihrer großen Erleichterung ging Tür nach wenigen Augenblicken tatsächlich auf, und Sophie konnte das Innere des Kühlschranks bestaunen.
Ihr Cousin hatte sie doch besser versorgt, als es ursprünglich den Anschein hatte. Allerdings, dass musste Sophie sich schmerzlich eingestehen, wusste sie nicht, was in den jeweiligen Verpackungen drin war. Sie verfluchte ihre Arroganz, mit der sie sich immer von vorn bis hinten bedienen ließ und selten Lebensmittel in ihren Verpackungen gesehen hatte. Doch Butter und Marmelade hatte sie nach einigem Nachdenken identifiziert.
Von Michaels Frühstück war noch ein Brötchen übrig, das jetzt allerdings etwas hart war. Es schmerzte Sophie, dass sie so wenig Haushaltserfahrung hatte beziehungsweise sich immer nur an den gedeckten Tisch gesetzt hatte. Sie erinnerte sich dunkel an Zeiten, wo es auch Brötchen vom Vortag gab, und die waren trotzdem weicher als das Exemplar, welches jetzt vor ihr lag.
Sie suchte sich das Messer und schnitt sich das Brötchen auf. Währenddessen versuchte sie sich daran zu erinnern, was ihre Mutter damals, als sie noch lebte und sich um den Haushalt gekümmert hatte, mit den Brötchen gemacht hatte, doch im Moment wollte ihr nichts dazu einfallen.
Auch die Butter war steinhart, als sie sie auf das Brötchen streichen wollte und so langsam kam die Erinnerung wieder. Früher mussten die Sachen immer ein wenig früher aus dem Kühlschrank genommen werden.
Doch Sophie hatte Hunger und beschloss, auf die Butter zu verzichten. Sie strich sich etwas Marmelade auf die beiden Hälften, goss sich etwas Milch ein und begann mit ihrem Frühstück.
* * *
Es klingelte. Maria sprang sofort auf. »Das wird Paul sein.« Sie lief zur Tür und begrüßte ihn herzlich, nachdem sie ihm geöffnet hatte. »Jetzt probieren wir das Korsett aus.« Ihre Augen leuchteten.
Doch ein Räuspern von ihrer Erzieherin ließ sie zusammenzucken. Vorsichtig drehte sie sich zu ihr um.
»Ihr werdet heute Vormittag noch einmal etwas das Gebet trainieren.« Mrs. Potter gab sich unerwartet streng.
Maria wollte sofort widersprechen, doch dann sah sie die Miene ihrer Erzieherin und sank etwas in sich zusammen. »Jawohl.« Ihr Blick zeigte ihre große Enttäuschung. »Das war die letzte Gelegenheit vor dem Fest.« Letzteres sagte sie mehr zu sich selbst.
Paul fühlte sofort, was seine Freundin bewegte. »Es sind ja nur fünf Tage, die wir noch warten müssen.«
»Ich hatte mich so sehr darauf gefreut.« Marias Stimme war traurig. Doch dann schien sie über die Situation nachzudenken. »Das Gebet ist sicher wichtiger.« Sie seufzte tief.
»Das denke ich auch.« Mrs. Potter legte die nötigen Riemen bereit.
Paul griff sich den ersten der Riemen, und mit sehr viel Bedauern in der Stimme wandte er sich an Maria. »Wenn ich die Prinzessin dann um ihre Mithilfe bitten dürfte.« Er hoffte insgeheim, dass er es ihr durch das Prinzessinnenspiel etwas leichter machen konnte.
»Jawohl, mein Prinz.« Mit einem tiefen Seufzer legte Maria ihre Arme auf den Rücken und nahm die Gebetshaltung ein. Ihr Tonfall zeigte, wie sehr sie es bedauerte, nicht das Korsett ausprobieren zu können.
Unter normalen Umständen wäre es Paul bestimmt aufgefallen, dass Maria ihre Arme schon so weit in die nötige Haltung bringen konnte, dass nur noch wenig Zwang durch die Riemen nötig war. Doch jetzt teilte er Marias Traurigkeit, denn auch er war sehr gespannt auf dieses Monster von einem Ganzkörperkorsett.
»So, das war es.« Paul gab Maria das Signal, dass ihre Armfesselung jetzt belastbar war.
»Es kommt gleich ein wichtiger Besuch.« Mrs. Potter räumte den Tisch ab. »Sie möchte euch begutachten.« Es kostete sie einige Mühe, dabei nicht zu grinsen.
Paul und Maria blickten sich verwundert an. Maria zuckte wortlos mit den Schultern.
»Ich hatte mich eben räuspern müssen.« Mrs. Potters Stimme war ungewohnt ernst.
Maria ließ ihren Kopf enttäuscht sinken. Sie wusste, was dies bedeutete, und vor allem, dass es auch keinen Sinn machte, sich dagegen aufzulehnen.
Doch erst als die Erzieherin aus einer der Schubladen einen Ballknebel herausnahm und ihn wortlos in seine Hand legte, erkannte auch Paul, was gemeint war. »Warum?« Er platzte gerade zu mit der Frage heraus, weil er es für sehr ungerecht hielt. »Warum das?«
Maria hielt ihn zurück. »Das ist schon in Ordnung.« Sie blickte ihn traurig an. »Hilf mir, die Strafe zu ertragen.«
Waren seine Hände beim Anlegen des Gebets noch ruhig gewesen, so zitterten sie jetzt, als er Maria die rote Kugel in den Mund schieben und die Riemen hinter ihrem Kopf schließen musste. »Es tut mir leid.« flüsterte er leise.
Maria brummte nur etwas, denn sie hatte kurzerhand beschlossen, die Strafe hinzunehmen.
»Ich kümmere mich dann mal um den Abwasch.« Mrs. Potter blickte noch einmal mit einem sehr strengen Gesichtsausdruck zu dem Paar, dann verließ sie das Esszimmer.
Maria hielt ihren Kopf gesenkt, denn sie war sehr traurig. Sie hätte gern ihre Wut hinaus geschrienen, doch sowohl ihre Stimme als auch ihre Arme waren ihr genommen.
Paul versuchte seinen Arm um sie zu legen, doch er spürte ihre Ablehnung schon, noch bevor sie noch zu Brummen begonnen hatte. So zog er seinen Arm zurück und blickte ebenfalls zu Boden. So blieben sie einige Zeit lang sitzen.
Es klingelte.
»Könnt ihr bitte aufmachen?« Mrs. Potter rief es aus der Küche.
Paul und Maria gingen zusammen zur Tür. Ohne dass Maria es verhindern konnte, lief gerade ein Speichelfaden über ihr Kinn.
»Du sabberst.« Das waren die ersten Worte der ihnen unbekannten Dame, die als der angekündigte Besuch zu ihnen kam.
Maria traf es schon wieder wie einen Faustschlag.
»Hallo Doro. Das ist also dein Schützling?« Die fremde Frau sprach mit strenger Stimme und blickte Maria dabei mit einem zweifelnden Blick an. »War sie nicht artig?«
»Sie war zu ungeduldig.« Mrs. Potter erklärte es, ohne Maria auch nur einmal kurz anzusehen. »Da musste ich sie etwas bremsen.«
»Es fehlt ihr noch etwas an Selbstkontrolle.« Die fremde Frau zog sich die Strickjacke aus und reichte sie wortlos an Paul. Maria war den Tränen nahe.
Paul hängte die Jacke auf, dann legte den Arm um seine Freundin. Das sie ihre Arme im Gebet trug, schien die Fremde überhaupt nicht zu bemerken.
»Jetzt komm erst mal herein, Alex.« Mrs. Potter machte keine Anstalten, ihren Besuch vorzustellen. »Magst du einen Kaffee?«
»Sehr gern.« Alex folgte der kleinen Gruppe ins Esszimmer.
»Nimm Platz.« Mrs. Potter zeigte auf einen der Stühle. »Ich bin kurz in der Küche.«
Paul musste nur einen kurzen Moment überlegen, dann ging er hinterher. »Darf ich sie mal einen Moment sprechen?« Er hatte sich allen Mut zusammengenommen und folgte Marias Erzieherin in die Küche. »Warum quälen sie Maria so?« Er bemerkte nur nebenbei, dass seine Stimme dabei nicht zitterte.
»Ich möchte sie auf schwierige Momente auf dem Fest vorbereiten.« Mrs. Potter blickte ihm in die Augen. »Nicht jeder wird verstehen, was sie mit ihren Armen macht.« Ihre Stimme wurde etwas leiser. »Und ich möchte, dass sie gelernt hat, verletzende oder demütigende Äußerungen wegzustecken.«
Paul verstand die Motivation sofort, doch dann wurde er nachdenklich. »Wie soll ich mich dabei verhalten?«
»Ich bin froh, dass du das fragst.« Mrs. Potter war sichtbar erleichtert über den Verlauf des Gespräches. »Du solltest stets an ihrer Seite sein und ihr beistehen, vor allem körperlich.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Und es ist wichtig, dass du dich auf keinen Fall provozieren lässt«
»Und warum der Knebel?« Paul fand es ungerecht und äußerte dies.
»Um ihre Ungeduld etwas zu bremsen.« Mrs. Potter legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das neue Korsett ist bestimmt sehr verlockend, doch jetzt ist dafür einfach keine Zeit. Und daran soll der Ball sie erinnern. Aber das ist nur ein Vorwand, wie du sicher bemerkt hast.« Sie beugte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Das ist natürlich ein guter Grund.« Paul war auf einmal verändert, er begann zu grinsen. »Ich gehe dann wieder zu ihr.«
Maria blickte Paul sehnsüchtig und verzweifelt zugleich an.
Er wusste natürlich, was sie von ihm wollte, doch jetzt, da er den wahren Grund erfahren hatte, musste er sie trösten. »Es dauert nicht mehr lange«, sagte er etwas rätselhaft, dann nahm er sie in den Arm und tröstete sie.
»Maria, kommst du bitte einmal zu mir?« Die fremde Frau, die sich als Frau Dortmund anreden ließ, stand auf und wartete, bis Maria vor ihr stand.
Maria hatte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. Sie erwartete jeden Moment den nächsten Tiefschlag. Sie trug ihre Lippen sehr konzentriert um den Ball, denn sie wollte auf keinen Fall, dass ihr noch einmal Speichel aus dem Mund lief.
»Drehe dich bitte einmal um.« Frau Dortmund hatte große Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.
Gerade als Maria sich umgedreht hatte, klingelte es wieder.
»Paul, kannst du bitte öffnen.« Mrs. Potter hatte ein gewisses Interesse daran, dass Maria nicht zur Tür gehen sollte.
Paul kam der Aufforderung nach und bat eine weitere ihm unbekannte Frau herein. Sie trug eine fast übertrieben große Sonnenbrille, so dass von ihrem Gesicht fast nichts zu erkennen war. Er führte sie ebenfalls ins Wohnzimmer. Die fremde Frau nahm auf einem der Stühle neben Frau Dortmund Platz.
Frau Dortmund war unterdessen dabei, Marias Arme abzutasten. Dabei murmelte sie einige, was aber nicht zu verstehen war.
Die fremde Frau schwieg zunächst, schaute der Untersuchung aber sehr interessiert zu.
Mrs. Potter servierte den beiden Frauen etwas Kaffee, dann setzte sie sich dazu.
»Wie lange trainiert Maria jetzt schon?« Frau Dortmund war offensichtlich von deren Fähigkeiten sehr angetan.
»Angefangen hat es vor ungefähr fünf Jahren.« Mrs. Potter gab einen kurzen Überblick über Marias Fortschritte.
»Eine beachtliche Leistung.« Aus ihrer Stimme war plötzlich Bewunderung zu hören. »Deine Mutter kann sehr stolz auf dich sein.«
Maria hob kurz ihren Kopf. Doch sie war so konzentriert auf ihre Lippen, dass sie sonst keine Reaktion zeigte.
»Ich kann nicht mehr« Frederike riss sich die Perücke vom Kopf und nahm sich die Sonnenbrille ab. Dann begann sie zu lachen.
Frau Dortmund war erleichtert. »Ich hätte auch nicht mehr lange durchgehalten.«
Paul und Maria waren erstarrt vor Verblüffung.
»Ich denke, jetzt kannst du Maria den Ball wieder abnehmen.« Mrs. Potter gab das erlösende Signal.
»Na, ist meine kleine Überraschung gelungen?« Frederike nahm kurz einen Schluck Kaffee.
»Mama!« Maria war überwältigt. »Warum das alles?«
»Es sollte dich vorbereiten.« Frederike warf der Erzieherin einen kurzen Blick zu. »Es wird auf dem Fest sicher nicht nur Bewunderer geben, sondern du wirst auch auf Ablehnung stoßen.«
»Und damit du damit umgehen kannst, dafür war heute diese kleine Lehrstunde«, ergänzte Mrs. Potter.
Maria blickte verwundert zu Paul. »Und du hast das gewusst?« Ihr Blick war dabei, sich zu trüben.
Mrs. Potter musste Paul in Schutz nehmen. »Er wusste nur das Notwendigste.«
Frederike nahm ihre Tochter in den Arm. »Natürlich bin ich sehr stolz auf dich.«
Maria lag noch eine Frage auf der Zunge, doch sie traute sich nicht, sie auszusprechen.
»Alexandra Dortmund ist eine alte Studienkollegin von mir.« Sie warf der anderen Frau ein Lächeln zu. »Sie wollte dich unbedingt kennenlernen. Und deswegen haben wir uns diese kleine Komödie ausgedacht.«
»Wieso bist du eigentlich hier und nicht in der Klinik?« Maria fragte das Naheliegende.
»Ich muss doch dabei sein, wenn meine Tochter das Fest spielt. Das konnte ich mir wirklich nicht entgehen lassen.« Sie strich Maria über den Kopf. »Und ich soll auch Grüße von meinen Auftraggebern ausrichten, sie wünschen dir ebenfalls viel Erfolg bei dem Fest.«
»Sind sie zufrieden mit mir?« Maria hatte auf einmal etwas Besorgnis in ihrer Stimme.
»Sie sind sehr zufrieden.« Frederike streichelte ihrer Tochter durch das Gesicht. »Es tut mir sehr leid, dass du das Korsett jetzt nicht mehr ausprobieren konntest. Es ist einfach nicht früher fertig geworden.«
»Das Gebet zu trainieren, ist wichtiger.« Maria gab sich ein wenig trotzig.
»Sie sind mir zu sauer, sagte der Fuchs zu den Trauben, an die er nicht heran kam.« Paul grinste.
»Du Schuft, du!« Maria drehte sich erbost zu ihm. »Wir zwei rechnen noch gesondert ab.« Doch dann lächelte sie. »Ich freue mich schon sehr auf das Fest.«
* * *
»Leonie, wie wäre es, wenn du beim Tischabräumen hilfst?« Selma hatte Mühe, ein Grinsen zu verbergen, als sie ihr die Kniegelenke öffnete, damit ihr Schützling aufstehen konnte.
Leonie seufzte zunächst, als sie sich langsam aufrichtete. Sie war in Versuchung, ihre Beine etwas angewinkelt zu halten, so dass der Verschluss nicht automatisch einrasten würde. Doch ein strenger Blick von Selma ließ Leonie leise stöhnen, dann streckte sie ihre Beine, bis das leise Klicken zu hören war. »So kann ich aber nicht mehr helfen.« Sie versuchte einen leisen aber auch erleichterten Protest.
»Du hast recht, so geht das nicht.« Selma ging an die bewusste Kommode und zog die oberste Schublade heraus. Sie nahm etwas heraus, was Leonie im weiteren Sinn als ein Tablett identifizierte. Doch an dem Tablett hingen noch diverse Riemen herab. »Bitte halte einmal still.«
Leonie erkannte die nächste Gemeinheit erst, als Selma schon dabei war, das Tablett um ihren Bauch zu schnallen. Es hing allerdings noch etwas nach vorn herunter. »Ich verstehe noch nicht, wie das gehen soll?« Leonie war etwas verwundert.
»Warte ab.« Selma griff noch einmal in die Schublade und holte zwei glänzende Ketten heraus. »An deinem Halskorsett sind seitlich zwei Ösen, dort werden ich jetzt die Ketten einhängen.« Sie beschrieb, was sie tat, weil sie wusste, dass Leonie es nicht sehen konnte.
»Und dann?« Leonie fragte es noch mit etwas naiver Stimme, doch dann erkannte sie, was ihre Gastgeberin vorhatte. »Nein, das können sie nicht von mir verlangen.«
»Du kannst ja ruhig versuchen, dich zu wehren oder wegzulaufen.« Selma zeigte ihr Grinsen jetzt ganz offen. »Aber es wäre besser, wenn du dir deine Kraft aufhebst für das, was dann kommt.«
Als Antwort seufzte Leonie, um gleich darauf auch noch heftig zu stöhnen. »Dieses Teufelsding kennt auch unterschiedliche Intensitäten. Stark und kurz oder sanft und lange.«
»Mir scheint, du magst es.« Selma sprach etwas leiser, als sie die Ketten in der richtigen Länge an das Tablett anbrachte. »Jetzt nur noch verriegeln und du bist fertig für den Tag.«
»Es war immer schon mein Traum.« Leonie wurde etwas rot, weil gerade ihre geheimsten Träume offenbart wurden.
»Es ist allerdings etwas problematisch wegen der nötigen Hygiene.« Selma wurde auf einmal ernst. »Zweimal pro Tag müsste ich dich sauber machen.«
»Sie haben damit Erfahrung.« Leonie war erstaunt und verzückt zugleich. »Ein Traum.«
»Dann macht es dir sicher nichts aus, wenn du mir jetzt als Tablett hilfst.« Selma wollte sie bewusst aus ihrem Traum erwecken. »Und die acht Stunden Zufallsprogramm überstehst du bestimmt ganz locker.« Sie blickte demonstrativ zur Uhr. »Eine halbe Stunde hast du ja jetzt schon geschafft.« Sie wusste, wie sie in Leonie ganze Gedankenstürme auslösen konnte. »Und jetzt halte bitte still, damit ich den Tisch abräumen kann.«
Leonie seufzte, dann kam sie der Aufforderung und versuchte, still zu halten, während Selma das Frühstücksgeschirr auf das Tablett stellte. Nur ab und zu entglitt ihr ein Stöhnen, weil der Vibrator sie kurz gequält hatte.
»Jetzt trage es bitte vorsichtig in die Küche.« Selma drehte sich einfach um und ging voran. »Wie kommst du eigentlich mit den Einsätzen im BH zurecht?«
»Oh!« Leonie keuchte. »Die sind ja so gemein.« Wieder zwang sie der Vibrator zu einem Stöhnen.
* * *
»Danke für die Einladung, wir nehmen gern an.« Mrs. Potter legte auf. »Selma hat uns zum Mittagessen eingeladen. Ich habe zugesagt, ihr Einverständnis voraussetzend.« Sie blickte Frederike fragend an.
»Gern, ich bin sehr gespannt, Pauls Oma kennenzulernen.« Marias Mutter blickte kurz zu ihrer Tochter.
»Frau Mohr ist total nett.« Marias Stimme hatte etwas Schwärmerisches. »Sie ist auch eine sehr erfahrene Erzieherin.« Sie gab einen kurzen Überblick über ihre bisherigen Begegnungen mit Pauls Oma.
»Wie geht es Anna und Florian?« Frederike war sehr neugierig, ob ihre so hastig geschmiedeten Pläne letztendlich auch von Erfolg gekrönt waren.
»Ich glaube, sie sind sehr glücklich.« Maria berichtete von Annas bisherigen Aktionen. »Im Moment ist sie bei der Reporterin.«
»Was macht sie denn da?« Frederike war sichtlich überrascht.
»Frau Baseling hat ihr so etwas wie einen Praktikumsplatz angeboten, damit sie beschäftigt ist und auf andere Gedanken kommt.« Mrs. Potter legte den Landsbacher Boten auf den Tisch. Es war die Ausgabe, die Maria im Katerinenkleid auf der Titelseite zeigte.
»Das sieht ja wunderbar aus.« Frederike war sichtlich angetan. »Ich merke, ich muss mich hier um nichts kümmern.« Doch dann wurde ihr Gesicht ernst. »Ich würde mich gern noch einmal mit Anna unterhalten. Ich muss sie zu etwas Rudern nötigen.«
Maria begriff die Zusammenhänge sofort. Durch das lange Korsetttragen drohten die Rückenmuskeln abzubauen, mit dem Rudertraining konnte frau dem entgegenwirken. Und natürlich hatte es noch einen anderen Aspekt. Wenn Anna die Ruderanlage belegte, blieb ihr selbst das sonst so lästige Rudern erspart. Sie lächelte ein wenig. »Wir könnten bei der Zeitung anrufen und fragen, wo sie sind.«
»Frau Baseling wird sich sicher die Gelegenheit nicht entgehen lassen, deine Mutter zu interviewen.« Mrs. Potter schmunzelte. »Ich werde Selma fragen, ob sie auch kommen können.« Sie griff noch einmal zum Telefon.
Kurz darauf trug sie ihr Anliegen vor. »Sie ist einverstanden«, sagte sie, nachdem sie wieder aufgelegt hatte.
»Dann sollten wir noch diese Reporterin anrufen, damit wir sie und Anna auch einladen können.« Frederike war sehr gespannt auf die ehemals so prominente Tochter.
»Ich kümmere mich darum.« Mrs. Potter bot sich an und griff ein drittes Mal zum Telefon.
* * *
»Frau Mohr, darf ich sie einmal sprechen.« Leonie hatte sich unter häufigem Stöhnen mühsam in die Küche gequält, wo Selma mit einigen Kochtöpfen beschäftigt war.
»Was gibt es denn, Leonie?« Selma hatte Mühe zu verbergen, wie sehr sie sich an Leonies süßen Qualen ergötzte.
»Das mit diesem Vibrator ist so grausam.« Leonie stöhnte wieder.
»Warum ist es grausam?« Selma wollte es hören, obwohl sie die Antwort natürlich schon lange kannte.
»Er hört immer viel zu früh auf.« Leonie versuchte, viel Leid in ihre Stimme zu legen, doch innerlich fühlte sie sich rattenscharf. Wenn sie nur diese verteufelten Handschuhe nicht tragen würde, dann hätte sie sich schon lange gestreichelt. Sie war so geladen, dass der Keuschheitsgürtel fast wirkungslos war. Ein zärtliches Streicheln über die Haut und sie wäre geplatzt. Doch mit diesen Handschuhen war ihr Körper sicher vor ihr.
»So so.« Selma sog die Leiden des Mädchens geradezu auf.
»Und immer, wenn ich mich bewege, kitzeln mich diese verfluchten Dinger in dem BH.« Leonie war die Verzweiflung deutlich anzuhören.
»Ich könnte dir deine Situation etwas erleichtern.« Selma legte den nächsten Köder aus. »Aber du solltest es dir gut überlegen, weil es heftige Konsequenzen hat.«
Sie zeigte Leonie den nächsten Gegenstand, den sie bereit gelegt hatte. Es war ein Halskorsett, welches bis unter ihre Nase reichen würde. Deutlich war der Penisknebel zu sehen, der innen in dem Korsett angebracht war. »Ich kann es dir anlegen, dann ist dein Stöhnen nicht mehr zu hören.« Sie machte eine deutliche Pause, um das Folgende extra betonen zu können. »Aber du kannst dann auch nicht mehr um deine Freilassung bitten.«
Leonie lautes Keuchen zeigte ihre wachsende Verzweiflung darüber, schon so lange kurz vor der Erlösung gehalten zu werden.
»Du musst dich nicht sofort entscheiden.« Selma grinste jetzt offen. »Nach dem Mittagessen möchte ich deine Entscheidung wissen.«
Leonie keuchte erneut. Ihre Gedanken tobten wild. Sollte sie das Angebot annehmen. Der Gedanke völliger Hilflosigkeit reizte sie, auch wenn nicht sie wusste, was wirklich auf sie warten würde. Sollte sie wirklich auf ihre Stimme verzichten und damit auch auf das Recht auf Befreiung?
* * *
»Baseling.« Andrea meldete sich wie gewohnt etwas einsilbig. Mit dem Telefon als Medium hatte sie so ihre Probleme, sie blickte den Leuten beim Reden lieber in die Augen, auch weil sie sehr viel aus deren Mimik ablesen konnte.
Mrs. Potter trug das Anliegen vor. »Bitte bringen sie auch Anna mit. Maria und ihre Mutter möchten sie gern wiedersehen.«
»Sie sitzt neben mir.« Andrea warf Anna einen bedeutsamen Blick zu. »Dann bis gleich.« Sie legte auf. »Frau Beller ist in Landsbach.« Sie griff sich ihre Arbeitssachen, doch als sie sah, dass Anna noch zögerte, fügte sie ein 'Das ist Marias Mutter.' hinzu.
Für einen kurzen Moment hatte Anna Angst im Gesicht, denn sie wurde an die Vergangenheit erinnert.
Andrea hatte den Blick durchaus bemerkt, doch sie tat, als hätte sie es nicht gesehen.
* * *
Nach der herzlichen Begrüßung bat Selma zu Tisch. »Endlich kann ich mal wieder die großen Töpfe nutzen.«
»Es duftet phantastisch.« Frederike war über die Gastfreundschaft sehr überrascht. »Vielen Dank noch einmal für die Einladung.«
»Nehmt reichlich.« Selma sprach ein kurzes Tischgebet, dann rief sie in Richtung der Küche »Leonie, Liebes, bringst du bitte die Getränke?«
Aus der Küche war zunächst nur ein Stöhnen zu hören, dann hörte man leise Trippelschritte. Doch in der Küchentür blieb Leonie vor Schreck stehen. Es war deutlich zu sehen, dass sie sich in Grund und Boden schämte, als sie die Fremden am Tisch bemerkte.
Doch auch bei Frederike und bei Andrea war Erstaunen im Gesicht zu lesen.
»Wer ist das denn?« Andrea fand sich schnell mit ungewohnten Situationen zurecht.
»Leonie ist eine Freundin von Paul und Maria.« Selma antwortete, als sei es das Selbstverständlichste, das ein so streng gefesseltes Mädchen in ihrem Haus die Getränke servierte. »Sie hat mit ihren Wünschen alte Sehnsüchte in mir geweckt.«
»Leonie, ist alles in Ordnung mit ihnen?« Andrea wusste noch nicht, wie sie die seltsame Gestalt des Mädchens einzuordnen hatte.
»Ich wusste nicht, dass sie Besuch haben.« Leonie war sehr verlegen.
»Geht es ihnen gut?« Andrea blickte zweifelnd zwischen Selma und Leonie hin und her.
»Es geht mir gut.« Leonie realisierte, dass sie über ihre wahren Gefühle Auskunft geben musste. »Ich habe einen ganz gewissen Traum.« Sie stöhnte kurz auf. »Und Frau Mohr hilft mir, ihn zu verwirklichen.«
»Ich würde dich gern einmal interviewen.« In Andrea kam die Professionalität an die Oberfläche. Leonie versprach eine ganz heiße Story zu werden für die Zeit nach dem Fest.
»Das müsste aber gleich nach dem Mittagessen geschehen.« Leonie war einen besorgten Blick auf Selma.
»Natürlich darfst du erst dein Interview geben.« Selma gab sich verständnisvoll. »Ich warte einfach solange.« Ihr Blick fiel auf das Tablett. »Jetzt solltet ihr euch bedienen. Und falls es nicht reicht, Leonie geht gern noch einmal, nicht war, Leonie?«
»Jawohl, Madame.« Leonie stöhnte leise. Die unerwarteten Besucher an der Tafel hatten sie doch ein wenig von ihren Folterwerkzeugen abgelenkt, deren süße Quälereien sie langsam wieder zu spüren begann. Sie schämte sich, weil sie ihr Stöhnen nicht unterdrücken konnte.
Frederike blickte das Mädchen aufmerksam an, dann setzt sie ein Lächeln auf und wandte den Blick zu Selma. »Das Zufallsprogramm?«
Selma bestätigte es. »Und die Gummifinger im BH.«
»Faszinierend.« Unwillkürlich warf Frederike einen Blick auf ihre Tochter.
Maria ihrerseits suchte den Blick von Paul, dann schluckte sie ein wenig. »Wenn es sein muss, ja.« Wieder blickte sie zu Paul. »Wenn er es anschaltet.« Es fiel ihr schwer, es auszusprechen.
»Aber bitte erst nach dem Fest.« Pauls trockene Stimme zerriss die Spannung und brachte alle zum Lachen.
»Jetzt lasst es euch erst einmal schmecken.« Selma wünschte allen einen guten Appetit.
* * *
»Anna, dürfte ich dich einmal allein sprechen?« Frederike blickte das Mädchen mit ernstem Blick an.
»Ja, Frau Belller?« Anna hatte ein wenig Respekt vor der Frau, die es gewagt hatte, sich mit ihrer Familie anzulegen und dabei auch noch Erfolg hatte.
»Selma, haben sie ein Zimmer, in dem ich mit Anna allein reden kann?« Was sie Anna zeigen wollte, sollten die anderen nicht sehen.
»Wir können nach oben gehen«, schlug Anna vor. »Da dürfen wir wohnen, bis wir etwas eigenes gefunden haben.«
»Anna, was ich dir nun zeige, wird dich ein wenig erschrecken.« Frederike ahnte, dass sie das Mädchen etwas vorbereiten musste.
»Was ist es denn?« Anna schloss die Tür hinter sich.
»Die Familie hat die Suche nach dir aufgegeben.« Frederike nahm einen Briefumschlag aus ihrer Tasche und legte ihn auf den Tisch. Der schwarze Rand fiel Anna sofort auf.
Annas Hände zitterten, als sie den Umschlag öffnete. Doch als sie den Inhalt in den Händen hielt, erkannte sie ihre eigene Todesanzeige. »Unsere geliebte Tochter und meine geliebte Verlobte ist bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen.« Darunter waren diverse Namen gelistet. »Er steht auch darauf.« Anna hielt die Karte lange in der Hand, während ihr Blick in Leere starrte.
»Du bist frei.« Frederikes Stimme war ganz leise. »Sie suchen nicht mehr nach dir.« Sie selbst war auch erleichtert, dass das Autowrack endlich gefunden war und es damit für Annas Verschwinden eine plausible Erklärung gab.
»Frei...« Anna wiederholte die Worte mit einem immer noch sehr glasigen Blick. Eine Träne lief ihr über das Gesicht. Jetzt gab es endgültig kein Zurück mehr, jetzt war sie ganz auf sich allein gestellt.
»Ich hätte noch ein anderes Anliegen.« Frederike fühlte, dass Anna jetzt etwas Ablenkung gebrauchen konnte.
»Und das wäre?« fragte Anna mit etwas weinerlicher Stimme, nachdem sie sich ihre Augen ausgewischt hatte.
»Du wurdest gezwungen, Korsetts zu tragen.« Frederike erkannte, dass sie Annas volle Aufmerksamkeit hatte. »Dabei bilden sich die Rückenmuskeln zurück, es sei denn, man tut etwas dagegen.«
»Und was wäre das?« Anna fühlte, dass sie Marias Mutter vertrauen konnte, auch wenn sie nicht unbedingt überblickte, was diese in Wirklichkeit alles für sie riskiert hatte.
»Meine Tochter hat eine Ruderanlage, auf der sie regelmäßig trainiert.« Es fiel Frederike auf, dass sie die Anlage bisher noch nicht gesehen hatte.
»Auf dem Wasser?« Anna sah sich schon in einem Ruderboot auf irgendeinem Fluss, wobei ihr die Vorstellung aber durchaus gefiel. Sie würde dann Florian auf dem See oder Fluss spazieren rudern.
»Nein«, Frederike lachte. »Obwohl dass den gleichen Zweck hätte.« Sie grinste. »Maria hat eine Rudermaschine im Keller und sie lässt dich bestimmt auch mal rudern.«
»Ich werde sie fragen.« Anna gab sich zuversichtlich.
»Aber das Rudern auf dem See würde den gleichen Zweck erfüllen.« Frederike strich ihr vorsichtig über das Gesicht. »Und du könntest mit Florian zusammen sein.«
»Das wäre schön.« Annas Augen begannen zu leuchten.
»Wenn du möchtest, kann ich mich auch mal beim hiesigen Sportverein umhören.« Frederike ahnte, dass das Rudern im Keller für Anna wenig attraktiv sein würde.
»Danke, das wäre sehr nett.« Anna war etwas verlegen. »Wir verdanken ihnen so viel.«
Doch Frederike winkte ab. »Jetzt sehen wir erstmal zu, dass ihr glücklich werdet. Alles andere kommt später.« Sie lehnte sich entspannt zurück, denn sie hatte alle ihre heiklen Punkt angesprochen. »Was macht der Deutsch-Unterricht?«
Anna blickte kurz auf, dann antwortete sie etwas stockend und sagte die erste Sätze auf, die sie schon gelernt hatte.
»Ein guter Anfang.« Frederike spürte, dass ihre beiden Sorgenkinder auf dem richtigen Weg waren. »Wie geht es Florian?«
»Er arbeitet am Krankenhaus.« Sie war wieder ins Englische übergegangen. »Andrea...« Sie zögerte ein wenig. »Ich meine Frau Baseling hat ihm dort einen Job besorgt. Ich glaube, sie sind ganz zufrieden mit ihm.«
»Und was machst du?« Es freute Frederike, so gute Nachrichten zu hören.
»Ich bin die Assistentin von ihr.« Anna zögerte ein wenig mit der Antwort.
»Du bist damit nicht zufrieden, höre ich heraus.« Frederike fragte sich, in wie weit sie Anna noch helfen konnte.
Doch auf einmal begann Anna zu weinen. »Ich möchte mich für die große Hilfe erkenntlich zeigen. Ich bin nicht undankbar, aber ich habe nichts und kann nichts.«
»Ich werde mich einmal umhören, ob ich etwas für dich finden kann.« Frederike hatte schon einen gewissen Plan. »Aber versprechen kann ich nichts.«
»Ich schulde ihnen schon so viel.« Anna schluchzte noch einmal, dann wischte sie sich die Tränen weg. »Darf ich sie noch etwas anderes fragen?«
Frederike war gespannt, was kommen würde. »Ja, bitte.«
»Der Freund von Andrea hat mir ein verlockendes Angebot gemacht.« Es fiel Anna schwer, darüber zu reden. »Aber ich weiß nicht, ob es richtig ist, darauf einzugehen.«
»Um was handelt es sich denn?« Marias Mutter war auf die Presse auch nicht unbedingt gut zu sprechen.
»Er möchte mich fotografieren, während ich Fesseln trage.« Jetzt war es heraus. »Er sagt, dass er mich dafür auch bezahlen würde. Aber ist es richtig, sein Geld auf diese Weise zu verdienen, und was wird meine Familie dazu sagen?«
»Du solltest ein wenig dein Äußeres verändern, zumindest eine andere Frisur.« Frederike war von Annas Unschuld nicht weniger fasziniert als Hans.
»Aber ich habe doch kein Geld.« Anna hatte sich schon lange daran gewöhnt, dass im Gegensatz zu früher alles etwas kostete.
»Wie wäre es, wenn er dich zunächst in Naturalien bezahlt?« Frederike hoffte, dass ihre Idee gefallen würde. »Er zahlt dir als Erstes den Friseur und dann geht ihr zusammen zum Einkaufen. Er hat bestimmt gewisse Kleiderwünsche.«
»Und meine Familie?« Anna hatte immer noch einen sorgenvollen Blick.
»Sie suchen nicht mehr nach dir.« Frederike zeigte auf die Todesanzeige. »Und wenn du dein Äußeres ein wenig veränderst, sollten eigentlich keine Risiken bestehen.« Sie zögerte einen Moment. »Und du bist dir wirklich sicher, dass du dich ihm so ausliefern willst?«
»Florian wird mir die Fesseln anlegen und er wird auch dabei sein.« Anna gab das wieder, was sie schon mit Hans besprochen hatte. »Aber das weiß er noch nicht.«
Frederike war der Seufzer in ihren Worten aufgefallen. »Du weißt noch nicht, wie du es ihm beibringen sollst?«
Anna schaute Frederike nur an.
»Ich hole euch ab und dann rede ich mit ihm. Ich werde es ihm erklären und ihm deutlich machen, dass es sogar etwas Ehrenwertes ist. Du solltest dir für alle Fälle den Keuschheitsgürtel anlegen lassen.«
»Den trage ich sowieso.« Anna wurde ein wenig rot. »Wenn ich allein bin, gibt er mir Sicherheit und er hat den Schlüssel.« Sie lächelte.
Frederike hatte gehört, was sie erwartet hatte. Sie stand auf. »Laß uns wieder hinunter gehen.« Ihr Blick fiel noch einmal auf die Anzeige. »Die solltest du gut verstecken oder noch besser vernichten.«
Anna stand ebenfalls auf und griff sich die Karte und den Umschlag, um beide in kleine Fetzen zu zerreißen. »Das war es.«
* * *
»Bis auf die Ketten sieht es eigentlich gar nicht so streng aus?« Andrea war immer noch überrascht über Leonies seltsame Kleidung.
»Ja, es ist ganz faszinierende Kleidung, die Frau Mohr besitzt.« Leonie streckte ihren Arm aus. »Es sieht aus, wie ein ganz eleganter Handschuh, doch tatsächlich ist es das gemeinste, was ich je getragen habe.«
»Was ist denn das Besondere an diesen Handschuhen?« Andrea war sichtich interessiert. »Ich sehe bisher nur, dass sie abgeschlossen sind.«
»Sehen sie die vielen Extranähte auf dem Leder?« Leonie versuchte, darauf zu zeigen, doch ihre mangelnde Bewegungsfreiheit verhinderte dies. »Es sind überall dünne Stahlstangen darin, die meine Gelenke und vor allem die Finger versteifen.«
Andrea hielt die Luft an. Das war allerdings etwas heftig. »Darf ich das mal anfassen?«
»Gern.« Leonie drehte sich ganz zu Andrea hin. »Ich kann sie ohnehin nicht daran hindern.«
Andrea nahm einen der Arme in die Hand und ließ ihre Finger darüber gleiten. »Das ist ja alles ganz hart«, sagte sie mehr zu sich selbst.
Es klopfte.
Nach Leonies 'Herein' trat Selma herein und trug einen Berg Wäsche, offensichtlich zum Bügeln. »Leonie, ich brauche jetzt dieses Zimmer für einige Zeit.« Sie ging zu dem kleinen Tisch und legte die Wäsche dort ab. »Wie wäre es, wenn ihr solange in das Café geht?«
Leonie war sprachlos. Sie blickte nur etwas fassungslos an sich herunter.
»Das geht sicher.« Selma wartete gar nicht erst auf Leonies Antwort. »Ich zeige Frau Baseling, wie die Schienen funktionieren, und dann kann sie dir helfen.«
»Aber was werden die Leute sagen?« Leonie war zum ersten Mal über ihr Ansehen besorgt.
»Die Leute werden denken, dass du für deine Rolle übst.« Selma zog an Leonies Armketten. »Die meisten werden sowieso nur auf die Ketten schauen.« Natürlich wusste Pauls Oma, dass Leonie durch die unerwartete Öffentlichkeit noch viel mehr leiden würde.
»Und das Halskorsett?« Leonie suchte verzweifelt nach Argumenten, nicht nach draußen zu müssen.
»Wenn die Leute fragen, sagst du einfach, dass dein Kopf gestützt werden muss.« Selma wischte Leonies Einwand einfach weg. »Ich ziehe dir noch etwas über, bevor ihr geht.« Dann wandte sie sich an Andrea. »Ich müßte sie noch einen Moment allein sprechen. Kommen sie bitte mit in die Küche.«
* * *
»Warum machen sie so etwas?« Andrea hatte zwar schon verstanden, dass hier kein Zwang vorlag, doch die Beweggründe hatte sie noch nicht verstanden.
»Ich war früher in meinen jungen Jahren Erzieherin.« Selma klang auf einmal etwas wehmütig. »Damals ging es noch sehr streng zu.«
»Und welche Rolle spielt Leonie dabei?« Andrea begriff, dass sie hier vielleicht Stoff für eine spannende Geschichte bekam.
»Sie kam zu uns, weil sie auf Fessel-Abenteuer aus war.« Selma berichtete, wie es zu Leonies Gefangenschaft gekommen war. »Sie darf jederzeit gehen, wenn sie darum bittet.«
»Und das hat sie bisher nicht gemacht?« Andrea war von dem Arrangement mehr als fasziniert.
»Nein, und das, obwohl jeden Tag neue Fesseln hinzukommen.« Selmas Stimme zeigte, wie sehr sie diese Zeit genoss.
»Und wie lange wird das so noch weiter gehen?« Andrea hatte erkannt, dass Leonie schon sehr viele Freiheiten aufgegeben hatte.
»Sie müssen mir versprechen, ihr nichts davon zu sagen.« Selma nahm Andrea das Versprechen ab, dann erzählte sie von ihren Plänen.
»Und sie meinen, das funktioniert.« Andrea war fasziniert.
»Ich müßte mich schon sehr täuschen, wenn es nicht klappen würde.« Selma lächelte geheimnisvoll. »Ich zeige ihnen jetzt noch alles, was sie über die Beinschienen wissen müssen.« Sie nahm eine weitere der Beinschienen aus der Kommode und erklärte Andrea die Handhabung.
»Was soll ich tun, wenn sie mich um Hilfe oder Befreiung bittet?« Andrea wollte sich abgesichert haben.
»Das wird sie nicht machen.« Selma war sich ihrer Sache sehr sicher. »Außerdem habe ich noch alle Schlüssel.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Wichtig ist, dass sie Leonie keine Sekunde aus den Augen lassen, in ihrem Zustand ist sie sehr hilflos.«
Andrea blickte ehrfürchtig auf Selma.
»Sie ist mit einem Keuschheitsgürtel geschützt, es kann ihr also nicht wirklich etwas passieren.« Selma war sich ihrer Sache recht sicher. »Sie wird nur gelegenlich aufstöhnen.« Sie flüsterte Andrea etwas ins Ohr.
»Das ist aber gemein.« Andrea wurde etwas rot. »Da könnte man fast Mitleid bekommen.«
»Übrigens, sie steht direkt vor einer schweren Entscheidung.« Selma grinste. »Wenn sie zurück kommt, möchte ich von ihr wissen, ob sie das Halskorsett auf dem Tisch tragen möchte.«
»Das reicht ja bis zur Nase.« Andrea nahm es in die Hand. »Aber warum ist es eine 'schwere' Entscheidung?«
»Nun ja, wie sie sicher gesehen haben, hat es einen integrierten Knebel.« Selma zeigte auf das Gummiteil, über dessen Form Andrea gar nicht weiter nachdenken wollte. »Wenn sie den im Mund hat, kann sie nicht mehr um ihre Befreiung bitten.«
»Welche Möglichkeiten hat sie dann noch?« Andrea war über das Halskorsett in all seiner Strenge sehr fasziniert, sie nahm es in die Hand.
»Sie hat die Wahl, sofort ohne alle Fesseln unser Haus zu verlassen oder sie ...« Selma sprach nicht weiter.
»Eine teuflische Situation.« Andrea legte das Korsett wieder auf den Tisch. »Ich möchte nicht an ihrer Stelle sein.«
* * *
»Diese Stellung der Verriegelung darf ich sonst nicht benutzen.« Leonie war verwundert, als Andrea ihr die Kniegelenke ganz frei gab.
»Frau Mohr hat mir das so geraten.« Andrea war insgeheim sehr fasziniert von den vielen Einschränkungen, die Leonie an ihrem Körper trug. »Ich soll dich nicht unnötig quälen.«
»Das ist aber nett von ihr.« Leonie schaffte es nicht, nicht sarkastisch zu klingen. »Mich hat sie gewarnt, wenn ich diese Einstellung benutzen sollte, dann würde sie mich sofort hinaus werfen.« Doch dann stutzte sie. »Das galt für die Zeit, in denen ich meine Arme und Hände noch benutzen konnte.«
»Man sieht von den Fesseln fast überhaupt nichts.« Andrea war fasziniert. »Nur die Arme wirken etwas steif.«
»Es ist ein Traum.« Leonie war mehr als erfreut. »So etwas hatte ich mir immer schon gewünscht, doch ich wusste nicht, dass man es auch umsetzen kann.«
»Darf ich dich im Auto mitnehmen oder gehen wir zu Fuß?« Andrea wollte Leonie die Wahl lassen.
»Auto wäre mir schon lieber.« Leonie war erleichtert. Es würde reichen, wenn die Leute im Kaffee sie anstarren würden. »Sie müssen mich nur anschnallen, dass kann ich nicht mehr selbst.«
Das Cafe war fast leer, nur ein Pärchen saß am Fenster. Andrea führte ihre Interviewpartnerin zu einem Tisch, der von außen nicht gesehen werden konnte.
Leonie war erleichtert. »Vielen Dank dafür.«
Die Bedienung kam an den Tisch und bemerkte die Ketten, die Leonie trug. Doch noch bevor sie eine Frage stellen konnte, erklärte Andrea, dass Leonie auf dem Fest mitspielte und sich deswegen an die Ketten gewöhnen musste. »Ich hoffe, es stört nicht weiter.«
»Nein, natürlich nicht.« Die Bedienung war sichtlich verlegen. »Was kann ich ihnen bringen?«
»Zwei Kaffee bitte.« Andrea gab die Bestellung auf und wartete, bis das Mädchen verschwunden war.
»Jetzt möchte ich aber wissen, wie es dazu gekommen ist.« Andrea strich noch einmal über Leonies Arm. »Das ist ja schon etwas Außergewöhnliches.«
»Das sind die schönsten Semesterferien meines Lebens.« Leonie strahlte bis über beide Ohren. Doch dann wurde sie nachdenklich. »Ich weiß es nicht. Gefesselt zu sein war schon immer mein Wunsch. Erst wenn ich eingeschränkt bin, fühlte ich mich frei.« Sie machte eine nachdenkliche Pause. »Ich glaube, unsere Eltern haben uns viel vererbt.«
»Erlauben sie bitte?« Die Bedienung brachte den Kaffee und stellte zwei Tassen auf den Tisch.
»Du hast noch eine Schwester?« Andrea hatte die Formulierung bemerkt.
»Christine ist ein paar Jahre älter als ich.« Leonies Stimme klang sehnsüchtig. »Und Fritz geht sehr auf ihre Wünsche ein.«
Andrea spürte, dass sie dieses Thema nicht vertiefen durfte. Dass Leonie keinen Partner hatte, war mehr als offensichtlich. »Frau Mohr ist ja sehr streng zu dir.«
»Das möchte ich nicht unbedingt sagen.« Leonie wusste in diesem Moment nicht, wo ihre Worte herkamen. »Sie hilft mir oft bei den Aufgaben, die sie mir gibt, und sie ist auch sehr fair.«
Andrea bemerkte nur am Rande, dass Leonie die Frau, die sie so quälte, auch noch verteidigte. »Du stehst ja jetzt vor einer wichtigen Entscheidung, sozusagen der 'Point of no return'.«
»Den Begriff habe ich noch nie gehört.« Sie war nachdenklich. »Was bedeutet das?«
»Wenn du diesen Punkt überschritten hat, dann gibt es kein Zurück mehr.« Andrea hoffte, es einigermaßen treffend erklärt zu haben.
»Ja, das ist wohl wahr.« Leonie seufzte. »Ich weiß einfach nicht, was noch kommen wird. Ich bin doch jetzt schon mehr als hilflos.«
Andrea schwieg.
»Immer wenn ich glaubte, es könne nicht mehr strenger werden, hat sie mich vom Gegenteil überzeugt.« Leonies Stimme zitterte. »Wenn ich erst mal dieses strenge Halskorsett tragen und dieses Ding in den Mund nehmen muss, ist es aus. Dann kann ich nicht mehr um meine Freilassung bitten.«
»So ein Schritt will gut überlegt sein.« Andrea wollte vermitteln, dass sie sich der Tragweite der Entscheidung durchaus bewusst war. »Es war sehr nett von Frau Mohr, dass sie dir dieses Interview noch erlaubt hat.«
»Es ist noch nicht so schlimm, dass ich es wirklich abbrechen möchte.« Leonies Stimme war sehr leise. »Ich habe nur etwas Angst vor dem, was noch kommen könnte.«
»Sie könnte dir auch noch die Ohren verstopfen.« Andrea dachte an das Naheliegende. Dass sie damit bei Leonie offene Türen einrannte, ahnte sie nicht.
»Das wäre möglich.« Auf einmal begann Leonie zu schwärmen. »Eigentlich habe ich immer schon davon geträumt. Und dann auch noch die Augen verbunden.«
»Sinnesentzug.« Andrea sprach jetzt auch etwas leiser. »Ein spannendes Thema.«
»Ich habe es ja schon mal probiert.« Leonie wurde nachdenklich. »Aber da hatte ich meine Arme frei. Und wenn man sich selbst befreien kann, ist es nicht so prickelnd.«
Andrea strich ihr wortlos über den Kopf. Die Geste vermittelte sowohl Mitgefühl als auch Bewunderung.
»Es mag ja jugendlicher Leichtsinn sein.« Leonie seufzte. »Aber ich träume immer davon, eine Gefangene rund um die Uhr zu sein. Also 24 Stunden sieben Tage die Woche.«
»So wie jetzt?« Andrea wiederholte ihr Streicheln »Ich glaube, dass verstehe ich sehr gut.«
»Frau Mohr gibt mir genau das, was ich mir immer schon gewünscht habe.« Leonie stöhnte leise. »Ich habe mich mittlerweile sogar an die Vibrationen gewöhnt. Es macht mich nicht mehr so heiß.«
»Vibrationen?« Obwohl Andrea von Leonies Zustand wusste, wollte sie es doch noch einmal von ihr persönlich hören.
»Ich trage im Keuschheitsgürtel einen ferngesteuerten Vibrator.« Es kostete sie einige Mühe, es auszusprechen. »Und der läuft im Moment im Zufallsmodus. Entweder kurz und heftig oder etwas länger, aber dafür schwächer.«
»Das ist ja Folter pur!« Andrea war fasziniert.
»Und in meinem BH sind noch ein paar gemeine Gummifinger.« Sie sah an Andreas Reaktion, dass sie es erklären musste. »Bitte fassen sie mir einmal an die Brust.« Sie war überrascht über sich selbst, sich mitten in einem Cafe so einen Satz sagen zu hören.
Andrea kam der Aufforderung zögernd nach, doch erst als sie die harte Schale fühlte, begriff sie. »Sie tragen ein komplettes Geschirr?«
»Mit allem, was es an Zubehör gibt.« Leonie seufzte, doch in ihren Worten schimmerte auch ein klein wenig Stolz durch.
Andrea war von diesem Mädchen immer faszinierter. Doch gleichzeitig war sie sich sicher, dass Hans davon nichts erfahren durfte. Sie sah sich schon mit einer ähnlichen Ausrüstung da sitzen, und das war etwas, was sie auf keinen Fall erleben wollte.
»Ob ich ihr wirklich vertrauen kann?« Leonie sagte es mehr zu sich selbst.
»Du möchtest es doch, oder?« Andrea spürte, dass ihr Gegenüber etwas Ermutigung gebrauchen konnte. »Höre nicht auf deinen Kopf, sondern folge einfach deinem Herzen, dann wirst du die richtige Entscheidung treffen.«
* * *
Selma erwartete Leonie und Andrea schon an der Haustür, und obwohl sie es eigentlich noch etwas hinauszögern wollte, stellte sie sofort die entscheidende Frage. »Hast du dich schon entschieden?«
Leonie blickte noch einmal kurz zu Andrea, und erst als diese ihr aufmunternd zunickte, rang sie sich zu einer Antwort durch. »Ich nehme ihren Vorschlag an. Bitte legen sie mir das strenge Halskorsett an.«
»Jetzt komm erst einmal herein.« Selma reichte Andrea kurz die Hand. »Vielen Dank für's Aufpassen.«
»Ich habe zu danken.« Andrea war ein wenig erleichtert, die Verantwortung für dieses faszinierende Mädchen wieder abgeben zu können. Sie verabschiedete sich.
Selma wartete, bis Leonie im Flur stand, dann beugte sie sich zu ihren Beinen herunter und verriegelte sie wieder.
»Danke, Frau Mohr.« Es war Leonie selbst nicht ganz klar, wofür sie sich eigentlich bedankte.
»Komme bitte mit ins Esszimmer, ich habe schon alles vorbereitet.« Selma ging voraus, nicht ohne sich unauffällig davon zu überzeugen, dass Leonie ihr sofort folgte.
»Ich frage dich jetzt ein letztes Mal.« Sie gab ihrer Stimme einen feierlichen Klang. »Bist du bereit, dich mir völlig auszuliefern und absofort auch einen Knebel zu tragen?« Sie machte eine kleine Pause. »Bitte denke noch einmal nach, bevor du antwortest, denn es wird kein Zurück mehr geben.«
Leonie senkte ihren Kopf und blickte zu Boden. Mit lauter Stimme sagte sie: »Ich möchte ab sofort auch auf meine Stimme verzichten und damit auf mein Recht auf Befreiung. Bitte legen sie mir das Halskorsett mit dem Knebel an.« Ihr Herz pochte laut, und sie zitterte am ganzen Körper.
»Eine gute Wahl, mein Schatz.« Selma trat an sie heran, öffnete zunächst das alte Halskorsett und nahm es Leonie ab. Dann ging sie mit bewusst langsamen Schritten zur Kommode, legte es dort ab und griff sich das neue Halskorsett.
Leonie realisierte erst jetzt, dass das neue Halskorsett-Ensemble noch wesentlich strenger war, als sie es ursprünglich angenommen hatte. Außerdem hatte es auch noch einige Riemen angebracht hatte, deren Funktion sie noch nicht erkannte.
»Bitte mache als erstes den Mund auf.« Selma hatte das Korsett in der Hand und hielt es so, dass sich der Knebel in seiner sehr eindeutigen Form vor Leonies Lippen befand.
Leonie kam der Aufforderung nach und nahm den Knebel in den Mund. Sie hatte sich schon oft ausgemalt, wie es wohl sein würde, wenn »er« echt war, doch bisher hatte es dafür noch nie die Gelegenheit gegeben. Erleichtert stellte sie fest, dass es ein sehr weicher Knebel war, sie konnte ihn noch mit der Zunge bewegen und ihn in ihrem Mundraum hin und her schieben.
Selma legte nun das Halskorsett um Leonies Kopf und begann, die Schnürung auf der Rückseite zu schließen. »Sitzt es gut?«, fragte sie geradezu beiläufig, denn sie wollte Leonie zunächst auf eine falsche Fährte locken.
»Ef sitft gut.« Leonie stellte erleichtert fest, dass sie trotz dem Ding in ihrem Mund noch gut Reden konnte, es war nur etwas undeutlich.
»Dann werde ich es jetzt zuschnüren.« Selma begann, die Schnürung ganz zu schließen.
Leonie keuchte und stöhnte leise, als sie die zunehmende Enge spürte.
»Alles in Ordnung, mein Schatz?« Selma fragte es fast scheinheilig.
»Ja.« Noch war Leonie gut zu verstehen.
»Ich werde dir jetzt noch die Riemen über den Kopf spannen.« Selma tat, was sie angekündigt hatte.
Von Leonie war ein überraschtes und erregtes Stöhnen zu hören. Die Riemen lagen um ihren Kopf wie sonst die Riemen ihres strengen Kopfgeschirr-Knebels. Doch genau dieses Gefühl liebte sie über alles. Und in Kombination mit dem Halskorsett war es besonders subtil, sie konnte ihren Kopf jetzt gar nicht mehr bewegen.
»Wie du dir sicher denken kannst, lässt sich der Knebel noch aufblasen.« Selma zeigte ihr den kleinen Pumpball, den sie jetzt in der Hand hatte. »Vor deinem Mund ist ein Ventil, wo sich die Pumpe anschrauben lässt.«
Leonie riss die Augen weit auf, als sie die Berührungen am Halskorsett spürte. Damit hatte sie nicht gerechnet.
»Wir fangen erst mal ganz leicht an.« Selma drückte nur zwei Mal aus den Pumpball.
Von Leonie war jetzt nur noch ein leises Stöhnen zu hören, fast ein Jammern. Der Knebel dehnte sich unerbittlich in ihrem Mund aus, und ihre Zunge wurde von ihm nach unten gepresst.
»Durch das Halskorsett können sich die Wangen nicht mehr ausdehnen, das macht diesen Knebel besonders effektiv.« Letzteres sagte sie mehr zu sich selbst. »Nun komm, die anderen sind schon sehr gespannt auf deine Entscheidung.« Sie zog Leonie in Richtung Esszimmer, ohne dass sie sich wehren konnte.
* * *
»Wollt ihr schon gehen?« Selma war etwas überrascht, als sie sah, dass ihre Gäste schon aufgestanden waren.
»Um 15 Uhr hat sich ein Notar angesagt«, berichtete Mrs. Potter. »Und Paul und Maria wollen das neue Ganzkörperkorsett ausprobieren.« Sie blickte kurz zu Maria. »Das ist die letzte Gelegenheit vor dem Fest.«
Selma war ein wenig über Marias Projekt informiert. »Es ist noch strenger in der Taille, nehme ich an?«
»Das auch.« Frederike hatte etwas Stolz in der Stimme. »Es ist eine Neuentwicklung meiner Techniker. Es erlaubt eine vollständige Unbeweglichkeit.«
»Stiefel und Arme werden fest mit dem Korsett verbunden, ganz starr.« Paul gab wieder, was er zusammen mit Maria schon in Erfahrung gebracht hatte.
»Das klingt ja sehr interessant.« Selma blickte deutlich sichtbar zu Leonie. »Was würde so etwas kosten?«
»Oh, das ist noch in der Entwicklung.« Frederike musste Pauls Oma enttäuschen. »Aber ich bitte meine Techniker, ihnen die Pläne zukommen zu lassen.« Sie folgte Selmas Blick zu Leonie. »Ich glaube, ich weiß schon, für wen sie das brauchen.«
Leonies aufgerissene Augen und ein leises Stöhnen zeigten, was sie von diesen Plänen hielt.
»Vielen Dank für das schöne Essen.« Frederike leitete die Verabschiedung ein.
* * *
»Ich bin gespannt, wie das Korsett im Ganzen aussieht.« Frederike blickte etwas verträumt auf ihre Tochter, als sie vom Mittagessen bei Pauls Oma zurück zu ihrem Haus gingen. »Hoffentlich schaffen wir das noch bis der Notar kommt.«
»Wenn alle mit anfassen, sollte es schnell gehen.« Mrs. Potter gab sich pragmatisch.
»Aber...«, Maria war etwas verlegen.
»Du hättest es lieber, wenn es Paul alleine macht.« Frederike streichelte ihrer Tochter über den Kopf.
»Ja.« Maria war etwas beschämt.
»Ich glaube, das Problem stellt sich gar nicht.« Mrs. Potter stellte es nüchtern fest, als sie die Schritte über den Kiesweg zu ihrem Haus gingen. »Wir haben Besuch.«
»Wir probieren jetzt das Korsett.« Maria gab sich ein wenig trotzig.
Doch als sie näher kamen, blieb Paul auf einmal stehen. »Schau mal, wer das ist!«
Maria blieb ebenfalls stehen. »Na, das ist aber eine Überraschung. Sarah! Betty! Wie kommt ihr denn hier her?«
»Zu Fuss.« Betty lächelte. »Wir haben uns deine Adresse geben lassen. Wir wollten unbedingt bei deinem Fest dabei sein.«
»Wir freuen uns sehr.« Maria lächelte, dann stupse sie Paul in die Seite. »Wir können das Korsett wieder nicht probieren.«
»Scheint so.« Auch Paul war sehr erfreut, die Prinzessin und deren Geliebte wieder zu sehen.
Sarah wurde auf einmal hellhörig. Sie nahm Betty am Arm und zeigte auf Maria, dann formte sie mit ihren Händen eine Körperform.
»Sie trägt den Mundverschluss.« Betty lächelte etwas verlegen. »Den Handschuh konnte ich ihr gerade noch ausreden.«
Als Antwort bekam sie von Sarah einen zärtlichen Stoß in die Seite.
»Darf ich sie und ihre Freundin zu uns einladen, Hoheit?« Frederike räusperte sich.
Sarah drückte Bettys Hand einmal.
»Wir nehmen die Einladung gern an.« Als sie die verwunderten Blicke der anderen sah, musste sie lächeln. »Wenn Sarah den Mundverschluß trägt, muss ich für sie reden.«
Wieder deutete die Prinzessin mit ihren Händen eine Körperform an, dabei blickte sie fragend zu Maria.
»Wenn sie nicht mit dem Mund reden kann, spricht sie mit den Händen.« Sie gab ihrer Geliebten einen Kuss. »Ich hätte dich doch den Handschuh tragen lassen sollen. Erst dann bist du richtig stumm.«
Als Antwort legte Sarah den Arm um Betty und küsste sie zärtlich auf den Mund. Doch als sie voneinander abließen, formte Sarah noch einmal ein Korsett mit den Händen.
»Sie möchte wissen, was es mit dem Korsett auf sich hat?« Betty blickte Sarah kurz an; diese bestätigte die Vermutung.
»Wie wäre es, wenn wir uns das neue Korsett zumindest einmal gemeinsam ansehen würden?« Frederike hatte auch etwas Interesse daran zu erfahren, wie ihr neuer Entwurf wohl ausgefallen war. In den Staaten musste es gleich in den Versand, damit es noch rechtzeitig von dem Fest ankommen konnte. »Dann kannst du schon mal davon träumen.«
»Das steigert die Vorfreude.« Auch Mrs. Potter konnte Einfühlungsvermögen zeigen, wenn es angebracht war.
»Was ist das besondere an dem Korsett?« Betty hatte erkannt, dass sich wohl nicht um etwas Alltägliches handelte.
»Es ist noch etwas strenger als das, was in deinem Zimmer stand.« Marias Stimme strahlte Begeisterung aus. »Die Armkorsetts können fest mit dem Körper verbunden werden, genauso die Stiefel.«
»Es macht einen sehr strengen Eindruck.« Paul gab seine Beobachtung wieder. »Maria kann darin vermutlich nur die Augen bewegen.«
»Und weil das Anlegen so mühsam ist, muss es sich auch lohnen. Ich werde es lange tragen müssen.« Sie blickte etwas sehnsüchtig zu Paul. »Ich hoffe, du unterhältst mich dann.«
»Entschuldigt bitte, dass ich mich einmische, aber es sind auch ein paar wenige Extras gegen die Langeweile vorgesehen.« Frederike war von dem Kommenden ebenfalls sehr berührt. »Meine Techniker hatten da ein paar faszinierende Ideen.«
Maria drehte nur den Kopf zu ihrer Mutter und blickte sie neugierig an.
»Nein, das werde ich dir nicht verraten.« Frederike lächelte. »Aber ich glaube, du wirst dich trotzdem nicht langweilen.«
Maria keuchte.
Mrs. Potter schloss die Tür auf. »Jetzt kommt erst mal alle herein.«
* * *
Selma hatte sich erst davon überzeugt, dass Leonie in ihrem Zimmer war, dann ging sie zum Telefon und schlug das Nummernverzeichnis auf. Sie suchte eine bestimmte Nummer, wählte sie und wartete, bis sich ihr Gegenüber meldete.
»Hallo Alberta, hier ist Selma. Ich habe da einen Plan.« Sie berichtete von ihrer Idee.
»Gefällt mir gut.« Alberta grinste. »Ich werde ihn mitbringen. Wer kommt noch alles?«
Selma zählte die Namen auf. »Es wird quasi ein Erzieherinnenstammtisch.«
»Meinst du?« Alberta war überrascht. »Ich bin doch Lehrerin.«
»Naja, im weiteren Sinne schon.« Selma wollte sich nicht von ihrer Idee abbringen lassen.
»Na, wenn du meinst.« Alberta lachte. »Ich bin schon sehr gespannt, wie Holger reagieren wird.« Sie hatte Selma einmal ihr Leid geklagt, weil sie bei ihrem Sohn Magazine mit gefesselten Frauen bei ihm gefunden hatte. »Und du meinst, dass sie ihm gefallen wird?«
»Mache dir keine Sorgen.« Selma versuchte ihre Freundin zu beruhigen. »Das wird ganz sicher klappen.« Sie kannte Holger schon lange. Er war zwar ein wenig älter als Paul, trotzdem hatten sie schon im Sandkasten zusammen gespielt.
»Ich würde alles dafür geben, wenn er endlich eine Frau findet.« Alberta stöhnte etwas.
»Wenn du ihm einen großen Gefallen tun willst, dann nimm beide so wie sie sind.« Selma hoffte, dass sie es richtig erklären konnte. »Sie werden glücklich werden, wenn sie weiter seine Gefangene bleiben kann.«
»Was meinst du damit?« Alberta begriff noch nicht, was ihre Freundin meinte.
»Du müsstest Fesseln und Knebel in deinem Haus akzeptieren.« Selma hoffte, dass es nicht zu direkt war.
»Habe ich das nicht schon?« Sie dachte an die gefundenen Magazine.
»Du würdest sie sehr glücklich machen, wenn du ihren Lebensstil aktiv unterstützen würdest.« Selma beschrieb die Ideen, die sie hatte.
»Du verlangst aber viel von mir.« Alberta keuchte. »Aber wenn das der Preis ist...«
»Du wirst das schon schaffen.« Selma versuchte, ihrer Freundin Mut zu machen.
»Ich nehme dein Angebot mit den praktischen Tipps gern an.« Alberta bedankte sich für die Unterstützung.
»Du wirst Leonie nachher ja kennenlernen.« Selma lachte. »Dann kannst du dir schon mal ein Bild von ihr machen.«
* * *
»Wenn du meinst.« Betty blickte ihre Geliebte verwundert an, denn sie hatte ihr signalisiert, dass sie etwas sagen wollte. Sie holte das Werkzeug und eine kleine Box aus ihrer Tasche, dann schob sie Sarah zur Tür. Doch dort stutzte sie. »Entschuldigung, wir würden kurz das Bad benutzen.«
»Zweite Tür links.« Mrs. Potter begann den Tisch im Esszimmer abzuräumen. »Ich nehme an, wir schauen uns hier das Korsett an.«
Maria erkannte erst nach einem kleinen Moment, dass sie eigentlich eine Frage gestellt hatte. »Ja, das können wir machen.« Sie war immer noch etwas enttäuscht, denn es war ihr klar, dass dies die letzte Gelegenheit vor dem Fest war, wo sie vielleicht noch genügend Zeit gehabt hätten. Doch jetzt musste sie sich um ihre Überraschungsgäste kümmern.
»Paul, magst du mir helfen, den großen Karton zu holen?« Mrs. Potter selbst war auch neugierig auf die Neuentwicklungen aus der Klinik.
Marias Freund kam der Aufforderung gern nach, denn auch er war von der Strenge von Marias Korsett mehr als fasziniert.
»Danke.« Sarah gab ihrer Geliebten einen Kuss. »Bitte stecke ihn nicht zu weit weg, du darfst mir den Mund gleich wieder versiegeln.«
Betty war etwas verwundert. »Wie ihre Hoheit wünschen.«
»Du weißt genau, um was es mir geht.« Sarah war etwas gereizt. »Wir hatten das doch schon besprochen.«
Es war Betty trotzdem nicht klar, warum es ihrer Freundin so wichtig war. Schließlich hatte sich der Herzog schon sehr großzügig bei Marias Mutter bedankt.
»Lass uns gehen.« Sarah drängte zurück ins Esszimmer.
»Frau Beller, ich möchte mich noch einmal in aller Form bei ihnen bedanken.« Sarah hatte vor Marias Mutters einen eindrucksvollen Hofknicks gemacht. »Ihnen haben wir unser Glück zu verdanken.«
»Ich habe ihnen aber auch viel zu verdanken, Hoheit.« Frederike war die Situation ein wenig unangenehm.
»Bitte sagen sie doch einfach Sarah.« Die Prinzessin wurde etwas leiser. »Es muss hier nicht unbedingt jeder wissen, wer ich in Wirklichkeit bin.«
»Dann bin ich aber Frederike für euch.« Sie blickte Betty und Sarah liebevoll an.
»Gern.« Sarah lächelte. »Ich wollte aber noch etwas los werden.« Auf einmal hatte sie einen etwas besorgten Blick. »Ich möchte da noch etwas richtig stellen.«
»Es geht um deinen Vater?« Maria hatte da so ein Gefühl.
»Woher weißt du das?« Sarah blickte Maria verblüfft an. »Ich habe meinem Schwiegervater Unrecht getan und ich möchte, dass ihr das wisst.« Sie berichtete, dass der Herzog sie zu später Stunde auf dem letzten Familienfest noch zu einem Gespräch gebeten hatte.
»Ich hoffe, dass sie mir jetzt zuhören, Sarah.« Herzog Breganza hatte bewusst das kleine Kabinettzimmer für dieses wichtige Gespräch gewählt.
Sarah ahnte, dass der Herzog ihr etwas Wichtiges zu sagen hatte, denn sie spürte die ernste Stimmung. »Was gibt es denn?« Sie war entsprechend unsicher.
»Sie geben mir die Schuld am Tod ihres Vaters.« Der Herzog legte einen Finger auf Sarahs Lippen. »Bitte geben sie mir einmal Gelegenheit, meine Sicht der Dinge zu schildern. Das sind sie ihrem Vater schuldig.«
Sarah erstarrte. Eine Träne rollte über ihre Wange.
»Es ist richtig, ich habe ihren Vater dazu gebracht, an der Börse zu spekulieren.« Er gab sich Mühe, mit ganz ruhiger Stimme zu sprechen. »Es lief anfangs sehr gut für uns beide, und wir haben viel Geld verdient.«
Sarah wischte sich die nächste Träne weg.
»Doch dann habe ich ihm zum Aufhören geraten, aber er wollte nicht auf mich hören.« Er seufzte. »Aus seiner Sicht schien es verkehrt, denn die Kurse stiegen ja immer noch. Doch dann war es zu spät.«
Sarah blickte ihn mit verweinten Augen an.
»Er hat jedes Hilfsangebot von mir abgelehnt, dazu war er wohl zu stolz.« Der Herzog reichte Sarah ein Taschentuch. »Er hatte auf einmal nichts mehr als sie als seine Tochter. Er war der Meinung, dass er sie dann als Preis zahlen müsste, und weil er die doppelte Schande nicht ertragen konnte, hat den diesen Weg gewählt.« Er holte tief Luft. »Das können sie glauben oder nicht, auf jeden Fall ist es die Wahrheit.«
»Und was war dann?« Maria konnte sich gut vorstellen, wie viel Kraft Sarah das Gespräch gekostet haben musste.
»Er hat mich in den Arm genommen, und ich habe nur noch geweint.« Sarah schluchzte etwas. »Am nächsten Tag sind wir alle zusammen zu seinem Grab gegangen. Ich wollte meinem Vater zeigen, dass ich mich mit dem Herzog ausgesöhnt hatte.«
»Und bald wirst du heiraten.« Betty legte den Arm um die Prinzessin. »Und ich bin auch nur ganz wenig eifersüchtig.« Sie gab ihrer Geliebten einen Kuss.
»Juan und Bertram sind übrigens auch mitgekommen.« Sarah wischte sich die Augen aus. »Sie schauen sich in München noch das Deutsche Museum an. Zum Fest werden sie auch hier sein.«
»Das hier ist das Korsett.« Paul hatte gewartet, bis Sarah mit ihrer Erzählung fertig war, jetzt wuchtete er den großen Karton auf einen Stuhl vor dem Tisch. Er nahm die Teile heraus und beschrieb die jeweiligen Funktionen, soweit er es richtig verstanden hatte. Nur gelegentlich mussten Maria oder ihre Mutter etwas ergänzen. Besonderen Wert legte er dabei auf die möglichen Verbindungen zwischen den Armen und dem Rumpf sowie auf die Verbindung zwischen dem Beinteil und den verschiedenen Stiefeln.
»Das ist wirklich beeindruckend.« Sarah strahlte. »So eines möchte ich auch gern haben.«
»Es ist bisher nur ein Prototyp.« Frederike lächelte. »Aber ich lasse ihnen die Pläne zukommen.« Sie korrigierte sich. »Ich lasse sie dir zukommen.«
»Das wirst du in der Hochzeitsnacht tragen.« Betty strahlte. »Und ich werde dich lange quälen.«
»Ich bitte darum.« Sarah strahlte.
* * *
Es klingelte. »Das wird der Notar sein.« Mrs. Potter ging zur Tür. »Er hatte gesagt, dass er sie auf jeden Fall allein sprechen muss. Es wäre sehr wichtig, hatte er gesagt.«
Frederike blickte umher. »Wie wäre es, wenn ihr einen Spaziergang macht und dabei Anna und Florian mitnehmt. Anna fällt es bestimmt leichter, den Mono zu tragen, wenn sie in Gesellschaft ist.«
Betty wurde hellhörig. »Wir gehen mit dem Handschuh spazieren?« Es war zu hören, wie sehr sie darüber erstaunt war.
»Vor dem Fest geht das.« Marias Stimme war sehr stolz. »Jeder glaubt, dass wir für das Fest üben und hält uns für sehr ehrgeizig.«
Frederike lächelte. »Wenn das die Verantwortlichen wüssten.«
»Dann können wir ja auch die Mundverschlüsse tragen.« Maria war zunächst begeistert, doch dann wurde sie nachdenklich. »Ob Anna so begeistert davon ist?«
»Du solltest sie auf jeden Fall fragen.« Mrs. Potter ermutigte Maria. »Vielleicht macht sie es ja Florian zuliebe.«
»Ich glaube es nicht.« Paul war skeptisch. »Für sie hatte es ja eine ganz andere und viel schlimmere Bedeutung.«
»Du hast recht.« Maria blickte zu Boden. »Nur Sarah und ich werden schweigen.« Sie blickte ihren Freund verlangend an.
* * *
»So, die Kinder sind aus dem Haus, wir können reden.« Frederike kam zu Herrn Schrumm ins Wohnzimmer, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass die vier draußen waren. Sie lächelte ein wenig über die Untertreibung.
»Danke.« Notar Schrumm öffnete seinen Aktenkoffer. »Ich habe ein Problem.«
»Um was geht es?« Frederike lehnte sich zurück.
»Maria kann das Gebet, meine Tochter hat sich davon überzeugt.« Er blätterte etwas in seinen Unterlagen. »Ich gehe davon aus, dass der Tanz auf dem Ball nur noch eine Formsache ist. Doch wie soll ich jetzt die Auszahlung regeln? Immerhin wurde Baron Harsumstal verhaftet.«
»Ich verstehe die Zusammenhänge noch nicht.« Frederike war etwas ratlos. »Wieso Auszahlung?«
Der Notar hatte die Seite gefunden, die er gesucht hatte. »Anfang des Jahrhunderts hat ein Adeliger eine gewisse Summe hinterlegt, die dann zur Auszahlung kommen soll, wenn es eine Darstellerin es schafft, in der Originalhaltung den Verlobungstanz zu tanzen.« Er blickte kurz auf. »Die Originalhaltung ist das Gebet auf dem Rücken, ich glaube, das wissen sie.«
»So ein Halunke...« Frederike fiel sofort wieder das Gespräch ein, das sie mit dem Baron geführt hatte und in dem er sie dazu gebracht hatte, Maria diese unmenschliche Haltung anzutrainieren.
»Was meinen sie?« Herr Schrumm war irritiert.
»Entschuldigen sie bitte. Ich war in Gedanken.« Frederike schüttelte den Kopf. »Um wie viel Geld handelt es sich denn?«
»Wir reden über zirka vier Millionen D-Mark.« Er nahm ein Schreiben aus der Mappe und zeigte es Frederike.
Frederike hustete. »Und wem steht das Geld zu? Maria?«
»Das Testament ist an dieser Stelle etwas ungenau formuliert.« Er schlug eine andere Seite auf. »Das Geld kommt zur Auszahlung, wenn die Darstellerin entweder verheiratet ist oder das 25igste Lebenjahr vollendet hat.« Der Notar machte eine Pause. »Jetzt kommt der Punkt, der mir Sorgen macht.« Er las weiter. »Bis dahin soll es der Vorsitzende des Festausschusses das Geld verwalten.«
Frederike runzelte die Stirn.
»Bei den bisherigen Festen war das immer der Vater der Darstellerin.« Er sprach nicht weiter.
Frederike verstand auf einmal die Zusammenhänge. »Und was werden sie jetzt machen?«
»Wenn ich das richtig verfolgt habe, dann ist Robert Greinert jetzt der Vorsitzende für das Fest.« Er blickte Frederike an. »Aber trotzdem ich wollte sie als die Mutter der Darstellerin zuerst über die Sachverhalte informieren.«
»Vier Millionen.« Frederike wiederholte es langsam. »Dann sollte sie heiraten.« Doch dann hielt sie inne. Sie hatte sie schon sehr in das Leben ihrer Tochter eingemischt, wenigstens diese Entscheidung wollte sie ihr selbst überlassen. Sie begann zu ahnen, wie groß der Druck auf ihre Tochter werden würde. Sie durfte vorher davon nichts erfahren. »Können wir das mit dem Geld vor Maria geheim halten?«
»Das lässt sich sicher einrichten. Da wäre aber noch etwas.« Herr Schrumm wurde etwas rot. »Es ist leider etwas pikant.«
»Um was geht es?« Frederike war noch dabei, die Nachrichten zu verarbeiten.
»Es betrifft die sogenannten Ballettstiefel.« Er zog ein Foto aus einem Umschlag, der in der Mappe eingeheftet war. Es zeigte Stiefel, die bis über die Knöchel ragten.
»Ja und?« Frederike wusste, dass Marias Stiefel noch länger waren, weil sie dann besseren Halt boten.
»Ein sehr vermögender Herr, der nicht weiter genannt werden möchte, hat sich an mich gewandt.« Der Notar holte tief Luft. »Er würde das Preisgeld verdoppeln, wenn Maria auf dem Ball die eben genannten Stiefel tragen würde.«
»Das wären ja...« Frederike musste sich setzen. »Das wären ja über acht Millionen.« Doch dann wurde sie nachdenklich. »Wie soll ich ihr das bloß beibringen und vor allem dem Festvorstand?«
»Es würde mir genügen, wenn ich die Stiefel gesehen habe.« Herr Schrumm hatte sich auch schon mit eventuellen Einwänden befasst. »Sie kann sie also durchaus unter einem langen Rock verstecken.«
»Müssen es unbedingt diese Stiefel sein?« Frederike war sich nicht sicher, wie ernst der Notar seine Aufgabe nahm. »Maria hat solche Stiefel, die aber länger sind. Sie reichen bis unter die Knie.«
»Ich werde es klären.« Herr Schrumm machte sich eine Notiz. »Aber so wie ich den Herrn einschätze, wird er damit auch einverstanden sein.«
»Wie schon gesagt, es würde mir reichen, dass Maria mir vor und nach dem Ball ihre Beine zeigt.« Herr Schrumm lächelte. »Die Stiefel müssen beim Tanz nicht unbedingt sichtbar sein.«
»Danke.« Frederike wusste nicht, wie die Landsbacher auf so ungewöhnliche und extreme Stiefel reagieren würden.
»Der Herr verlangte ursprünglich auch noch, dass die Stiefel abgeschlossen sein müssen.« Herr Schrumm war über den bisherigen Verlauf des Gesprächs sehr erleichtert. »Aber ich konnte ihn schon überzeugen, dass allein die Festumgebung schon genügend Druck verursacht, so dass Maria sich nicht einfach so die Stiefel ausziehen kann.«
»Außerdem trägt sie die Arme im Gebet.« Frederike war über die Arroganz dieses unbekannten Herrn etwas empört.
»Das habe ich ihm auch gesagt.« Der Notar lächelte. »Doch seine Antwort war, dass sie ja ihren Freund fragen könnte, ob er ihr die Stiefel auszieht.«
Jetzt war es an Frederike zu lachen. »Er kennt meine Tochter anscheinend recht gut. So etwas würde ich ihr wirklich zutrauen.«
* * *
»Also wenn das nicht ein Rausschmiss war.« Maria blickte sich verwundert um, als sie mit ihrem Handschuh in der Hand vor ihrem Haus stand.
Paul blickte sie an. »Es scheint etwas sehr Wichtiges zu sein.«
»Hast du alles dabei?« Betty blickte Paul fragend an. »Wir müssten noch einmal zum Hotel, um den Handschuh zu holen.« Sie lachte. »Damit haben wir nun wirklich nicht gerechnet.«
Paul zeigte die Sachen vor, die er für Maria dabei hatte. »Der Mundverschluß und das Werkzeug.«
»Liebst du es auch so, wenn du ihr die Stimme nehmen kannst?« Betty strahlte über beide Ohren.
Paul war etwas verlegen. »Jetzt kommt erst mal das Fest.«
»Er passt gut auf mich auf.« Maria blickte Betty und Sarah lächelnd an. »So richtig losgehen wird es erst nach dem Fest.« Sie warf Paul einen kurzen Blick zu. »Ich freue mich schon.«
»Hast du schon Pläne, was du alles mit ihr machen möchtest?« Betty trat auf Paul zu.
Paul fand die ehemalige Krankenschwester sehr aufdringlich. »Wir sollten uns dann für den Spaziergang fertig machen.« Er griff zu der kleinen Schachtel und holte den Mundverschluß heraus, dann wandte er sich seiner Freundin zu. »Wenn ich Madame dann bitten dürfte, den Mund zu öffnen?«
»Aber mein Herr, wie könnte ich ihnen widerstehen?« Maria gab ihm noch einmal einen kurzen Kuss, dann öffnete sie ihren Mund und schloss die Augen.
»Sarah redet ja gern auch mit Händen und Füßen.« Betty lachte, während sie ihrer Freundin ihrerseits den Mundverschluss einsetzte. »Erst wenn sie auch den Handschuh trägt, habe ich wirklich Ruhe.«
Als Antwort trat Sarah spielerisch gegen Bettys Beine.
»War bei dem Korsett nicht auch ein Monostiefel dabei?« Betty blickte ihre Geliebte verliebt an. »Ich könnte ihn jetzt gut gebrauchen.«
»Dann können wir aber keinen Spaziergang mehr machen.« Paul waren diese Dialoge noch nicht ganz geheuer. »Und wir sind doch bei meiner Oma angemeldet.« Er nahm den Handschon entgegen, den Maria ihm jetzt wortlos reichte.
»Warum das?« Betty war verwundert. »Wollten wir nicht spazieren gehen?«
»Wir holen noch jemand ab.« Paul musste kurz an die Zeit in Amerika denken. »Du wirst überrascht sein.« Er schloß die letzten Riemen an Marias Handschuh, dann gab er ihr den obligatorischen leichten Klaps, um ihr zu signalisieren, dass ihre Fesseln jetzt belastbar waren.
»Wackelt sie auch so, wenn du mit dem Handschuh beschäftigt bist?« Betty hatte dem Anlegen fasziniert zugesehen.
»Nein, Maria wartet geduldig.« Paul lächelte.
»Sarah ist da etwas rebellischer.« Betty verdrehte die Augen. »Es ist ein richtiger Kampf, bis ich sie endlich unter Kontrolle habe.«
Sarah gab ihr einen Kuss mit ihren versiegeltem Mund.
»Tja, falsch erzogen.« Paul grinste. Wo die Worte herkamen, wusste er allerdings nicht, doch die Antwort brachte ihm auch einen Kuss von Maria ein.
* * *
»Wie war dein Tag, Liebes?« Florian ließ sich etwas geschafft in den Sessel fallen.
»Heute habe ich etwas ganz Wichtiges erfahren.« Anna blickte ihn geheimnisvoll an. »Und ich habe die Frau wiedergetroffen, der wir alles zu verdanken haben.«
Florian richtete sich wieder auf. Da war ein besonderer Unterton in den Worten seiner Frau. »Wen meinst du?«
»Wem haben wir beide denn so viel zu verdanken?« Anna grinste bis über beide Ohren.
»Natürlich Marias Mutter.« Florian war sichtlich irritiert über die Fröhlichkeit von Anna. »Aber die ist doch in ihrer Klinik.«
»Ja, die meiste Zeit schon.« Anna grinste noch viel mehr.
»Jetzt mache es bitte nicht so spannend.« Florian stöhnte ein wenig.
»Sie ist hier, weil sie Maria besucht und sie auf dem Fest sehen möchte.« Anna strahlte. »Und sie hat mir etwas gezeigt. Eine kleine Karte mit schwarzem Rand, auf der mein Name steht.«
»Eine kleine Karte, auf der dein Name steht.« Florian wiederholte langsam die Worte seiner Frau.
»Mit schwarzem Rand.« Anna blieb rätselhaft.
»Das könnte eine Todesanzeige sein.« Es arbeitete heftig in Florian. »Aber du lebst und sitzt neben mir.«
»Ich bin frei.« Anna hielt es vor Anspannung nicht mehr aus. »Meine Familie hat mich für tot erklärt.«
»Mein Beileid«, murmelte Florian ein wenig betroffen, dann erst realisierte er, was Anna wirklich gesagt hatte. »Du meinst, die haben dich für tot erklärt?«
»Das sagte ich gerade.« Anna fiel ihm um den Hals. »Es ist endlich vorbei, sie suchen mich nicht mehr.«
Florian war sprachlos.
»Gleich kommen Maria und Paul sowie Betty und Sarah.« Anna blickte ihn etwas besorgt an. »Sie holen uns zu einem Spaziergang ab.«
»Deinem Blick entnehme ich, dass da noch was kommt.« Florian gab seiner Frau einen Kuss.
»Frau Beller hat mir geraten, auf dem Spaziergang den Handschuh zu tragen.« Sarah strahlte. »Erstens ist es gut für meine Gesundheit, und zweitens tragen Maria und Sarah die ihren auch.«
»Da kommt aber noch etwas.« So gut kannte Florian seine Frau mittlerweile.
»Maria und Sarah tragen auch den Mundverschluß aus der Klinik.« Anna wurde auf einmal ernst. »Ich soll mir überlegen, ob ich den meinen auch tragen möchte.«
»Dann wärst du stumm wie ein Fisch und ich muss dir die Wünsche von den Augen ablesen.« Florian sprach seine Gedanken aus.
»Du wärst einverstanden?« Anna war erleichtert. »Dann komm, wir machen uns schon fertig für den Spaziergang.«
»Wir müssen Frau Mohr fragen, ob sie ein passendes Werkzeug hat.« Florian versuchte sich an das zu erinnern, was Paul in der Klinik gesagt hatte. »Torks oder so ähnlich.«
* * *
Selma war der Meinung, dass Leonie sich nun lange genug an das neue Halskorsett und den Knebel in ihrem Mund gewöhnt hatte. Sie ging in das Zimmer, in dem sie auf dem Sofa saß und bat sie, ihr in das Esszimmer zu folgen. Sie griff wortlos an ihren Arm und zog sie hoch, dann entriegelte sie ihr die Beine.
»Ich erwarte heute einige meiner Freundinnen zum Kaffee. Ich erwarte, dass du dabei bist und mir hilfst.« erklärte sie, während sie voran ging.
Als Antwort blieb Leonie stehen und blickte ihre Gastgeberin fassungslos an. Sie versuchte etwas zu sagen, doch der Knebel in Verbindung mit dem Halskorsett unterdrückte jede vernünftige Lautäußerung.
»Ich werde dir wieder das Tablett umbinden und immer wenn meine Freundinnen etwas davon brauchen, kommst du an den Tisch.« Sie drehte sich zu Leonie um. »Und jetzt trödel nicht so.«
Von Leonie waren nur mehr oder weniger gedämpfte Stöhngeräusche zu hören. Dennoch sie gab sich Mühe, näher zu kommen. Sie wusste, dass sie jetzt wirklich keine Wahl mehr hatte.
Selma war gerade dabei das Tablett wieder an Leonies Körper zu befestigen, als sie auf einmal von Florian unterbrochen wurde. »Was gibt es denn?« Sie blickte ihn an, ohne irgendwie auf Leonie oder ihren Zustand einzugehen.
»Könnten sie uns ein ganz bestimmtes Werkzeug leihen?« Florian hoffte, dass er sich den Namen richtig gemerkt hatte. »Ich brauche einen Torks-Schraubenzieher Größe Eins. Anna möchte ihren Mundverschluss tragen.«
»Ihren was?« Selma war überrascht. »Aber in der Garage solltest du finden, was du suchst.«
»Danke. Ihren Mundverschluss.« Florian wollte schon hinaus gehen, als er noch einmal aufgehalten wurde.
»Was ist denn ein Mundverschluß?« Selma klang auf einmal sehr interessiert.
»Ein Zahnarzt hat das für Maria und Sarah angefertigt, und für Anna wurde auch einer gemacht.« Er beschrieb kurz das Prinzip.
Selma erkannte sofort, welche zusätzlichen Möglichkeiten ihr dieser Mundverschluss für Leonie bot. »Ich hätte eine Bitte.«
»Und die wäre?« Florian blickte kurz auf die Uhr. »Gleich werden wir abgeholt.« Er wollte aber nicht undankbar sein.
»Es wäre gut, wenn Leonie sehen kann, wie du Anna den Mundverschluss anlegst.« Selma hoffte, dass sie zuviel von Anna verlangte.
»Dazu ist sie sicher bereit.« Florian grinste, denn er ahnte, was Selma damit bezweckte. »Ich suche das Werkzeug und dann komme ich mit Anna ins Esszimmer.«
»Jetzt erklärt mir bitte noch einmal, wie dieses Gerät genau funktioniert.« Selma sah die zwei Teile, vor Leonie auf dem Tisch lagen.
»Ich nehme die beiden Teile in den Mund und Florian wird sie dann mit Schrauben bei mir im Mund fixieren.« Anna hatte sofort begriffen, um was es ihrer Gastgeberin in Wirklichkeit ging und sie hatte sich deswegen auch schon so hingestellt, dass Leonie es ganz genau verfolgen konnte.
»Hier ist noch Platz für die Zunge.« ergänzte Florian. »Es ist eine Maßanfertigung vom Zahnarzt aus Frau Bellers Klinik.« Er gab seiner Frau noch einmal einen langen Kuss. »Wenn sie die Teile in den Mund genommen hat und ich sie dann zuschraube, kann sie ihren Kiefer nicht mehr bewegen, sie ist dann ganz sprachlos.«
Selma war sichtlich fasziniert, genauso wie Leonie. Doch diese konnte keine Fragen mehr stellen. »Was ist mit Ernährung und Zahnpflege?«
»Es ist alles vorgesehen.« Florian berichtete, dass dieser Verschluß in der Klinik noch in Kombination mit einer Magensonde getragen wurde. »Maria und Sarah haben es auch tragen dürfen.«
»Das mit der Magensonde ist wirklich gruselig.« Anna begriff, dass jetzt ihre Erfahrungen gefragt waren. »Es kommt nur ein Schlauch aus der Nase, und damit wirst du gefüttert. Es gibt eigentlich keinen Grund, dir den Mundverschluss jemals wieder zu entfernen.« Sie hatte verstanden, welches Spiel Leonie und ihre Gastgeberin miteinander spielten.
Von Leonie war so etwas wie ein gedämpfter Schrei zu hören, der jedoch sehr leise war.
»Bist du bereit?« Florian hatte vor dem Mut seiner Frau doch noch etwas Respekt.
Als Antwort nahm sich Anna die zwei Teil des Mundverschlusses in die Hand und setzte sie sich nacheinander in den Mund. Sie achtete dabei darauf, dass Leonie alles gut sehen konnte. Zum Schluss gab sie Florian ein Zeichen, dass er ihren Mund zuschrauben konnte.
Ganz zum Schluss kniff Florian seiner Frau in den Arm. Sie zuckte heftig und gab ihm als Antwort eine Ohrfeige, doch von ihr war nur ein ganz leichtes Brummen zu hören. Dass dies vorher abgesprochen war, wusste Leonie allerdings nicht.
»Ich werde Frau Beller bitten, mir die Pläne dafür zu geben, dann lasse ich so einen Verschluss auch für Leonie anfertigen.« Sie blickte zu ihrem Schützling. »Du freust dich bestimmt schon.«
Wie erwartet, löste das Schauspiel in Leonie den nächsten wilden Gedankensturm aus. Gewiss hatte sie bei ihrer Schwester schon Ähnliches gesehen, doch in dieser Konsequenz, in der sie sich im Moment befand, hatte die Aussicht etwas erschreckendes.
* * *
»Ich bin echt verblüfft, dass man hier mit einem Monohandschuh auf der Strasse spazierengehen darf.« Betty blickte verblüfft auf die drei Mädchen, die alle ihre Arme in der Lederhülle auf dem Rücken trugen.
»Das geht auch nur, weil wir kurz vor dem Fest stehen und jeder glaubt, dass ihr für eure Rollen übt.« Paul öffnete die Haustür und geleitete Florian und die Mädchen nach draußen.
»Das mit dem Mundverschluß ist wirklich faszinierend.« Betty hielt ihre Freundin im Arm. »Man sieht nur einen geschlossenen Mund und kann doch sicher sein, dass sie ganz sicher geknebelt sind.«
»Es könnte ein wirklich ruhiger Spaziergang werden, wenn alle Frauen so etwas tragen würden.« Florian versuchte, ernst zu klingen.
Betty brauchte einen Moment, bis sie erkannte, auf was er eigentlich anspielte. »Soweit kommt es noch.«
»Wie kommst du mit Juan und Bertram zurecht?« Paul hatte sich ein paar mögliche Themen für den Spaziergang überlegt, die auch in Marias Interesse lagen. Er hatte sich klar gemacht, dass er auch für Maria sprechen musste.
»Sie sind total nett.« Betty schien ähnlich zu denken. »Manchmal helfen sie mir sogar bei Sarahs Fesselungen.«
Paul sah, dass Anna und Florian an wenig zurück blieben, was daran lag, dass sie oft kurz stehen blieben und sich küssten. Sie machten einen sehr glücklichen und verliebten Eindruck und das, obwohl Anna sowohl den Mundverschluss als auch den Monohandschuh trug. »Ihr seid sehr glücklich miteinander?« fragte er Betty.
»Ich habe es nie bereut, dass ich meinen Job aufgegeben habe.« Betty gab Sarah einen Kuss auf die versiegelten Lippen. »Fühlt sich immer wieder seltsam an«, grinste sie.
»Und wie kommt ihr mit dem Herzog zurecht?« Paul dachte daran, dass sie mit ihrem Schwiegervater zunächst noch größere Schwierigkeiten gehabt hatten.
»Er behandelt mich und auch Bertram fast wie eigene Kinder. Stellenweise kriegen wir sogar noch Unterricht, damit wir uns gut um die beiden kümmern können.« Betty strahlte. »Nur bei offiziellen Anlässen müssen wir natürlich zurücktreten.«
Paul dachte an die Fragen, die er sich für Maria und sich überlegt hatte. »Dann ist also alles bereit für die Hochzeit? Gibt es schon einen Termin?«
»Oh, eine brasilianische Hochzeit braucht viel Vorlauf.« Betty wurde auf einmal etwas traurig. »Sarahs Mutter hat sich leider völlig zurückgezogen. Sie lebt in einer kleinen Stadtwohnung und will von der Vergangenheit und Sarah nichts mehr wissen.«
»Aber bei der Hochzeit wird sie doch dabei sein?« Paul versuchte sich in Marias Gedanken zu versetzen.
»Ich fürchte nein.« Auch Betty war in diesem Moment sehr nahe bei Sarahs Gedanken.
»Das wird bestimmt traurig für sie.« Paul verdrängte den Gedanken an seine eigenen Eltern.
* * *
Leonie war erleichtert, dass der Knebel nur ein wenig aufgeblasen war. Sie hatte es früher einmal in Selbstversuchen ausprobiert, wie stark man solche Knebel aufblasen konnte, ohne dass es wirklich unangenehm wurde.
Sie blickte auf den Tisch des Esszimmers, um den herum sich einige Frauen zu einem gemütlichen Kaffeekränzchen versammelt hatten. Zuvor hatte Selma sie aufgefordert, mit Sektgläsern auf dem Tablett zu ihnen zu gehen und den Sekt anzubieten.
Was sie am meisten verwundert war, dass keiner von ihr weiter Notiz nahm. Es kam Leonie wirklich vor, als wäre sie nur ein Gegenstand, ein Tablett auf Beinen.
Und sie musste sehr vorsichtig gehen, denn sonst riskierte sie, dass die kleine Blase, die von ihrem Mund herunter baumelte, die Gläser umwarf. Sie war sichtlich erleichtert, als sie alle Gläser verteilt hatte.
Die Blase vor ihrem Mund hatte etwas Faszinierendes. Es brauchte nur einige kleiner Handgriffe und schon wäre der Knebel in ihrem Mund richtig heftig aufgeblasen. Und sie konnte sich nicht dagegen wehren.
Einige der Frauen, die neben Selma am Tisch saßen, glaubte Leonie vom Sehen her zu kennen. Eine davon war Marias Erzieherin, und die anderen glaubte sie schon mehrmals in der Nachbarschaft gesehen zu haben.
»Wo bleibt denn Holger?« Selma blickte auf die Uhr. »Hast du ihm nicht gesagt, dass hier eine Überraschung auf ihn wartet?«
»Das habe ich natürlich gemacht.« Alberta lächelte und blickte kurz zu Leonie. »Wenn er wüsste, was ihn erwartet, dann wäre schon lange hier.«
»Naja, so ein Kaffeekränzchen ist eben nicht besonders attraktiv für so einen jungen Mann.« Mrs. Potter lächelte. »Es war eine gute Idee, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Es ist schon länger her, dass wir uns zuletzt so gesehen haben«
Leonie begriff erst, was es bedeutete, als es an der Tür klingelte.
Selma stand auf. »Na, dann werde ich unseren Prinzen hereinlassen.« Mit einem breiten Grinsen verließ sie den Raum.
Holger stand etwas genervt in der Tür. Wegen dieses blöden Kaffeekränzchen verpasste er das Fußballspiel im Fernsehen. »Hier bin ich, wie bestellt.« Er gab sich keine große Mühe, seine schlechte Laune zu verbergen. Er reichte Selma die Flasche Wein, die seine Mutter ihm als Mitbringsel aufgedrängt hatte.
»Stell sie bitte auf das Tablett.« Selma bat ihn ins Esszimmer.
Doch als Holger den Raum betreten hatte, wäre ihm fast die Flasche aus der Hand gefallen. Dort stand sie, seine Traumfrau. Er erkannte auf den ersten Blick fast alle der Restriktionen, denen sie unterworfen war.
Besonders fiel ihm aber das Halskorsett auf mit den erschrockenen, aber glücklichen Augen darüber. Das Haar wurde etwas durch die Riemen gebändigt, die den Kopf zusätzlich fixierten. Er wurde geradezu magnetisch von ihr angezogen. Schritt für Schritt kam er näher, bis er ganz nah vor ihr stand.
Ganz langsam näherte sich seine Hand der Pumpe, die vor Leonies Mund herab baumelte.
Leonie keuchte, als sie begriff, was passieren würde. Bedingt durch das Halskorsett würde sich die Blase nur in ihrem Mund ausdehnen und konnte nicht in ihre Wangen ausweichen. Sie vermied es zu stöhnen, denn sie wollte ihm nicht zeigen, wie sehr sie die Situation erregte.
Dass noch weitere Personen im Raum waren und das Spiel mit ansehen konnten, war ihr herzlich egal. Doch dann fragte sie sich, ob es wirklich noch ein Spiel war. Ein Spiel konnte man jederzeit unterbrechen, doch für Leonie war es jetzt ernst geworden. Sie fragte sich, welchen Status sie im Moment hatte. Sie war eigentlich nur ein lebendes Tablett, unfähig sich zu bewegen. Und diesem gutaussehenden jungen Mann völlig ausgeliefert.
Als Holger die Blase in der Hand hatte, ließ er seinen Blick langsam nach oben gleiten, bis er Leonie tief in die immer noch strahlenden Augen blickte. Er hob die Hand mit der Blase ganz langsam hoch, bis sie in beider Blickfeld war. Erst jetzt drückte er bewusst langsam auf die Blase. Deutlich war das Zischen zu hören, welches anzeigte, dass etwas Luft in den Knebel geblasen wurde.
Leonie hielt die Luft an, um nicht vor Erregung aufzustöhnen. Sie wollte ihm, einem wildfremden Mann, nicht zeigen, wie sehr sie sein Handeln berührte.
Holger drückte noch zwei Mal, bis es Leonie nicht mehr aushielt. Die Blase war jetzt deutlich in ihrem Mund zu spüren und drückte ihre Zunge fast schmerzhaft nach unten. Sie verdrehte die Augen und ließ einen leisen Protestschrei hören. Stärker durfte er den Knebel nicht mehr aufblasen.
»Holger, ich denke, es reicht jetzt.« Selma stand auf einmal neben ihm und nahm ihm die Pumpe aus der Hand. Sie ließ ein winziges bisschen Luft aus dem Knebel und ließ die Blase dann los.
Holger blieb noch lange vor Leonie stehen und blickte ihr in die Augen. Erst als seine Mutter ihn aufforderte zu gehen, konnte er sich losreißen. »Danke Holger, du kannst jetzt gehen, sonst verpasst du dein Fußballspiel.«
Holger hatte sichtlich Mühe, sich von Leonie und ihrem Anblick zu verabschieden. Selbst an der Tür schaute er noch einmal zurück und suchte ihren Blick.
Leonie war von ihm, seinen Handlungen und seinem Blick nicht minder fasziniert. So hatte sie sich ihren Traummann vorgestellt. Auch wenn er nur kurz da gewesen war, wusste sie doch, dass er der richtige war. Jetzt verfluchte sie ihre Fesselung, und sie zerrte wild an den Fesseln. Sie bedauerte es sehr, dass sie gerade erst auf ihr Recht auf Freiheit verzichtet hatte. Wenn er doch eine Stunde früher gekommen wäre. Immer wieder sah sie seine Augen, als er ihr den Knebel weiter aufblies.
»Ich glaube, der wird euch noch öfters besuchen.« Seine Mutter lächelte. Ihr Sohn hatte genauso reagiert, wie Selma es ihr versprochen hatte. Sie blickte noch einmal kurz zu Leonie, die aus ganz freien Stücken das Leben einer Gefangenen gewählt hatte, auch wenn es nur in den Semesterferien andauern würde. »Danke für deine Hilfe.«
Selma lächelte. »Immer wieder gern.«
* * *
Leonie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie ihren Namen hörte.
»Du hattest mich um die Pläne für Marias Mundverschluss gebeten.« Mrs. Potter nahm eine Mappe aus ihrer Tasche und legte sie vor sich auf den Tisch. »Frederike war so nett, sie mitzubringen.«
»Gibt es mal bitte her.« Alexandra Dortmund blätterte durch die Mappe. »Die Kasse zahlt das natürlich nicht. Aber ich denke, mein Mann macht dir einen Sonderpreis.«
»Das ist nett.« Selma blickte kurz zu Leonie. »Sie freut sich schon.«
»Das ist ja faszinierend.« Alexandra war begeistert. »Es ist ein Schlauch für die Ernährung und einer für sicheres Atmen vorgesehen. Der Mund wird damit vollständig versiegelt.«
»Ja, so etwas Ähnliches hat Paul mir auch erzählt.« Selma blickte wieder kurz zu Leonie. »Maria soll das eine Woche lang getragen haben. Und für die Mundhyginie ist auch gesorgt.«
»Und wie lange lässt sich das tragen?« Eine andere Frau schien ebenfalls sehr interessiert zu sein.
»Es gibt damit noch wenig Erfahrungen.« Mrs. Potter gab wieder, was sie von Maria und ihrer Mutter dazu erfahren hatte. »Bisher hat es nur eine Versuchsperson über zwei Monate lang getragen.«
»Zwei Monate vollständiges Schweigen.« Frau Dortmund war tief beeindruckt.
Leonie hatte bisher atemlos zugehört, doch jetzt entglitt ihr ein leises, aber trotzdem deutliches Keuchen.
»Oh Verzeichnung.« Selma stand auf. »Das hättest du noch gar nicht hören sollen.« Sie griff zu kleinen Wachsstöpseln, die sie bereit gelegt hatte, und wärmte sie ein wenig an. Dann trat sie vor Leonie. »Ich werde dir jetzt auch noch die Ohren verstopfen. Damit kann dich nichts mehr ablenken.« Sehr langsam und vorsichtig steckte sie die beiden Wachspropfen nacheinander in Leonies Ohren.
In Leonie tobten die Gedanken wild durcheinander. Sie konnte jetzt auch nichts mehr hören. Nur noch ganz leise gelang der eine oder andere Geräuschfetzen noch an ihr Ohr, doch nichts davon konnte sie identifizieren.
Ob sie ihn wieder sehen würde? Jetzt, wo sie auch keine Geräusche mehr ablenkten, waren ihren Gedanken nur noch bei ihm. Was würde sie jetzt geben, wenn sie sich jetzt noch befreien könnte. Sie würde ihm überall hin folgen.
Immer wieder gingen ihr seine leuchtenden Augen durch den Kopf, als er ihr den Knebel aufgeblasen hatte.
Jetzt hatte ihre Gastgeberin auch noch angekündigt, dass ihr Mund vollständig versiegelt werden sollte. Was würde bloß noch alles mit ihr passieren. Leonie fürchtete sich ein wenig vor dem Gedanken, denn es wäre nur konsequent, wenn sie ihr jetzt auch noch die Augen nehmen würde. Und dafür bräuchte es nicht einmal etwas Kompliziertes wie den Mundverschluß. Nein, eine einfache Augenbinde wäre genug.
Und was würde dann noch kommen? Ob er kommen würde, um sie zu retten? Oder würde er sie zu seiner Sklavin machen? Leonie war sich nicht sicher, welches ihre wahren Wünsche waren.
* * *
Franz-Ferdinand betrat die Apotheke und sah sich um. Nur noch eine Kundin war außer ihm im Laden. Geduldig wartete er, bis er an die Reihe kam. In der Zwischenzeit dachte er noch einmal darüber nach, welches Schlafmittel er genau für seinen Plan brauchte. Er wollte es über den Sekt verabreichen, deswegen sollte es geschmacklos sein. Es musste nicht lange wirken, eine halbe Stunde würde reichen, um Maria zu entführen und zu seiner Cousine in den Keller zu bringen.
Er machte sich gedanklich eine Notiz, dass er die Lebensmittel im Keller noch einmal aufstocken musste. Schließlich wollte er der Polizei erst dann den Tipp geben, wo Maria gefangen war, wenn er sich mit dem Geld erfolgreich abgesetzt hatte.
Dass sein Onkel im Moment in Untersuchungshaft saß, änderte an seinen Plänen nur ein winziges Detail. Er würde dafür sorgen, dass das Geld nicht dazu diente, die Schulden seines Onkels zu bezahlen, er würde das Geld für sich selbst verwenden. Pläne hatte er dafür schon.
»Guten Tag, Herr von Schleihthal, was können wir für sie tun?« Die Apothekenhelferin blickte ihn aufmerksam an.
Franz-Ferdinand blickte sich verschlagen um. »Ich möchte den Chef sprechen.«
»Jawohl.« Es kostete die Angestellte viel Kraft, sich nichts anmerken zu lassen. »Ich werde ihn holen.« Sie verschwand nach hinten.
Mit dem Notar hatte Franz-Ferdinand schon gesprochen, es sollten eigentlich bei der Auszahlung des Geldes keine Probleme zu erwarten sein. Während er auf den Chef wartete, fiel ihm seine nichtsnutzige Cousine wieder ein. Er hatte Michael versprochen, ihn heute wieder zu ihr zulassen. Was die beiden bloß aneinander fanden? Der Maurerssohn und die Baroness, sie passten so gar nicht zusammen.
»Franz-Ferdinand, was kann ich für dich tun?« Der Apotheker kannte den Neffen des Barons schon seit der Kindheit, da er und der Baron befreundet waren.
»Ich brauche ein Schlafmittel für einen kleinen Scherz.« Er trug sein Anliegen vor. Natürlich hatte er sich eine Geschichte ausgedacht, wofür er das Mittel brauchen würde. Die Wahrheit verschwieg er lieber.
Der Apotheker sah Franz-Ferdinand einen Moment kurz an, dann lächelte er. »Ich habe da etwas für dich. Ich muss es nur aus dem Giftschrank holen.«
Franz-Ferdinand runzelte die Stirn.
»So nennen wir hier den Schrank, wo die verschlusspflichtigen Mittel untergebracht sind.« Er drehte sich um und ging nach hinten. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Wie viel brauchst du denn?«
»Es muss für sechs bis acht Personen reichen.« Er hatte keine Ahnung, wer noch alles zu dem Fototermin kommen würde. Er wollte auf alles vorbereitet sein.
»Hier ist es.« Der Apotheker reichte ihm ein kleines Fläschchen. »Macht Dreizehn Mark und Sechzig.«
Franz-Ferdinand bezahlte und packte sich das Mittel in seine Jackettasche, dann verließ er die Apotheke.
Der Apotheker blickte ihm nach. Er überlegte, ob er die Polizei verständigen sollte. Dass jemand so ein Mittel kaufte, war höchst ungewöhnlich.
Doch dann verwarf er den Gedanken. Zum einen kannte er den Baron und seinen Neffen schon eine halbe Ewigkeit, und außerdem hatte Franz-Ferdinand ihm versichert, dass es nur für einen Party-Scherz sein. Er wandte sich der nächsten Kundin zu, die eben die Apotheke betreten hatte.
* * *
Frederike hatte sich erst überlegt, sich ein Taxi zu nehmen und sich zum Schloß bringen zu lassen, doch dann hatte sie den Gedanken wieder verworfen. Wenn sie den Weg zu Fuß ging, konnte sie über die Punkte, die sie mit dem Baron besprechen wollte, noch einmal in aller Ruhe nachdenken.
Vom Notar hatte sie den wahren Grund erfahren, warum Maria unbedingt das Gebet auf dem Rücken lernen musste. Es ging gar nicht um das Ansehen bei den Sponsoren, stattdessen war er hinter dem Geld her, dass irgendjemand als Preisgeld für diese außergewöhnliches Haltung ausgesetzt hatte.
Es ärgerte sie sehr, dass sie ihm schon wieder auf den Leim gegangen war. Natürlich fühlte sie sich in ihrer Ehre getroffen, und sie hatte einigen Ehrgeiz entwickelt, um ihrer Tochter diese Haltung anzutrainieren. Und das er auch noch das Konsortium mit hineingezogen hatte, nahm sie ihm gleich doppelt übel.
Und dann war da auch die alte Geschichte, die sie bisher nicht aufgeklärt hatte. Sie wusste nicht mehr, was damals auf dem Fest passiert war.
Bedingt durch ihre Mitarbeit nach dem letzten Fest war es zu einem engen Kontakt zwischen ihr und der Familie des Barons gekommen. Natürlich ging es primär um die Tochter, die Baroness, die auf dem heurigen Fest ursprünglich die Katerina spielen sollte. Was genau in jener Nacht passiert war, hoffte sie jetzt zu erfahren. Sie wusste nur noch, dass sie am nächsten Morgen mit einem gewaltigen Kater aufgewacht war.
Ein Jahr später starb die Baronin, und die Polizei sagte damals, es wäre ein Unfall gewesen. Doch Frederike hatte diese Aussage immer in Zweifel gezogen - sie glaubte, am Freitod der Baronin schuld zu sein, und das wollte sie heute ein für allemal klären. Er würde ihr hoffentlich versichern können, dass in jener Nacht nichts passiert war, und dass sie nur zu viel getrunken hatte. Der Gedanken quälte sie immer, wenn sie einmal Zeit zum Grübeln hatte. Zum Glück kam das nicht allzu oft vor.
Der Butler schien neben der Tür zu sitzen und zu warten, denn er hatte sofort nach ihrem Klingeln geöffnet. »Sie wünschen?«
»Ich möchte den Baron sprechen.« Frederike hatte Mühe, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten.
»Er wurde verhaftet.« Der Butler informierte Marias Mutter über die neuesten Vorkommnisse. »Seine Tochter ist auch spurlos verschwunden.«
Ingeheim war Frederike erleichtert, weil sie das sicher für sie schwere Gespräch so noch etwas aufschieben konnte. Sie bedankte sich für die Auskunft, dann verließ sie das Schloßgelände wieder.
Doch dann kam sie ins Grübeln. Was genau bedeutet die Verhaftung jetzt für sie und ihre Tochter? Hatte Maria vielleicht sogar Gefahr gedroht? Jetzt war sie auf jeden Fall erleichtert, denn mit diesen Ereignissen ging vom Baron keine Gefahr mehr aus.
Ihren Verdacht konnte sie so allerdings nicht aufklären. Sie wollte es sich irgendwann von der Seele reden. In den Staaten hatte sie es weitgehend geschafft, die Gedanken daran zu verdrängen, doch hier in der Heimat wurde sie ständig an ihre eventuelle Schuld erinnert.
Ob sie mit ihrer Tochter darüber reden konnte? Frederike zog es in Betracht. Oder sie suchte den Baron im Gefängnis auf. Doch damit würde sie seine Wichtigkeit enorm hervorheben, und das war er wirklich nicht wert.
* * *
Mit dem Schlafmittel in der Tasche als einem wichtigen Teil seines Planes machte Franz-Ferdinand sich nun auf den Weg, um das nächste Detail abzusichern. Seine Idee war, sich in die Wachmannschaft für die Katerina einzuschleusen. Er rechnete sich gute Erfolgschancen aus, denn es war bekannt geworden, dass dieses Mal auf vier Mädchen aufzupassen war.
Bei den früheren Festen wurde die Katerina von den Damen des Tanzvereines begleitet, die nur Spielzeugfesseln trugen und sich derer schnell entledigen konnten. Doch dieses Mal galt es auf vier Mädchen auszupassen, die alle mit echten Ketten gefesselt und entsprechend hilflos waren. Herr Schwertele hatte aufgrund seiner Schmeicheleien darüber bereitwillig Auskunft gegeben.
Er hoffte, dass er das Vertrauen von Carlos gewinnen könnte und im Idealfall allein auf Maria aufpassen dürfte nach der Kutschfahrt am Sonntag. Er hatte schon dafür gesorgt, dass der Fototermin bei ihm daheim im Schloß stattfinden würde, und wenn er es geschickt genug anstellen würde, dann würde Carlos ihm vertrauen, und dann hätte er sehr leichtes Spiel.
Er fand den Chef der Tanz- und Wachgruppe an seinem Schreibtisch sitzend. Es war deutlich zu sehen, dass sich dieser gerade Sorgen machte, denn er seufzte.
»Du hast Sorgen?« Franz-Ferdinand kannte Carlos zwar kaum, doch da sie gemeinsam studiert hatten, war das 'Du' durchaus angebracht.
»Ich habe zu wenig Personal, um auf vier Mädchen auszupassen.« Er sagte es mehr zu sich selbst als auf die gestellte Frage.
»Das trifft sich gut.« Franz-Ferdinand erkannte, dass sein Plan aufgehen könnte, wenn er sich jetzt nicht zu ungeschickt anstellen würde. »Ich wollte dich gerade fragen, ob du noch Hilfe gebrauchen kannst?«
»Du?« Carlos schaute ihn zweifelnd an. Sofort fiel ihm wieder der sehr unqualifizierte Auftritt während der Vorbereitung des Festes ein.
»Okay, ich habe mich damals daneben benommen.« Auch ihm war der eher peinliche Auftritt wieder eingefallen. »Aber jetzt muss ich auch nicht mit ihr tanzen.«
»Gott sei Dank nicht.« Carlos seufzte. »Aber mir fehlt noch Wachpersonal.« Er griff zu einer Liste. »Wir haben diesmal vier Mädchen, die zudem auch alle echte Ketten tragen.«
»Was wäre denn da zu tun?« Franz-Ferdinand gab sich interessiert.
»Es geht eigentlich hauptsächlich um den Freitag, wenn die vier Mädchen durch die Stadt geführt werden.« Carlos studierte seine Liste. »Da sind wir bisher definitiv zu wenig.«
»Da könnte ich doch...« Franz-Ferdinand versuchte sich vorsichtig einzubringen, doch Carlos hielt seinen Blick immer noch auf die Liste gesenkt. »Und für den Sonntag habe ich zwei Quasi-Absagen.«
»Was sind denn Quasi-Absagen?« Er hoffte auf seine Chance.
»Naja, sie würden schon kommen, wenn ich sie wirklich brauche.« Er seufzte wieder. »Aber sie hätten auch einen anderen wichtigen Termin. Ausgerechnet an dem Wochenende.«
»Ich hätte Zeit.« Franz-Ferdinand fühlte, dass er sein Ziel so gut wie erreicht hatte.
»Komm doch bitte heute Abend zur Abschluß-Probe.« Carlos reichte ihm die Hand. »Dann kann ich dir zeigen, was alles wichtig ist.«
»Aber tanzen muss ich nicht, oder?« Franz-Ferdinand versuchte so etwas wie einen Scherz.
»Nein.« Carlos grinste. »Es reicht mir, wenn du mir beim Aufpassen hilfst.«
* * *
Frederike war ein wenig erleichtert, dass sie den Baron aus welchen Gründen auch immer nicht angetroffen hatte. So konnte sie die Aussprache noch etwas hinauszögern. Doch darüber sprechen wollte sie auf jeden Fall mit ihm.
Doch jetzt galt es, einem Mädchen bei einem schweren Gespräch beizustehen. Sie ging den kurzen Weg zum Haus von Marias Freund, um Anna und Florian abzuholen. Sie wusste, dass sie zwischen ihnen vermitteln musste. Sie hatte Respekt vor dem, was Anna vorhatte, und sie wollte, dass ihr Mann darauf auch die richtige Sicht haben würde.
»Hast du ihm schon etwas gesagt?« fragte Frederike Anna an der Haustür, als sie auf ihr Klingeln reagiert hatte.
»Nein, bisher nicht.« Anna war etwas verlegen. »Florian, kommst du bitte?«
»Willst du wirklich dahin?« Es war ihm sichtlich unangenehm. »Was ist, wenn er die Situation ausnutzen möchte?« Erst jetzt sah er, dass neben Anna auch die Frau stand, der sie ihre Freiheit zu verdanken hatten.
»Genau deswegen bin ich mitgekommen.« Frederike drängte sich zwischen Anna und Florian. »Zunächst mal solltet ihr wissen, dass Fotomodell ein angesehener Beruf ist, auch wenn es schwer ist, genügend Geld damit zu verdienen.«
»Aber er will sie fesseln?« Florian hatte sofort erkannt, dass er Marias Mutter vertrauen und mit ihr Klartext reden konnte.
»Sei froh, dass er keine Nacktfotos möchte«, warf Anna ein. »Damit hätte ich auch Probleme.« Sie holte tief Luft. »Bedenke mal, was sie alles für uns getan haben. Wir müssen uns erkenntlich zeigen.«
»Aber auf so eine Art?« Florians Stimme zeigte, dass er sich mit dem Vorhaben seiner Frau noch nicht anfreunden konnte. »Wie wird das überhaupt ablaufen? Wird er dich anfassen?«
Frederike spürte, dass das Paar durchaus in der Lage war, den kleinen Konflikt selbst auszufechten, sie hörte der Unterhaltung erst einmal nur zu.
»Wo denkst du hin?« Anna gab sich empört. »Das würde ich nicht erlauben.« Insgeheim hatte sie sich schon einen Plan überlegt, wie sie am ehesten Florians Zustimmung bekommen konnte.
»Aber er will dich in Fesseln sehen.« Florian tappte in die Falle. »Die muss dir doch jemand anlegen?«
Anna blieb kurz stehen und blickte ihren Mann nur kurz an.
»Ich soll dich...?« In Florian arbeitete es heftig. »Aber ich weiß doch gar nicht, wie es geht.«
»Dann lässt du es dir zeigen.« Anna verfolgte ihren Plan, der bisher gut funktionierte. »Dafür dürfte er mich berühren. Außerdem ist heute nur Probe.«
»Was heißt das, nur Probe?« Frederike fragte sich, wie man so etwas proben könne.
»Wir machen alles so wie bei einem richtigen Shooting, nur er hat keinen Film in der Kamera.« Anna gab wieder, was sie schon mit Hans abgesprochen hatte. »Ich darf so ausprobieren, ob ich mich der Kamera hingeben kann.«
»Das klingt doch mehr als fair.« Frederike blickte Florian eindringlich an. »Lass Anna ruhig neue Welten entdecken.« Natürlich wusste sie, was Florian bewegte.
»Na gut, probieren wir es.« Florian lenkte an. »Vielen Dank noch einmal dafür, dass sie sich so für uns einsetzen.«
* * *
Ob er heute kommen würde? Sophie war etwas unsicher. Gestern hatte er keine Zeit gehabt, wie er ihr in dem Brief mitgeteilt hatte, den sie unter der Tür gefunden hatte. Er hatte nichts zu heute abend gesagt, und deswegen hoffte sie, ihn vielleicht wiedersehen zu können. Außerdem hatte sie sich eine Bibel gewünscht.
Einerseits hatte sie sich vorgenommen, sich jetzt nicht mehr von vorn bis hinten bedienen zu lassen, sondern selbst zu arbeiten. Doch die Bibel war ihr so wichtig, dass sie von ihrem Vorsatz eine Ausnahme machte. Natürlich würde sie ihm seine Auslagen ersetzen, sie hatte ihn ausdrücklich gebeten, ihr die Quittung aufzuheben.
Wieder kündigten leise Kiesgeräusche die Ankunft eines Autos an und sofort begann ihr Herz höher zu schlagen. Als sie kurz darauf die Schritte von zwei Personen hörte, war ihr klar, dass er kommen würde. Sie überlegte, wie sie ihn diesmal empfangen sollte, doch ihr war schnell klar, dass ihr nur ganz wenige Optionen blieben. Schließlich entschloss sie sich dazu, sich auf das Bett zu legen so wie vorgestern.
Michael war erleichtert, als er wieder in den kleinen Kellerraum eingelassen wurde. Wie schon beim letzten Mal hatte Franz-Ferdinand ihm die Augen verbunden und sie ihm erst wieder befreit, als er schon in dem kleinem Zimmer stand. Auch diesmal schloss sich gleich danach die Tür hinter ihm und er war mit Sophie allein. Mehr noch, er war zusammen mit ihr eingesperrt und erst am nächsten Morgen würde sich die Tür wieder für ihn öffnen.
Er blickte sich um und stellte mit ein wenig Stolz fest, wie sehr sich die Umgebung verändert hatte. Er hatte zwar geputzt, doch Sophie hatte ihn auch ein wenig umgeräumt und hübsch dekoriert, soweit es überhaupt möglich war, so ein Kellerloch in etwas Schönes zu verwandeln.
Es fiel ihm auch sofort auf, dass sie sich die Haare gekämmt hatte. Beim letzten Mal hatte gerade der Anblick ihrer Haare sehr zu seinem Mitleid beigetragen.
Er stellte seine zwei Tüten auf den Tisch, dann trat er an das Bett heran. Heute hatte sie die Augen geöffnet und lächelte ihn an. Er hätte ihr gern ein Kompliment wegen ihres Äußeren gemacht, doch da sie wieder nur den Kittel trug, hätte sie es im besten Fall als höfliche Lüge enttarnt. Er verzichtete darauf.
»Hast du meinen Brief bekommen?« Er hatte ihn nur Franz-Ferdinand gegeben und ihn gebeten, seiner Cousine seine Zeilen zukommen zu lassen.
»Oh ja, vielen Dank dafür.« Sophie richtete sich langsam auf. »Ich habe geübt, und jetzt habe ich einen tierischen Muskelkater.«
»Das ist doch ein gutes Zeichen.« Michael übersah bewusst den leichten Vorwurf und lächelte. »Es ist das erste Anzeichen dafür, dass deine Muskeln wieder aufgebaut werden.«
Sophie blickte auf den Tisch und sah die beiden offensichtlich voll gefüllten Taschen. »Ich hatte dich um etwas gebeten?«
»Natürlich habe ich daran gedacht.« Er griff in eine der Taschen und holte ein kleines Paket heraus, das in Geschenkpapier eingepackt war. Er trat wieder an das Bett heran und überreichte es ihr.
In der Hand hielt er noch einen Zettel. »Ich habe hier die Quittung, wie du es verlangt hast, doch ich würde es dir gern schenken, wenn du damit einverstanden wärst.«
Sophie blickte auf ihn und die sehr hübsch eingepackte Bibel. Mit zitternden Händen nahm sie sie entgegen. »Ich habe schon lange kein so schönes Geschenk mehr bekommen.« Ihre zitternde Stimme zeigte an, dass sie die Wahrheit sagte.
»Du darfst sie gern auspacken.« Michael legte die Quittung neben ihr auf das Bett. »Und falls du sie doch bezahlen möchtest, wäre ich dir auch wirklich nicht böse.«
Sophie öffnete vorsichtig das Geschenkpapier und nahm die Bibel heraus. Fast ein wenig ehrfürchtig betrachtete sie sie das heilige Buch, welches sie jetzt in den Händen hielt und dessen Inhalt ihr schon so viel Trotst und Kraft gegeben hatte. »Lukas 15, Vers 11 bis 32.« Sie blickte zu Michael. »Weißt du, wo ich das finde?«
»Das Gleichnis vom verlorenen Sohn?« Michael lächelte. Er wollte nicht den Anschein erwecken, als würde sich er in der Bibel so gut auskennen. »Das war letztens Thema im Radio.« Er setzte sich neben sie und half ihr, die betreffende Stelle zu finden.
Sophie begann die ersten Worte zu lesen, als sie auf einmal zu weinen begann. »Es war alles falsch.« Sie schluchzte wieder. »Es war soo falsch.«
Michael spürte, dass sie Trost gebrauchen konnte. Er reichte ihr ein Taschentuch und nahm sie in den Arm. Er hoffte, dass der zweite Gegenstand, den er mitgebracht hatte, Sophie ein wenig ablenken konnte. »Du musst jetzt nach vorn blicken.«
Er wartete, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. »Ich habe noch etwas für dich, aber du musst mir vorher etwas versprechen.«
»Alles was du willst.« Sie blickte ihn mit verweinten Augen an.
»Ich möchte dir etwas schenken, aber du musst mir versprechen, es auch anzunehmen.« Er hoffte sehr, dass er die richtige Größe gekauft hatte. »Natürlich nur, wenn es auch passt.«
»Was hast du denn für mich?« Sophie wischte sich die Augen aus.
Michael stand auf und griff zu einer der beiden Tüten. Vorsichtig holte er das leichte Sommerkleid heraus, welches er ausgesucht hatte. »Ich dachte, dass dir das hier besser steht als der Arbeitskittel.«
»Habe ich mir soviel Schönheit wirklich schon verdient?« Sophie blickte ihn erstaunt an.
»Bitte probiere es einmal an.« Er gab es ihr. »Ich würde mich solange ums Abendessen kümmern.« Er zeigte auf die zweite Tüte. »Ich habe diesmal was Leckeres eingekauft.«
Sophie war zunächst sprachlos. Sie blickte zunächst Michael hinterher, der sich an der winzigen Küchenzeile zu schaffen machte. Schließlich warf sie einen Blick auf das Kleid. Es war ein ganz einfaches Sommerkleid von der Stange. Früher hätte sie darüber nur die Nase gerümpft, doch jetzt hatte sie ernste Zweifel, ob es ihr überhaupt schon wieder zustand.
»Bitte ziehe es einmal an, ich möchte wissen, ob es passt.« Michael drehte sich dabei nicht um.
Mit einem Seufzer kam Sophie seiner Bitte nach. Innerlich war sie erleichtert, den alten Arbeitskittel ausziehen zu können, doch bei dem neuen Kleid hatte sie wirklich Skrupel, es anzuziehen.
Es brauchte noch zwei weitere Nachfragen von Michael, bis sie sich endlich traute, in das neue Kleid hinein zu schlüpfen.
»Wenn du fertig bist könntest du schon mal den Tisch decken.« Michael war immer noch am Herd beschäftigt und hatte sich bisher nicht umgedreht.
Nur für einen winzigen Bruchteil kam in Sophie die Empörung über so ein dreistes Ansinnen hervor, dann erkannte sie, dass sie ihre jüngere Vergangenheit noch nicht ganz unter Kontrolle hatte. Sie lächelte, dann kam sie seiner Bitte nach.
»Passt es?« Michael Stimme zeigte ehrliche Neugier.
Sophie realisierte, dass sie schon wieder dabei war, in ihre alten Verhaltensmuster zurück zu fallen, und das ärgerte sie sehr. »Ich wollte mich doch bessern«, sagte sie stumm zu sich selbst. »Ja, es passt mir sehr gut.« Ihre Stimme wurde etwas weinerlich. »Danke, dass du dich so um mich kümmerst.«
»Jetzt lass uns erst einmal essen.« Michael drehte sich um und sah, dass ihr das Kleid wirklich gut passte. Sein Augenmaß hatte ihn nicht getrogen.
* * *
»Danke, dass sie mit gekommen sind.« Anna war schon sehr erleichtert, dass Frau Beller sie auf dem Weg zum Fotostudio begleitet hatte.
»Gerne doch«, Frederike lächelte. »Ich möchte dem Fotografen noch einmal ins Gewissen reden.« Sie drückte auf die Klingel am Nebeneingang des Studios.
»Wollen sie es ihm ausreden?« Anna schaute sie etwas besorgt an.
»Nein, das nicht. Aber ich möchte dafür sorgen, dass er euch fair behandelt und nicht über den Tisch zieht.« Dass sie sich auch ein wenig Sorgen machte um die Identität von Anna und Florian machte, behielt sie lieber für sich.
Die Tür öffnete sich und ein sichtbar nervöser Hans öffnete. »Bitte kommt herein.« Dann fiel sein Blick auf Marias Mutter. »Wer sind sie?«
»Ich bin Frederike Beller und ich kümmere mich ein wenig um ihr Modell.« Frederike reichte ihm die Hand.
»Wollen sie mir verbieten, sie abzulichten?« Hans erinnerte sich an ähnliche Momente aus der Vergangenheit.
»Nein, dann wären wir gar nicht erst gekommen.« Frederike lächelte. »Ich möchte vor allem sicherstellen, dass sie Anna fair behandeln.«
Hans bat seine Gäste herein, dann schloss er die Tür. »Dort können sie sich umziehen.« Er zeigte Anna einen Raum und reichte ihr ein Bündel mit Kleidung. »Da müsste etwas Passendes dabei sein. Dann kommen sie bitte ins Studio.«
Frederike unterbrach. »Warte Anna.« Sie griff in ihre Tasche und holte die Perücke heraus, die sie bei Marias Empfang getragen hatte. »Bitte setze dies auf.«
Anna nahm das künstliche Haar entgegen. Sie stellte zwar keine Frage, aber sie blickte Marias Mutter fragend an.
Frederike beugte sich zu ihr hinüber und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
»Ah, ich verstehe.« Anna lächelte. »Das werde ich machen.« Sie ging in den von Hans bezeichneten Raum und schloss die Tür hinter sich.
»Was haben sie ihr gesagt?« Hans war etwas verwundert. Im Moment fürchtete er sich davor, auf den letzten Metern vor seinem Ziel noch gestoppt zu werden. Es gab bisher nur ganz wenige Mädchen, die bereit waren, sich in Fesseln zu fotografieren zu lassen. Er bat Frederike, ihr ins Studio zu folgen.
»Ich möchte wissen, was sie ihr als Honorar zahlen werden.« Frederike gab sich für den Moment streng. Sie folgte ihm. Auf seine Frage ging sie aber nicht ein.
Hans nannte die Summe, die er sich überlegt hatte.
»Pro Stunde hoffe ich.« Frederike war gespannt, was sie für Anna herausholen konnte.
Hans kratze sich am Kopf. »Ich muss die Bilder aber auch erst verkaufen.«
Andrea kam dazu. »Wen willst du verkaufen?«
»Die Bilder, die ich hoffentlich machen werde.« Hans fürchtete einen Zweifrontenkrieg mit Annas Betreuerin auf der einen Seite und seiner eifersüchtigen Freundin auf der anderen Seite.
»Ich hätte ihnen einen Vorschlag zu machen.« Frederike hatte auf einmal eine Idee, wie sie elegant nebenbei noch ein anderes Problem lösen konnte. »Ich kann dafür sorgen, dass sie genügend Abnehmer für ihre Arbeit haben.«
»Und was ist der Preis?« Hans wusste auch, dass es nichts umsonst gab.
»Ich möchte, dass sie Anna auch mit ganz bestimmten Kostümen fotografieren.« Frederike zählte die Motive auf, die sie für ihr Programm als Illustration brauchen konnte. Im Konsortium gab es auch zwei Herren, die sich zwar primär um ihre Töchter sorgten, die aber einschlägigen Bildern auch nicht abgeneigt waren. In einer vertraulichen Umgebung wurde Frederike diesbezüglich schon mehrmals angesprochen.
»So etwas habe ich nicht.« Hans' Augen begannen zu leuchten. »Aber das würde ich gern machen.«
»Andrea?« Frederike wandte sich an Reporterin. »Hätten sie Lust, mit Anna einkaufen zu gehen? Die Kosten würden wir dann mit dem Honorar verrechnen.«
Andrea hatte sich eigentlich vorgenommen, Hans' Unternehmung zu boykottieren, doch jetzt versprach es eine Einnahmequelle für ihren Freund zu werden. Sie hatte ihn schon viel zu oft finanziell unterstützen müssen, deswegen versuchte sie ihre persönlichen Gefühle zurück zu stellen. »Das können wir machen.«
»Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist es heute ohnehin nur eine Probe ohne Kamera.« Frederike gab wieder, was sie verstanden hatte.
»Schon mit Kamera.« Hans wollte es richtig stellen. »Aber ich habe keinen Film eingelegt. Es geht vor allem darum, zu testen, ob Anna sich mit der Kamera arrangieren kann.«
Die Tür öffnete sich und eine völlig veränderte Anna betrat zusammen mit Florian den Raum. Sie trug jetzt einen hautengen schwarzen Gymnastikanzug, der nur Kopf, Hände und Füße frei ließ. Darüber trug sie noch einen roten Body, über den sich lange blonde Haare ergossen. Sie ging sehr langsam und blickte sich schüchtern um.
»Ich glaube, jetzt kann ich gehen.« Frederike hatte alle ihre Anliegen vorgetragen, insbesondere hatte sie dafür gesorgt, dass Anna nicht sofort wiedererkannt werden konnte. Nebenbei hatte sie jetzt auch noch eine schöne Gelegenheit gefunden, für ihren Abschlußbericht nach dem Fest ein paar schöne Bilder zu bekommen.
* * *
Frederike hatte seltsam wehmütige Gefühle, als sie nach langer Zeit wieder einmal durch das Rathaus ging. Während des letzten Festes hatte hier öfters zu tun gehabt, und sie stellte erfreut fest, dass sich in den letzten Jahren nur wenig verändert hatte. Von einigen Angestellten, die sie noch von früher kannten, wurde sie sogar mit einigen Fragen aufgehalten. Doch schließlich hatte sie das in der Einladung angegebene Besprechungszimmer erreicht.
Sie wurde herzlich begrüßt und ihr wurde ein Sitzplatz am Tisch angeboten.
Nachdem sie sich gesetzt hatte, begann Robert Greinert sofort mit der Besprechung. »Frau Beller hat um diesen Termin gebeten, weil sie eine für uns sehr wichtige Nachricht hat. Bitte sagen sie uns, was sie bewegt.«
»Gestern hat mich unser Notar Herr Schrumm aufgesucht.« Frederike berichtete von dem Treffen und den Neuigkeiten, die sie von ihm erfahren hatte. »Damit wissen sie, welche zusätzliche Last meine Tochter zu tragen hat.«
»Davon wussten wir überhaupt nichts.« Robert Greinert war wie die anderen Personen am Tisch auch relativ sprachlos. »Und die zusätzliche Bedingung ist, dass sie diese ...« Er stockte etwas. »Wie heißen die Stiefel, die sie tragen muss?«
»Man nennt sie Ballettstiefel, weil sie mit der Fußhaltung beim Spitzentanzes vergleichbar sind.« Frederike hatte sich einige Argumente zurechtgelegt, mit denen sie hoffte, die Damen und Herren überzeugen zu können. Sie hatte sogar ein Foto mitgebracht, welche sie herumgehen ließ.
»Sie bewirken eine maximale Streckung des Fußes, haben eine verstärkte Zehenbox wie echte Ballettschuhe, und der Boden wird nur noch mit den Spitzen der Zehen berührt, eben wie beim Ballett.« Sie ließ ihre Worte ein wenig wirken.
»Aber das können wir doch nicht von ihrer Tochter verlangen.« Robert Greinert war sichtlich beeindruckt. »Das wäre doch eine einzige Qual.«
»Ich kann sie ein wenig beruhigen.« Frederike hoffte, es so darzustellen zu können, dass sie eben nicht nur auf das Geld aus waren. »Maria hatte lange Ballettunterricht, und sie ist das Gehen auf Zehenspitzen wirklich gewohnt.«
»Ich kann ja verstehen, dass sie bei soviel Geld ihrer Tochter etwas abverlangen wollen. Aber reicht es nicht, dass sie schon das Gebet tragen muss? Das allein ist doch eine einzige Qual, ich bin dagegen.« Er griff sich das Foto, welche Renate Bayer ihm reichte. »Außerdem, wo sollen wir auf die Schnelle noch solche Schuhe her bekommen?« Er blickte zu seiner Nachbarin. »Ich kenne mich ja mit der weiblichen Schuhmode nicht aus, aber ich glaube, in einem normalen Schuhgeschäft gibt es die nicht.«
»Ich habe solche Schuhe noch nie gesehen.« Frau Bayer lächelte. »Aber meine Cousine war früher einmal beim Ballett, ich halte die Haltung für nicht so grausam, wie sie sie gerade dargestellt haben.«
»Danke, Frau Bayer.« Frederike war über diesen Einwand sehr erleichtert. »Maria besitzt so ein Paar Stiefel und sie ist es auch gewöhnt, darin zu gehen. Verlangt ist, dass sie den Verlobungstanz in Ballettstiefeln tanzt, und das sind weniger als zehn Minuten. Ich denke, das können wir ihr wirklich zumuten.«
»Ich werde meine Cousine auch noch einmal um ihre Meinung fragen, aber so schlimm kann es wirklich nicht sein. Schließlich stehen echte Ballerinas ganze Abendvorstellungen durch.« Frau Bayer machte sich eine Notiz.
»Da wäre noch etwas.« Frederike hoffte, dass sie den Bogen nicht überspannte. »Es wäre gut, wenn Maria zunächst nichts von allem erfährt, nichts von dem Geld und auch nicht, dass ich sie da etwas hineingedrängt habe.«
Robert Greinert blickte immer noch sehr besorgt in die Runde, doch schließlich gab er sich einen Ruck und wandte sich an Renate. »Können sie mit morgen mit Maria reden, wenn sie sie abholen?«
»Ich versuche es.« Frau Bayer seufzte. »Ich weiß aber noch nicht, wie ich ihr das beibringen soll.«
»Sagen sie ihr einfach, dass ein Sponsor sich das gewünscht hat.« Frederike hatte sich schon diverse Argumente zurecht gelegt. »Das ist letztendlich ja sogar die Wahrheit. Außerdem wird Maria sich darüber eher freuen.«
»Warum denn das?« Renate war ein wenig verwundert.
»In diesen Stiefeln wird der Körper maximal gestreckt und vor allem der Brustkorb weitet sich.« Frederike versuchte ihre Stimme neutral klingen zu lassen, obwohl es um ihre Tochter ging. »Damit lässt sich das Gebet sehr viel leichter tragen.«
»Na gut, hoffen wir, dass es so einfach wird.« Robert war noch etwas skeptisch.
* * *
Hans war sehr nervös. Bei den Motiven, die Frau Beller ihm genannt hatte, war auch ein Venuskorsett gewesen. Er war bei der Nennung dieses so faszinierenden Kleidungsstück geradezu elektrisiert, und deswegen war er auch bemüht, das Probeshooting von seiner Seite aus möglichst gut zu unterstützen. Denn er wusste, dass nicht jedes Mädchen auch das Talent hatte, sich der Kamera hinzugeben, wenn sie mehr oder weniger streng gefesselt war.
Sehr gern hätte er auch seine Freundin abgelichtet, doch er wusste von ihren Vorbehalten, und wenn er tief in sich hineinschaute, dann musste er ihr sogar recht geben. Er ahnte, dass er vermutlich zum Tier werden würde, wenn er sich nicht mehr auf die Kamera konzentrieren musste.
Als Anna und Florian auf das kleine Podest traten, wo sich normalerweise seine Kunden für Passfotos und ähnliches aufstellten, wurde er noch nervöser. Er zeigte auf den Haufen Seile, den er bereit gelegt hatte. »Ich dachte, dass wir es langsam angehen.«
Anna blickte verwundert auf den großen Haufen. »So viele Seile?«
»Das täuscht.« Hans lächelte etwas verlegen. »Allein für die Hände braucht man schon zwei Meter Seil.«
»Ist das nicht etwas übertrieben?« Florian runzelte die Stirn.
»Wartet es ab.« Hans erlebte es immer wieder, dass die Mädchen von der Menge Seil etwas eingeschüchtert waren. Doch es war ein Spleen von ihm, immer gleich alles bereit zu haben. »Ich dachte, wir fangen erst einmal mit den Händen an.« Er griff zu einer Mappe, in der er einige Skizzen eingeheftet hatte und reichte sie dem Paar. »Diese Motive hatte ich mir für heute vorgestellt.«
Anna nahm die Mappe mit zitternden Händen entgegen und blätterte sie langsam durch. Nach und nach entspannte sich ihre Miene. »Das ist ja alles harmlos«, war ihr abschließender Kommentar. Sie lächelte Florian an.
»Brauchen wir unbedingt die Kulissen?« Andrea hielt ein sehr großes Stück weißen Stoff in der Hand. »Es sind doch nur Probeaufnahmen.«
»Probeaufnahmen?« Florian war verwundert. »Ich dachte, es liegt kein Film in der Kamera?«
»So ist es auch.« Hans ärgerte sich ein wenig über seine offenbar faule Freundin. »Es soll für Anna alles so sein, wie bei einem richtigen Shooting, also bitte auch mit Kulisse.«
Andrea seufzte, dann legte sie das große Laken auf den Boden. »Na gut, dann hole ich mal die Leiter.« Sie grummelte noch etwas.
»Da wäre noch etwas, zu dem ich gern das Einverständnis aller Anwesenden hätte.« Dabei blickte er zwischen dem Paar und seiner Freundin hin und her.
»Und was wäre das?« Florian hatte erkannt, dass er für Anna handeln musste. Er blickte etwas unsicher zu Andrea, die mit der Leiter zurück kam und sich daran machte, die Wand mit dem Laken zu behängen.
»Wenn ich Anna die Fesseln anlege, muss ich sie zwangsläufig berühren.« Er wusste, dass insbesondere seine Freundin in dieser Beziehung sehr eifersüchtig werden konnte. »Ich würde gern vorher klären, dass das in Ordnung geht.«
Es brauchte er noch einen eindringlichen Blickwechsel zwischen Anna und Florian, bevor sie ihre Zustimmung gaben.
»Ich würde gern zusehen, damit ich es lernen kann.« Florian legte den Arm um seine Frau.
Anna blickte ihn verwundert an. Auf einmal wurden ihre Augen ein wenig glasig.
Es fiel ihnen gar nicht auf, dass Hans seine Freundin fragend ansah. Erst als diese auch ihre Zustimmung gab, machte er weiter. Er griff sich das erste, im Vergleich zu den anderen relativ kleine Seilbündel. »Anna, lege bitte deine Hände aneinander.«
»Ich stelle mir einfach vor, du würdest es machen.« Sie blickte Florian an und lächelte. Es diente allerdings nur dazu, ihre wachsende Nervosität zu überspielen. In der Klinik hatte sie unter den verschiedensten Restriktionen leiden müssen, hier war es freiwillig, und es fühlte sich auch ganz anders an. Sie stöhnte, als sie spürte, wie sich die Seile langsam um ihre Arme legten.
»Ist es zu fest?« Hans war hochkonzentriert, denn er wusste, dass wenn er Anna jetzt nicht verschreckte, dann würde sie ihm vielleicht einen lange gehegten Traum erfüllen können.
»Nein, es ist sehr angenehm.« Anna lächelte verlegen. »Das sind sehr weiche Seile.«
»Ja, die lasse ich mir bei einer Seilerei extra anfertigen.« Hans war froh, dass er so ein wenig ablenken konnte. »Sie sind sehr weich, aber trotzdem sehr robust.«
Florian ging zu dem Haufen mit Seilen und nahm ein Bündel in die Hand. »Oh ja, die sind wirklich weich.«
Während er die Knoten festzog, blickte Hans, mit einem leicht vorwurfsvollen Blick zu seiner Freundin, die schwer mit ihrer Eifersucht zu kämpfen hatte. »So, das war es schon.«
Er griff zu seiner Kamera. Doch schon nach wenigen Klicks legte er sie wieder beiseite. »So geht das nicht.«
»Was geht nicht?« Andrea kam sofort näher.
»Anna ist viel zu abgelenkt.« Hans hatte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. »Und du störst mich auch.« Er blickte seine Freundin genervt an. »Könnt ihr nicht einen Kaffee trinken gehen?«
»Nein«, Anna hatte auf einmal Angst. »Florian darf nicht weggehen.«
»Aber er lenkt dich ab.« Hans zeigte auf die Kamera. »Dorthin sollst du schauen und nicht zu ihm.« Er spürte, dass Anna trotz allem ein gewisses Talent mitbrachte.
»Und wenn wir den Paravent aufstellen?« Auch Andrea hatte ebenfalls keine Interesse daran, ihren Freund mit Anna ganz allein zu lassen.
»Würde das gehen, Anna?« Hans war über den Vorschlag seiner Freundin sehr dankbar. »Er wäre noch da, und du könntest ihn auch noch hören.«
Anna nickte vorsichtig. »Probieren wir es.«
Florian war ebenfalls einverstanden, nachdem er gesehen hatte, was passieren würde, und dass er jederzeit eingreifen konnte, falls er von Anna verdächtige Geräusche hören sollte.
* * *
Selma kam mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Gläser mit einem milchigen Inhalt standen. In beiden steckte je ein Strohhalm.
»Ich bin mir nicht sicher, ob es so geht, Leonie«, sagte sie, doch dann grinste sie. »Du kannst ja noch gar nichts hören.«
Sie griff an ein Ohr und zog den Wachsstöpsel heraus, dann trat sie wieder vor ihre Gefangene. »In dem Knebel, den du trägst, ist ein Loch. Rein theoretisch müsstest du in der Lage sein, daran zu saugen.«
Sie blickte in Leonies Gesicht. »Aber du wirst nicht schlucken können, deswegen möchte ich dir das Halskorsett kurz abnehmen, aber nur unter der Bedingung, dass du es dir danach wieder anlegen lässt.«
Leonie hatte schon immer den Traum von einer dauerhaften Knebelung gehabt, doch stets waren da die Probleme mit der Nahrungsaufnahme und der Zahnpflege gewesen. Sie hätte auch gern das Saugen probiert, doch der Effekt wäre der gleiche gewesen wie bei einem normalen Knebel, sie hätte es nicht herunterschlucken können.
Sie erinnerte sich an die Worte, die sie vorhin gehört hatte. Mit dem Mundverschluß und einer Magensonde könnte sie sich ihren Traum erfüllen. Außerdem wusste sie, dass ihre Schwester auf der Hütte schon Ähnliches gemacht hatte.
»Bitte zwinkere einmal für 'Ja' und zweimal für 'Nein'.« Selma fand die Situation nicht minder aufregend als Leonie, auch wenn sie versuchte, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen.
Leonie signalisierte ein 'Ja'.
»Und ich möchte kein Wort von dir hören, verstehst du?« Selma fühlte, dass Leonie auch ohne ihre Worte nichts gesagt hätte.
Wieder zwinkerte Leonie genau einmal.
Selma trat hinter Leonie und öffnete die Schnürung des Halskorsetts so weit, dass sie Leonie den Knebel aus dem Mund ziehen konnte. Trotz Leonies Versprechens legte sie ihr den Finger auf die Lippen.
Leonie zuckte kurz zusammen, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Dankbar nahm sie den Strohhalm in den Mund und begann daran zu saugen.
* * *
Andrea hatte etwas zu trinken organisiert und stellte vier Gläser auf den kleinen Tisch, an dem sie bisher mit Florian allein gesessen hatte. Sie hatten bisher die meiste Zeit schweigend dagesessen und den Geräuschen gelauscht, die von Hans und Anna herüber kamen.
»Jetzt machen wir erst einmal Pause.« Hans legte die Kamera weg. »Kommt ihr bitte? Und bringt bitte die Stühle mit. Anna ist im Moment schlecht zu Fuß.«
Ein leises Kichern von Anna war zu hören.
Andrea und Florian staunten nicht schlecht, als sie Hans und Anna wieder zu Gesicht bekamen. Anna trug jetzt auch am Oberkörper und an Knien und Füßen jeweils eine Seilfesselung und saß auf ihrem Stuhl. Doch in ihrem Gesicht war ein einziges Strahlen zu sehen.
»Und ich soll dich wirklich nicht los machen?« Hans war ehrlich besorgt.
»Nein.« Anna lächelte. »Das kostet doch nur Zeit.« Sie blickte zu Florian. »Gibst du mir bitte mein Glas?«
Florians Hand zitterte ein wenig, als er Anna das Getränk reichte.
Anna öffnete ihre Hände und umschloss das Glas. Dass ihre Hände noch aneinander gefesselt waren, schien sie überhaupt nicht zu stören.
»Und es macht dir wirklich nichts aus?« Florian war ebenfalls sehr besorgt um seine Frau.
»Ich sage sofort, wenn es anfängt, weh zu tun.« Anna versprach es. »Aber die Seile sind so schön weich, dass es überhaupt nicht stört.«
»Du überrascht mich immer wieder.« Florian gab seiner Frau einen Kuss.
Hans hatte sich noch einmal seine Mappe zur Hand genommen und blätterte sie scheinbar suchend durch. Tatsächlich wusste er aber genau, welches Motiv er noch ablichten wollte. Schließlich legte er die Mappe beiseite. »Ein Motiv würde ich auf jeden Fall noch machen, doch das ist etwas sehr Gewagtes.« Er wurde ein wenig rot dabei.
Andrea wurde misstrauisch, denn sie kannte diese Seite von ihm nur in einem anderen nicht minder intimen Zusammenhang. »Was möchtest du denn machen? Wir hatten Nacktfotos ausdrücklich ausgeschlossen.«
Bei dem Wort 'Nacktfotos' blickte Anna erschrocken auf.
Hans hoffte, seine Freundin beruhigen zu können und gleichzeitig Anna nicht zu sehr zu verschrecken. »Es ist ein Hogtie mit einem Schrittseil an die Hände gebunden.«
»Was ist denn ein Hogtie?« Anna schaute zunächst etwas zweifend.
»Beim Hogtie liegst du auf dem Bauch und die Hände werden mit den Füßen verbunden.« Hans versuchte, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Wenn Anna bei diesem Motiv auch so leidenschaftlich reagieren würde wie bisher, dann könnten es tolle Fotos werden. »Dann wird ein Seil um deinen Bauch gebunden und von vorn durch deine Beine hindurch nach hinten gezogen und dann an den Händen festgebunden.«
Florian hatte die Wirkung sofort begriffen. »Du musst deine Hände dann ganz still halten.« Er war sichtlich fasziniert. »Das ist ja eine ganz gemeine Position.«
Anna war fasziniert. »Das möchte ich auf jeden Fall probieren.« Sie blickte Florian bestimmend und verlangend zugleich an. »Du musste es mir anlegen.« Doch zugleich schien sie zu ahnen, was dieses Seil mit ihr machen würde. »Es könnte sein, dass ich vielleicht etwas stöhnen muss.«
Florian wunderte sich ein wenig, denn noch trug seine Frau noch ihren Keuschheitsgürtel. Sie schien schon etwas weiter zu denken. Er lächelte ein wenig verlegen.
»Gegen das Stöhnen hätte ich etwas.« Hans versuchte ein vorsichtiges Lächeln.
»Nein, nicht schon wieder.« Andrea wusste sofort, auf was ihr Freund anspielte. Sie widersprach sofort. »Hat dir das bei dem Kleid nicht gereicht?«
Es war Anna anzusehen, dass sie im Gegensatz zu Andrea noch nicht erkannt hatte, was kommen würde.
»Es gibt doch nichts schöneres als ein roter Ball zwischen den Lippen einer schönen Frau.« Hans lächelte verträumt. Ob er an einen Erfolg seines Vorschlages glaubte, war in diesem Moment nicht zu erkennen.
»So etwas wie beim Hochzeitskleid?« Florian zeigte sich interessiert.
Andrea erkannte, dass sie es nicht mehr verhindern konnte. »Anna muss ein Notsignal haben, mit dem sie signalisieren kann, dass sie eine Pause braucht oder es abbrechen möchte.« Sie wusste, dass sie in diesem Moment den Spielverderber machte, doch Aufbau von Vertrauen war ihr wichtiger. »Einmal kurz heißt 'Ja', zweimal kurz heiß 'Nein' und dreimal heißt, 'Ich brauche eine Pause.'«
Klingt gut.« Anna war einverstanden.
»Wir werden dir den Ball auch erst ganz zum Schluß anlegen, damit du sagen kannst, ob es irgendwo zwickt oder kneift.« Hans spürte die zunehmende Nervosität von Anna.
»Klingt fair und sicher.« Anna versuchte ihre Aufgeregtheit zu verbergen. Sie blickte Florian ermunternd an und lächelte geheimnisvoll. »Wir sollten das auch mal ohne Kamera probieren.«
* * *
Geradezu gierig hatte Leonie die beiden Gläser leer getrunken und danach still gehalten, als Selma ihr das Halskorsett wieder angelegt und die Ohrstöpsel wieder eingesetzt hatte.
Jetzt wartete sie etwas nervös auf das Ende des Tages, der bisher der aufregendste ihre Abenteuers war. Sie war vollkommen hilflos und völlig auf ihre Gastgeberin angewiesen. Zuletzt hatte sie ihr auch noch einen Knebel angelegt und die Ohren verstopft, sodass Leonie nur noch ihre Nase und ihre Augen hatte.
Immer wieder musste sie an den jungen Mann denken, der seiner Mutter gebracht hatte und der ihr den Knebel weiter aufgeblasen hatte. Es kam ihr vor, als hätte er sie persönlich im Mund berührt. Zugleich hatte sie erfahren, dass Selma für sie einen Mundverschluß bestellt hatte, und soweit sie es verstanden hatte, wäre es damit möglich, lange Zeit den Mund verschlossen zu halten, ohne sich um Essen oder Zahnpflege kümmern zu müssen.
Ein wenig Angst hatte sie vor der Zukunft schon, denn sie hatte schon lange den 'Point of no return' überschritten, und jetzt musste sie sich ihren geheimsten Wünschen stellen. Denn geträumt hatte sie immer schon von so einer strengen Gefangenschaft, ohne jedoch zu ahnen, dass man es tatsächlich möglich machen konnte.
Selma trat wieder in ihr Blickfeld und dieses Mal trug sie eine Hundeleine in der Hand. Sie klinkte sie in das Halskorsett ein und zog langsam daran. Leonie blieb nichts anderes übrig, als ihr langsam und sehr wackelig zu folgen.
Der Weg ins Wohnzimmer dauerte lang, doch Selma schien alle Zeit der Welt zu haben.
Leonie stockte der Atem, als sie sah, dass neben dem bequemen Fernsehsessel ein Kissen auf dem Boden lag - und auf dem Kissen lag deutlich sichtbar eine breite Augenbinde. Der Fernseher war schon angeschaltet, und auf dem Couchtisch entdeckte sie neben der Fernbedenung für den Fernseher auch die Fernbedienung für ihre Vibratoren. Sie begann leise zu stöhnen, denn so langsam begann sie zu ahnen, wie der Abend ausklingen würde.
Selma wartete, bis Leonie passend vor dem Kissen stand, dann öffnete sie ihr die Kniegelenke und half ihr, sich auf das Kissen zu knien. Sie griff zur Augenbinde und legte sie Leonie zunächst so um den Kopf, dass sie oberhalb der Augen war. Dann ging sie noch einmal in die Küche.
Leonie blickte an sich herunter. Sie trug immer noch das Tablett und sie ahnte, dass dieses noch einmal in Benutzung kommen würde. Es war offensichtlich alles für einen unterhaltsamen Fernsehabend vorbereitet, und obwohl der Fernseher lief, hatte Leonie dafür keine Augen.
Ihr Blick war fixiert auf die Fernbedienung, die auf dem Tisch lag. Leonie war so erregt, dass mittlerweile die kleinste Berührung an der richtigen Stelle gereicht hätte und sie würde geradezu explodieren. Doch sie selbst war zu hilflos, um sich zu erleichtern.
Immer einmal wieder hatte sie sich gewünscht, diesen Zustand einmal erleben zu können, und in diesem Moment ging ihr so lang schon gehegter Traum in Erfüllung. Sie war so scharf wie noch nie und mindestens genauso hilflos. Und es war genauso schön, wie sie es sich erträumt hatte.
Selma kam mit einem Glas Rotwein zurück, welches sie demonstrativ auf Leonies Tablett abstellte, dann erst setzte sie sich in den Sessel und machte es sich gemütlich.
Leonie keuchte heftig, denn wieder hatte Selma ihr eine Möglichkeit gezeigt, wie sich ihre Hilflosigkeit noch einmal steigern konnte. Jetzt, mit dem Glas Rotwein auf dem Tablett vor ihr durfte sie sich gar nicht mehr bewegen, sonst riskierte sie, dass das Glas herunterfiel. Auch bestand die Möglichkeit, dass sie es mit der kleinen Blase, die immer noch vor ihrer Brust baumelte, umwerfen konnte.
Ganz langsam, fast schon wie in Zeitlupe, nahm Selma zuerst Leonies Fernbedienung in die Hand, dann zog sie ihr die Augenbinde vor die Augen und nahm ihr damit auch noch die Sicht.
Damit war Leonie bis auf ihren Geruchssinn vollkommen isoliert. Sie nahm das Aroma des Weines sofort war, es erinnerte sie daran, sich weiterhin nicht zu bewegen.
Selma drückte ein paar Knöpfe, dann legte die Fernbedienung wieder auf den Tisch und nahm das Weinglas vom Tablett. Sie wusste was kommen würde, und sie hatte wenig Lust, morgen die Rotweinflecken vom Teppich zu entfernen. Sie erhob das Glas und stieß auf das Wohl ihrer Gefangen an, die so schön neben ihr stöhnte und zitterte.
Auf einmal setzte sich der Vibrator heftig in Bewegung und Leonie war schon nach kurzer Zeit nicht mehr in der Lage, sich zu beherrschen. Sie war durch ihre Fesseln und die Erlebnisse des Tages so erregt, dass sie sofort explodierte.
Selma sah nur die Bilder vom Fernseher,den Ton hatte sie abgestellt. Vielmehr genoss sie die Geräusche, die Leonie in ihrer Ekstase von sich gab. Sie war gespannt, wie lange die Batterien noch halten würden.
Donnerstag, 23. September 1984
Selma war mit dem Verlauf des gestrigen Tages sehr zufrieden. Zwischen dem Nachbarssohn Holger und ihrem Schützling hatte es sichtbar gefunkt, obwohl sie sich nur kurz sehen konnten. Es war deutlich zu sehen, wie sehr sie voneinander fasziniert waren.
Sie war ein wenig wehmütig, weil sie ihre 'Gefangene' jetzt in andere Hände geben würde. Früher musste sie die Mädchen so streng behandeln, weil ihre Arbeitgeber es so erwarteten. Erst nachdem sie ihre Arbeit aufgegeben hatte, wurde ihr die Faszination bewusst, die die Mädchen in ihren Strafuniformen oft ausstrahlten.
Früher wurden die Mädchen oft gegen ihren Willen von ihr gemaßregelt, doch Leonie war zu ihrer Faszination aus ganz freien Stücken zu ihr gekommen. Sie kam aus einer sehr extrem veranlagten Familie und litt sehr darunter, dass sie keinen Partner hatte, der auf ihre besonderen Wünsche eingehen konnte.
Selma war extra auf den Dachboden gestiegen, um ein paar Sachen von ihren Erinnerungsstücken herunter zu holen. Vor allem die oberarmlangen Handschuhe hatten sie schon damals fasziniert, weil sie dazu dienten, ein Mädchen trotz einer Strafe noch in der Öffentlichkeit vorführen zu können.
Sie hätte Leonie gern noch länger damit gequält, doch heute schon war die Generalprobe für das Fest, und dort würde Leonie ihren ersten großen Auftritt haben. Sie spielte nur eine Nebenrolle, doch genau diese brachte es mit sich, dass sie die Ketten tragen konnte, die Selma für sie hatte anfertigen lassen.
Heute würde Theo noch die nachbestellten Oberarmschellen vorbeibringen, so dass Leonie auf dem Gang durch die Stadt unauffällig so streng gefesselt war, wie es gerade noch zu vertreten war.
Sie hatte ihren Schützling nach der kleinen Folter gestern abend ins Bett getragen, wobei sie dafür extra auf Paul gewartet hatte. Leonie hatte lange gegen den Vibrator gekämpft, immer im Glauben, auf dem Tablett vor ihrem Bauch würde der Rotwein stehen. Doch Selma hatte sich an Leonies Qualen ergötzt, während sie das Weinglas in der Hand hielt. Schon nach dem zweiten Orgasmus war das Mädchen so müde, dass sie einfach im Knien einschlief.
* * *
»Du bist aber früh aufgestanden.« Alberta Künzle, die Nachbarin von Pauls Oma, blickte verwundert auf ihren Sohn Holger, der sich gerade an den Frühstückstisch setzte.
»Ich habe gestern etwas sehr schönes erfahren.« Er lächelte.
»Du wirst sie wieder sehen?« Alberta grinste.
»Ich darf sie auf dem Festzug begleiten und muss auf sie aufpassen.« Er strahlte.
»Du warst gestern ja sehr beeindruckt von ihr.« Alberta wollte ihrem Sohn noch etwas für sie sehr Schwieriges beichten.
»Ja, schon.« Holger war etwas verlegen.
»Ein Mädchen nach deinem Geschmack.« Albertas Stimme zeigte auf einmal ihre Anspanung. Sie war sich immer noch nicht sicher, wie ihr Sohn auf ihre Mitteilung reagieren würde.
»Was willst du damit sagen?« Holger blickte auf.
Alberta setzte sich auf die Bank neben ihm und strich ihm über den Kopf. »Ich habe beim Saubermachen einige deiner Magazine gefunden.« Sie erzählte ihm, was sie Staubsaugen entdeckt hatte.
Er hielt unwillkürlich die Luft an.
»Ich glaube, du könntest mit Leonie glücklich werden.« Alberta erinnerte sich an die Worte, die Selma ihr eingebläut hatte.
»Du wärst damit einverstanden?« Holger riss seine Augen weit auf.
»Naja, besonders glücklich bin ich nicht darüber.« Sie strich ihm durch das Gesicht. »Aber ich möchte eurem Glück nicht im Weg stehen.«
* * *
»Leonie, wach auf.« Selma war an ihr Bett getreten und strich ihr geradezu zärtlich durch das Gesicht. »Heute ist ein wichtiger Tag.«
»Ich hatte einen wunderbaren Traum.« Leonie schlug die Augen auf und strahlte. »Ich trug seltsame Handschuhe, war völlig hilflos, und dann kam der Prinz.« Sie versuchte eine Zusammenfassung ihres Traumes zu geben. Doch dann sah sie die Handschuhe, die auf dem Nachttisch lagen.
»Das war die Wirklichkeit.« Selma war immer noch erstaunt über die Leidenschaft, mit der Leonie sich den Fesseln ausliefern konnte. »Doch jetzt solltest du dich beeilen, die Generalprobe beginnt bald.«
War sie bisher noch etwas verschlafen gewesen, so bewirkten Selmas Worte, dass Leonie jetzt aufrecht im Bett saß und sofort ihre Beine aus dem Bett schwang. Erst jetzt realisierte sie, dass sie jetzt wieder 'frei' war.
»Frau Bayer hat deine Kostüme schon vorbei gebracht.« Selma erzählte, dass die Dienerinnen auf dem Fest ein einfaches Kleid in der damaligen Mode tragen würden. »Weil du nicht zur Anprobe kommen konntest, hat sie für dich drei unterschiedliche Größen vorgesehen.«
Leonie blickte ihre Gastgeberein verwundert an.
»Das Fest hat eine gut sortierte Kleiderkammer, die sich über die Jahrzehnte gefüllt hat.« Sie lächelte. »Wie haben dir die Handschuhe gefallen?« Selma hatte etwas Sehnsucht in ihrer Stimme.
»Aufregend.« Leonie keuchte ein wenig. »So wenig Stoff, und doch machen sie so ganz hilflos.«
»Wenn du willst, würde ich sie dir gern schenken.« Selma wusste, dass sie ihre für sie so kostbaren Erinnerungsstücke in gute Hände abgeben würde.
»Das wäre sehr schön.« Doch dann stutzte Leonie. »Ich kann sie mir aber nicht allein anlegen.« Sie seufzte.
»Ja, da hast du recht.« Es lag ein besonderer Tonfall in ihrer Stimme, der Leonie aufhorchen ließ. »Wie hat dir Holger gefallen?« Selma ahnte, dass Leonie zu stolz war, um von sich aus zu fragen.
»Wer ist Holger?« Der Name war zwar gefallen, doch Leonie hatte ihn bisher nicht gehört.
»Der junge Mann, der gestern deinen Knebel bewundert hat.« Selma hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.
Als Antwort keuchte Leonie. Erst dann erkannte sie, dass Selma noch auf eine Antwort von ihr wartete. »Er hat weder gelacht noch war er abgestoßen.« Leonie erzählte, dass sie sofort fasziniert gewesen war von diesem Mann, der so ganz andere Reaktionen gezeigt hatte, als sie es sonst gewöhnt war.
Selma verstand sofort, was Leonie eigentlich gesagt hatte, und deswegen war es jetzt Zeit für die nächste Überraschung. »Er wird dich heute abholen.« Sie versuchte, es möglichst beiläufig zu sagen.
»Wieso abholen?« Leonie glaubte sich verhört zu haben. »Ich bin doch auf der Generalprobe.«
»Er wird dich als eine der gefangene Dienerinnen durch die Stadt führen, wenn du die Katerina begleitest.« Sie strich Leonie über den Kopf. »Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich das über deinen Kopf hinweg einfach entschieden habe.«
Auf einmal begriff Leonie, welch außergewöhnliche Chance sich für sie bot.
»Er freut sich ebenfalls auf dich.« Selma war ein wenig wehmütig.
Auf einmal brach Leonie in Hektik aus. »Wann kommt er, wie sehe ich aus?«
»Jetzt bleib mal ruhig, ich sorge schon für alles.« Selma hatte geahnt, wie Leonie reagieren würde. »Die Probe beginnt gegen halb elf, er wird dich um 10 Uhr abholen.«
* * *
Wieder wurde Sophie wach, weil sie Geräusche hörte. Noch etwas verschlafen machte sie ihre Augen auf. Wie schon vorgestern stand Michael an dem winzigen Herd und war mit dem Frühstück beschäftigt. Der Tisch war fast noch schöner gedeckt, und Sophie lächelte, als sie sah, dass er sogar die Blumen von gestern neu arrangiert hatte.
»Franz-Ferdinand kommt heute schon etwas früher, wir müssen uns beeilen.« Er lächelte etwas verlegen, als er sah, dass Sophie erwacht war. »Einen wunderschönen guten Morgen, Prinzessin.«
»Bitte sage nicht Prinzessin.« Sophie war ein wenig verlegen. »Das erinnert mich zu sehr an die Vergangenheit.« Doch dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. »Dir auch einen guten Morgen.« Eine Frage lag ihr auf den Lippen, doch noch traute sie sich nicht, sie auszusprechen.
»Schon wieder so herrisch.« Michael lächelte, als er ihre Verlegenheit erkannte.
Sophie erschrak ein wenig, dann wurde sie etwas traurig. »Es ist nicht so einfach, die alten Gewohnheiten loszuwerden.« Sie seufzte.
»Heute ist die Generalprobe für das Fest morgen, und er nimmt daran teil.« Michael gab wieder, was er gestern vom Neffen des Barons erfahren hatte. »Er hat dafür noch einiges zu erledigen, und deswegen kommt er heute früher.«
Sophie grübelte, ob sie ihn nicht einfach um ihre Befreiung bitten konnte. Doch sie hatte Angst vor der Welt da draußen, und hier in diesem kleinen Raum war sie geschützt. Natürlich wusste sie, dass sie sich eines Tages ihrer jüngeren Vergangenheit stellen musste, aber im Moment war es ihr mehr als recht, dass sie es noch etwas hinauszögern konnte. Sie erhob sich seufzend. »Ich mache mich kurz frisch.« Sie hatte genügend Respekt vor Michael, um sich nicht ungepflegt an den Tisch zu setzen.
* * *
»Ich kann mich gar nicht bewegen?« Doris war sehr verwundert, als sie erwachte. Normalerweise trug sie im Bett neben ihrem Nachthemd nur das leichte und kurze Kettengeschirr. Sie blickte sich um und sah, dass sie in der ganz strengen Weise auf ihr gemeinsames Bett gekettet war.
»Dir auch einen guten Morgen.« Theo stand vor dem Kleiderschrank und blickte ein wenig besorgt auf seine Verlobte. »Wie hast du geschlafen?« Er trat auf sie zu und begann, die Ketten zu lösen, die sie auf das Bett fixierten.
»Gut.« Doris war noch dabei, wach zu werden. Fasziniert sah sie zu, wie ihr Verlobter sie langsam von dem Bett befreite.
Das Bett hatten sie sich bald nach ihrer Verlobung angeschafft und dabei darauf geachtet, dass es leicht um diverse Fesselmöglichkeiten erweitert werden konnte. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein normales Bett aus Holz, doch wenn man genauer hinsah, entdeckte man die vielen zusätzlich eingeschraubten Metallösen auf der Seite von Doris, die es erlaubten, sie fast völlig unbeweglich auf dem Bett zu fixieren. Trotzdem nutzen sie diese Spielmöglichkeit eher selten. Meistens landeten sie wegen Müdigkeit im Bett und blieben einfach so liegen.
»Du warst so unruhig, dass ich dich einfach fixieren musste, sonst hätte ich kein Auge zu bekommen.« Theo lächelte etwas verlegen.
»Wir sollten uns öfters Zeit dafür nehmen.« Doris lächelte. »Ich habe wunderbar geträumt.«
»Das könnte aber auch mit dem Tag heute zu tun haben.« Theo schmunzelte. »Die Dienerin der Katerina wird in Ketten durch die Stadt geführt.«
Doris wartete, bis die Fixierungsketten gelöst waren, dann erhob sie sich und fiel ihrem Verlobten um die Hals. »Ich bin ja so glücklich. Alle werden meine Ketten sehen und es wird keinen stören.«
»Vergiss aber nicht, dass es nur für das Fest ist.« Es tat Theo etwas weh, dass er Wasser in den Wein gießen musste. Doch er wusste, dass die Leute die Ketten seiner Verlobten sonst sehr ablehnend betrachteten würden und für ihre Leidenschaft kein Verständnis zeigten.
»Ich weiß doch, mein Schatz.« Doris seufzte. »Trotzdem ist heute mein großer Tag.«
»Meine kleine süße Dienerin.« Er streichelte ihr liebevoll durchs Gesicht. »Jetzt lass uns frühstücken.« Er zog sie vom Bett hoch. »Ich muss die Armreife für Leonie noch fertig machen.«
* * *
»Frau Baseling macht es wirklich sehr spannend.« Frederike legte die Zeitung auf den Frühstückstisch und blickte stolz auf ihre Tochter. »Man sieht viel, und doch hat sie noch nichts verraten.«
»Es ist nur zu erkennen, dass das Kleid keine Arme hat.« Selbst Mrs. Potter hatte sich entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten schon mit der Zeitung befasst. Das Foto von Maria im Katerinenkleid prangte dort auf der Titelseite.
»Ich bin schon sehr gespannt.« Maria lächelte. »Aber erst muss ich die Ketten tragen.«
»Wann beginnt heute die Probe?« Frederike war über die Detailplanung noch nicht informiert.
Mrs. Potter nannte die Uhrzeit. »Eine halbe Stunde vorher werden sie abgeholt.«
»Warum muss der Umzug eigentlich geprobt werden?« Frederike war ein wenig verwundert. »War das beim letzten Mal auch?«
»Vor sieben Jahren gab es Probleme mit den Ketten.« Mrs. Potter gab wieder, was sie von Frau Bayer erfahren hatte. »Dieses Mal wollen sie auf Nummer sicher gehen.«
»Aber der Umzug findet doch nicht zweimal statt?« Der Tonfall von Marias Mutter hatte sich noch nicht geändert.
»Nein.« Mrs. Potter lächelte. »Nur die Wachmannschaft und die Katerina mit ihren Dienerinnen gehen die Route ab. Es ist quasi nur ein Spaziergang.«
»Ein Spaziergang in Ketten sozusagen.« Maria ergänzte es mit wichtiger Stimme. »Und es wird noch mal besprochen, was auf dem Marktplatz zu tun ist.«
Das Telefon klingelte.
Mrs. Potter stand gewohnheitsmäßig auf, doch dann blickte sie etwas verlegen zu Marias Mutter. Erst als diese eine Handbewegung machte, ging sie auf den Flur zum Telefon.
Doch gleich darauf war ihre Stimme zu hören. »Frau Beller, es ist für sie.«
»Nanu, woher wissen die, dass ich hier bin?« Frederike erhob sich etwas verwundert und ging zum Telefon.
Gleich darauf kam sie zurück und setzte sich wieder an den Tisch. Sie blickte Maria einige Zeit an. »Es war die Reporterin, die den schönen Artikel geschrieben hat.« Sie lächelte. »Ich habe mich schon einmal bei ihr dafür bedankt.«
»Und was wollte sie?« Maria blickte ihre Mutter neugierig an.
»Der Fotograf lässt anfragen, ob er ein Foto vom Venuskorsett machen darf.« Frederike griff noch einmal zu ihrer Kaffeetasse und nahm einen Schluck.
»Und was hast du geantwortet?« Maria war noch dabei zu verarbeiten, dass sie ein ganz außergewöhnliches Kunststück beherrschte.
»Er soll uns ein Angebot machen.« Frederike war gegenüber der Presse immer etwas misstrauisch, auch wenn die bisherige Arbeit von Frau Baseling keinen Anlass zur Klage bot. »Wenn es dir zusagt, dann soll er das Foto meinetwegen machen.«
* * *
»Ich brauche eure Hilfe und eure Verschwiegenheit.« Franz-Ferdinand hatte sich mit zwei seiner Freunde aus der Burschenschaft im Schloßpark getroffen. Hier war er sicher, ungestört zu sein und auch nicht einmal aus Versehen gehört zu werden. Er erklärte seinen Freunden den Plan, den er sich ausgedacht hatte.
»Also noch einmal im Klartext.« Fritz blickte ihn verwundert an. »Wir sollen jeder eines der Mädchen belästigen und bedrängen, so dass du dich als Retter aufspielen kannst.«
»Aber bitte nacheinander.« Franz-Ferdinand präzisierte seinen Plan. »Am besten einer beim Bäcker und einer vielleicht bei der Sparkasse.«
»Und unsere Rolle sind also die Bösewichte.« Klaus war verwundert. »Was sollen wir denn machen?«
»Es sollte reichen, ihnen etwas zu nahe zu kommen und sie vielleicht anzufassen.« Er war etwas verlegen. »Spätestens dann werde ich eingreifen.« Er berichtete von den Aufgaben, die der Wachmannschaft angedacht waren.
»Und du möchtest, dass es echt aussieht?« Klaus gab wieder, was es verstanden hatte.
»Das wäre schon gut.« Franz-Ferdinand hatte sich darüber schon einige Gedanken gemacht. »Es muss zumindest glaubhaft sein, sonst wird mein Plan nicht aufgehen.«
»Das wird wieder ein paar blaue Flecken geben.« Fritz stöhnte ein wenig. »Wofür brauchst du das eigentlich?«
»Ich muss mir das Vertrauen von Carlos verdienen.« Franz-Ferdinand hoffte, dass er den Chef der Wachmannschaft richtig einschätzte.
»Und was hast du vor?« Klaus hatte begriffen, dass sie nur der erste Teil des Planes waren.
»Je weniger ihr wisst, desto weniger könnt ihr ausplaudern.« Er senkte den Kopf, um zu bekräftigen, dass seine Freunde nicht nachhaken sollten.
»Also gut. Wir machen es.« Fritz und Klaus blickten sich kurz an. »Aber dann haben wir etwas gut bei dir.«
»Aber sicher.« Franz-Ferdinand war erleichtert. »Großes Ehrenwort.«
* * *
»Jetzt sei doch nicht so nervös.« Paul blickte etwas genervt auf seine Freundin, die ständig zum Fenster lief und hinausschaute. Sie hatte sich schon umgezogen und trug die Ketten, die beim Gehen leise klirrten.
»Ich bin so aufgeregt.« Maria drehte sich zu ihm um und lächelte ihn an. »Der Prinz ist ja noch nicht dran.«
Dass das Abholen der Katerina durch den Prinzen heute nicht mehr geprobt wurde, wusste Paul. Er war erst am Nachmittag dran. Trotzdem war auch er sehr gespannt auf den heutigen Tag, an dem alle drei Tage des Festes noch einmal durchgespielt wurden, um eventuelle Probleme erkennen zu können, bevor sie das Fest stören konnten.
»Soll ich mich räuspern?« Mrs. Potter versuchte streng zu klingen, doch in Anwesenheit von Marias Mutter und den anstehenden Ereignissen gelang es ihr nicht.
»Schon gut, ich werde mich hinsetzen.« Maria hatte natürlich sofort erkannt, in welcher Stimmung ihre Erzieherin wirklich war, trotzdem nahm sie es zum Anlass, um sich etwas zu beruhigen.
Es klingelte. Wie gewohnt ging Mrs. Potter zur Tür. »Guten Tag, Frau Bayer.« Sie reichte Marias Betreuerin auf dem Fest die Hand. »Sie sind etwas früh dran.«
»Ich habe noch ein Anliegen.« Zunächst war es etwas verlegen, doch dann hatte sie eine Idee. »Vielleicht können sie mir einen Rat geben, wie ich es Maria am Schonendsten beibringen kann.« Sie trug ihr Anliegen vor.
»Ich werde ihnen helfen.« Mrs. Potter lächelte. »Im Grunde ist es ganz einfach. Folgen sie mir.«
Renate betrat hinter der Erzieherin das Esszimmer. »Guten Morgen allerseits.« Sie gab allen Anwesenden die Hand. Marias Mutter blickte sie etwas länger an.
Frederike erhob sich. »Ich muss noch etwas vorbereiten.« Sie verließ das Zimmer, gleich darauf hörte man ihre Schritte auf der Treppe.
»Was führt sie schon so früh zu uns?« Mrs. Potter zwinkerte ihr zu.
»Maria, wir haben dich verkauft.« Renate war mehr als verlegen.
Maria lächelte. »Das kommt mir doch bekannt vor.« Sie griff sich Pauls Hand und drückte sie. »Was ist es denn dieses Mal?«
»Du musst...« Es fiel Renate sehr schwer, ihr Anliegen vorzutragen. Sie zögerte etwas.
»Ein Sponsor verlangt, dass du die Ballettstiefel trägst.« Mrs. Potter erkannte, dass sie Renate bei ihrem Anliegen helfen konnte. Sie versuchte dabei keine Gefühlsregung zu zeigen.
»Und wann?« Auch Paul blieb eher nüchtern. Schließlich kannte er die Fähigkeiten seiner Freundin, auch wenn er deswegen großen Respekt vor ihr hatte. »Doch nicht bei der Heimkehr?«
»Nein, meine Güte.« Renate war erleichtert, dass es ausgesprochen war. »Gewünscht ist, dass der Verlobungstanz mit den Stiefeln getanzt wird.«
»Mehr nicht?« Maria blickte Paul verliebt an. »Weißt du noch... In der Klinik, wo wir auch dazu gesungen haben?«
»Du hast..« Renate war noch sehr verwundert. »Du hast das schon mal gemacht?«
»Naja, es war mehr aus Verlegenheit, weil ich die Stiefel sowieso gerade trug.« Maria fiel der verwunderte Gesichtsausdruck auf. »Wir sollten die Festinhalte etwas auffrischen.«
Renate war sprachlos. Dass es so einfach sein würde, hatte sie bei weitem nicht erwartet.
»Wenn ich die Stiefel trage, wird mein Körper so weit wie möglich gestreckt, und dadurch weitet sich auch der Brustkorb.« Sie gab wieder, was sie über die Haltung gelernt hatte. »Damit ist das Tragen des Gebets sogar etwas einfacher.«
»Du willst damit sagen, dass es dir überhaupt nichts ausmacht, die Stiefel zu tragen?« Renate war verwundert.
»Ich hatte schon darüber nachgedacht, die Stiefel heimlich unter das Kleid zu schmuggeln.« Sie wurde ein wenig rot dabei. Sie hätte es nicht gesagt, wenn ihre Mutter im Raum gewesen wäre.
Renate hatte ursprünglich geplant, die Schlösser, die ihr der Notar gegeben hatte, nicht zum Einsatz zu bringen, doch jetzt erkannte sie, dass sie den Wunsch des Sponsors doch eher unbesorgt äußern konnte. »Die Stiefel müssten auch verschlossen werden.« Sie legte die beiden offenen Schlösser auf den Tisch. Schlüssel waren keine dabei.
»Wer hat die Schlüssel?« Mrs. Potter spürte, dass sie sich einmischen musste.
»Die Schlüssel sind bei einem Notar hinterlegt.« Renates Stimme zeigte, wie sehr sie sich über die Absurdität dieser Forderung wunderte.
»Wieso ein Notar?« Paul war ebenfalls verwundert.
»Der Sponsor möchte sicher gehen, dass sein Wunsch auch respektiert wird.« Renate hatte sich auf einige Fragen sicherheitshalber schon Antworten zurecht gelegt.
»Die Schlüssel haben auch den Vorteil, dass mir auch sonst keiner die Stiefel ausziehen kann.« Maria blickte Paul ein wenig rätselhaft an. »Wer weiss, wer mich noch alles retten möchte.«
Paul lächelte hintergründig.
»Was ist genau verlangt?« Mrs. Potter wollte möglichst den genauen Umfang dieser besonderen Wünsche kennenlernen.
»Die Schlösser müssen vor dem Verlobungstanz angelegt werden, und danach müssen die Stiefel vorgeführt werden.« Renate berichtete, dass sie das mit dem Notar ausgehandelt hatte. »Das passiert natürlich in einem extra Raum und nicht vor allen Leuten.«
»Schade.« Maria lächelte. »Ich trage die Stiefel eigentlich gern.« Maria spürte, dass sie so Renate ein wenig die Sorgen mindern konnte. »Ich hätte nichts dagegen, sie jedermann zu zeigen.«
»Ich werde es ansprechen.« Renate kramte sich ihren Block heraus und machte sich eine Notiz. Sie wollte aber auch etwas Zeit gewinnen, um über das nachzudenken, was sie gerade erfahren hatte. Bestimmt hatte sie sich verhört. Welchen Sinn sollte es machen, ein junges Mädchen in diese Stiefel zu zwängen und sie dann auch noch darin einzuschließen? Sie nahm sich vor, Maria auf dem Ball sofort zur Seite zu sein und die Schlösser wieder zu öffnen, wenn der Notar mit ihr fertig war.
* * *
Holger war sehr nervös, als er mit einem großen Blumenstrauß vor dem Haus von Selma stand. Seine Mutter hatte ihm gesagt, welche Rolle ihm auf dem Fest zugedacht war, und jetzt klopfte sein Herz sehr laut, weil er diese sehr faszinierende Frau wiedersehen durfte. Fast etwas schüchtern drückte er auf die Klingel.
»Leonie, machst du bitte auf? Das wird Theo sein.« Selma hatte natürlich schon gesehen, wer vor der Tür stand, doch sie wollte Leonie etwas die Befangenheit nehmen.
Leonie ging seufzend zur Tür. Jetzt würde sie auch noch diese so gemeinen Armreifen bekommen, die ihren Bewegungsfreiraum so drastisch einschränkten.
Langsam öffnete sie die Tür... und erstarrte. Vor ihr stand der junge Mann, der ihr gestern den Knebel weiter aufgeblasen hatte.
»Guten Tag, Frau Wolkenberg.« Holger reichte ihr die Hand. »Ich wollte sie für den Umzug abholen.« Er gab wieder, was ihm gesagt worden war. »Ich soll auf sie aufpassen.«
Leonie war nicht zu einer Antwort fähig. Sie starrte ihn an und zitterte.
»Leonie, du bist unhöflich.« Selma stand in der Esszimmertür und hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. »Willst du unseren Gast nicht herein bitten?«
»Entschuldigen sie bitte.« Leonie hatte Mühe, ihre Fassung zu bewahren. »Kommen sie bitte herein.«
»Führst du ihn bitte ins Esszimmer?« Selma kam näher. »Theo hat angerufen, er lässt ausrichten, dass es noch ein wenig dauert.« Letzteres war so nicht geplant gewesen, aber es kam Selma und ihrem Plan zugute. »Holger ist der Sohn der Nachbarin, ich glaube, ihr solltet euch duzen.« Sie wusste, dass sie ihnen ein wenig die Scheu nehmen musste.
Leonie reichte ihm noch einmal die Hand. »Ich bin Leonie.«
»Es freut mich sehr, dich kennenzulernen.« Holger war sehr aufgeregt. »Ich bin Holger Künzle vom Nachbargrundstück.«
»Das gestern war...« Leonie wollte sich entschuldigen. Es störte sie gewaltig, dass ihr Traummann sie in diesem Zustand gesehen hatte.
»Sehr faszinierend.« Holger setzte den Satz fort, als er bemerkte, dass Leonie zögerte.
Leonie hob ihren Kopf. »Es hat ihnen gefallen?« Sie bemerkte ihren Fehler. »Es hat dir gefallen?«
»Ketten mag ich ja weniger.« Holger wusste aus einigen Fehlversuchen, dass es gerade in diesem Umfeld wichtig war, gleich die Fronten abzuprüfen. »Ich mag lieber die Lederfesseln, Monohandschuh, Zwangsjacke und so weiter.«
Leonie war zunächst sprachlos. Nur langsam hob sich ihr Kopf. »Ich würde dir gern mal meine Kleidersammlung zeigen.« Sie wusste nicht, woher ihre Worte kamen.
»Leichte Demütigungen mag ich auch, wie zum Beispiel das Sabbern wegen eines Knebels.« Holger erging es ähnlich.
»Wir reden, als ob wir uns schon ein Leben lang kennen.« Leonie war fasziniert.
»Vielleicht ist es ja sogar so.« Holger blickte Leonie lange ins Gesicht. »Seelenverwandtschaft oder so.«
Leonie war sprachlos.
»Du magst die Ketten?« Holger glaubte immer noch zu träumen.
»Eigentlich nicht, aber sie vermitteln mir das Gefühl des Gefangenseins sehr deutlich, weil sie mich durch das Geräusch ständig dran erinnern« Leonie lächelte verlegen. »Ich habe mich einfach auf ein Abenteuer eingelassen, von dem ich nicht wusste, was es bringen würde.«
»Ich habe dich hier noch nie gesehen, obwohl wir hier schon lange wohnen.« Holger schaute immer noch sehr fasziniert auf die Frau in Ketten, die vor ihm stand.
»Das ist eine lange Geschichte.« Sie lachte nervös. »Eigentlich ist Maria schuld.«
»Die Freundin von Paul?« Holger sagte, dass er sie vom Sehen her kannte.
»Ja, genau die.« Leonie blickte kurz aus dem Fenster. »Es hängt mit einer Berghütte zusammen, aber das ist eine lange Geschichte.«
»Leonie, du wiederholst dich.« Selma stand auf einmal neben ihr und blickte das Paar ein wenig verlegen an. »Ich störe euch ja nur ungern, aber ihr müsste euch noch eine Leine aussuchen, mit der ihr am Fest teilnehmen wollt.«
Pauls Oma trat auf die Beiden zu und legte drei Hundeleinen vor ihnen auf den Tisch. Eine bestand nur aus Leder, eine war fast nur aus Ketten und bei der dritten hielten sie die Materialien die Waage. »Sucht euch eine aus.« Selma trat zurück.
»An der Leine?« Holger hatte die diesbezüglichen Äußerungen bisher für einen Scherz gehalten. Er äußerte dies.
»Das ist das Symbol für die Geisel.« Leonie strahlte. »Schließlich stellen wir Gefangene dar.«
»Das ist mit dem Festvorstand so abgesprochen.« Selma gab wieder, was sie von der letzten Versammlung wusste. »Die Katerina und ihre Dienerinnen tragen Ketten und werden an einer Leine geführt.«
»Es ist wie ein Traum.« Leonies Stimme war leise.
»Sucht euch die Leine aus, die euch am besten gefällt.« Selma zeigte noch einmal auf den Tisch, auf den sie die drei Leinen gelegt hatte.
»Das ist hochwertiges Material.« Holger streckte seine Hand aus, um die Leine komplett aus Ketten in die Hand zu nehmen.
Leonie hatte die selbe Idee, und so kam es, dass sich ihre Hände trafen und sie deswegen in der Bewegung innehielten.
»Ich unterbreche das junge Glück ja nur ungern, aber ich müsste Leonie jetzt die bestellten Fesseln anpassen.« Theo stand auf einmal im Raum, und hinter ihm wartete seine Verlobte Doris.
»Entschuldigung, dass wir so spät sind.« Doris war ein wenig verlegen. »Wir mussten uns noch umziehen, weil wir gleich zum Festplatz wollen.«
»Aber bis zum Beginn der Probe ist doch noch Zeit?« Selma blickte auf die Uhr.
»Wir haben dort vorher noch etwas zu tun.« Theo legte die neuen Ringe für Leonie auf den Tisch. »Kommst du bitte?«
»Noch strenger?« Holger war erstaunt. »Du trägst doch schon überall Ketten.«
»Aber nicht auf dem Rücken zwischen den Ellenbogen.« Theo trat vor und bat Leonie, ihre Arme auf den Rücken zu legen.
Leonie blickte einmal kurz zu Holger. »Ich hoffe, es stößt dich nicht ab.« Sie blickte verschämt zu Boden. »Ich mag es, wenn es so streng ist.«
»Aber dann kannst du die Arme kaum noch bewegen.« Holgers Stimme zeigte deutlich seine Faszination.
Leonie war verlegen. »Ich mag es, wenn ich gefangen bin.« Sie versuchte still zu halten, während Theo mit den Ringen beschäftigt war.
Nur Selma fiel es auf, dass auch Doris neben ihren Ketten auch schon eine Leine trug, die im Moment vor ihrem Körper baumelte.
* * *
»Was wirst du ihr anbieten?« Andrea und Hans waren mit dem Auto unterwegs zu Frederike Beller. Der Fotograf hatte um diesen Termin gebeten, um die Erlaubnis für einige ganz spezielle Fotos zu bekommen.
»Ich weiß es nicht.« Hans war etwas resigniert.
»Du weißt es nicht?« Andrea trat in die Bremsen. »Ich habe dir extra den Termin bei ihnen besorgt, und du hast dir nichts überlegt?« Ihre Stimme zeigte, wie wütend sie war.
»Mir ist nichts eingefallen.« Er war etwas kleinlaut. »Geld wird sie nicht haben wollen. Ich kann ihr höchstens anbieten, dass ich sie bei dem Katalog unterstütze, den sie machen möchte.«
»Sonst hast du nichts anzubieten?« Andrea war noch nicht besänftigt. Andererseits wusste sie, wie wenig sein Fotostudio abwarf. »Was willst du überhaupt mit den Fotos machen?«
»Ich kenne ein paar Leute, die für so ein Foto viel Geld zahlen würden.« Hans sprach leise.
»Und wenn du ihnen eine Beteiligung anbietest?« Andrea hatte kein Gefühl dafür, was so ein Foto einbringen konnte. »Zwanzig Prozent von deinen Einnahmen wäre doch fair, oder?«
»Meinst du?« Hans war erleichtert.
»Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass jemand für Unterwäsche-Fotos so viel Geld zahlt, aber eine Erfolgsbeteiligung ist doch fair.« Dass er auf diese Weise nicht in Verlegenheit kam, sich zu verschulden, behielt sie lieber für sich.
»Das ist nicht nur Unterwäsche.« Hans brauste auf. »Das Venuskorsett ist eine Legende. Maria kann das Gebet, und das ist eigentlich eine Sensation.«
»Wir sind da.« Andrea hielt an. Sie war froh, dass sie so vom Thema ablenken konnte. »Lass besser mich reden.« Sie seufzte. Ihr Freund war zwar ein begnadeter Fotograf, doch ein schlechter Geschäftsmann. Und verhandeln konnte er erst recht nicht.
Gleich nach der Begrüßung bedankte sich Frederike noch einmal für die vielen schönen Artikel, die Andrea bisher geschrieben hatte. »Eine schöne Arbeit.«
»Danke.« Andrea war ein wenig verlegen.
»Sie benutzen nicht alles Wissen, dass sie haben?« Frederike hatte gelernt, auch zwischen den Zeilen zu lesen. »Sie haben das geschickt aufgebaut.«
»Ja, ich brauchte einen Spannungsbogen, der für sechzehn Artikel reichte.« Andrea fühlte sich geehrt. »Und der eine oder andere besondere Artikel kam dann auch noch dazu.«
»Und jetzt möchten sie Bilder von meiner Tochter machen.« Frederike hatte sich schon mit dem Anliegen des Fotografen beschäftigt. Seit dem Gespräch mit dem Notar wusste sie, dass Maria in Zukunft keine Geldsorgen mehr haben würde. »Was haben sie anzubieten?«
»Uns ist nichts eingefallen.« Andrea blickte mit etwas Bedauern auf ihren Freund. »Wir könnten ihnen höchstens eine Beteilung an den Erlösen anbieten.«
»Geld interessiert uns nicht.« Frederike war ein wenig enttäuscht. »Warum wollen sie das Foto überhaupt machen?«
»Ihre Tochter ist in der Lage, ein Venuskorsett zu tragen.« Hans war auf einmal aufgeregt. »Das ist etwas ganz Außergewöhnliches. Geradezu legendär.«
»Das weiß ich.« Frederike ließ sich nicht beeindrucken. »Aber warum müssen sie es unbedingt ablichten?«
»Ich habe Kontakte zu gewissen Leuten, die diese Kunst schätzen.« Hans begriff, dass er ehrlich sein musste. »Sie würden sehr viel Geld für so ein Bild zahlen.«
»Wie wäre es, wenn wir ein Kunstprojekt daraus machen?« Frederike hatte schon eine Ahnung. »Wir machen einen Fotoband mit Hochglanzfotos, der pro Band 200 DM kostet.«
»Davon habe ich schon oft geträumt.« Hans war fast sprachlos. »Aber ich kann das nicht finanzieren.«
Andrea war über die plötzliche Wendung sehr erstaunt. »Wer würde das Risiko tragen?«
»Ich kümmere mich um alles.« Frederike wusste, dass das Konsortium ihr die Bücher sicher aus der Hand reißen würde. »Und die Erlöse teilen wir uns.«
»Das ist mehr als fair.« Andrea reichte Marias Mutter die Hand.
* * *
»Frau Bayer hat gesagt, dass ihr einfach mit gehen sollt.« Selma berichtete von dem Telefonat, das sie gerade geführt hatte. Anna und Florian hatten den Wunsch geäußert, beim Fest zu helfen, und Carlos hatte sie sofort als weiteres Wachpersonal gebrauchen können. »Die Kostüme bekommt ihr morgen Vormittag.«
»Und du mutest dir nicht zuviel zu?« Florian war wie üblich etwas besorgt um seine Frau. »Du musst doch auch noch Flöte spielen.«
»Aber das mache ich doch erst am Nachmittag.« Anna war ein wenig genervt wegen seinen übergroßen Besorgnis. »Wir müssen uns für die viele Hilfe bedanken, die wir bekommen haben.«
»Du hast ja recht.« Florian nahm seine Frau in den Arm. »Dann spielen wir also die Wächter.«
»Das hast du aber nicht richtig verstanden.« Selma war den Worten gefolgt. »Die Wächter haben auf dem Fest eine wichtige Aufgabe.«
»Und zwar?« Florian hob den Kopf.
»Sie müssen auf die hilflosen Mädchen aufpassen.« Selma blickte kurz zu Leonie. »Die Katerina und ihre Dienerinnen tragen Ketten und sind damit nicht nur optisch hilflos.« Sie gab einen Überblick über die historischen Ereignisse, die zu dem Fest geführt hatten.
»Ich bin so aufgeregt.« Leonie strahlte und versuchte, Holger zu umarmen. Doch sofort zeigten ihr die neuen Ketten ihre geringe Bewegungsfreiheit auf.
»Ihr geht auch mit?« Florian war etwas verwundert.
»Ja«, bestätigte Holger. »Frau Mohr hat dafür gesorgt.« Er streichelte Leonie über den Kopf.
»Der Bus müsste gleich da sein.« Selma erzählte von dem Kleinbus, der diesmal auch schon für die Generalprobe bestellt worden war. »Damit ihr nicht schon am Sportplatz erschöpft seid.«
* * *
»Schau mal, wer da ist.« Paul zeigte aus dem Fenster des Kleinbusses, als dieser am Sportplatz angekommen war. Als Darsteller des Prinzen hatte er bei der 'Heimkehr' keine Rolle, doch er hatte es sich nicht nehmen lassen, trotzdem zur Probe mitzukommen.
»Wen meinst du?« Maria sah, dass schon einige Personen auf dem Sportplatz versammelt waren.
»Das sind doch Amelie und Leonhard.« Paul zeigte in die entsprechende Richtung. »Und sogar mit Kostümen.«
»Davon wusste ich gar nichts.« Maria war überrascht. »Aber es wundert mich nicht, dass sie sich so eine Gelegenheit nicht entgehen lässt.«
»Wie sie strahlt.« Paul lächelte. »Ob sie weiß, dass eigentlich ein trauriges Gesicht gefragt ist?«
Maria lachte.
»Frau von Grünberg hatte uns angeschrieben, ob es möglich wäre, auch an dem Fest teilzunehmen.« Renate berichtete von den etwas hektischen Vorbereitungen für die noch so spät dazugestoßenen Gäste. »Jetzt steigt erst einmal aus.«
»Diese Gelegenheit konnte ich mir nicht entgehen lassen.« Amelie strahlte, als die freudige Begrüßung vorbei war. »Wir sind sehr gespannt auf das Fest.«
»Kostüme habt ihr auch schon bekommen?« Maria war beeindruckt.
»Ja, wir haben wohl für etwas Wirbel gesorgt.« Leonhard war ein wenig verlegen.
»Das kann man wohl sagen.« Renate machte zunächst ein genervtes Gesicht, doch dann lachte sie. »Ihr habt mich ganz schön auf Trab gehalten.«
»Und ich habe Teile meines Sonntagsgeschirrs geopfert.« Doris trat hinzu. »In so kurzer Zeit wäre eine komplette Neuanfertigung nicht möglich gewesen.« Sie blickte verliebt zu Theo. »Er macht mir ein neues.«
»Auch von unserer Seite noch einmal recht herzlichen Dank für die so schnelle und doch auch sehr präzise Arbeit.« Amelie war auf einmal die vornehme Dame. »Es sitzt sehr gut.«
Theo verbeugte sich.
»Wir haben ihnen viel Unannehmlichkeiten bereitet. Wir möchten uns dafür bedanken und sie auch zu unserer Hochzeit einladen.« Er reichte Theo und Renate jeweils einen Umschlag. »Wir würden uns über euer Kommen sehr freuen.«
»Hast du die Einladung für Paul und Maria auch dabei?« Amelie blickte ihren Verlobten verliebt an.
»Ich füchte, die habe ich im Hotel vergessen.« Leonhard wurde auf einmal etwas rot. »Das holen wir noch nach. Aber ihr seid auf jeden Fall auch eingeladen.«
»Und, habt ihr euch schon über den Handschuh zum Kleid einigen können?« Paul erinnerte sich an das Gespräch auf dem Schloß der Grünbergs.
»Sehr viel besser.« Amelie strahlte. »Es ist ein Kleid, bei dem der Monohandschuh im Kleid integriert ist.«
»Es geht auf den Entwurf eines Holländers zurück.« Leonhard berichtete, dass sie durch Zufall auf den Korsettschneider gestoßen waren. »Herr van der Klis hat uns sogar bei der Anfertigung des Kleides unterstützt.«
»Und die Verwandtschaft ist damit einverstanden?« Maria hatte ein gewisses Leuchten in den Augen.
»Danke, dass du sie überzeugen konntest.« Amelie gab ihrem Verlobten einen Kuss.
»Das Kleid ist im Rücken quasi doppelt gearbeitet.« Leonhard versuchte das Konzept zu erklären. »Zunächst mal kann sie es anziehen und ihre Arme sind noch frei.«
»Schließlich müssen wir in der Kirche ja die Ringe tauschen.« Amelie strahlte bis über beide Ohren. »Und ich möchte auch mit dir tanzen und natürlich auch würdevoll essen.«
»Aber in der Zeit dazwischen trägt sie die Arme auf dem Rücken in der Monohandschuh-Haltung.« Leonhard erklärte fasziniert, dass die zweite Rückenlage dann einfach mit einem Reißverschluß geschlossen werden konnte. »Es ist aus Seide und sieht sehr elegant aus.«
»Und der Brautstrauß steckt vorn in einer extra Tasche dafür.« Sie gab ihrem Verlobten wieder einen Kuss.
»Ich bin sehr gespannt.« Maria warf einen kurzen Blick zu Paul.
»Ich glaube, es geht los.« Renate sah, dass Carlos mit dem Rest der Wachmannschaft auf sie zu kam. Anna und Florian waren in der Gruppe dabei und stachen ein wenig hervor, weil sie noch kein Kostüm trugen. In ihrer Mitte waren Leonie und Holger, die sichtlich voneinander fasziniert waren.
»Ich möchte euch noch einmal daran erinnern, dass ihr die Geiseln darstellt und deswegen ein trauriges Gesicht zu machen habt.« Renate war es natürlich bewusst, was dieser Auftriutt den Mädchen wirklich bedeutete. »Und nun viel Spaß auf dem Weg.«
* * *
»Ich denke, wir waren erfolgreich.« Selma lächelte, als sie ihrer Nachbarin Aberta Künzle von ihrer Verkuppelungsaktion berichtete.
»Jetzt komme erst einmal herein.« Alberta bat die Freundin in ihr Wohnzimmer. »Und du meinst, es hat bei den beiden gefunkt?«
»Ich bin mir ziemlich sicher.« Selma gab sich zuversichtlich. »Im Moment sind sie auf der Generalprobe für das Fest, und Holger muss Leonie an der Leine führen.« Sie beschrieb, wie Leonie und die andere Dienerinnen zurecht gemacht waren.
»Ich wusste gar nicht, dass Holger auch auf Metall steht.« Alberta war verwundert.
»Tut er auch nicht.« Selma lächelte. »Aber dass er ein gefesseltes Mädchen an der Leine führen darf, gefällt ihm trotzdem.«
»Das Fest ist ein außerordentlicher Glücksfall.« Die Nachbarin blickte etwas nachdenklich aus dem Fenster. »Schade, dass es schon bald wieder vorbei ist.«
»Sie werden zusammen bleiben.« Selma gab wieder, wie sie die beiden Akteure einschätzte. »Außerdem habe ich noch eine Überraschung für die beiden.«
»Was ist es denn?« Alberta war verwundert.
»Ich habe ein altes Ballkleid von früher reinigen und überarbeiten lassen. Das wird Leonie auf dem Ball tragen.« Selma erzählte ein wenig aus ihrer Vergangenheit als Erzieherin. »Es war eines der Strafkleider für die Töchter von Baron Grünberg. Sie mussten es immer dann tragen, wenn sie eine Strafe abzuleisten hatte und doch aus gesellschaftlichen Gründen anwesend zu sein hatten.«
»Das klingt spannend.« Alberta schmunzelte neugierig.
»Die Arme werden mit in das Kleid eingeschlossen und zur Tarnung kommen zwei Arm-Atrappen dazu, deren Hände vorn in einem Muff stecken.« Selma berichtete von früher. »Aber ich habe es etwas umarbeiten lassen. Ein Arm wird mit einem Reißverschluß längs am Körper befestigt und den kann Holger ihr dann bei Bedarf frei machen, dann können sie zum Beispiel miteinander tanzen.«
»Das klingt echt spannend.« Alberta war begeistert.
»Und sie wird von mir in das Kleid eingenäht.« Selma beschrieb, wie das Kleid zu schließen war. »Damit war es nicht möglich, dass die junge Dame einfach einem Diener befahl, sie aus dem Kleid heraus zu lassen.«
»Von der Kaiserin Sissi hat man ja ähnliches berichtet.« Alberta schmunzelte. »Ich glaube, das wird ihnen gefallen.«
»Auf alle Fälle.« Selma war zuversichtlich. »Ich bin sicher, dass du schon die Ringe aussuchen kannst.« Sie lächelte.
»Es wäre so schön.« Die Nachbarin schwärmte.
»Wärst du auch bereit, dass Spiel mitzuspielen?« Selma wurde auf einmal etwas ernster.
»Was meinst du?« Alberta hatte den leichten Stimmungswechsel bemerkt.
»Leonie träumt davon, immer gefangen zu sein.« Selma blickte kurz aus dem Fenster. »Irgendwann wird der Traum mal vergehen, aber bis dahin könnte es vorkommen, dass du dich auch mal um sie kümmern musst.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Die Nachbarin begann die Konsequenzen zu begreifen. »Wird sie das überhaupt zulassen?«
»Es wäre ein großer Vertrauensbeweis, und du solltest dich verständnisvoll zeigen.« Selma erzählte ein wenig aus Leonies aktuellem Alltag. »Sie mag es besonders, wenn man ihren hilflosen Zustand gar nicht bemerkt und ganz normal mit ihr umgeht.«
»Oh je, auf was habe ich mich da eingelassen.« Alberta keuchte. »Ich als die böse Schwiegermutter.«
»Ihr werdet euch gut verstehen, da bin ich ganz sicher.« Selma lehnte sich zurück. »Und beim Umgang mit den Fesseln kannst du dir von mir Tipps holen.«
»Danke.« Albertas Stimme zitterte leicht.
* * *
»Bitte immer schön traurig schauen.« Renate wurde nicht müde, die Dienerinnen und die Katerina an ihre Rolle zu erinnern.
Sie waren auf dem Weg durch die Stadt auf der Strecke, die sie morgen am Freitag bei der Heimkehr von der Schlacht auch gehen würden. Beim letzten Fest hatte es eine unschöne Szene gegeben, weil die Ketten einer Dienerin zu scheuern begonnen hatten, deswegen wollte man dieses Jahr auf Nummer sicher gehen und eventuelle Probleme schon vorher feststellen.
Vorweg fuhr ein Streifenwagen, und eine Beamtin ging in der kleinen Gruppe mit. Maria hatte mit etwas Wehmut erkannt, dass es genau das Auto war, das sie auch in München vom Flughafen abgeholt hatte.
Die Tänzer bildeten einen Rahmen um die vier Mädchen, die mit ihren Aufpassern in der Mitte gingen. Es war ursprünglich so nicht geplant gewesen, doch da drei Herren die Dienerinnen an der Kette führten, wurde kurzerhand beschlossen, dass Paul als Prinz seine Geisel auch an der Kette zu führen hatte.
»Es ist zwar historisch nicht ganz korrekt, aber so sieht es besser aus.« Renate hatte es kurzerhand beim Festvorstand vorgeschlagen. Doch nach einigen kritischen Blicken fügte sie hinzu: »Wir besprechen das heute Abend noch einmal.«
Die Damen aus der Tanzgruppe waren erleichtert, denn in den Jahren zuvor hatten sie immer die Dienerinnen darstellen müssen. Jetzt liefen sie in den Kostümen der Wachmannschaft mit und waren darüber auch eher erleichtert. Alle trugen schon das Kostüm von Morgen, nur Anna und Florian trugen noch ihre Zivilkleidung. Sie hatten morgen früh einen Termin in der Kleiderkammer.
»Und ihr lebt das wirklich im Alltag aus?« Holger sprach leise, damit es nur die Umstehenden hören konnten.
»Ja, das machen wir.« Theo antwortete mit der gleichen Lautstärke. »Es ist schon sehr praktisch, wenn das eigene Haus auch gleich der Arbeitsplatz ist.«
»Und was sagen Vater und Mutter dazu?« Holger war von dem außergewöhnlichen Leben sehr fasziniert.
»Rainer ist es egal.« Theo berichtete aus dem Alltag in der Schmiede. »Ihm ist nur wichtig, dass die Arbeit gemacht wird.«
»Und die Mutter?« Holger dachte an seine eigene Lage. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie damit etwas Probleme hat.«
»Hatte sie anfangs auch.« Doris hatte bisher der Unterhaltung nur zugehört, jetzt mischte sich ein. »Aber nachdem sie erkannt hatte, wie viel es mir bedeutete, hat sie sich damit abgefunden.«
»Es gab ein langes und ernsthaftes Gespräch mit ihr.« Theo erzählte aus der Vergangenheit. »Sie hat mir deutlich gemacht, dass sie sich zwar um ihre Tochter sorgt, doch dass sie deren Glück auch nicht im Weg stehen wolle.«
»Davon weiß ich ja gar nichts.« Doris spielte die Empörte. »Wann war das denn?«
»Du darfst zwar alles essen, aber nicht alles wissen.« Theo zog kurz an der Kette, die er in der Hand hielt. »Es war am Vorabend unserer Verlobungsfeier.«
»Ich mag das Eisen ja weniger.« Holger war etwas nachdenklich. »Ich mag lieber die Lederfesseln.«
Leonie stöhnte bei den Worten auf, doch sie vermied es, sich zu ihm umzudrehen.
»Oh, ich kann dir die Adresse eines Kunstsattlers geben.« Theo blickte kurz zu Leonie, dann wandte er sich wieder Holger zu. »Er kennt sich mit sehr gut mit Kleidungsstücken für junge ungehorsame Damen aus und ist sehr kreativ. Ich glaube, erstellt hier auf dem Markt sogar aus.«
Leonie begann auf einmal zu stöhnen, und es war sogar so laut, dass Carlos aufmerksam wurde. Sofort kam er auf die Dienerin zu und fragte sie nach ihrem Wohlergehen. Leonie blickte ihn erschrocken an. »Nein, es ist alles in Ordnung.«
»Aber du hast laut gestöhnt.« Carlos nahm seine Aufgabe sehr ernst. »Ich will wissen, warum.« Er warf einen kritischen Blick auf Holger.
»Ich war sehr in Gedanken und habe mich etwas gehen lassen, weil ich geträumt habe.« Leonie wurde dabei sehr rot. »Es ist wirklich alles in Ordnung.«
»Ach so!« Auf einmal erkannte Carlos die Zusammenhänge. »Na dann will ich das junge Glück nicht länger stören.« Er lächelte. »Aber bitte immer an das traurige Gesicht denken.«
»Mach dass du weg kommst, du Scheusal.« Plötzlich war die sehr energische Stimme von Franz-Ferdinand zu hören. Carlos drehte sich um und konnte gerade noch erkennen, dass der Neffe des Barons einen anderen Mann grob zur Seite schubste.
Sofort eilte er dazu. »Was ist passiert?«
»Der Kerl wollte die Mädchen belästigen.« Franz-Ferdinand berichtete, dass der Fremde auf einmal in die kleine Gruppe gestürmt war und begonnen hatte, die Mädchen zu betatschen. »Ich bin sofort dazwischen gegangen und habe ihn zurecht gewiesen.«
Carlos blickte kurz zu dem Mann, der jetzt auf dem Boden lag und sich die Hand vor das Schienenbein hielt. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Dann drehte er sich wieder zum Neffen. »Gute Arbeit.«
Er wollte ihn eigentlich erst noch darüber belehren, dass sie eigentlich nicht sofort zu körperlicher Gewalt greifen würden, doch dann besann er sich. Er musste froh sein, dass er überhaupt genügend Wachpersonal bekommen hatte, und dass sogar der Neffe des Barons ihm helfen wollte, hatte ihm insgeheim imponiert.
* * *
»Ihr seid schon hier?« Andrea war überrascht, die kleine Gruppe schon auf dem Marktplatz anzutreffen. Sie wollte eigentlich nur einen Platz für das Gruppenfoto suchen. »Ich dachte, es geht um elf Uhr los?«
»Die Aufstellung zur Probe war um 10 Uhr.« Renate zeigte einen Zettel vor.
Andrea drehte sich wütend zu ihrem Freund um. »Warum sagst du mir, wir hätten noch Zeit?«
»Damit ich ausschlafen kann.« Hans grinste seine Freundin an. Ihm waren ihre Sorgen weniger wichtig.
»Und deswegen ruinierst du mir meine Story?« Andrea hätte ihren Freund am liebsten in der Luft zerrissen.
»Rege dich ab, sie sind doch gerade erst angekommen.« Hans packte langsam seine Ausrüstung aus. Bestellt waren nur ein paar wenige Erinnerungsfotos, doch er machte auch solche kleinen Aufträge am liebsten mit der großen Kamera.
»Wir haben nicht mehr so viel Zeit, weil wir die Kutschenszene auch noch einmal proben wollen.« Renate war ein wenig verlegen, als sie ihr Anliegen vortrug. »Können sie die Bilder auch spontan machen, ohne dass wir uns aufstellen müssen?«
»Ja, das kann ich machen.« Hans war wenig begeistert, doch er wollte gute Miene zum bösen Spiel machen. Heute nachmittag zur Ballprobe würde es das Motiv geben, auf das er es eigentlich abgesehen hatte. Maria würde mit dem Gebet tanzen, und er fieberte schon darauf, es wieder ablichten zu dürfen.
Renate ging zu der kleinen Gruppe, die jetzt ein wenig verloren auf dem sonst sehr belebten Marktplatz stand. »Wollen wir gleich die Sachen durchsprechen?« Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern griff gleich zu ihrer Liste und bat die Mädchen, mit ihr zu kommen. Die Wächter blieben in kurzer Entfernung stehen, so dass sie notfalls noch gut eingreifen konnten.
Auf dem Boden waren im einem großen Halbkreis nur mehr oder weniger große Rechtecke aufgezeichnet, die zeigten, wo morgen die Stände der Handwerker und Händler stehen würden. Vor dem Rechteck mit der Nummer Eins blieb Renate stehen und wartete, bis die Katerina und ihre Dienerinnen neben ihr standen. »Dies ist der Stand der Bäckerei Friedrich.« Sie blickte kurz in ihre Unterlagen. »Hier musst du ein Brot aus dem Ofen holen.«
»Wie passend.« Maria lachte.
* * *
»Sind sie nicht toll, unsere Mädchen?« Leonhard strahlte eine gewisse Begeisterung aus.
»Es bedeutet Doris sehr viel, einmal so in ihren Ketten auftreten zu dürfen.« Auch Theo zeigte, wie sehr ihn das Glück seiner Verlobten berührte.
»Amelie hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um hier mitlaufen zu dürfen.« Mit viel Schmunzeln in der Stimme berichtete ihr Verlobter von den vielen Telefonaten und einem persönlichen Vorstellungsgespräch. »Sie hat gekämpft wie ein Löwin um ihre Jungen.«
»Ich weiß.« Theo grinste. »Wir sind mit eurer Bestellung gerade so noch fertig geworden.«
»Ich habe Leonie gestern erst kennengelernt.« Holger gab sich ein wenig kleinlaut. »Aber ich glaube, sie mag die Fesseln auch.«
»Wir sollten auf jeden Fall die Adressen austauschen, damit wir uns später mal wieder treffen können.« Leonhard war immer bemüht, seinen diesbezüglichen Bekanntenkreis weiter auszubauen.
»Das könnten sehr interessante Treffen werden.« Theos Stimme hatte etwas Schwärmerisches.
»Wie bist du eigentlich auf Leonie gestoßen?« Leonhard wollte noch nicht zugeben, dass er dieses Mädchen schon kannte.
»Sie war bei meiner Nachbarin.« Holger blickte zu der kleinen Gruppe, die jetzt vor dem dritten Rechteck stand. Mitlerweile hatten sich einige Passanten angesammelt, die dem seltsamen Treiben zuschauten. Leonie stand bei den anderen Mädchen und schien es mehr als zu genießen, ihre Eisen-Fesseln zeigen zu dürfen. »Paul wohnt dort mit seiner Oma.«
»Wo ist eigentlich der Prinz?« Leonhard hatte sich ein wenig über den Inhalt des Festes informiert.
»Der wartet auf seinen Auftritt.« Theo wusste es, weil er vor kurzem noch auf Wunsch des Festvorstandes die Kutsche untersucht hatte und entgegen den Erwartungen geraten hatte, an den Manschettenattrappen nichts zu ändern. Alles andere wäre den Aufwand nicht wert gewesen. »Er kommt mit der Kutsche.«
* * *
Paul drehte sich in die Richtung, aus der er das Geklapper der Hufe hörte. Sofort sah er das beeindruckende Pferdepaar, das vor der Kutsche eingespannt war. Dahinter auf dem Kutschbock sah er auch Kerstin Richards, die Darstellerin der Katerina vom letzten Fest.
»Du hier«, fragte er erstaunt, als die Kutsche näher gekommen war.
»Ja, wie du siehst.« Kerstin lachte. »Das wusste ich gestern auch noch nicht.« Sie berichtete, dass sie für den ursprünglichen Kutscher eingesprungen war. »Er hatte kurzfristig absagen müssen.« Sie brachte die Pferde zum Stehen und zog an der Kutsche die Bremse an. »Du siehst schick aus in deiner Uniform.«
Paul blickte etwas verlegen an sich herunter. Er trug eine rote Hose zu schwarzen Stiefeln, dazu eine blaue Jacke und einen Zweispitz. »Danke, du aber auch.« Er hatte natürlich auch ihre schicke Reituniform bemerkt.
»Das ist die Kleidung, die ich gleich für das Tunier brauche.« Sie lächelte. »Ist das Preußisch?«
Paul blickte noch einmal an sich herunter. »Das hatte ich auch erst gedacht. Aber die Preußen trugen weiße Hosen.«
»Die Österreicher trugen rote Hosen, aber dazu weiße Jacken.« Kerstin stieg vom Kutschbock herab.
»Ich glaube, es geht auf eine französische Uniform zurück.« Paul strich sich über die Jacke.
»Willst du dir den Thron schon mal ansehen?« Kerstin öffnete die Tür der Kutsche und klappte die Stufen aus.
Paul war dankbar über die Ablenkung, deswegen verzichtete er darauf zu sagen, dass er ihn eigentlich schon kannte. Er stieg in die Kutsche und ging zu dem Platz hinter dem Thron, auf dem er auch später stehen würde, wenn sie die Katerina abholen würden.
In Gedanken ging er noch einmal den Text durch, den er zu sagen hatte. Es waren heute nur wenige Sätze, doch da es ihm um die Ehre ging, wollte er es auch gut machen.
Er nutzte die Wartezeit, um sich noch einmal die Fesselattrappen auf dem Thron anzusehen. Aus der Nähe sah man sofort, dass sie zwar aus Eisen waren, aber es fehlte der Verschluss. Wenn Maria ihre Arme hinein legen würde, könnte sie sie einfach durch ein heben der Arme wieder öffnen. Und doch hatten sie auf diese Weise etwas Faszinierendes, denn bedingt durch das Spiel würde Maria gezwungen sein, ihre Arme ganz still zu halten, da sie sonst die Illusion zerstören würde. Es waren auf diese Weise eine ganz andere Art von Fesseln, aber nicht minder faszinierend.
Zum Glück würde der Auftritt nur kurz sein, da er als Prinz die hochherrschaftliche Geisel nur auf dem Marktplatz abholen und zu sich nach Hause holen würde.
Dabei wurde in der Darstellung allerdings bewusst etwas geschummelt, denn die Kutsche nahm nicht den Weg zum Schloß, wie es korrekt gewesen wäre, sondern fuhr direkt ins Rathaus. Und wenn sich die Flügel des Rathausportals hinter ihnen schlossen, war der erste Teil des Spieles vorbei.
»Halte dich fest, es geht los.« Kerstins Stimme riss ihn aus den Gedanken. Sie wartete noch einen Moment, dann gab sie den Pferden die Zügel und die Kutsche setzte sich in Bewegung.
* * *
»Wir haben noch ein kleines Problem.« Renate bat die drei Dienerinnen zu sich, nachdem alle Aufgaben an den Stände besprochen waren. Sie wartete, bis die drei Mädchen neben ihr standen. »Früher hatte die Katerina nur eine Dienerin, die ihr in die Kutsche geholfen hat. Wer wird das jetzt machen?«
Amelie erkannte die Lage als Erste. »Ich bin hier nur zu Gast, ich kann gern zurücktreten.«
Auch Doris zierte sich ein wenig. »Ich kenne Maria ja kaum. Ich möchte mich da auch nicht unbedingt vordrängeln.«
»Leonie, was ist mit dir?« Renate blickte zu der dritten Dienerin, die sich bisher noch nicht geäußert hatte. »Würdest du es machen?«
»Ich möchte mich aber nicht aufdrängen.« Ihr Blick wechselte zwischen Renate und den anderen Dienerinnen hin und her.
»Du machst das.« Amelie legte ihr die Hand auf die Schulter. »Schließlich kennst du Maria am besten.« Dabei zwinkerte sie kurz.
Erst als Leonie den Wink bemerkte, willigte sie ein. »Gut, dann werde ich den Part übernehmen.« Sie blickte auf die Kutsche, die gerade auf den Marktplatz rollte. »Was habe ich denn genau zu tun?«
Renate hatte in ihrer Mappe die entsprechende Seite schon heraus gesucht. »Du musst nur die Tür der Kutsche öffnen und die Stufen herausklappen. Kerstin wird es dir einmal zeigen.« Sie bat Leonie, ihr zur Kutsche zu folgen. »Geht das denn mit deinen Ketten?«
Leonie lächelte etwas verlegen. »Ich bin das gewöhnt.« Sie hoffte sehr, dass Renate ihre Antwort nicht hinterfragen würde.
* * *
Maria war sehr erfreut, als sie Paul auf der Kutsche stehen sah. In der Uniform sah er wirklich aus wie ein Prinz, und sie fühlte sich ein wenig in die Zeit von Sissi zurückversetzt. Natürlich wusste sie, dass es nicht zu ihrer Rolle passte, doch sie winkte ihm kurz zu, was Paul auf die gleiche Weise beantwortete.
Doch Renate intervenierte sofort. »Bitte morgen keine Begrüßung durch Winken. Das passt nicht zum Spiel.«
Leonie trat auf Maria zu. »Darf ich die Prinzessin dann zur Kutsche bringen?« Das war der einzige Satz, den sie als die 'erste' Dienerin zu sagen hatte und doch strahlte sie dabei neben einer gewissen Unterwürfigkeit auch eine Menge Stolz aus.
Maria reichte Leonie ihre Hand, und gemeinsam schritten sie den kurzen Weg zur Kutsche. Zusammen blieben sie vor der Kutsche stehen und blickten zu Boden, so wie es die Rolle vorsah.
»Ich erlaube der Prinzessin, die Kutsche zu besteigen.« Paul sagte den Text auf, den er gelernt hatte. Das die Katerina eigentlich eine Gräfin war und deswegen der Titel eigentlich Comtesse gewesen wäre, hatte sich im Laufe der Jahre etwas verwässert.
»Danke, eure Hoheit.« Erst jetzt durfte Maria den Kopf heben.
Leonie ging zur Kutsche, um die Tür zu öffnen und die Stufen herauszuklappen. Eigentlich hätte Kerstin ihr das erst zeigen sollen, doch Leonie kannte sich mit dieser Art von Kutschen aus. So konnte Kerstin gleich auf dem Kutschbock sitzen bleiben, was ihr wegen ihres baldigen Turniers auch ganz recht war.
Der Prinz reichte der Katerina die Hand und half ihr zunächst in die Kutsche, dann bat er sie, auf dem für sie hergerichteten Thron Platz zu nehmen.
Nachdem Maria sich gesetzt hatte, griff Paul zu den Manschetten und klappte sie nacheinander auf. »Sei ganz vorsichtig. Sie sind können nicht verriegelt werden«, flüsterte er leise, so dass es selbst die Umstehenden nicht hören konnten.
»Ich weiß.« Maria lächelte kurz, dann setzte sie wieder die Miene auf, die zu ihrer Rolle gehörte. Sie legte ihre Arme in die beiden Eisenhüllen und klammerte sich an der Armlehne fest. Sie wusste, dass die Kutsche etwas wackeln würde, und so konnte sie am besten den Schein waren, an den Thron gefesselt zu sein. Der Thron mit den Fesseln stand symbolisch für die Rolle, die sie im Spiel verkörperte. Sie war einerseits die hochherrschaftliche Prinzessin, andererseits aber auch die Geisel, die als Friedensgarant dienen sollte.
Paul klappte die Manschetten vorsichtig zu, dann stellte er sich hinter den Thron und gab der Kutscherin das Zeichen. Gleich darauf setzte sich die Kutsche in Bewegung und fuhr nach einer Extrarunde über den Marktplatz in das Rathaus.
* * *
»Danke, dass sie doch noch so kurzfristig einspringen konnten.« Renate bedankte sich bei Kerstin, dann verabschiedete sie die Kutscherin.
Auch von Paul, Maria und den anderen erhielt sie noch viele gute Wünsche für das Turnier, das sie heute noch zu reiten hatte.
Im Innenhof des Rathauses wendete sie die Kutsche und mit einem kurzen Winken fuhr sie die Kutsche wieder hinaus zu der Stelle, wo der Pferde-Transporter schon wartete.
»Wir gehen dann noch einmal vor das Rathaus und verbeugen uns.« Renate erklärte den letzten Teil des heutigen Teiles. »Aber das müssen wir jetzt nicht üben oder?« Sie bekam allgemeines Kopfschütteln. »Dann folgt mir bitte, ich habe etwas zu Essen organisiert.«
* * *
Judith, die Tochter der Schneiderin saß im Wohnzimmersessel und blätterte in einem Buch.
»Mein Schatz, bist du fertig?« Ihre Mutter Roswita Bartels stand mit einem großen Korb und zwei ebenso großen Taschen in der Tür und schaute zu ihrer Tochter.
»Was ist denn?« Judith ließ ihr Buch langsam und etwas gelangweilt sinken.
»Ich bin auf dem Weg in die Stadthalle, um Maria das Kleid zu bringen.« Roswita hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.
»Viel Spaß.« Die Tochter nahm das Buch wieder hoch, um zumindest so zu tun, als würde sie interessiert lesen.
»Willst du nicht mitkommen?« Sie lächelte. »Vielleicht brauche ich deine Hilfe.«
Judith ließ das Buch wieder sinken. »Du macht Witze.«
»Nein, ernsthaft. Ich möchte dich mitnehmen.« Sie wusste natürlich, was diese Gelegenheit ihrer Tochter bedeutete.
»Ich bin sofort bei dir.« Judith schmiss das Buch auf den Tisch und rannte in ihr Zimmer, um sich ihre Jacke zu holen.
Roswita war noch nicht an der Haustür, als ihre Tochter neben ihr stand und sie anstrahlte. »Kann ich dir beim Tragen helfen?« Sie griff sich den Korb, damit ihre Mutter eine Hand für den Schlüssel frei hatte.
* * *
»Seid ihr fertig mit dem Essen?« Renate fragte es höflich, obwohl sie sah, dass alle Teller leer waren und keiner mehr kaute. »Wir gehen dann in die Stadthalle.« Sie versuchte zu verbergen, dass das erst vor drei Jahren neu eröffnete Haus ihr jetzt die meisten Sorgen bereitete.
Bisher hatte das Fest immer im eigentlich viel zu kleinen Festsaal des Schlosses stattgefunden und alle nötigen Handgriffe waren darauf abgestimmt. In den Vorbesprechungen zu dem Fest war die Vorbereitung der Stadthalle, die wesentlich mehr Platz für Akteure und Besucher bot, als eines der größten Risiken eingestuft worden. Allerdings hatte sie auch die Anweisung, davon den Hauptdarstellern nicht zu sagen.
»Du bist bestimmt schon aufgeregt.« Amelie lächelte zu Maria.
»Es geht eigentlich.« Pauls Freundin gab sich bewusst gelassen. »Ich hatte in den Staaten schon so eine ähnliche Veranstaltung.«
»Aber doch nicht mit den Armen im Gebet, oder?« Leonhard war ebenfalls sehr verwundert.
»Doch.« Paul mischte sich ein. »Es war die Abschlussprüfung nach Marias Intensivtraining.«
»Erzählt doch bitte.« Amelie war begierig darauf, von Marias neuesten Abenteuer zu hören.
Doch Maria winkte ab. »Vielleicht auf dem Weg zur Halle.« Sie zeigte kurz auf Renate, die schon etwas nervös an der Tür stand.
»Na meinetwegen.« Amelie gab sich damit zufrieden. »Aber ich will später jedes Detail wissen.«
Leonhard griff in die Tasche und zeigte kurz einen schwarzen Gegenstand vor, dann steckte er ihn wieder ein.
Amelie hatte den Gegenstand natürlich sofort erkannt. Es war der Knebel, den sie für Aussenstehende unsichtbar im Mund tragen konnte und der sie sehr konsequent zum Schweigen verurteilte. »Ich bin ja schon ruhig.« Sie lächelte etwas verlegen.
Leonhard drehte sich kurz zu Paul. »Manchmal reicht es, damit zu drohen, dann wirkt es auch so.« Er grinste.
Paul grinste zurück, doch dann legte er den Arm um Maria und zog sie zu sich heran. »Sind wir bereit für den Aufbruch?«
Doch Maria befreite sich aus der Umarmung und stand langsam auf. »Lasst uns Renate nicht unnötig warten.«
* * *
Die kleine Gruppe von Frauen befand sich vor dem Künstlereingang der Stadthalle und wartete auf die Darstellerinnen, die auf dem kurzen Weg vom Rathaus zur Ballprobe zu Fuß unterwegs waren. Selma hatte die Idee gehabt, ins Freie zu gehen. »Es ist so schönes Wetter, da müssen wir nicht in diesen stinkigen Garderoben warten.«
»Das war eine gute Idee, zumal sie hier auch ein paar Bänke aufgestellt haben.« Frederike hatte die Damen hergefahren und hatte sich auf eine der sehr einladend aussehende Bänke gesetzt.
Die Schneiderin, die Marias Kleid für den Ball angefertigt hatte, war mit ihrer Tochter gekommen und hatte sich dazu gesellt. Gemeinsam warteten sie auf die Ankunft der Darstellerinnen.
Frederike blickte unauffällig auf Judith, die schon jetzt hoch konzentriert neben ihrer Mutter stand. Marias Mutter war ein wenig wehmütig zumute. Die Tochter war jetzt in dem Alter, in dem es mit ihrer Tochter und dem so strengen und einschneidenden Programm losgegangen war. »Ich bin schon sehr auf das Kleid gespannt.« Frederike blickte die Schneiderin mit einem gewissen Stolz an.
»Ich wusste nicht, dass sie in Europa sind, sonst hätte ich sie natürlich auch zur Anprobe eingeladen.« Frau Bartels war ein wenig verlegen.
»Das ist schon in Ordnung.« Frederike winkte ab. »So ist die Überraschung um so größer.«
»Ich habe für Leonie ein altes Erziehungskleid umgearbeitet.« Selma unterhielt sich mit ihrer Nachbarin Frau Alberta Künzle, die mitgekommen war, weil ihr Sohn Holger überraschend noch eine kleine Rolle auf dem Fest bekommen hatte.
»Und du meinst wirklich, es hat schon gefunkt zwischen den Beiden?« Alberta hatte bisher noch wenig von ihrem Sohn erfahren.
»Sie sind ja heute und Morgen auch noch zusammen.« Selma gab sich zuversichtlich. »Das wird ganz sicher klappen.«
»Verkuppelt ihr hier jemanden?« Frederike stand wieder auf. »Es hört sich zumindest so an.«
Selma lächelte. »Wir glauben, dass Leonie und Holger sehr gut zueinander passende Interessen haben.« Sie gab einen kurzen Überblick über die bisherigen Ereignisse.
»Na dann viel Erfolg.« Marias Mutter lachte, doch dann stutzte sie. »Was ist ein Erziehungskleid?« Insgeheim hoffte sie, noch einige Ideen für ihr Programm in Erfahrung zu bringen.
Pauls Oma beschrieb die Eigenschaften des Kleides. »Heute werde ich das Kleid nur mit Sicherheitsnadeln verschließen.« Sie war wegen des Interesses ein wenig geschmeichelt. »Aber morgen wird sie von mir in das Kleid eingenäht, und ein Arm wird ganz mit eingeschlossen.«
»Sie warten auch auf die Probe?« Eine fremdes Ehepaar kam auf sie zu. »Wir sind Schwerterles, die Eltern von Doris.« Ruth Schwerterle trug einen Kleidersack über den Arm. »Wir bringen das Kleid für unsere Tochter.«
»Sie ist ja schon so aufgeregt.« Rainer Schwerterle freute sich sichtlich über das Glück seiner Tochter. »Es bedeutet ihr sehr viel.«
Frederike seufzte mit einem Lächeln in der Stimme. »Das kommt mir irgendwie bekannt vor.«
* * *
»Hier ist dein Platz.« Fritz, der Leiter der kleinen Musikgruppe, zeigte den Stuhl, auf dem Anna sitzen sollte. »Wir sollten uns beeilen, die Probe fängt gleich an.« Er hielt einen Zettel in der Hand. »Morgen haben wir etwas mehr Zeit.«
»Kannst du gut sitzen?« Karin, seine Frau, kümmerte sich sehr um Anna, die so kurzfristig eingesprungen war. Sie baute ihr sogar den Notenständer auf, soweit das mit ihrer verletzten Hand ging.
»Ein wenig nervös bin ich schon.« Anna lächelte verlegen, dann erst erkannte sie, dass sie noch eine Frage zu beantworten hatte. »Danke, es geht gut so.«
»Ich gebe noch einmal die Reihenfolge der Stücke bekannt.« Fritz nahm einen anderen Zettel zur Hand. »Bitte prüft noch einmal, ob ihr die Stücke in der richtigen Reihenfolge in der Mappe habt.«
Anna hatte kaum Zeit, mit ihrem Blick Florian zu suchen. Er hatte sich unter die Handwerker gemischt, die noch dabei waren, die Dekoration aufzubauen, um die doch recht moderne Stadthalle ein wenig in ein Barockschloß umzubauen.
Auf der anderen Seite hatte das örtliche Blasorchester Platz genommen und bereitete sich ebenso auf die Probe vor.
Gemeinsam würden sie den Ball auf dem Fest am Samstag bestreiten. Das Fest bildete für beide Gruppen einen Höhepunkt, zudem ergänzten sie sich gut. Fritz' kleine Gruppe beherrschte die alten Tänze fast im Originalklang und das Orchester konnte mit Trompeten und Pauken für die festlichen Stimmung sorgen. Doch eine gewisse Nervosität war in beiden Gruppen zu spüren.
»Warum machst du denn jetzt Fotos?« Andrea war etwas verwundert über ihren Freund. »Es gehört nicht zum Fest, und die Mädchen tragen auch nicht das richtige Kostüm.« Sie verdrehte sie Augen. Wenn sie Fotos von etwas brauchte, dann war ihr Freund selten zur Mitarbeit zu bewegen, dafür knipste er manchmal ganz verrückte Sachen.
»Ich möchte für schöne Erinnerungen sorgen.« Hans hatte insgeheim die Idee, sich mit einem kleinen Album mit Fest-Erinnerungen für die Arbeit mit dem Venuskorsett zu bedanken, doch das wollte er seiner Freundin noch nicht sagen.
»Aber sie gehen nur vom Rathaus zur Stadthalle.« Andrea war fassungslos. »Auf der Generalprobe.«
Hans lächelte nur kurz.
»Aber wenn ich einmal Fotos brauche, hast du immer eine Ausrede.« Andrea war ein wenig angesäuert.
* * *
»Hier hinten war ich noch nie.« Paul sprach aus, was viele der Laien-Schauspieler dachten. »In den Künstlergarderoben.«
»Maria, für dich ist die Solisten-Garderobe.« Renate hielt ihre Mappe in der Hand und las daraus vor. Dann wandte sie sich an die drei Mädchen, die die Dienerinnen darstellten. »Ihr geht bitte hier hinein.« Sie zeigte auf eine Tür, die mit 'Garderobe I' beschriftet war. »Die anderen beiden Garderoben sind für die Tänzer und Tänzerinnen.«
»Normalerweise darf mir beim Umziehen keiner zusehen.« Amelie lächelte etwas verlegen. »Ich habe immer Angst, dass jemand meine Fesseln zu Gesicht bekommen könnte und dann dumme Fragen stellt.« Sie war im ersten Moment etwas irritiert, weil sich die drei Dienerinnen in der zugegeben geräumigen Garderobe zusammen umzuziehen hatten.
»Wir schauen weg und helfen euch dann nur beim Schließen der Fesseln.« Leonhard sprach für die drei Herren, die auf Wunsch von Renate ihre Damen zu begleiten hatten und deswegen den Raum ebenfalls betreten hatten.
»Außerdem geht es ja um ganz was anderes.« Selma war mit einer großen Tüte herein gekommen und bat Leonie sofort, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen. »Holger, hilfst du mir bitte?« Sie griff in die Tüte und zog das Kleid heraus, welches sie für Leonie mitgebracht hatte.
»Das ist ja toll.« Leonie war überrascht über den Berg von Seide, der jetzt vor ihr auf der Bank lag. Sofort begann sie, sich zu entkleiden.
»Langsam, mein Kind.« Selma lächelte. »Das Kleid ist strenger als es auf den ersten Blick aussieht.« Sie drehte sich zu Theo und Doris um. »Könntest du Leonie bitte die Ketten öffnen?«
»Das geht nicht.« Der Schmiedegeselle drehte sich langsam zu Leonie um. »Die sind doch verschweißt.«
Leonie wurde es auf einmal schwarz vor den Augen. Langsam sank sie zu Boden.
Sofort erkannte Theo, dass er etwas zu weit gegangen war. »Das sollte doch nur ein Scherz sein.« Er kniete sich neben Leonie und begann, sich um sie zu kümmern. »Ich war einmal ein paar Jahre beim Roten Kreuz und kenne mich aus.«
»Es ist vielleicht sogar besser so.« Selma lächelte. »Dann können wir ihr das Kleid leichter anziehen.« Sie drehte sich zu Holger. »Fasst du bitte mit an?«
* * *
Frederike begann in der Garderobe sofort, ihre Tasche auszupacken, nachdem sie ihre Tochter gebeten hatte, sich in der Toilette noch etwas frisch zu machen. Eigentlich waren nur Marias Ballettstiefel in der Tasche, doch letztere waren so sperrig, dass die große Tasche gut gefüllt aussah.
»Was sind denn das für Stiefel?« Die Stimme von Frau Bartels zitterte, als sie die Stiefel entdeckte.
»Das sind Marias Schuhe.« Frederike hatte sich schon einige Erklärungen zurecht gelegt, wie sie die ungewöhnlichen Stiefel erklären konnte. »Es ist der Wunsch eines Sponsors.«
»Affengeil.« Judith hatte die Stiefel ebenfalls entdeckt. »Wie beim Ballett.«
»Judith, bitte.« Frau Bartels ermahnte ihre Tochter, dann wandte sie sich wieder Frederike zu. »Ich wusste nicht, dass Maria so hohe Absätze tragen würde. Ich hätte dann das Kleid etwas länger gemacht.«
»Oh je.« Auch Frederike erkannte erst jetzt die Zusammenhänge. Bisher hatte sie insgeheim gehofft, die Ballettstiefel ließen sich unter dem langen Rock verstecken. Es war dieses Mal ganz anders als die Jahre zuvor. Vom Zuschauerraum, der etwas tiefer lag als die Bühne, würde jeder die Stiefel sehen können. Sie sah sich jetzt schon mit Fragen bombardiert und fragte sich, ob es nicht besser wäre, einfach die Flucht nach vorn zu ergreifen und selbst auf Marias besondere Stiefel hinzuweisen.
Sie würde sich zwar trotzdem Anfeindungen und Vorwürfen ausgesetzt fühlen, weil sie ihrer Tochter so etwas zumutete, doch das Opfer war es wert, denn wenn Maria es gut machen würde, dann lag eine glänzende Zukunft vor ihr.
»Können wir dann anfangen?« Maria stand auf einmal im Raum und blickte verträumt auf die Stiefel, ein wenig in der Sonne glänzten.
»Sind sie sicher, dass wir da hinein dürfen?« Notar Schrumm stand mit seiner Tochter Sonja neben der Tür der Solistengarderobe und blickte Renate Bayer unsicher an.
»Aber Vater, das hatten wir doch schon diskutiert.« Sonja verdrehte die Augen. »Außerdem wissen sie, dass ein Notar bei der Anprobe dabei sein wird.«
»Ja, morgen.« Dem Notar war seine stürmische Tochter etwas unheimlich. »Aber heute, bei der Generalprobe?«
»Du musst es einfach gesehen haben.« Sonja drückte einfach auf die Klinke und steckte den Kopf in den Raum. »Dürfen wir hereinkommen?«
Frederike hatte bisher zugesehen, wie Frau Bartels dabei war, Maria das leichte Unterkleid überzuziehen. Erst als sie sich überzeugt hatte, dass von Marias stählerner Unterwäsche und dem Taillenkorsett nichts mehr zu sehen war, gab sie ihre Zustimmung.
»Was machen sie denn hier, Herr Schrumm?« Rudolf Steinhagen, der Direktor der Sparkasse kam in den Gardrobengang und war über die Anwesenheit des Notars sehr verwundert.
»Ich habe einen dienstlichen Auftrag.« Es kam dem Notar selbst schon sehr verwunderlich vor, dass er jetzt zu prüfen hatte, ob ein junges Mädchen ein ganz bestimmtes Kleidungsstück mit einer ebenso außergewöhnlichen Armhaltung trug. Dieser Auftrag war gemessen am Alltagsgeschäft sehr außergewöhnlich, wenn nicht sogar etwas verrückt. Doch da es um eine Menge Geld ging, wusste er, dass professionelle Nüchternheit mehr als angebracht war.
»Und was wollen sie bei Maria?« Herr Steinhagen war über die geplanten Abläufe des Festes bestens informiert und wusste, dass jetzt die Anprobe des Kleides an der Reihe war. »Sie erlauben, dass ich mitgehe?«
»Wie schon gesagt, es ist rein dienstlich.« Er schob die Tür auf und trat ein.
Maria schlug sich reflexartig die Hände vor die Brust und drehte sich weg.
Doch ihre Mutter beruhigte sie. »Entschuldige, mein Schatz. Ich habe es dir nicht gesagt, aber Herr Schrumm möchte dabei sein, wenn du das Korsett und das Kleid angezogen bekommst.« Dann sah sie, dass noch ein Herr hinter dem Notar die Garderobe betreten hatte. »Und was wünschen sie?« Sie kannte den Herrn nicht, doch sein Äußeres erheischte ein wenig Respekt.
Maria drehte sich bei den Worten ihrer Mutter wieder um und blickte zur Tür. Sofort erkannte sie den Direktor der Sparkasse, der ihr schon mehrmals so deutlich geholfen hatte. »Bleiben sie bitte auch.« Sie wandte sich kurz an ihre Mutter. »Das ist Herr Steinhagen. Er hat mich bei der Polizei befreit.« Sie drehte sich wieder zur Tür. »Sie möchten bestimmt auch sehen, wie es darunter aussieht.« Sie lächelte dankbar.
»Aber mein Kind?« Frederike war empört über den plötzlichen Ansturm in der Garderobe.
»Darf ich dich kurz einmal allein sprechen, Mama?« Maria deutete auf die Tür zu dem kleinen Bad. »Wir haben doch noch Zeit?« Die Antwort von Renate wartete sie allerdings nicht ab.
* * *
»Wo bin ich?« Leonie schlug die Augen auf. Sofort bemerkte sie, dass sie von vielen Augen sorgenvoll beobachtet wurde. »Was ist passiert?«
»Du bist kurz ohnmächtig geworden.« Selma strich ihr über das Gesicht.
»Und wo bin ich?« Leonie wiederholte ihre Frage, während sie sich ängstlich umsah.
»Wir sind in der Stadthalle in der Künstlergarderobe.« Selma wollte ihrem Schützling etwas Orientierung geben. »Gleich beginnt die Probe zum Ball der Katerina.«
»Und warum kann ich meine Arme nicht bewegen?« Leonie war immer noch etwas verwundert. »Was ist mit den Ketten, die verschweißt sind?«
Theo trat hervor. »Das war ein schlechter Scherz von mir.« Er kniete vor ihr nieder. »Ich bitte dich um Entschuldigung.«
»Vor mir hast du aber noch nicht gekniet?« Doris war ein klein wenig eifersüchtig.
»Natürlich habe ich das, mein Schatz - als ich um Deine Hand angehalten habe«, korrigierte Theo seine Verlobte. »Aber du bist jetzt gerade nicht dran«, wischte er ihren Einwand beseite und wandte sich an Selma. »Möchten sie es erklären?«
»Wir haben dir das Kleid angezogen, welches du auf dem Ball tragen wirst.« Selma streichelte ihr zärtlich über die Wange.
»Ein sehr faszinierendes Kleid.« Amelie von Grünberg drängte sich an ihrem Verlobten vorbei. »Dein linker Arm ist in das Kleid mit eingeschlossen, ein innerer Ärmel sozusagen.«
»Und der rechte Arm ist mit einem Reißverschluß längs am Körper befestigt, so dass ich ihn dir losmachen kann, wenn wir tanzen müssen.« Holger blickte verliebt auf die jetzt sehr verwunderte Leonie.
»Aber wie, aber was?« Leonie war immer noch sehr verwirrt.
»Wir haben dir die Ketten abgenommen.« Selma zeigte auf die Ablage vor dem großen Spiegel, wo jetzt ein Haufen Ketten und Manschetten lag. »Und ich habe mir erlaubt, dir ein Kleid anzuziehen, das früher die ungehorsamen Töchter anziehen mussten, wenn sie trotz einer Strafe in der Öffentlichkeit zu erscheinen hatten.«
Leonie blickte an sich herunter. »Und was sollen die vielen Sicherheitsnadeln?«
»Morgen werde ich dich in das Kleid einnähen.« Selma blickte fasziniert auf Leonies Gestalt. »Heute reicht die Zeit dafür nicht.«
»Eingenäht?« Leonie wiederholte, was sie gerade gehört hatte. »Warum denn das?«
»Zum einen gab es damals noch keine Reißverschlüsse.« Selma lächelte Leonie an. »Vor allem aber sollte so verhindert werden, dass die ungehorsamen Dame einfach einer Dienerin befehlen konnte, sie aus dem Kleid zu befreien.«
»Faszinierend.« Leonie versuchte aufzustehen, doch sie musste erkennen, dass sie sich nicht mehr abstützen konnte. »Ich komme nicht hoch.«
»Holger, hilf ihr bitte.« Selma wurde auf einmal etwas wehmütig.
Der Nachbarssohn kam der Aufforderung nach und ermöglichte Leonie so, sich in dem großen Spiegel zu betrachten.
»Ich sehe zwar zwei Arme.« Leonie war verwundert. »Aber es fühlt sich ganz anders an.«
»Der eine Arm ist eine Attrappe.« Selma lächelte leicht. »Die Leute stellen dann weniger Fragen.«
»Und der andere Arm?« Leonie wackelte ein wenig mit der Hand, die etwas nutzlos neben ihrer Hüfte baumelte.
Selma lächelte. »Zwischen deinem Arm und deinem Körper habe ich einen Reißverschluss eingearbeitet, er kann dir den Arm frei machen, wenn ihr miteinander tanzen wollt.« Doch dann wurde sie auf einmal sehr nachdenklich. »Meine liebe Leonie, du bist mit ganz außergewöhnlichen Wünschen zu mir gekommen und ich habe versucht, sie dir so gut wie möglich zu erfüllen.«
Leonie hatte den Stimmungswechsel sofort bemerkt. »Es geht zu Ende?« Sie hatte sich immer schon gefragt, wie lange dieser so schöne Traum noch anhalten würde.
»Du hast alte Sehnsüchte in mir geweckt, und es war schön, alles noch einmal erleben zu dürfen.« Selma konnte es nicht verhindern, dass eine Träne über ihre Wange lief. »Aber jetzt ist ein Wechsel vonnöten.«
»Ein Wechsel?« Leonies Blick zeigte, dass sie noch nicht ahnte, was gleich passieren würde.
»Holger, magst du dich in Zukunft um diese so ehrgeizige Gefangene kümmern und ihr eine fesselnde Zukunft bereiten?« Selma ergriff seine Hand und legte sie auf Leonies Schulter.
Leonie drehte sich langsam zu Holger hin, bis sie ihm ins Gesicht sehen konnte. Nur ganz am Rande bemerkte sie, dass in dem Kleid unauffällig auch ein sehr strenges Halskorsett eingearbeitet war, das sie zu dieser Bewegung zwang. Zu Worten war sie nicht fähig.
Zwischen Selma und Holger war nichts abgesprochen, trotzdem fand er genau die richtigen Worte, und seine Stimme zitterte nicht. »Meine liebe Leonie, möchtest du auch nach dem Fest meine Gefangene bleiben, egal was passiert, und egal wie lange?«
Wieder wurde es Leonie schwarz vor Augen und sie sank in seine Arme.
Langsam legte Holger ihren Körper auf die Bank. »Ich hoffe, dass das ein 'Ja' war.« Er beugte sich zu ihr herunter und fühlte ihren Puls.
* * *
»Ich danke ihnen sehr für alles.« Frederike reichte Herrn Steinhagen die Hand. »Für alles, was sie für meine Tochter getan haben. Natürlich dürfen sie auch sehen, wie das Gebet angelegt wird.« Sie gab Paul ein Zeichen.
Paul war zu seiner eigenen Verwunderung eher ruhig, als er die bereitgelegten Riemen ergriff und auf Maria zuging. Doch dann fiel sein Blick auf die Stiefel und er hielt inne. »Sollten wir nicht besser mit den Stiefeln anfangen?«
Marias Mutter lächelte, dann ging sie auf die Spiegelwand zu und nahm die Stiefel in die Hand. Sie reichte sie Paul und blickte sich um. »Ein Sponsor besteht darauf, dass Maria in diesen Stiefeln tanzt.«
Es war dem Sparkassendirektor anzusehen, wie sehr er über diese Forderung empört war. »Wer ist dieser Sponsor, und warum weiß ich davon nichts?«
»Darf ich ihnen das später erläutern?« Mit einer weiteren Störung hatte Frederike nicht gerechnet. »Wir haben nicht mehr so viel Zeit.« Sie sah, dass Paul inne hielt, daher gab sie ihm ein ermutigendes Zeichen zum Anziehen der Stiefel.
Die Stiefel hatten eine Schnürung und einen Reissverschluß, doch für einen optimalen Sitz war es nötig, erst den Reissverschluss zu schließen und dann die Schnürung fest zu ziehen. Das hatten sie zu Hause schon probiert. Allerdings dauerte es so etwas länger.
Renate wurde auf einmal etwas nervös. »Ich habe nur die zwei offenen Schlösser bekommen. Soll ich die heute schon anlegen?« Sie blickte den Notar verlegen an.
»Ich denke, heute geht es auch ohne. Von einer Probe steht nichts in den Unterlagen.«
* * *
Robert Greinert, der erst am Dienstag den Posten des Vorsitzenden übernommen hatte, öffnete mit zitternden Händen die Tür zur Bühne. Genau wie er es befürchtet hatte, waren die Handwerker noch fleißig dabei, die Dekoration für das Schloss aufzubauen. Er hatte gehofft, dass sie wenigstens bis zur Probe fertig werden würde, doch zu seiner Enttäuschung musste er erkennen, dass dieses Ziel beim besten Willen nicht zu erreichen war.
Mit besorgter Miene suchte er den Handwerksmeister auf. »Werden sie bis Morgen noch fertig?«
Der Meister stöhnte, als er den nicht ausgesprochenen Vorwurf in der Frage bemerkte. »Gestern war hier noch eine Veranstaltung.« Er machte mit der Hand einen großen Bogen. »Wir konnten erst heute morgen hier herein.«
Es war heuer das erste Mal, dass der Ball in der neuen Stadthalle stattfand. Bisher musste dafür immer der kleine Saal im Schloss herhalten. Und die für das Schloss passende Dekoration musste hier noch angepasst und teilweise sogar umgearbeitet werden. In den Vorbereitungen zum Fest war dieses als ein ganz kritischer Punkt angesehen worden.
»Besonders der Höhenunterschied zwischen Bühne und Zuschauerraum machen uns Sorgen.« Der Handwerker zeigte auf die fast einen Meter hohe Stufe. »Die Tänzer müssen aufpassen, dass es hier keine Unfälle gibt.«
Robert Greinert bemerkte, dass zwei Meter vor dem Bühnenrand eine rote Linie aufgemalt war. Er zeigte darauf.
»Eine Hilfe für die Tänzer«, erklärte der Handwerker. »Damit sie wissen, dass sie nicht weiter hinaus tanzen dürfen.«
* * *
»Und in diesen Mörderstiefeln können sie wirklich gehen und vor allem tanzen?« Beide Herren hatten interessiert zugesehen, wie Marias Beine langsam in den Lederschäften der Stiefeln verschwunden waren.
Maria überlegte fieberhaft, welches die bessere Reaktion war. Sollte sie Unsicherheit vorspielen oder sich ganz sicher auf den Stiefeln bewegen? Sie war sich überhaupt nicht sicher, inwiefern sich das Programm von ihrer Mutter auf die Wirklichkeit übertragen ließ.
»Steh auf, Liebes.« Frederike hatte die Unentschlossenheit ihrer Tochter bemerkt und hoffte, ihr die richtigen Hinweise zu geben. »Zeige bitte den Herren, dass die Stiefel für dich kein Problem sind.«
Maria erkannte sofort, welche Variante ihr ihre Mutter vorgegeben hatte. Sie stand auf und nahm dabei bewusst ihre Hände nicht zur Hilfe, dann ging sie ein paar Runden in dem kleinen Raum hin und her, bis sich die Mienen der Herren entspannten.
»Sie sind eine faszinierende junge Frau.« Der Notar war sehr beeindruckt von Marias Fähigkeiten.
»Ich denke, wir machen jetzt mit dem Gebet weiter, sonst reicht die Zeit nicht.« Frederike gab Paul das Zeichen, Maria das Gebet anzulegen.
Paul griff sich die Riemen, dann drehte er sich zu seiner Freundin. »Wenn ich die Prinzessin dann bitten dürfte, sich bereit zu machen.« Er grinste ein wenig, um seine Nervosität zu überspielen.
Maria drehte sich überrascht zu ihm um. »Aber gern mein Prinz.« Sie brachte ihre Arme in Position und blickte fasziniert in den Spiegel. »Von vorn sieht man sie gar nicht.« Doch dann ließ sie die Arme wieder sinken und blickte ihre Mutter fragend an. »Ich habe das Gebet noch nie gesehen. Ob es wohl möglich wäre, dass ich mir das mal ansehe?«
Frederike wollte ihr Tochter nicht mit den Herren allein lassen. Sie blickte etwas verlegen zur Schneiderin.
Frau Bartels erkannte sofort, was nötig war. »Man braucht noch einen zweiten Spiegel, am besten einen auf Rollen.«
»Ich weiß, wo einer ist.« Judith stürmte aus der Garderobe, noch bevor ihre Mutter etwas antworten konnte.
Paul stand etwas unsicher hinter Maria und zögerte noch. Doch Frederike gab ihm das Signal, mit dem Gebet anzufangen.
Gleich darauf war ein Rollen zu hören und ein Angestellter der Stadthalle stecke nach einem Klopfen den Kopf zur Tür herein. »Sie brauchen einen Ganzkörperspiegel?« Ohne die im Raum befindlichen Personen auch nur zu bemerken, schob der Angestellte den Spiegel herein.
Hinter ihm betrat Judith wieder die Garderobe. »Vielen Dank für die Hilfe.« Sie machte gegenüber dem Herrn einen Knicks.
»Woher kennst du dich denn hier aus?« Frau Bartels war über ihre Tochter verwundert.
»Wir waren neulich mit der Schulklasse hier wegen der Theateraufführung.« Judiths Gesicht zeigte ihren Stolz, so helfen zu können. »Und der Mann hat mir beim Schieben geholfen.« Sie blickte sich im Raum um. Sofort erkannte sie, was gewünscht war. Sie rollte den Spiegel schräg hinter Maria. »Geht es so?«
»Ein Stückchen noch.« Maria war etwas angespannt. Das Gebet hatte sie bis jetzt zwar schon oft getragen, aber sie hatte es bisher noch nie ansehen können.
Judith drehte ein wenig am Spiegel.
»Nein, die andere Richtung.« Ihre Atem ging ungewöhnlich hastig.
Judith drehte wieder an dem Spiegelgestell.
»Jetzt steht Paul im Weg.« Marias Stimme zeigte neben ihrer Ungeduld eine gewisse Anspannung.
»Ich bin ja gleich fertig.« Paul war über die große Zahl wichtiger Zuschauer sehr irritiert. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er mit Maria allein gewesen wäre. »Und bitte wackel nicht so.«
»Entschuldige bitte.« Maria erkannte, dass sie sich beherrschen musste.
»Sonst müsste ich mich räuspern.« Paul wusste nicht, voher die Worte kamen, die er gerade aussprach.
Doch bei Maria hatten sie die richtige Wirkung. Sie bekam einen etwas glasigen Blick und blickte etwas verlegen zu ihrer Mutter. Es war so zwar überhaupt nicht abgesprochen, doch sie realisierte, dass Paul dabei war, einige Aufgaben ihrer Erzieherin zu übernehmen. Würde sie sich ihm genauso unterwerfen wollen, wie sie es mit der Erzieherin so widerspruchslos gemacht hatte?
»Du musst dich nicht räuspern.« Ihre Stimme war auf einmal sehr leise. »Ich halte auch so still.«
Paul war erleichtert über Marias Reaktion. Er hatte es eigentlich als Scherz gemeint, doch er spürte sofort, was es bei Maria bewirkt hatte. Sie war bereit, sich ihm wirklich unterzuordnen, und er begriff, dass er dieses große Geschenk anzunehmen hatte. Genauso erkannte er aber auch die große Verantwortung, die es mit sich brachte.
»Das ist wirklich faszinierend.« Der Notar war ein paar Schritte näher gekommen.
»Habe ich dir zuviel versprochen?« Seine Tochter lächelte ihn an. »Maria ist etwas Außergewöhnliches.«
»Ja, du hast recht.« Der Notar blickte sehr gebannt auf die Arme von Maria, die mit jeder Bewegung von Paul etwas fester in die eigentlich so grausame Haltung gezwungen wurden. Und doch war ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen.
»Das Korsett ist eigentlich stark genug gemacht, um es auch ohne vorhergehende Fixierung der Arme tragen zu können.« Frederike versuchte, möglichst neutral zu sprechen, doch ein leises Zittern zeigte, wie sehr sie die Leistung ihrer Tochter beeindruckte. Das Venuskorsett hielt sie bereits in den Händen.
»Aber dann ist es viel schwerer anzulegen.« Paul gab Maria das übliche Zeichen, dass er fertig war und trat einen Schritt zurück.
Maria nutzte den Moment, um sich ausgiebig im Spiegel zu betrachten. »Es sieht sehr elegant aus.« Ihre Stimme war sehr leise.
Paul nahm das Korsett entgegen, welches Frederike ihm gereicht hatte. Er trat wieder an Maria heran, doch dann zögerte er ein wenig. Er hatte bemerkt, dass Maria immer noch dabei war, sich im Spiegel zu betrachten und Bewegungen ihrer Muskeln im Spiegel zu verfolgen.
»Es sieht sehr beeindruckend aus.« Maria war von ihrem Spiegelbild noch sehr verzaubert, doch dann realisierte sie, dass Paul und die anderen Personen im Raum auf sie warteten. »Du kannst weitermachen.« Sie lächelte Paul verlegen an.
»Nach dem Fest probieren wir das mal ohne Riemen.« Paul flüsterte es, während er das besondere Korsett um Marias Oberkörper legte und mit der Schnürung begann.
»Ich habe genug gesehen.« Notar Schrumm drehte sich bewusst von Maria weg. »Ich möchte sie zu ihrer Tochter beglückwünschen. Eine wirklich außergewöhnliche Frau.« Er reichte Frederike die Hand.
Auch Herr Steinhagen wollte nicht länger stören. »Ich freue mich sehr auf das Wochenende.« Er verabschiedete sich ebenfalls.
»Jetzt möchte ich aber trotzdem gern wissen, was es mit diesen Mörderstiefeln auf sich hat. Warum ist es so wichtig, dass Maria sie tragen muss?« Herr Steinhagen war anzusehen, dass er Maria sehr bedauerte.
»Darf ich ihnen das kurz erklären?« Notar Schrumm führte den Sparkassendirektor aus dem Raum. »Es ist Folgendes...« Danach schloss sich die Tür.
»Das war nur der Anfang.« Maria seufzte ein wenig. Es wurde deutlich, dass sie eine klare Vorstellung davon hatte, wie ihre ersten Tage als Katerina mit dem Gebet wohl ablaufen würden. »Bitte bleib immer an meiner Seite.« Sie blickte Paul mit einer Mischung aus Liebe und Sorge zugleich an.
Paul war noch dabei, dass Korsett weiter zuzuschnüren. Er wollte eine passende Antwort geben, doch ihm fiel nichts Passendes ein. Schließ rang er sich zu einem 'Du kannst dich immer auf mich verlassen.' durch.
Frederike stand schweigend dabei und hatte Mühe, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Natürlich waren in dem Venuskorsett innen noch einige Riemen angebracht, um den Armen der Trägerin etwas Halt zu bieten, doch sie verzichtete darauf, ihre Tochter und deren Freund jetzt darauf aufmerksam zu machen. Zum einen würde es die Stimmung trüben, und außerdem traute sie es den Beiden durchaus zu, dass sie diese Details auch selbst finden und ausprobieren würden.
* * *
»Du must mir die Frage noch beantworten.« Holger kniete vor Leonies Liege und blickte sie erleichtert an.
»Welche Frage?« Leonie war noch dabei, nach der erneuten Ohnmacht wieder in die Realität zurück zu finden.
»Ich hatte dich gefragt, ob du meine Gefangene werden möchtest?« Holger setzte alles auf eine Karte, weil er wusste, dass er die Gelegenheit nutzen musste. Außerdem hatten ihn seine Mutter und die Nachbarin entsprechend ermutigt.
»Der Traum wird weiter gehen?« Leonie liefen ein paar Tränen über das Gesicht. Dann erst bemerkte sie, dass ER vor der Liege kniete und auf eine Antwort wartete. »Sehr gern, Holger, sehr gern.«
Er griff ihr an die Schulter und half ihr, sich hinzusetzen. »Wenn das Fest vorbei ist, dann besuchen wir diesen Kunstsattler. Ich habe schon ein paar sehr schöne Ideen für dich.« Sein Gesicht näherte sich, doch er achtete darauf, dass er ihr noch genügend Raum zum Ausweichen bot. Auch das hatte ihm Frau Mohr angeraten. Doch Leonie war von seiner Nähe fasziniert und auch sie beugte sie zu ihm hin. Schließlich trafen sich ihre Lippen und sie versanken in den ersten langen Kuss.
* * *
»Passt es soweit?« Frederike blickte genau so stolz wie aufmerksam auf ihre Tochter. »Können wir mit dem Kleid weitermachen?«
Maria blickte noch sehr verträumt in die beiden Spiegel und bewunderte ihre Arme, die jetzt vollständig vom Korsett umhüllt waren. Nur am Hals schauten noch ein wenig die Finger heraus. »Ja, es kann weitergehen.«
»Ich hoffe, es wird passen.« Frau Bartels war sichtlich nervös. »So etwas habe ich noch nie gemacht.« Sie ging zu der Schneiderpuppe und nahm das Kleid herunter. »Es ist in einem Stück gearbeitet, ich werde es dir über den Kopf ziehen.«
Maria blickte die Schneiderin sehr fasziniert an. Auf diesen Moment hatte sie schon lange hingefiebert.
Es zeichnete sich sofort ab, dass der Rock etwas kurz war. Wer sich auch nur ein wenig hinab beugte, konnte sehen, welch merkwürdige Stiefel Maria trug. Und wenn sie auf der Bühne tanzen würde, war es für alle im Zuschauerraum zu sehen. Doch alle wussten, dass es jetzt für Änderungen zu spät war. Maria hatte sich den Stiefeln zu stellen.
»Ich habe das Kleid so gearbeitet, dass sie nur vorn den einen Reißverschluss schließen müssen.« Frau Bartels zeigte Paul und Frederike die Bedienung dieses außergewöhnlichen Kleides. »Das geht natürlich nur, weil sie ausdrücklich keinen Ausschnitt gewünscht hatten.«
Paul grinste. »Und der Verschluß ist vor deinen Fingern sicher.«
»Komm du mir nach Hause.« Maria gab sich zunächst etwas empört, doch dann lächelte sie und drehte sich zur Schneiderin. »Vielen Dank für dieses tolle Kleid. Wie kann ich ihnen danken?«
»Es gäbe schon etwas, was sie für uns tun könnten.« Frau Bartels war auf einmal etwas verlegen.
»Was ist es denn?« Maria wollte sich für die viele Arbeit erkenntlich zeigen.
»Meine Tochter hat gerade einen Tanzkurs gemacht.« Die Schneiderin lächelte stolz zu ihrer Tochter. »Und sie wünscht sich sehr, einmal mit dem Prinzen tanzen zu dürfen.«
»Aber Mama...« Judith wurde auf einmal knall rot.
»Den Wunsch erfüllen wir sehr gern.« Maria drehte sich zu Paul und gab ihm einen Kuss.
»Vielen Dank.« Judith strahlte auf einmal bis über beide Ohren.
* * *
»Seid ihr soweit?« Renate blickte fasziniert auf Marias Kleid. »Wir müssten dann zur Aufstellung.« Es war ihr anzusehen, wie sehr sie von Marias Erschienung fasziniert war.
»Von mir aus kann es losgehen.« Die Schneiderin trat zurück und umarmte ihre Tochter. »Danke für deine Hilfe.«
Judith lächelte verträumt und schmiegte sich stolz an ihre Mutter. Auch sie war von Maria und dem Gebet sehr beeindruckt, und sie rechnete es ihrer Mutter auch genauso hoch an, dass sie sie zur Anprobe mitgenommen hatte. Denn natürlich war ihr klar, dass ihre Mutter es auch allein geschafft hätte.
»Der Prinz bitte noch nicht.« Renate hatte noch einmal in ihre Unterlagen gesehen, jetzt ging sie auf Paul zu. »Du kommst später auf mein Zeichen, wenn die Mädchen verhüllt sind.«
»Alles Gute, mein Liebling.« Paul streichelte Maria noch einmal durch das Gesicht. »Ich warte auf dein Zeichen.« Er war in seinen Gedanken auch schon tief in dem Spiel, so wie es heute gespielt wurde.
Wie viel von dem in der Vergangenheit tatsächlich passiert war, war nicht mehr so genau bekannt. Langsam ging er zum Fenster und blickte hinaus.
»Dann kommt.« Renate öffnete die Tür und stellte sich daneben.
Marias Herz klopfte laut. Sie hatte die Entwürfe für das Kleid schon öfters gesehen, doch erst jetzt war es ernst. Wie würden die anderen auf ihre so außergewöhnliche Armhaltung reagieren?
Sie blickte noch einmal zurück zu ihrer Mutter und lächelte ihr zu. Sie hätte gern gewinkt, doch sie hatte sich schon lange daran gewöhnt, von Zeit zu Zeit auf ihre Arme verzichten zu müssen. Ihr letzter Blick ging zu Paul, der in seiner schicken Uniform am Fenster stand und auf seinen Auftritt wartete.
Was ihre Dienerinnen tragen würde, wusste Maria gar nicht. Das wurde ihr aber erst bewusst, als sie sie auf dem langen Korridor erblickte.
Doris trug ein schickes Kleid und dazu die Ketten, die sie seit längerem immer trug. Renate hatte sich dafür extra eine Begründung einfallen lassen, die nicht allzu sehr an den Haaren herbei gezogen war. Die Betreuerin ahnte, wie viel es der Schmiedetochter bedeutete, hier einmal ihre Ketten zeigen zu dürfen.
Amelie trug ein Kleid aus rotem Samt, bei dem die Arme nicht sichtbar waren. Sofort fiel Maria ein, was sie über den Entwurf für ihr Brautkleid gesagt hatte. Dieses Kleid schien der gleiche Grundentwurf zu sein.
Doch am interessantesten sah Leonie aus. Auf den ersten Blick sah es aus, wie ein altmodisches Tanzkleid, doch als Maria genauer hinschaute, erkannte sie, dass Leonie ihren rechten Arm sehr steif am Körper trug. Und auch der linke Arme wirkte seltsam steif. Auch der hohe Spitzenkragen fiel Maria auf, weil er fast bis ihr Kinn reichte. Doch am meisten war Maria fasziniert von Leonies glücklichen Augen.
»Du strahlst, als wenn du einen Heiratsantrag bekommen hättest.« Maria war von ihrem glücklichen Blick geradezu angezogen.
»So etwas ähnliches ist auch passiert.« Leonie drehte sich mit dem ganzen Körper zu Holger um. »Er hat mich etwas ganz Schönes gefragt.«
»Na dann herzlichen Glückwunsch.« Maria hatte eine Ahnung, welches Band die beiden Verliebten ab sofort verband. Sie äußerte ihre Vermutung. »Du bist ab sofort seine Gefangene?«
»Ja, genau das hat er mich gefragt«, wiederholte sie und strahlte dabei bis über beiden Ohren. »Und ich habe ja gesagt.«
»Was trägst du denn für ein tolles Kleid?« Maria wollte weiter ihre Neugier stillen.
»Seit ihr bereit für euren Auftritt?« Renates Stimme schallte durch den Korridor und erinnerte die Mädchen an ihre eigentliche Aufgabe.
»Ein ganz strenges.« Leonie kam nicht umhin, Maria noch eine kurze Antwort zu zuflüstern, dann setzten sich die Mädchen langsam in Bewegung.
»Jeder bitte auf seinen Platz.« Renate sah, dass Maria sich etwas unsicher umblickte. »Die Katerina kommt gleich nach mir.« In dem Spiel hatte Renate außerdem die Rolle als Zeremonienmeisterin. Früher wurde dieses Amt natürlich immer von einem Mann besetzt, doch in der jüngeren Zeit sah man das nicht mehr so genau.
Maria ging die wenigen Schritte zu der Stelle hinter Renate, dann stellte sie sich erwartungsvoll auf.
»Doris, du stellst dich bitte gleich hinter Maria.« Sie blickte zu der Schmiedstochter. »Du wirst Maria mit den Türen helfen. Du hast wenigstens noch die Arme frei.«
Doris blickte sich verwundert um. Nachdem sie die Kleider der anderen Dienerinnen gemustert hatte, lächelte sie ein wenig verlegen. »Das werde ich machen.« Sie war sich immer noch sehr unsicher, wie die Leute auf ihre Ketten reagieren würden, doch zumindest Renate tat so, als wären sie etwas ganz Selbstverständliches.
* * *
»Ah, sie kommen.« Hans packte die kleine Kamera weg. »Warum wolltest du denn Fotos von der leeren Stadthalle haben?« Er blickte etwas verwundert auf seine Freundin.
»Das hatte einen ganz banalen Gund.« Andrea lächelte ein wenig verlegen. »So bist du nicht auf den Gedanken gekommen, dich heimlich in Marias Garderobe zu schleichen.«
»Du bist ein Biest.« Hans stand der Mund auf. »Wir rechnen zu Hause ab.« Es war ihm deutlich anzusehen, dass er diese Möglichkeit, an Fotos für sein Venuskorsett zu kommen, übersehen hatte. Und jetzt ärgerte er sich doppelt über die verpasste Gelegenheit.
»Jetzt sieh zu, dass wir schöne Fotos von den Tänzen bekommen.« Andrea blickte sich in der jetzt etwas umgestalteten Stadthalle um. Ein paar Elemente der Dekoration vermittelten wirklich den Eindruck, als würden sie sich in einem Barockschloss befinden. Doch es war auch deutlich zu sehen, dass die Handwerker bei weitem noch nicht fertig waren. Doch letzteres war für die Generalprobe nicht ganz so wichtig.
* * *
Robert Greinert kam in den Garderobengang und bat um etwas Ruhe. »Wir werden jetzt den Beginn des Balles proben.« erklärte er nach der Begrüßung der Teilnehmer. »Es geht nur darum zu klären, ob Morgen alles glatt gehen wird. Gibt es soweit noch Fragen?«
Jemand fragte nach dem konkreten Ablauf.
Robert Greinert wandte sich an Renate. »Wollen sie es noch einmal erklären? Ich glaube, sie haben den besseren Überblick.«
»Sobald die Musik ertönt, werden wir einziehen. Zunächst Herzog und Herzogin, dann das Gefolge. Wenn alle auf ihren Plätzen sind, wird die Katerina mit ihren Damen hereingeführt.« Renate blätterte in ihren Unterlagen. »Und dann wird der Prinz hereinkommen, die Katerina auswählen und dann den Verlobungsball tanzen.«
Maria suchte den Blick von Paul. Er lächelte zurück.
»Danach proben wir noch die anderen Tänze.« Auf einmal wurde Renate rot und ließ die Mappe sinken. »Scheibenkleister. Ich habe die Tanzproben für die Dienerinnen vergessen.«
Robert spürte, dass er helfen musste. »Können wir das morgen früh noch nachholen?« Er blickte fragend in die Runde.
Die drei Mädchen realisierten erst nach einiger Zeit, dass er auf eine Antwort von ihnen wartete. »Von mir aus gern.« Doris war die Erste, die antwortete. Danach stimmten auch die anderen zu.
»Die genaue Uhrzeit gebe ich noch bekannt.« Renate blätterte immer noch in ihrer Mappe. »Wie konnte ich das nur übersehen.« Sie war sichtlich verlegen.
»Was müssten wir denn machen?« Doris war im Moment noch am Wenigsten abgelenkt.
»Es geht eigentlich nur darum festzustellen, ob die Kostüme in Ordnung sind und ob es sich damit tanzen lässt.« Er blickte etwas skeptisch zu Leonie. »Ich denke, es reicht, wenn sie heute etwas Walzerähnliches zeigen.« Er räusperte sich kurz.
»Ich bitte noch mal um Aufmerksamkeit.« Er sprach jetzt deutlich lauter. »Auf der Bühne ist eine rote Linie aufgemalt. Bitte achten sie alle darauf, dass sie diesen Strich beim Tanzen nicht überschreiten. Es soll sie immer daran erinnern, dass gleich danach der Zuschauerraum kommt und sie sonst hinab fallen würden.«
»Sind alle bereit?« Renate war erleichtert, dass sich ihr Fehler noch so einfach korrigieren liess. »Ich würde dann der Musik das Zeichen geben, dass es losgehen kann.«
Herzog und Herzogin betraten als erste den Saal, nachdem ihnen die Türen geöffnet wurde. Unter den sehr feierlichen Klängen des Orchesters gingen sie zielstrebig auf die beiden Stühle zu, die vor Jahren schon von einem sehr detailverliebten Handwerker in den Thron für das Herrscherpaar verwandelt wurden und nahmen darauf Platz.
Unter den Klängen eines alten Triumpfmarsches nahm danach auch das Gefolge Platz und gemeinsam warteten sie auf das Ende des Musikstücks.
Wieder trat Robert Greinert vor an die Bühne, doch dieses Mal drehte er sich zu den Schauspielern auf der Bühne. »Der Moderator musste heute kurzfristig absagen, weil er seine Frau ins Krankenhaus bringen musste.« Er warf Renate einen besorgten Blick zu. »Morgen wird er wie in den Jahren zuvor durch das Schauspiel führen und die einzelnen Teile erläutern.«
»Hier wären die Texte, die er vortragen wird.« Sie reichte Robert ein paar Blätter. »Ich hatte ihn gebeten, seine Moderation zumindest stichwortartig aufzuschreiben.«
Der Vorsitzende war einen kurzen Blick darauf. »Als nächstes kommt die Begrüßung der Ehrengäste.« Er blickte zum Bühneneingang, neben dem ein paar Stühle aufgebaut waren. »Wir werden heute ein paar Zuschauer haben, die sich vom Verlauf der Proben ein Bild machen wollen.« Er stellte den Notar und seine Tochter sowie den Sparkassendirektor vor.
Renate machte ihn darauf aufmerksam, dass auch Pauls Oma und Marias Erzieherin im Zuschauerraum anwesend waren.
»Das fängt ja gut an.« Selma lächelte ihre Freundin Mrs. Potter an. »Hoffentlich tanzen sie wenigstens ordentlich.«
Dorothea lächelte nur. »Maria wird das schon gut machen.«
Maria zitterte ein wenig, denn in wenigen Momenten würde sie sehr vielen Leuten ihr Kunststück zeigen. Sie empfand es überhaupt nicht mehr als eine Fesselung, sondern eher wie eine besondere Gymnastikübung. Sie wusste, dass Paul dann, wenn sie das Gebet trug, nicht von ihrer Seite weichen würde und sie notfalls sogar auf die Toilette begleiten würde, um ihr dort zu helfen. Er erst gab ihr die Kraft, trotz dieser so grausam aussehenden Armhaltung selbstbewusst und glücklich aufzutreten.
Doch jetzt war er noch nicht da. Sie stand allein mit ihren Dienerinnen in der noch leeren Stadthalle am Bühneneingang und wartete auf ihren Auftritt. Natürlich standen die Mitglieder der Wachmannschaft um sie herum und vermittelten ihr die nötige Sicherheit, doch sie sehnte sich nach der Nähe von Paul, ihrem Prinzen; nicht nur im Spiel, sondern auch im richtigen Leben.
Neben sich sah sie den Neffen des Barons stehen und mit Schaudern dachte sie daran, dass sie ursprünglich mit ihm das Fest hätte spielen sollen. Ein wenig verwunderlich war es schon mit ihm. Als er für die Rolle nominiert war, interessierte es sich überhaupt nicht dafür, doch seit Paul die Rolle bekommen hatte, wich er quasi nicht von ihrer Seite.
Beim vorvorletzen Spiel war es einmal vorgekommen war, dass der Prinz die falsche Dame ausgewählt hatte, da ja für seine Wahl alle Damen mit weiten Umhängen bis über den Kopf verhüllt waren, so dass nicht einmal ihre Kleider sichtbar waren. Seitdem war ausgemacht worden, dass jede der Damen, wenn der Prinz vor ihnen stand, kurz ihren Namen zu flüstern hatte, damit eine solche Verwechslung ausgeschlossen war. Doch Maria war sich sehr sicher, dass Paul sie auch so erkennen würde.
Die Musik der Barock-Pfeiffer setzte ein und auf ein Zeichen von Renate setze sich die Katerina mit ihren drei Dienerinnen in Bewegung in Richtung auf das kleine Podest, auf dem sie dann mit dem Gesicht zum Publikum hinstellten. Sofort kamen einige der Damen aus der Wachmannschaft und verhüllten sie über den Kopf bis zum Boden mit weiten Tüchern.
Renate trat vor das noch nicht vorhandene Publikum und las aus den Moderationsnotizen vor. Es waren nur Stichworte, aus denen der Moderator erst die richtigen Texte machte. Inhaltlich ging es darum, dass sich als nächstes der Prinz seine Braut auszusuchen hatte und gemäß der Überlieferung wollte der Vater verhindern, dass er sich die Katerina aussuchen und mit ihr tanzen konnte, um so die Verlobung rechtsgültig zu machen.
Paul hatte ein wenig Lampenfieber, als er jetzt als letzter an dem Bühneneingang stand und auf seinen Auftritt wartete. Es war für den Prinzen die wichtigste Stelle im ganzen Spiel und er war entschlossen, sie auch mit Bravour hinter sich zu bringen. Er fragte sich, wie wohl dem echten Prinzen zumute war, als er kurz davor war, sich seine Katerina aussuchen zu müssen.
Die Überlieferung besagte, dass eine mitleidige Dienerin das Liebespaar die Intrigen des Herzogs verraten hatte und das Liebespaar ein Erkennungszeichen ausgemacht hatte.
Auf einmal wurde Paul siedendheiß bewusst, dass er und Maria eben noch kein Zeichen ausgemacht hatten. Die Sage berichtete von einer Dreiecksbewegung mit dem Kopf, doch er war sich nicht sicher, ob Maria sich daran noch erinnern würde, was ihnen seine Oma vor einigen Wochen über das Spiel erzählt hatte.
Das Blasorchester spielte eine kurze Fanfare, welche im Spiel den Prinzen ankündigte.
Paul bekam von Renate noch schnell ein 'toi-toi-toi' zugeflüstert, dann setzte er sich in Bewegung.
Schon auf den ersten Blick sah er, dass Maria auf dem Podest die zweite von links war. Erst konnte er gar nicht so genau sagen, woran er sie erkannte, doch obwohl alle vier Mädchen durch die Seidentücher verhüllt waren, war ihm sofort klar, wer wo stand.
Doch dann wurde ihm klar, dass nur ein einziges Mädchen selbst unter den Tüchern so aufrecht und gerade stand, wie es nur die Balletstiefel bewirken konnten. Und als er genauer hinsah, konnte er auch die Spitzen vom Marias Stiefeln unter den Tüchern erkennen.
Gemäß der Rolle hatte er sich zunächst vor dem Herzog zu verbeugen, dann auf eine Handbewegung des Herzogs hin, trat er auf die vier verhüllten Gestalten zu und schritt an ihnen vorbei. Es diente natürlich auch dazu, um sie gegebenenfalls noch an ihrem Flüstern zu erkennen. Doch für Paul bedeutete es nur, dass seine Wahrnehmung richtig war. So blieb er schließlich vor Maria stehen.
Die Diener nahmen jetzt die Hülle von Maria herunter und Paul führte sie auf die Tanzfläche, nachdem er ihr von dem Podest herunter geholfen hatte.
Nach einem gemeinsamen Blick zu den Barock-Pfeiffern setzte die Musik ein und das Paar begann mit dem so lange erwarteten Tanz.
Nach ungefähr einer Minute unterbrach Renate den Tanz. »Ich muss ein wenig auf die Zeit achten.« Sie gab der Musik das Zeichen für den nächsten Tanz. »Wir müssen die anderen Tänze auch noch proben, und es ist gleich vier Uhr.«
Paul und Maria blickten gespannt auf die drei Mädchen, die sich jetzt mit Herzklopfen auf ihren großen Auftritt vorbereiteten. Obwohl es dafür nicht unbedingt ein historisches Vorbild gab, wurde es doch schon seit vielen Jahren so gehandhabt, dass der zweite Tanz der Katerina und ihrer Dienerin gehörte. Dieses Mal tanzten vier Paare diesen Tanz, und alle acht Darsteller strahlten vor Freude.
Renate stand an der Seite und war sichtlich erleichtert, dass alles so gut verlaufen war. Bis auf die vergessene Tanzprobe gab es keine weiteren Pannen, und alle Mädchen hatten gezeigt, dass sie in ihren Kleidern in der Lage waren, die Tänze aufzuführen, auch wenn der Tanz der Dienerinnen mit der historischen Vorlage wenig gemeinsam hatte.
Franz-Ferdinand stand die ganze Probe über am Rand der Bühne und schaute dem Historienspiel gebannt zu. Auch er war von Marias Fähigkeiten mehr als begeistert, und vor allem deswegen hatte er Bedenken, ob sein Plan oder besser der Plan seines Onkels mit der Entführung von Maria wirklich richtig war.
Es war zwar alles vorbereitet, der Sekt und das Schlafmittel standen bereit, und er war sich auch sicher, dass Maria ihm in diesen Mörderstiefeln auch nicht weglaufen konnte. Er wäre sicher in der Lage, sie einzuholen. Aber ob es wirklich richtig war?
Es war ein gefährliches Spiel, das er vorhatte, doch er musste es riskieren, um das Schloss seines Onkels zu retten. Er konnte als Mitglied der Wachmannschaft immer in Marias Nähe sein und er hatte auch den Eindruck, als würde sie ihm zumindest in diesem Aspekt vertrauen. Er hatte schon mit dem Notar gesprochen, doch die Bedingungen des Testaments waren erst erfüllt, wenn Maria auf dem Fest getanzt hatte und nicht nur auf der Generalprobe. Dass hatte Herr Schrumm ihm auf seine Nachfragen hin mehrmals deutlich mitgeteilt.
»Herr Steinhagen bittet um Gehör.« Renate hatte die vier Paare nach einer kurzen Verschnaufpause zu sich gebeten und übergab das Wort jetzt an den Sparkassendirektor.
»Ich möchte ihnen zunächst für ihre gute Leistung danken.« Er blickte vor allem auf die vier Darstellerinnen. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht einfach ist, sich mit diesen Einschränkungen so elegant zu bewegen.«
Er applaudierte und die anwesenden Herren setzen ein.
»Meine Frau und ich möchten sie, die vier Paare heute Abend zum Essen in die goldene Traube einladen.« Er blickte in die Runde. »Und natürlich haben wir Verständnis dafür, wenn sie weiterhin für ihre Rolle üben möchten.« Er blickte sowohl Maria als auch Doris deutlich an.
Doris war kurz davor, in Ohnmacht zufallen. Theo musste sie festhalten. »Wir bedanken uns sehr für die Einladung.«
Auch die anderen Paare bedankten sie sehr für die Ehre, schon wieder in das teuerste Restaurant der Stadt eingeladen zu werden.
»Meine Frau ist auch sehr gespannt auf das Gebet.« Er wandte sich direkt an Paul und Maria. »Sie würden uns eine große Freude machen, wenn sie es noch einmal vorführen würden.«
»Aber nicht zu lang.« Paul fühlte sich dazu berufen, Maria zu verteidigen. »Erst einmal braucht sie eine Pause.«
Maria wollte widersprechen, doch dann sah sie den strengen Blick von Paul und schluckte ihre Worte ungesagt herunter. Sie war ein wenig genervt von seiner übertriebenen Fürsorge, doch natürlich wusste sie auch, dass er es gut mit ihr meinte und nur das Beste für sie wollte.
»Jetzt gibt es erst mal Kaffee und dann gehen wir hinüber zur Kirche.« Renate hatte wieder ihre Mappe in der Hand. »Die Pfarrerin erwartet uns um fünf.«
* * *
Andrea und Hans waren auf dem Weg zur Redaktion. Die Reporterin hatte es eilig, weil sie vor Redaktionsschluss ihren Artikel noch fertig haben wollte.
»Warum musste ich mit dir kommen?« Hans keuchte fast ein wenig, als er versuchte, mit seiner Freundin Schritt zu halten. »Die Fotos sind doch etwas später dran.«
»Ich wollte dich dort nicht allein lassen.« Andrea kannte ihren Freund nur zu gut. »Damit du nicht noch auf dumme Gedanken kommst.«
»Du verstehst das nicht.« Hans war empört.
»Aber du hast doch sogar einen Termin bekommen.« Andrea schüttelte den Kopf.
Hans schwieg einen Moment. »Es ist das Jagdfieber, verstehst du?«
»Und dafür ruinierst du das Leben eines Mädchens.« Andrea blieb kurz stehen. »Lass ihr doch den Triumph.«
»Das verstehst du nicht.« Hans wiederholte seine Worte.
»Ich verstehe, dass du exklusive Fotos möchtest.« Andrea blickte ihn ernst an. »Aber dafür machst du den Traum eines jungen Mädchens kaputt. Lass ihr doch die Freude, das Gebet zu zeigen.« Sie ging weiter.
»Ich glaube, du hast Recht.« Hans tiefer Seufzer zeigte, wie sehr er innerlich zerrissen war.
* * *
Robert Greinert trat an Renate heran. »Was meinen sie, sollten wir von den Musikern Stillschweigen verlangen? Es haben jetzt ja doch viele das Gebet gesehen.«
»Meinen sie?« Renate war skeptisch. »Die meisten von ihnen haben doch nur in die Noten geschaut.«
»Sie meinen, sie hätten das gar nicht mitbekommen?« Der Vorsitzende war verwundert.
»Es war ohnehin nicht viel zu sehen.« Renate versuchte ihn zu beruhigen. »Ich denke, wenn wir von ihnen Verschwiegenheit verlangen, machen wir sie erst recht darauf aufmerksam. Landsbach ist in der Beziehung ein Dorf.«
»Na gut.« Robert sah es ein. »Wir werden also keine schlafenden Hunde wecken.« Er blickte kurz auf seinen Notizzettel. »Weiß die Schmiedetochter schon von ihrer großen Aufgabe?« Es war nicht herauszuhören, ob er das 'groß' ironisch meinte oder nicht.
»Ich wollte als nächstes mit ihr sprechen.« Renate blickte suchend durch den Saal. »Da drüben stehen sie.«
* * *
»Doris, hättest du einen Moment Zeit?« Renate hielt ihre Mappe in der Hand und war auf die Schmiedetochter zugekommen. »Auf dich kommt in der Kirche noch eine ganz besondere Aufgabe zu.«
Theos Verlobte war erstaunt. »Was ist es denn?«
»Die Katerina wird in der Kirche die ganze Zeit das Gebet tragen.« Renate holte tief Luft.
»Dann kann sie ihre Arme nicht benutzen.« Doris setzte den Gedanken fort.
»Richtig«, bestätigte Renate. »Und deswegen sollst du dem Prinzen den Ring an den Finger stecken.«
Jetzt war es an Doris, tief Luft zu holen. »Dazu würden die Ketten ja gar nicht passen.« Sie war ein wenig verlegen. »Aber das wird Theo nie erlauben.«
»Ich werde mit ihm reden«, bot Renate an.
»Ich habe meinen Namen gehört?« Theo stand nur ein wenig abseits und kam jetzt näher.
»Doris soll am Sonntag als Dienerin der Katerina dem Prinzen den Ring an den Finger stecken.« Renate bemühte sich um einen sachlichen Tonfall.
Theo lächelte. »Und dafür soll ich dir die Ketten abnehmen.« Er streichelte ihr zärtlich über den Kopf.
Doris hielt den Blick zu Boden gesenkt. Zu einer Antwort war sie nicht fähig.
»Das machen wir schon.« Theo ahnte, in welcher Zwangslage sich seine Verlobte gerade befand. Er wollte sie nicht unnötig demütigen, stattdessen legte er den Arm um sie. »Du wirst eine gute Dienerin sein.«
Doris blickte ihn verliebt an. Sie war erleichtert, dass sie nicht von sich aus um ihre Freilassung bitten musste. Sie rang sich ein schüchternes 'Danke' heraus.
* * *
»Wo kommen sie denn her?« Mrs. Potter war erstaunt, als sich auf einmal Marias Mutter neben sie und Frau Mohr setzte.
»Ich war oben auf der Empore«, erklärte Frederike mit sehr bewegter Stimme. »Ich wollte die Probe verfolgen können, ohne dass sie mich sieht.«
»Warum muss Maria gerade diese Stiefel tragen?« Selma war ein wenig aufgebracht. »Ich weiß zwar, dass sie es kann, aber ist das Gebet nicht schon Anstrengung genug? Außerdem ist das Kleid viel zu kurz.«
»Sie haben Recht, es sieht sehr nach Schikane aus.« Frederike machte eine Pause, weil sie ihre Argumentation überdenken wollte. Doch dann verwarf sie ihren Plan. »Wenn sie mir versprechen, Maria und Paul nichts davon zu sagen, sage ich ihnen den wahren Grund.«
Selma und Dorothea blickten Marias Mutter nur mit großen Augen an.
»Es handelt sich um Folgendes.« Frederike machte noch einmal eine Pause, dann erläuterte sie mit bewusst leiser Stimme die wahren Hintergründe des diesjährigen Festes.
»Das ist allerdings ein sehr guter Grund.« Selmas Stimme zeigte, wie beeindruckt sie war.
»Aber was sollen wir den Leuten erzählen, wenn sie Fragen stellen?« Mrs. Potter war von der Nachricht ebenfalls tief bewegt. »Und was wissen Paul und Maria darüber?«
Frederike hatte sich mit dieser Fragestellung schon länger befasst. »Den Leuten sagen sie einfach, dass die Stiefel Maria bei dem Gebet helfen. Das ist ja schließlich auch die Wahrheit.« Sie gab noch einmal die Argumente wieder.
»Und für unsere zwei Verliebten?« Selma blieb zunächst skeptisch.
»Sie wissen, dass ein Sponsor sich das so gewünscht hat.« Frederike lächelte ein wenig verlegen. »Das ist ja nicht einmal gelogen.«
»Dünnes Eis.« Mrs. Potter gab wieder, was sie dachte. »Das ist aber ganz dünnes Eis.«
»Ich möchte einfach, dass sie das Fest ganz unbeschwert hinter sich bringen können.« Frederike erläuterte ihre Linie. »Sonst haben sie die ganze Zeit nur das Geld im Kopf und verderben womöglich noch das Spiel.«
»Und wann werden sie es erfahren?« Selma war mit der Argumentation einverstanden.
»Gleich Sonntag Nachmittag, wenn alles vorbei ist, wird Notar Schrumm es ihnen bekannt geben.« Marias Mutter berichtete von dem Besuch des Notars bei ihr. »Ich habe ihm diesen Termin vorgeschlagen, weil sie vorher noch mit dem Fest beschäftigt sind.«
»Das ist ein guter Plan.« Mrs. Potter revidierte ihre vorhin geäußerte Meinung.
»Jetzt lassen sie uns in die Kirche gehen.« Frederike stand auf. »Ich bin schon sehr gespannt, wie Maria vor dem Altar aussehen wird.« Sie lächelte verträumt.
* * *
»Nettes Outfit, so mit den Ketten.« Christine Wolkenberg war sehr erstaunt, als sie ihrer Schwester Leonie über den Weg lief. »Hast du endlich jemand gefunden, der dich gefangen hält?« Der Spott war deutlich in ihren Worten zu hören.
Leonie blieb der Mund offenstehen. »Wo kommt ihr denn auf einmal her?« Sie stand auf einmal ihrer Schwester mit ihrem Freund sowie ihren Eltern gegenüber.
»Du siehst gut aus, mein Schatz.« Leonies Mutter Anna Wolkenberg begrüßte ihre Tochter. »Du machst einen sehr glücklichen Eindruck.«
Leonie war immer noch sehr verwundert. »Was wollt ihr denn hier?«
»Wir freuen uns auch, dich wieder zu sehen.« Franz, der Mann von Anna, war ebenfalls recht erfreut, seine zweite Tochter gesund wieder zu sehen. »Frau Mohr hat uns von dir berichtet und dass du bei diesem Historienspiel mitmachen wirst. Deswegen sind wir hier.«
»Wir haben uns Hotelzimmer genommen und wollten dich besuchen.« Christine berichtete, dass Pauls Oma sie für den Abend eingeladen hatte. »Aber möchtest du uns nicht deinen Begleiter vorstellen?« Sie grinste wissend.
Leonie war auf einmal sehr verlegen. Sie blickte mit hochrotem Kopf zwischen ihrer Familie und Holger hin und her.
»Ich passe auf die Dienerin der Prinzessin Katerina auf.« Holger war ebenfalls etwas verlegen, trotzdem ließ er die Leine, an der er Leonie führte, nicht los.
»Das sind echte Ketten, wo sind die her?« Franz begutachtete Leonies Fesseln mit einem gewissen Kennerblick.
»Frau Mohr hat die für mich machen lassen.« Leonie berichtete mit leiser Stimme von ihrer so außergewöhnlichen Gastgeberin.
»Ja, sie hat uns berichtet, dass du bei ihr gefangen sein wolltest.« Anna strich ihrer Tochter über den Kopf. »War es schön?«
»Es ist schön.« Leonie blickte etwas schüchtern zu Holger, doch etwas Weitergehendes traute sie sich nicht zu sagen.
»Ich glaube, wir müssen weiter gehen.« Holger wollte nicht unhöflich sein, aber er sah, dass fast alle anderen Beteiligten des Festes schon am Kirchenportal waren.
»Wir sehen uns ja heute Abend bei Frau Mohr.« Franz blickte zu Holger. »Werden sie auch kommen?«
Holger zuckte mit den Achseln. »Sie hat mich nicht eingeladen.«
Leonie ahnte, dass sie jetzt ihre Chance nutzen musste. »Du kommst mit.« Sie blickte ihn bestimmt an.
»'Topping from the bottom' ist böse.« Christine lachte. »Du bist immer noch die Alte.«
* * *
Die Pfarrerin Tanja Reger öffnete das große Kirchenportal und bat die Anwesenden in die Kirche. »Bitte kommen sie herein.«
Renate hatte wieder ihre Mappe in der Hand, als sie mit den Anderen vorn am Altar angekommen war. »Wir müssen vor allem besprechen, was wir dieses Jahr anders machen müssen.«
Doch die Pfarrerin musste passen. »Es ist mein erstes Katerinenfest.«
»Aber sie kannten sich doch aus.« Renate erinnerte sich an die Szenen vom Probenwochenende.
»Meine Vorgänger haben alles gut notiert.« Frau Reger berichtete, dass sie sich über die bisherigen Feste in den Archiven der Kirche informiert hatte.
»Es ist eigentlich wie eine normale Trauung.« Renate gab wieder, was sie aus ihren Unterlagen entnehmen konnte. »Nur dass die Braut nicht über ihre Arme verfügt.«
»Also ein normaler Gottesdienst mit einer Trauung. Ich habe mich schon etwas mit dem Fest befasst.« Die Pfarrerin lächelte. »Was müssen wir denn alles proben?«
»Die Ringszene sollten wir auf jeden Fall einmal durchspielen.« Renate blickte in ihre Unterlagen. »Es sollte jeder wissen, wo er sitzt und den Auszug aus der Kirche sollten wir auch noch proben.«
»Dann besprechen wir als erste die Sitzverteilung und machen dann den Auszug.« Pfarrerin Reger verfolgte einen bestimmten Plan. »Dann können wir die anderen schon nach Hause schicken.«
Die Verteilung der Plätze in der Kirche war schnell erledigt, und so konnte Renate vor die Gruppe treten und das weitere Programm bekannt geben. »Wir stellen uns jetzt für den Auszug auf und gehen mit Musik hinaus. Alle bis auf das Prinzenpaar und Doris sind dann fertig.«
Sie warf einen Blick auf die Barock-Pfeiffer, die sich ihren Platz gesucht hatten und jetzt auf ihren Einsatz warteten. Fritz signalisierte, dass die Musiker bereit waren.
Renate las aus ihrer Mappe die Reihenfolge des feierlichen Auszugs vor und bat die Anwesenden, sich entsprechend aufzustellen.
Als alle auf ihren Plätzen standen, gab sie der Musik das Zeichen. Unter feierlichen Klängen schritten die Schauspieler auf das Portal zu. Zwei Mitglieder aus der Wachmannschaft öffneten die Tore und die Gruppe betrat den Platz vor der Kirche.
Es hatte sich schon ein wenig herumgesprochen, dass Maria das Gebet tragen würde und so wurden sie jetzt schon von einigen Schaulustigen begrüßt, die bei Marias Erscheinen sofort in Applaus und Jubel ausbrachen.
»Ein kleiner Vorgeschmack auf Sonntag«, flüsterte Paul leise.
Maria seufzte leise.
Vor der Kirche würde am Sonntag die Kutsche stehen, mit der sie durch die Stadt fahren würden. Heute standen auf dem Vorplatz nur zwei Stühle auf einem Podest.
»Die Pferde fehlen.« Maria hatte ein Lächeln in der Stimme. »Soll ich Wildfire rufen?«
»Das wäre eine tolle Idee.« Paul musste ebenfalls schmunzeln. »Das würde einen gewaltigen Aufruhr geben.«
»Schau mal, wer das ist.« Maria blickte auf die Zuschauer, während sie sich auf ihren Stuhl setzte. »Winkst du mal für mich?«
Paul war Marias Blick gefolgt und hatte die Familie Wolkenberg ebenfalls entdeckt. Doch bevor er Marias Bitte nach kam, vergewisserte er sich, dass Renate gerade wegschaute. Das Winken gehörte an dieser Stelle nicht zum Spiel.
»Wir müssen jetzt nur noch die Ringszene proben.« Pfarrerin Reger blickte sich um, als die verbliebenen Darsteller wieder in der Kirche versammelt waren. »Wie habt ihr euch das gedacht?«
Renate legte ihre Mappe beiseite. »Doris steckt der Prinzessin den Ring zwischen ihre Finger, und Maria steckt ihn dann dem Prinzen an den Finger. So hatten wir uns das überlegt.«
Frau Reger blickte etwas unsicher zwischen Maria und Doris hin und her. »Mit den Ketten?« Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie über Doris' Erscheinung irritiert war.
»Am Sonntag wird sie keine Ketten tragen.« Theo antwortete schnell auf die gestellte Frage. Er wollte Nachfragen nach den Ketten vermeiden.
»Hier sind die Ringe.« Renate holte sie aus ihrer Jackentasche und reichte sie Doris und Paul.
»Wartet einmal.« Pfarrerin Reger hatte sich hinter Maria gestellt und brachtete ihre Arme. »Das geht doch so gar nicht.«
»Was geht nicht?« Renate schreckte auf. Hatte sie schon wieder etwas übersehen?
»Marias Hände sind doch gar nicht sichtbar.« Frau Reger blickte fasziniert auf die Ausbuchtung des Kleides. Von Marias Händen war wirklich nicht viel zu sehen.
»Doch, das geht.« Frederike kam hinter eine Säule hervor und ging zu ihrer Tochter.
»Mama, wo kommst du denn jetzt her?« Maria war mehr als verwundert.
»Aus dem Hintergrund.« Frederike lächelte geheimnisvoll. »Ich habe mit deiner Schneiderin noch ein paar Details ausgemacht, und ich bin sehr gespannt, ob sie es umsetzten konnte.« Sie griff am Halsansatz an das Kleid. »Hier sollte ein kurzer Reißverschluss eingearbeitet sein.« Sie wartete, bis auch Paul neben sie getreten war.
»Davon wussten wir nichts.« Er war ein wenig verlegen.
»Hier lässt sich das Kleid soweit öffnen, dass man an das Korsett heran kommt.« Sie ignorierte Pauls Einwand und öffnete das Kleid an der entsprechenden Stelle. »Und dort ist der gleiche Verschluss eingearbeitet.«
»Das hatten wir noch gar nicht entdeckt.« Das Paar war verwundert.
»Sonst würde das mit den Ringen doch gar nicht gehen.« Frederike öffnete auch das Korsett, dann strich sie ihrer Tochter über die Wange. »Jetzt probiert es einmal.«
Für Paul war es ein leichtes, den Ring über den Finger seiner Freundin zu streifen. Auch Doris hatte wenig Probleme, Maria den Ring zwischen die Finger zu stecken. Doch dann wurden sie von Renate unterbrochen. »So geht das nicht. Maria kann doch überhaupt nicht sehen, was sie macht.«
»Außerdem verliert es sehr an Würde.« Pfarrein Reger stimmte Renate zu. »Können wir dafür nicht eine andere Lösung finden?«
Maria hatte sich insgeheim über diesen Punkt auch schon ihre Gedanken gemacht. »Wie wäre es, wenn Doris den Ring gleich an Pauls Finger steckt?« Nachdem es nur ein Spiel war, bedeutete es ihr ohnehin nicht so viel.
»Man müsste das natürlich vorher erklären, aber es könnte gehen.« Die Pfarrerin war von Marias Idee angetan. »Wärst du damit einverstanden, Doris?«
»Dann müsste ich ja mit vor dem Altar stehen.« Doris dachte laut. »Wenn das in Ordnung wäre?«
»Ich denke, das ist eine gute Lösung.« Renate war erleichtert.
»Erst muss ich dir die Ketten abnehmen und dann steckst du einem fremden Mann den Ring an den Finger?« Theo war neben seine Verlobte getreten und hatte Mühe, sein ernstes Gesicht zu halten.
Doris blickte ihn verschrocken an. Sie wurde auf einmal sehr klein.
»Es sollte ein Scherz sein.« Theo nahm sie in den Arm. »Du wirst das ganz toll machen.«
»Du bist einverstanden?« Doris hatte den Einwand ihres Verlobten zunächst ernst genommen, doch jetzt war sie erleichtert. »Ich freue mich so.«
* * *
»Ich möchte mich auf jeden Fall noch einmal mit den beiden Brautleuten unterhalten.« Die Pfarrerin blickte kurz zu Paul und Maria. »Ich möchte wissen, was sie über das Historienspiel denken und ob sie die Realität vom Spiel unterscheiden können. Das wäre mir sehr wichtig.«
»Also so eine Art Traugespräch?« Paul erinnerte sich daran, dass Anna so etwas ähnliches erzählt hatte.
»Nicht direkt.« Pfarrerin Reger schien kurz nachzudenken. »Aber das möchte ich euch erklären, wenn wir allein sind.«
»Gern.« Maria ahnte auch, worum es gehen würde.
»Außerdem hätte ich noch eine ganz andere Bitte, aber die wäre ganz privat.« Ohne dass sie es wollte, wurde sie ein wenig rot dabei.
»Was wird sie wohl wollen?« Paul flüsterte, als er zusammen mit Maria auf dem Weg zum Pfarrhaus war.
»Na was wohl.« Maria gab sich gelassen. »Sie wird das Gebet sehen wollen.«
Insgeheim dachte er darüber nach, dass es ja immerhin das 'Gebet' auf dem Rücken genannt wurde, und damit war ein gewisser religiöser Bezug gegeben. Doch er wagte nicht, dass zu äußern. »Du hältst es noch so lange aus?« Ausnahmsweise sorgte er sich mal nicht um Maria, sondern wollte nur vom Thema ablenken.
»Du nervst.« Maria äußerte ihre Meinung. »So lange trage ich es doch noch gar nicht.«
Die Bitte der Pfarrerin, dass sie das vermeintliche Traugespräch mit dem angelegten Gebet führen wollte, weil es für das Spiel wichtig wäre, war leicht zu durchschauen. Und doch hatte Maria kein Problem damit, Frau Reger diesen Wunsch zu erfüllen. Doch einen anderen Gedanken versuchte sie weit von sich weg zu schieben. Wie würde es wohl sein, wenn sie zu ihrem echten Traugespräch gehen würden?
* * *
»Weißt du, wo wir hingehen müssen zu dieser Nachbesprechung?« Maria ließ die Kirchentür los und ging neben Paul her.
»In den Ratskeller, so war es angesagt.« Paul war froh, dass er Maria endlich das Gebet hatte abnehmen dürfen. Sie hatte zwar keinerlei Anzeichen von Unbehagen gezeigt, doch sein Gefühl sagte ihm, dass es jetzt genug war.
»Weißt du, wo der ist?« Maria blickte sich um. So oft war sie noch nicht in dieser zentralen Gegend gewesen.
»Ich war mit meiner Oma ab und zu mal dort.« Paul zeigte in die Richtung. »Er ist im Keller vom Rathaus.«
»Wie der Name schon sagt.« Maria lächelte.
»Hast du gesehen, was das für ein billiger Schmuck war? Nur Plastik und nicht mal besonders hübsch.« Paul gab seine Gefühle wieder, während sie auf dem Weg zur Nachbesprechung waren.
»Du hast recht.« Maria stimmte ihm zu. »Das hat mir auch überhaupt nicht gefallen.«
»Ich habe eine Idee.« Paul war etwas zurückhaltend.. »Wenn du nichts dagegen hast, den Schmuck meiner Mutter zu tragen.«
»Das würdest du tun?« Maria war sehr gerührt. Bisher hatte sie noch nie nach den Eltern von Paul gefragt, und sie spürte, dass auch jetzt nicht die richtige Gelegenheit war. Das Angebot, den Schmuck der Mutter zu tragen, ließ vermuten, dass etwas Schmerzhaftes zutage treten würde. Und darauf konnte sie im Moment gut verzichten. Sie würde ihn später einmal zu seinen Eltern befragen.
»Sie hätte bestimmt nichts dagegen.« Paul ergriff Marias Hand. Den Rest des Weges bis zum Rathaus gingen sie schweigend.
Maria hätte liebend gern tausende von Fragen gestellt, doch sie ahnte, dass mit den Antworten bestimmt einige traurige Erinnerungen verbunden waren, und die wollte sie ihrem Freund jetzt ersparen. Später würde dafür sicher auch noch Zeit sein.
Denn natürlich wollte sie auch etwas über seine Eltern erfahren. In gewisser Weise waren sie auch darüber verbunden, denn auch Maria hatte ihren Vater kaum kennengelernt und war allein bei ihrer Mutter aufwachsen.
* * *
»Hier war ich glaube ich noch nie.« Maria war ein wenig beeindruckt, als Paul die große schwere Tür am Eingang des Ratskellers öffnete.
»Es ist etwas teuerer hier, aber dafür ist das Essen sehr gut.« Er erzählte kurz von den bisherigen Besuchen.
»Wir sind hier.« Renate stand an einer Tür und bat das Paar zu sich. Es war ein kleiner Raum, in dem nur drei Tische standen. An der Tür stand das Schild 'Clubzimmer'. »Hier können wir uns gut besprechen«, erklärte Renate. »Im Restaurant ist es zu laut.«
»Und außerdem wäre es unhöflich.« Robert Greinert betrat hinter ihnen den Raum. »Nehmt bitte Platz.«
»Wer kommt denn noch alles?« Renate fragte es, als sie das Zögern des Prinzenpaares bemerkte.
Robert ging zu seinem Platz, und aus der Tasche, die er dort abgestellt hatte, zog er einen Block heraus. Mit ruhiger Stimme las er die Namen vor.
»Dann sind wir also zu zehnt.« Renate blickte sich kurz im Raum um. »Wenn wir die zwei Tische aneinander stellen, haben alle Platz.«
»Gute Idee.« Robert warf Paul einen kurzen Blick zu. Gemeinsam stellten sie das Möbilar des Raumes so um, dass alle Anwesenden einen Platz am Tisch hatten.
»Wünschen sie schon etwas zu trinken?« Eine Bedienung stand auf einmal im Raum und zückte ihren Block.
Der Reihe nach gaben sie ihre Getränkewünsche an, dann nahmen sie Platz und warteten, bis alle, die sich angesagt hatten, anwesend waren.
Robert erhob sich und begrüßte alle Anwesenden. Besonders hob er Marias Mutter hervor, mit deren Anwesenheit beim Fest eigentlich keiner gerechnet hatte.
Paul blickte sich unauffällig etwas um. Er kannte fast alle Anwesenden, nur ein Herr war ihm bisher unbekannt gewesen. Herr Greinert hatte Hans Schulte als Kassierer des Festes vorgestellt.
»Wir haben uns hier versammelt, um den Ablauf der Festes noch einmal zu besprechen und auch, um einen kritischen Blick auf die Generalprobe zu werfen, die jetzt hinter uns liegt.« Er blickte kurz zu Maria. »Wir haben dieses Jahr ein ganz außergewöhnliches Glück, denn Maria Beller wird zum ersten Mal überhaupt die Originalhaltung der Katerina vorführen, und wir freuen uns alle sehr, dass wir dabei Zeuge sein dürfen.«
Er wartete den leichten Applaus ab, dann sprach er weiter. »Es gibt ein paar wenige Aspekte, ich noch durchsprechen möchte, ansonsten bin ich mit dem heutigen Tag sehr zufrieden.« Er wandte sich an den Kassierer. »Wie sieht es dieses Mal von der finanziellen Seite aus?« In den Jahren zuvor musste die Stadt immer einen mehr oder weniger hohen Betrag aufbringen, um die Verluste des Festes auszugleichen.
Der Kassierer nahm seine vorbereiteten Zettel zur Hand und warf noch einmal einen Blick darauf. »Wir sind ausverkauft.« Seiner Stimme war zu entnehmen, dass dies etwas sehr Außergewöhnliches war. »Es wollen alle die Katerina sehen.«
Paul ergriff Marias Hand und hielt sie fest.
»Aber die Stadthalle fasst zweitausend Personen.« Robert war ehrlich erstaunt über diese Aussage.
»Ich war eben noch einmal bei der Vorverkaufsstelle.« Hans Schulte war selbst sehr beeindruckt von den Zahlen, die er verkünden durfte. »Es gibt keine Karten mehr für den Ball.« Er lies seine Zettel sinken. »Ich hatte schon so viele Anfragen, dass ich noch etwas vorschlagen möchte, wenn es erlaubt ist.«
»Bitte.« Robert war von den Nachrichten überwältigt.
»Wenn wir bekannt geben, dass die Katerina sich mit ihrem Prinzen nach dem Verlobungsball einmal vor der Stadthalle zeigt, dann könnten noch viel mehr Leute dieses unglaubliche Kunststück sehen.« Es kostete ihn einige Kraft, seinen Vorschlag auszusprechen.
Renate sah es etwas nüchterner. »Aber nach dem Verlobungsball wird es schon langsam dunkel sein.«
»Die Verwaltung sagt, dass der Platz vor der Halle ausgeleuchtet werden kann.« Er wollte seine Idee verteidigen.
»Wie wäre es, wenn wir erst einmal die Hauptdarstellerin fragen würden, ob sie dazu überhaupt bereit ist.« Frederike blickte mit etwas Sorge auf ihre Tochter.
Maria musste sich erst räuspern, bevor sie antworten konnte. »Das können wir gern machen.« Sie lächelte Paul zu.
»Entschuldigen sie, dass ich mich einmische.« Herr Steinhagen ergriff das Wort. »Die Sponsoren wünschen sich ebenfalls, dass die Katerina bei ihnen das Gebet vorführt, und ich frage mich, ob wir Maria damit nicht zuviel abverlangen.«
Maria hatte sich über den Verlauf des Wochenendes auch schon ihre Gedanken gemacht. Jetzt blickte sie ihre Mutter etwas unsicher an. In den Staaten hatte sie gegen Ende der Behandlungszeit auch noch über den Verlauf des Festes gesprochen, doch von so einer langen Tragedauer des Gebets war bisher nicht die Rede gewesen.
»Sie verlangen viel, meine Damen und Herren.« Frederike richtete sich auf. »Wann sind die Sponsorentermine?«
Renate griff zu ihrer Mappe und las die Termine daraus vor. »Wenn ich es richtig sehe, dann ist jeweils eine Stunde pro Sponsor vorgesehen.« Sie blickte Frederike ruhig an. »Und es sind vier Termine.«
»Paul, wie lange brauchst du, um Maria das Gebet ordentlich und bequem anzulegen?« Frederike blickte Marias Freund mit einer sehr ernsten Miene an.
»Ungefähr zehn Minuten.« Paul war überrascht, so plötzlich im Mittelpunkt zu stehen.
»Sagen wir eine viertel Stunde.« Marias Mutter wandte sich wieder an Renate. »Können sie es so arrangieren, dass meine Tochter zwischen den Terminen immer eine Stunde Pause hat?«
Renate blickte noch einmal in ihre Mappe. »Ich muss dafür noch ein paar Telefonate führen, aber ich denke, das lässt sich einrichten.«
»Gut, wenn das Thema soweit geklärt ist, würde ich gern zur Auswertung der Probe kommen.« Robert machte eine Pause. »Ich würde gern drei Dinge ansprechen.«
Er wartete kurz einen Moment, dann fuhr er fort. »Bei der 'Heimkehr von der Schlacht' wurde die Katerina schon von ihrem Prinzen begleitet. Das ist so eigentlich nicht richtig.«
»Warum ist es denn falsch?« Renate war ein wenig verwundert.
»Gemäß der Tradition hat der Prinz seinen ersten Auftritt erst, wenn er die Katerina am Marktplatz abholt.« Robert lächelte. »Bei der Heimkehr geht der Prinz immer bei der Herzogsgruppe mit, denn da ist die Katerina ja nur die Geisel.«
»Ich bin ja nur eingesprungen, weil die drei Dienerinnen auch von Bewachern geführt wurden.« Paul verzichtete darauf, auf die besonderen Verhältnisse aufmerksam zu machen.
»Das war ja auch gut so.« Robert blickte zu Carlos. »Aber die Geisel verdient eine besondere Behandlung. Wenn sie an der Leine geführt wird, dann sollte dies durch eine wichtige Persönlichkeit passieren - zumindest durch Chef der Wachmannschaft. Wäre das machbar?«
»Darum werde ich mich kümmern.« Carlos nickte ruhig, doch dann blickte er zu Paul und Maria. »Wenn es gestattet ist.«
Es fiel Paul schwer, sich unter Kontrolle zu halten und seine latente Eifersucht nicht zu zeigen, denn natürlich hätte er gern Maria durch die Stadt geführt. Doch zugunsten des Spiels gab er seine Zustimmung.
Robert erkannte, dass dieser Punkt geregelt war. »Dann wäre als nächstes der Tanz der Dienerinnen. Warum ist das dieses Jahr überhaupt ein Problem.« Es war ihm anzusehen, dass er die Zusammenhänge noch nicht verstanden hatte.
»In den vergangenen Jahren wurden die Dienerinnen immer von der Tanzgruppe gestellt, und die kannten die Tänze natürlich.« Renate konnte es nicht verhindern, dass sie ein wenig rot wurde. »Doch dieses Mal haben wir drei fremde Darstellerinnen.«
»Ach so.« Roberts Miene zeigte, dass er es jetzt verstanden hatte. »Und was machen wir jetzt damit?«
»Ich habe die drei Mädchen schon verständigt.« Renate hatte großes Interesse daran, ihren Fehler wieder gut zu machen. »Morgen vormittag und Samstag vormittag ist jeweils eine Probe angesetzt, und die Damen der Tanzgruppe kümmern sich um die Tänzerinnen.«
»Gut, dann wäre das auch geregelt.« Robert blickte auf seine Notizen. »Mir ist in der Kirche noch etwas aufgefallen.«
»Und zwar?« Renate war etwas verwundert.
»Wir spielen es dieses Jahr ja ein wenig anders.« Er holte tief Luft. »Die Katerina ist dieses Jahr auch nach dem Ja-Wort noch gefangen.«
»Du meinst, weil sie das Gebet noch trägt.« Renate versuchte, den Gedanken zu folgen.
»Richtig.« Robert zögerte ein wenig. »Aber es geht mir eigentlich gar nicht um Maria, sondern um die Schmiedetochter.«
»Sie darf nicht frei sein, wenn ihre Herrin noch gefangen ist?« Renate sprach ihre Gedanken aus.
»Genau das meinte ist.« Robert war ein wenig verlegen. »Frau Schwerterle müsste in der Kirche ebenfalls noch ihre Ketten tragen. Meinen sie, sie können ihr das schonend beibringen?«
»Das wird aber Wellen werfen.« Renate antwortete bewusst zweideutig, denn sie hatte die wahren Zusammenhänge längst begriffen. »Ich werde mein Bestes versuchen.«
Paul und Maria waren der Diskussion schweigend gefolgt, jetzt hatten sie große Mühe, ihre Mienen nicht zu verziehen. Sie waren Zeuge des Dialogs zwischen Doris und Theo gewesen, und sie ahnten, was diese Nachricht für Doris wirklich bedeuten würde.
»Und dann wäre da noch ein letzter Punkt, und deswegen habe ich Frau Reger dazu gebeten.« Er blickte kurz auf die Pfarrerin, die bisher geschwiegen hatte. »Bekommen wir Schwierigkeiten, wenn wir in der Kirche eine falsche Trauung durchführen?«
»Mit dieser Fragestellung habe ich mich auch schon befasst, weil es mein erstes Katerinenfest ist.« Sie legte die Arme auf den Tisch. »Wir müssen uns in dieser Richtung keine Sorgen machen. Im Gegensatz zum Katholizismus ist die evangelische Trauung streng genommen nur ein Gottesdienst anlässlich einer standesamtlichen Eheschließung, bei der das Paar sich vor Gott und der Gemeinde zueinander bekennt und verspricht, die bereits geschlossene Ehe nach dem Willen Gottes zu führen, so wie es die Bibel beschreibt.«
Sie holte tief Luft. »Ich habe mich gestern bereits mit Herrn Mohr und Frau Beller getroffen, und wir haben diese Aspekte auch in einem persönlichen Gespräch geklärt.«
»Inwiefern?« Renate wusste zwar, dass es so etwas wie eine kirchliche Schweigepflicht gab, doch hier ging es schließlich nur um ein Historienspiel.
Frau Reger lächelte. »Es handelt sich ja nur um ein Schauspiel, und ich wollte mich vergewissern, dass dies dem Paar auch bewusst ist.«
»Und das war erfolgreich?« Renate hatte erkannt, dass sie gerade auf einem schmalen Grat wanderte.
»Ich werde sie als 'Prinz Anselm' und 'Prinzessin' Katerina anreden.« Die Pfarrerin blickte kurz zu dem Paar. »Und sie haben mir versichert, dass sie sich ihrer Rollen bewusst sind.«
* * *
»Für wann hast du sie bestellt?« Andrea war in Anbetracht der kommenden Fotosession ein wenig nervös.
»Sie sollen gegen sieben Uhr hier aufkreuzen.« Hans blickte auf die Uhr. »Hast du alles vorbereitet?«
»Wieso ich?« Andrea war etwas genervt. Trotzdem hatte sie etwas zu Trinken bereit gestellt. Sie wusste, dass ihr Freund es aus dem gegebenen Anlass sicher vergessen würde. »Und was willst du alles machen?«
Hans ignorierte ihre erste Frage. Er zeigte auf den kleinen Haufen Seile, den er bereitgelegt hatte. »Und ich habe sie gebeten, doch ihren Monohandschuh mitzubringen.«
Andrea sah auf den kleinen Haufen und erkannte, dass er auch das Kopfgeschirr dazugelegt hatte. Jenes Geschirr, welches sie selbst schon länger einmal hätte tragen sollen. Doch sie hatte sich stets dagegen gesträubt. Jetzt entdeckte sie, dass sie unterschwellig eifersüchtig wurde.
Sie hasste sich dafür.
Einerseits brachte sie nicht den Mut auf, sich ihrem Freund auszuliefern, andererseits war sie eifersüchtig, wenn er seine Bedürfnisse anderswo stillte. Sie blickte ihren Freund etwas verärgert an.
Erst jetzt bemerkte sie, dass er sich umgezogen hatte. Er trug eine schwarze Lederhose und ein Netzshirt, dass sie zu einer besser passenden Gelegenheit als sexy bezeichnet hatte. Doch jetzt war es einfach nicht angebracht.
»Du siehst lächerlich aus.« Andrea sprach ihre Gedanken aus. »Willst du sie verschrecken?«
»Aber so macht man das.« Er war ein wenig beleidigt.
»Du ziehst dich wieder um, oder ich schicke sie wieder nach Hause.« Andrea war bewusst etwas wütender, als es der Anlass geboten hätte. Sie wusste, wie sie ihren Freund zu nehmen hatte.
* * *
Vom Ratskeller bis zur Goldenen Traube war es nicht weit, und der Weg führte Paul und Maria auch noch an dem Hotel vorbei, in dem sich Amelie und Leonhard einquartiert hatten. Herr Steinhagen hatte sie eingeladen und dabei angemerkt, dass jeder Verständnis haben würde, wenn sie noch etwas für ihre Rolle üben wollten.
Maria war sich sicher, dass Amelie mit dieser Formulierung nichts anzufangen wusste, deswegen suchten sie sie im Hotel auf, um ihnen die »Übersetzung« dieses Satzes mitzuteilen.
Sie fanden sie in der Bar, und wie Maria es erwartet hatte, waren bei Amelie keinerlei Fesseln zu sehen. Deswegen platzte Maria auch gleich nach der Begrüßung mit ihrer Mitteilung heraus.
»Bist du sicher?« Leonhard war verwundert. »Wir können doch nicht mit den Ketten in das beste Haus am Platz gehen.« Er verwies auf die Prospekte, die das Restaurant im Hotel hatte auslegen lassen.
»Doch.« Maria versuchte, besonders überzeugend zu sein. »Genau das meint er.« Sie blickte zwischen Amelie und Leonhard hin und her. »Paul wird mir später noch das Gebet anlegen.« Sie hoffte, dass ihre Argumente ausreichend waren.
»Wenn man uns so bedrängt, dann müssen wir dem wohl nachgeben.« Amelie lächelte ihren Verlobten an. »Komm, wir gehen noch einmal kurz auf unser Zimmer.«
* * *
»Renate wird dich morgen um einen großen Gefallen bitten.« Maria war auf Doris zugetreten, als diese ebenfalls im Restaurant erscheinen waren. Pauls Freundin hatte Mühe, ein ernstes Gesicht zu machen.
»Um was geht es denn?« Doris war von der Generalprobe und ihren Auftritten noch sehr beeindruckt.
»Die Katerina steht ja mit dem Gebet vor dem Altar.« Maria begann mit ihrer Ankündigung vorsichtig.
»Und ich muss dem Prinzen den Ring an den Finger stecken.« Doris gab wieder, was sie schon wusste und geübt hatte.
»Naja, die Sache ist die.« Maria druckste absichtlich etwas übertrieben herum. »Die Katerina trägt ja auch nach der Kirche noch das Gebet.«
»Das habe ich jetzt verstanden.« Doris war etwas ungeduldig. »Komm zur Sache.«
»Dann darf die Dienerin nicht schon frei sein, habe ich recht?« Theo hielt seine Verlobte im Arm und blickte sie verliebt an.
»Das ist klar.« Doris blickte etwas verwundert, doch dann glitt auf einmal ein Erstaunen in ihr Gesicht. »Ich bin in der Kirche auch noch gefangen und muss die Ketten tragen?«
Maria lächelte. »Das wird dir Renate morgen noch beibringen wollen, und es wäre gut, wenn du etwas betrübt wärst.«
Doris strahlte. »Das wird aber nicht einfach werden.« Sie legte ihren Arm um Theo. »Das ist wirklich ein Traum.« Und sie war auch erleichtert, weil sie Theo nicht um ihre Befreiung bitten musste.
Natürlich wusste sie, dass er nie zulassen würde, dass ihr Leid geschah, ansonsten aber bestand er darauf, dass sie immer seine Gefangene zu sein hatte und die Ketten zu tragen hatte. Doris war erleichtert, weil sie das Ausnahmekonto nicht mit dem Fest belasten musste.
* * *
»Ich wollte Leonie abholen.« Holger stand wieder mit einem Blumenstrauß vor Selmas Haus und lächelte, als Selma ihm die Tür öffnete.
»Sie wartet schon auf dich.« Selma deutete mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung des oberen Stockwerks an. »Bevor ihr geht, kommt bitte noch einmal zu mir, ich möchte euch etwas mitgeben.«
Leonie stand schon an der Treppe und kam jetzt übertrieben langsam die Treppe herunter. Als sie sah, dass Holger Blumen in der Hand hatte, wurde sie ein wenig verlegen. »Die sind für mich?«
»Schöne Blumen für eine faszinierende Frau.« Holger hatte sich ein paar Sätze bereitgelegt. Er reichte ihr die Blumen.
»Kommt bitte kurz mit.« Selma sah eine gute Gelegenheit, ihr Geschenk für das Paar gleich zu überreichen. »Ich möchte euch noch etwas schenken.« Doch zunächst ging sie zur Anrichte und nahm eine Vase heraus. Sie nahm Leonie die Blumen ab und stellte sie in die Vase. »Ich bringe sie dann auf dein Zimmer.«
Leonie bedankte sich etwas unsicher.
»Schaut mal, was dort auf dem Tisch liegt.« Sie zeigte auf das Lederbündel, welches auf der Tischplatte lag, während sie mit der anderen Hand die Vase weg stellte. »Das müsste euch eigentlich gefallen.«
Leonie ging zum Tisch und inspizierte das Lederbündel, als sie sah, dass Holger etwas zögerte. Doch erst als sie es in die Hand nahm, erkannte sie, dass es sich dabei um einen Monohandschuh handelte.
Jetzt kam auch Holger etwas näher, und er sprach aus, was beide dachten. »Das ist ein Monohandschuh und zwar ein Profi-Modell.« Er zeigte Leonie, was er sofort entdeckt hatte. »Überall sind es Dreifach-Nähte, und an allen wichtigen Stellen ist das Leder doppelt gearbeitet.«
Leonie folgte atemlos seinen Ausführungen.
»Gefällt er euch?« Selma lächelte ein wenig. »Ich glaube, ihr mögt Leder lieber als Metall.« Sie machte eine kurze Pause. »Das könnt ihr heute Abend gleich tragen, schließlich erwartet euch der Sparkassendirektor, und er möchte, dass ihr Mädchen für eure Rollen trainiert.« Sie zwinkerte ihnen zu.
Sowohl Holger als auch Leonie bekamen beide glasige Augen. »Ein tolles Stück.« Leonie war begeistert.
»Was meinst du, wie lange wirst du das aushalten?« Holger hatte auf einmal einen sehr ernsten Blick.
»Zwei Stunden schaffe ich locker.« Leonie strahlte. »Dann wird es unangenehm.«
Als Antwort blickte Holger noch eine Spur ernster, doch er schwieg.
»Ich habe ein langes Training hinter mir, so ähnlich wie Maria.« Leonie erkannte, dass sie Holger von ihren Fähigkeiten überzeugen musste. »Früher habe ich viel Ballett gemacht, und ich bin entsprechend gelenkig.«
»Bitte sage mir auf jeden Fall Bescheid.« Holger blickte seine Freundin sehr streng an. »Du musst ehrlich zu mir sein.«
Leonie versprach es sehr feierlich. Sie fühlte, dass Holger gespieltes Unbehagen und echte Schmerzen auseinander halten konnte. Es war etwas komisch. Sie kannte Holger erst zwei Tage, und doch kam es ihr so vor, als währen sie schon ein Leben lang zusammen gewesen.
Holger drehte den Handschuh noch einmal in seinen Händen, dann blickte er Leonie lächelnd an. »Wenn ich Madame behilflich sein dürfte?« Er hielt ihr den Handschuh mit der Öffnung nach oben hin.
»Danke, mein Herr, sie sind zu gütig.« Leonies Stimme zitterte deutlich hörbar. Sie war sehr aufgeregt.
Es war eben nicht nur der Monohandschuh, der sie so sehr erregte, es war die Gesamtsituation. Sie hatte ihren Traummann gefunden, sie hatte einen Traum von Handschuh, und sie waren in das teuerste Restaurant der Stadt eingeladen. Und der Gastgeber bestand darauf, dass sie den Handschuh tragen sollte. Sie hatte schon lange beschlossen, jede Sekunde dieses so tollen und aufregenden Abenteuers zu genießen. Es war einfach zu unwahrscheinlich, dass sich so etwas in der näheren Zukunft noch einmal ereignen sollte.
* * *
»Über was grübelst du?« Florian hielt seine Frau im Arm und führte sie zu dem kleinen Fotostudio.
»Ich frage mich, ob es richtig ist, was ich vorhabe.« Sie holte tief Luft. »Und ich frage mich, warum es mir gefällt.«
»Es ist richtig.« Florian wusste, dass er seine Frau in ihrem Vorhaben bestärken musste. Und über die zweite Frage wagte er selbst nicht nachzudenken.
Er hatte nur gesehen, was die Familie ihrer Tochter angetan hatte, um sie zur Hochzeit zu zwingen. Welche körperlichen und auch geistigen Schmerzen sie deswegen aushalten musste, dass wagte er nicht einmal zu ahnen. Insgeheim nahm er an, dass es für Anna auch so eine Art Therapie war, wenn sie jetzt ähnliche 'Qualen' aus reiner Lust erleiden wollte.
Doch dann erinnerte er sich an die Worte, die er von Maria zu dem Thema gehört hatte, und dass es eben sehr wichtig war, wer jeweils die Fesseln anlegte. Es war eine Frage des Vertrauens, und er spürte, wie sehr Anna ihn liebte und ihm vertraute. Und er war ernsthaft bemüht, dieses Vertrauen nie zu enttäuschen, auch wenn es ihn einige Überwindung kostete, ihr die Fesseln festzuziehen.
Andrea öffnete und bat ihre Besucher herein. »Ihr kennt euch hier ja aus.« Sie zeigte nur der Form halber auf die entsprechenden Räume. »Hans wartet schon ganz aufgeregt.«
»Was ist denn gewünscht?« Florian fragte es beim Eintreten in das kleine Studio, obwohl der Haufen Seile und der rote Ball mit den schwarzen Riemen daran eine deutliche Sprache sprachen.
»Eigentlich das gleiche wie gestern auch.« Hans war noch von dem Einlauf, den er von seiner Freundin bekommen hatte, sehr eingeschüchtert. Er hatte sich auch wieder umgezogen und trug fast die gleichen Sachen wie am Vortag. »Haben sie den Handschuh mitgebracht?«
Florian legte den Beutel, den er in der Hand trug, neben das Seilbündel und packte das Verlangte aus. »Was ist eigentlich das Faszinierende daran?«
»Das fragen sie noch?« Hans lies die Kamera sinken, die er in der Hand hielt. »Haben sie ihre Frau einmal beobachtet, wenn sie den Handschuh trägt? Die veränderte Haltung müsste ihnen doch aufgefallen sein.«
Florian musste eingestehen, dass er bisher immer um Anna Angst hatte, wenn sie wegen der Forderungen der Familie mit diesem Monster unterwegs war. Auf ihren Körper hatte er bisher wenig geachtet. Doch wegen der Warnungen von Marias Mutter behielt er die Gedanken lieber für sich. Er zuckte nur mit den Achseln.
»Na dann achten sie mal darauf, wie sich ihr Körper verändert, wenn sie ihn anlegen.« Hans gab sich euphorisch.
»Sprecht ihr von mir?« Anna kam etwas schüchtern aus dem Umkleideraum. Wie gestern trug sie einen engen Gymnastikanzug und hatte sich die Perücke aufgesetzt.
»Wir überlegen gerade, was der Monohandschuh mit dir macht.« Florian war ein wenig nervös.
Anna verdrehte nur die Augen, sie wollte nicht darüber nachdenken. »Können wir anfangen?« Sie blickte ebenfalls etwas nervös auf den Haufen mit Seilen und dem deutlich sichtbaren Ball.
»Wo hast du denn das schöne Kleid von gestern?« Hans versuchte ein wenig Smalltalk, während er sich das erste Seilbündel griff.
Anna legte nach einem auffordernden Blick ihre Arme auf den Rücken. »Das gehört mir nicht. Das ist die Uniform für die Auftritte mit der Musikgruppe.«
Hans bat Florian zu sich. »Willst du es einmal probieren?« Er reichte ihm das erste Seil.
Anna stöhnte ein wenig, dann legte sie ihre Arme so, wie sie es gestern auch gemacht hatte.
»Könntest du einmal fragen, ob du es auch privat nutzen darfst?« Andrea hatte schon erkannt, was ihren Freund bewegte, und die Idee, Anna in dem Barockkleid gefesselt zu sehen, faszinierte sie auch.
Anna stöhnte ein wenig, weil sie fühlte, wie sich das Seil aus Florians Händen um ihre Handgelenke. »Ich kann einmal fragen.«
* * *
»Leonie ist aber schon weg«, erklärte Selma, nachdem sie die Familie Wolkenberg begrüßt hatte.
»Das ist schade.« Christine, ihre Schwester lächelte. »Aber sie war ja schon immer recht sprunghaft und spontan.«
»Jetzt kommen sie erst einmal herein.« Sie bat ihre Gäste ins Wohnzimmer. »Ich war schon sehr gespannt auf die Familie von Leonie.«
»Wo ist sie denn?« Anna, ihre Mutter, machte es sich in einem der Sessel gemütlich.
»Sie hat eine Einladung bekommen, und Holger begleitet sie.« Selma setzte sich, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle einen Platz gefunden hatten.
Christine war hellhörig geworden. »Wer ist Holger?« Den Namen betonte sie besonders.
Selma wurde eine Spur rot. »Ihre Tochter kam zu mir, weil sie hoffte, Paul und Maria zu treffen. Sie sagte, sie hätte sie auf der Hütte kennengelernt.«
»Das wundert mich gar nicht.« Ihre Schwester lächelte. »Sie war ja geradezu vernarrt in die Beiden.«
»Sie hat mir unfreiwillig anvertraut, dass sie es mag, gefesselt zu sein.« Selma war immer noch etwas verlegen. »Und damit hat sie bei mir offene Türen eingerannt.« Sie erzählte von ihrer Zeit als Erzieherin. »Und dann habe ich sie gefragt, ob sie auch vorstellen könnte, meine Gefangene zu sein.«
»Das hat sie sicher sofort zugesagt.« Christine lachte. »So eine Gelegenheit lässt sie sich nie entgehen. Aber wer ist Holger?«
»Christine, du bist ungeduldig.« Ihre Mutter ermahnte sie. »Lass doch Frau Mohr erzählen.«
»Holger ist der Sohn der Nachbarin, und ich habe sie mehr oder weniger verkuppelt.« Selma lächelte. »Aber das soll sie ihnen besser selbst erzählen.«
* * *
»Sie sind also Maria?« Sybille Steinhagen, die Frau des Sparkassendirektors, begrüßte ihren Ehrengast. »Ich freue mich, dass sie der Einladung trotz ihrer knappen Zeit noch gefolgt sind.«
Maria machte nur stumm einen Knicks. Sie war von der Ausstrahlung der Ehefrau nicht minder beeindruckt als von Herrn Steinhagen. Das Ehepaar gab sich bescheiden, war sich aber trotzdem seiner Bedeutung für Landsbach bewusst.
»Ich bin schon sehr auf ihr Kunststück gespannt.« Sie blickte kurz zu ihrem Mann. »Rodulf schwärmt sehr von ihnen.«
Maria lächelte verlegen. Sie suchte Pauls Hand.
»Nehmen sie doch bitte Platz.« Herr Steinhagen bat zu Tisch. »Die Anderen werden auch gleich kommen.«
Doris rieb sich die Augen. »Ich glaube, ich träume.« Sie ging zusammen mit Theo auf den Tisch zu.
»Genießen sie diese einzigartige Gelegenheit.« Herr Steinhagen lächelte. »So etwas wird so bald nicht wieder passieren.« Er machte deutlich, dass nur das morgige Fest es erlaubte, so in der Öffentlichkeit aufzutreten.
Theo drehte sich noch einmal um. »Wir danken sehr für diese Einladung.« Er strich seiner Frau kurz über den Kopf. »Sie glauben ja gar nicht, was es Doris bedeutet.«
Ein Ober stand bereit, und als sich alle Personen an den Tisch gesetzt hatten, kam er an den Tisch und fragte nach den Getränkewünschen.
Maria fiel auf, dass es der gleiche Ober war, der sie vor einer Woche gar nicht erst herein lassen wollte. Sie lächelte ein wenig. Anscheinend hatte er von seinem Chef eine ordentliche Zurechtweisung bekommen, denn er hatte sich diesmal überhaupt nichts anmerken lassen. Und das obwohl Doris ihre Ketten trug und Leonie mit einem Monohandschuh am Tisch saß und ein Getränk mit Strohhalm verlangte.
Auf einmal zuckte Maria zusammen.
»Was ist los?« Paul war die Regung seiner Freundin nicht entgangen.
»Schau mal, wer dort drüben sitzt.« Marias Stimme war leise.
Paul folgte ihrem Blick, und sofort erkannte er das Mädchen, unter dem Maria so sehr zu leiden hatte, Claudia Wetzler. »Sie ist anscheinend mit ihren Eltern hier.« Paul flüsterte ebenfalls.
Als letztes erschienen Amelie und Leonhard. »Wo sind ihre Ketten?« fragte Herr Steinhagen gleich nach der Begrüßung.
»Siehst du, ich habe es dir doch gesagt.« Amelie blickte ihren Verlobten etwas angesäuert an, dann wandte sie sich wieder an ihren Gastgeber. »Entschuldigen sie bitte, mein Verlobter wollte mir nicht glauben, dass die Ketten wirklich gewünscht waren.« Sie griff in ihre große Handtasche und holte ihren 'Schmuck' heraus. Fast vorwurfsvoll drehte sie sich zu Leonhard und funkelte ihn an. »Jetzt mach hin.«
Sybille Steinhagen stieß ihren Mann an. »Können wir nicht gleich Maria bitten, uns das Kunststück vorzuführen?« Im Gegensatz zu allen anderen hatte sie Marias Stimmungswechsel bemerkt und glaubte auch den Grund dafür erkannt zu haben. Die Tochter von Wetzlers war für ihre Arroganz bekannt, und ein kleiner Denkzettel würde ihr ganz gut tun.
Herr Steinhagen blickte seine Frau ein wenig verwundert an, doch dann bemerkte er ihren kurzen Blick auf den Tisch von Wetzlers, und sofort grinste er. »Das können wir machen.« Er wandte sich an Paul. »Herr Mohr, ich hatte sie gebeten, die Sachen, die sie für das Gebet brauchen, mitzubringen.«
Paul musste erst einmal schlucken, bevor er antworten konnte. »Ich habe die Sachen wie gewünscht dabei.« Er blickte fragend zu Maria. Einer weiterer Aufforderung bedurfte er nicht.
Maria hatte weiche Knie, als sie sich jetzt erhob und auf die Frau des Direktors zu ging. Sie stellte sich so hin, dass die Frau es gut sehen konnte und legte ihre Arme auf den Rücken, dann gab sie Paul das Zeichen, mit dem Gebet anzufangen.
Maria stand so, dass sie direkt auf den Tisch von Wetzlers blicken konnte, und als sie einmal ihren Blick hob, musste sie lächeln. Claudia Wetzler saß mit hochrotem Kopf am Tisch und starrte zu ihr herüber. Es war deutlich zu sehen, dass sie dabei war, vor Neid zu zerplatzen.
Freitag, 24. September 1984 - Festwochenende
Maria schlug die Augen auf, als sie ihren Wecker hörte. Sofort schwang sie sich aus dem Bett, denn heute begann ihr lang ersehntes Wochenende. Drei Tage waren es nur, und doch fieberte Maria seit Wochen daraufhin, und sie hatte sich oft mehr als geschunden, um sich diesen so außergewöhnlichen Auftritt zu ermöglichen.
Sehr gern hätte sie sich in dieser Nacht Paul hingegeben, doch sowohl Selma als auch ihre Mutter hatten ihnen nach dem Essen mit dem Sparkassendirektor geraten, die Nacht jeweils im eigenen Bett zu verbringen. »Ihr müsst morgen ausgeschlafen sein.« Das war die einhellige Meinung, und es war ihnen auch leicht gefallen, das Argument einzusehen.
Der Abend war toll gewesen. Maria dachte noch einmal über das ganz außergewöhnliche Abendessen nach, während sie sich zügig anzog.
Paul hatte ihr bald nach der Begrüßung das Gebet angelegt, weil die sehr nette Frau des Sparkassendirektors sie darum gebeten hatte. Auch ihre drei Dienerinnen auf dem Fest trugen Teile ihres Kostüms, zumindest wurde es vom Gastgeber so dargestellt.
Natürlich wusste auch Maria, dass es eine wirklich einmalige Gelegenheit war, sich so präsentieren zu dürfen, und immer wieder rief sie sich das Gesicht der sehr eifersüchtigen Claudia Wetzler in Erinnerung, die am Nebentisch saß und geradezu zu platzen drohte.
Anfangs hatte sie noch damit gerechnet, dass Paul ihr die Arme beim Essen wieder befreien würde, doch stattdessen wurde sie von ihm genauso wie Doris von Theo gefüttert. Und es war so würdevoll, dass es überhaupt nicht auffiel.
Natürlich war es auch den Leuten an den Nachbartischen aufgefallen, doch als Frau Steinhagen ihren Mann darauf ansprach, lächelte dieser nur. »Ich möchte eben zeigen, dass diese jungen Damen sich selbst unter erschwerten Bedingungen weitaus besser benehmen können als die Baroness.«
»Da hast du allerdings recht«, hatte seine Frau geantwortet und den vier Mädchen noch einmal ihre Bewunderung ausgesprochen.
Maria dachte über die leuchtenden Augen nach, die ihr an diesem Abend aufgefallen waren. Bei Amelie wusste sie, dass sie bestimmt schon einmal in dieser Situation gewesen war, doch für Doris und Leonie mussten es ganz neue und aufregende Momente sein.
* * *
Doris war sofort wach, als sie im Halbschlaf das liebliche Klirren ihrer Ketten hörte. Sie wusste sofort, welches wichtige Ereignis heute auf sie wartete.
Theo hatte sie auf ihren Wunsch hin gestern Nacht noch mit ihrem ganz strengen Kettenensemble an das Bett gefesselt. Sie hatte sich das Geschirr vor einiger Zeit selbst ausgedacht, es kam aber nur selten zum Einsatz, auch weil es sehr aufwendig anzulegen war. Doch nach den Erfahrungen der letzten Nacht war Theo sofort damit einverstanden gewesen, als Doris ihn gestern Abend darum gebeten hatte.
An jedem Arm und an jedem Bein waren vier Schellen angelegt. Zusätzlich trug sie auch noch einen Ring um ihre Taille und um den Oberkörper ein weiches Ledergeschirr. Theo hatte bei der Umsetzung extra seine Cousine um Rat gefragt, die Ärztin war, und die hatte ihnen zu dieser Kombination geraten. Es galt, eine optimale Fixierung zu erreichen, die aber gleichzeitig noch so flexibel war, dass keine gesundheitlichen Schäden auftreten konnten.
Die Ketten waren deswegen auch nicht fest am Bett befestigt, sondern über Ösen untereinander verbunden, so dass sie nachgeben konnten, wenn Doris sich im Schlaf bewegen sollte. Aus dem gleichen Grund gab es für ihren Oberkörper nur das Ledergeschirr, welches an strategischen Stellen auch noch mit breiten Gummibändern ausgestattet war. So war sichergestellt, dass Doris' Atmung auf keinen Fall behindert wurde, es ihr aber trotzdem das schöne Gefühl des Gefangenseins vermitteln konnte.
Doris musste immer wieder an die Frage von Renate denken, die für heute angekündigt war. Sie wusste immer noch nicht, wie sie genau reagieren sollte, wenn sie erfuhr, dass sie die Ketten in der Kirche zu tragen hatte.
Sie hatte sich eigentlich schon mit dem Gedanken abgefunden, dass sie Theo dafür um Befreiung bitten musste. Für gewisse Ausnahmefälle war das tatsächlich möglich. Doch sie versuchte gern, diese Gelegenheiten auf das Äußerste zu reduzieren.
Es wäre bei Weitem ja nicht das erste Mal, dass sie das ganze Wochenende in ihren Ketten herumlaufen würde, es war im Gegenteil sogar die Regel. Doch dieses Mal würde sie es in der Öffentlichkeit machen, und es würde hoffentlich von keiner Seite fragende Blicke oder gar abfällige Äußerungen geben.
Sonst musste sie peinlichst darauf achten, das Haus entweder in Freiheit oder mit versteckten Ketten zu verlassen, doch diese drei Tage über wurde es geradezu von ihr erwartet, ihre Ketten zu präsentieren.
Tief in ihr reifte die Hoffnung, dass es für sie nach dem Fest vielleicht doch noch die eine oder andere Gelegenheit geben würde, wo sie die Ketten wieder zeigen könnte.
Immer wieder musste Doris an das außergewöhnliche Abendessen von gestern Abend denken. Sie durfte ihre Ketten im besten Haus am Platz zeigen, und keiner nahm auch nur eine Notiz davon. Im Gegenteil, sie hatte die ganze Zeit über das Gefühl, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass ihre Arme und Beine in Ketten lagen. Natürlich hing es nur mit dem Fest zusammen, das war Doris schon bewusst, und vor allem deswegen war sie wild entschlossen, jede Sekunde des Festes besonders zu genießen.
Gestern hatte Maria ihr schon verraten, dass sie wegen des Gebets auch in der Kirche noch den Status einer gefangenen Dienerin darstellen musste und deswegen auch dort die Ketten zu tragen hatte. Es war ein einzigartiger Glücksfall und Doris war es bewusst, dass es so nie wieder passieren würde.
* * *
Es war das erste Mal, dass Leonie wirklich die ganze Nacht in ihrem Käfig verbringen musste. Natürlich hätte sie das Siegel erbrechen können und sich dann gemütlich in ihr Bett kuscheln. Selma würde sie nicht dafür nicht bestrafen, dessen war sie sich sicher.
Doch Holger hatte sie gestern Abend in den Käfig eingesperrt und persönlich das Siegel angebracht. Und deswegen war es für sie Ehrensache, sich seinem Willen zu fügen. Zumal Selma angekündigt hatte, dass er heute morgen vorbeikommen dürfe, um sich von der Unversehrtheit des Siegels zu überzeugen. Und sie wusste, dass sie die Liebe ihres Lebens nicht enttäuschen durfte, auch wenn der Käfig alles andere als bequem war.
Dabei hatte der Abend schon so aufregend begonnen, als Holger sie mit zugegeben zitternden Händen in den Handschuh eingeschnürt hatte, obwohl sie im teuersten Restaurant der Stadt eingeladen waren. Es kam Leonie immer noch wie ein Traum vor. Doch auf dem Tisch standen noch die Blumen, die Holger mitgebracht hatte, als er sie dafür abgeholt hatte. Und dann hatte er sie auch noch gefüttert, so als ob sie das schon Ewigkeiten lang gemacht hätten. Sie war von dieser Selbstverständlichkeit geradezu verzaubert, und es kam ihr vor, als würden sie sich schon seit dem Sandkasten kennen.
Immer wieder hatte er sich nach ihren Armen erkundigt und stets hatte sie ihm versichtert, dass sie es noch aushalten könne. Doch im weiteren Verlauf des Abends hatte er sie dann aus dem Handschuh herausgelassen, obwohl Leonie noch überhaupt nichts gesagt hatte. »Ich glaube, es ist genug«, sprach er mit bewusst fester Stimme. »Und Widerspruch ist nicht erlaubt.«
Erst später wurde ihr klar, dass er auf ihr leises Stöhnen reagiert hatte, dessen Tonfall sich ein wenig geändert hatte. Und von so viel Sensibilität war sie sehr beeindruckt.
Und das Abenteuer ging weiter. Selma hatte auf der Bank vor der Haustür auf sie gewartet. Als sie Arm in Arm das Grundstück betreten hatten, stand Selma auf und ging ihnen langsam entgegen. »Hattet ihr einen schönen Abend?«
Leonie blickte ihre Gastgeberin sprachlos an, sie war nicht zu einer Antwort fähig.
»Wir möchten uns noch einmal dafür bedanken.« Holger reichte Selma den Handschuh.
»Was ist damit? Passt er nicht?« Selma nahm ihn entgegen, doch gab sich ein wenig naiv.
»Doch, es war alles bestens.« Er blickte Leonie verliebt an.
»Ich möchte ihn euch schenken.« Sie gab den Handschuh zurück.
»Wir danken sehr.« Holger verbeugte sich ein wenig und bezog Leonie in die Geste mit ein.
Selma zögerte noch einen Moment. Sie war sich unsicher, ob ihr Vorhaben wirklich das Richtige war, doch dann entschloss sie sich, ihrem Instinkt zu folgen. Sie gab vor, etwas nachzudenken. »Holger, du könntest mir helfen, Leonie in ihren Käfig zu sperren, falls du noch Zeit hast.«
Holger hatte es die Sprache verschlagen, er war nur zu einem schüchternen Nicken in der Lage.
»Dann lasst uns nach oben gehen.« Selma bat das Paar ins Haus.
»Leonie, du gehst ins Bad, wir bereiten derweil alles vor.« Sie nahm die letzten Treppenstufen, dann winkte sie Holger, ihr zu folgen.
In Leonies Zimmer setzte sich Selma zunächst in den Sessel und wartete, bis Holger ihr in das Zimmer gefolgt war. »Du kannst schon mal den Käfig öffnen und das Siegel vorbereiten.« Sie zeigte auf die kleine Kommode, wo sie am Nachmittag schon alles bereit gelegt hatte.
Holger schaffte es nicht, sein Zittern zu verbergen. Er trat auf den Käfig zu und kniete sich davor hin. »Das ist ja ein echter Käfig«, sprach er mehr zu sich selbst. »Sehr robust und trotzdem schön.«
Er klappte die Tür auf und griff auf den Boden. »Gut gepolstert«, stellte er fasziniert fest, und mit einer Gänsehaut registrierte er, dass schon Bettzeug im Käfig lag. Doch dann erhob er sich, ging zur Kommode und inspizierte die Sachen, die Selma bereitgelegt hatte.
Die Funktion des Siegels war offensichtlich. Die etwas dickere Schnurr wurde erst durch den Riegel des Käfigs geführt und dann zwischen die zwei Wachsplatten gelegt. Mittels der Wärme einer Kerze konnten dann die beiden Plättchen zu einer Plakette zusammengedrückt werden. Nachdem er alles inspiziert hatte, blickte er sich etwas unsicher um.
»Komm, setze dich neben mich.« Selma wusste jetzt, dass sie auf dem richtigen Weg war. »Wir warten auf sie.«
Leonies Herz klopfte laut, als sie ihr Zimmer betrat. Wie sie es erwartet hatte, stand die Käfigtür auf, und sowohl eine Decke als auch ein Kissen lagen im Käfig für sie bereit. Sie wagte es nicht, sich im Zimmer umzublicken, sie ging mit starrem Blick auf den Käfig zu, kniete sich davor nieder und kroch hinein.
Dass sie dabei von Holger und Selma beobachtet wurde, war ihr gleichgültig, sie griff einfach hinter sich und zog die Tür hinter sich zu. Der Riegel fiel zu, und weil es sehr leise im Raum war, erschien dieses Geräusch recht laut. Sie hatte schwer damit zu kämpfen, keine Regung zu zeigen, denn innerlich war sie wild aufgewühlt.
»Jetzt kannst du das Siegel anbringen, Holger.« Sie zeigte noch einmal auf die Stelle, wo sie die Utensilien dafür abgelegt hatte.
Bis jetzt hatte Leonie noch angenommen, es wäre nur eine Show und sie könne sich in ihr Bett kuscheln, wenn Holger gegangen war, doch jetzt wurde ihr klar, dass sie die Nacht tatsächlich in ihrem Käfig zu verbringen hatte.
»Warum eigentlich kein Schloss?« Holger fand endlich den Mut, Fragen zu stellen, während er die Siegelschnur durch die Löcher im Riegel führte und anschließend das Wachsplätzchen anbrachte.
»Es ist zu gefährlich.« Selmas Stimme war auf einmal sehr ernst. »Für einen echten Notfall muss Leonie in der Lage sein, sich zu befreien und damit ihr Leben zu retten.«
Holger schluckte, als er die Strenge dieses Arrangements erkannte. Er vermied es, in diesem Moment Leonie anzuschauen.
»Du möchtest dich bestimmt von ihr verabschieden.« Selma war aufgestanden und gab ihm die Fernbedienung so in die Hand, dass Leonie es sehen konnte, dann ging sie zur Tür. »Lass die Tür einfach ins Schloss fallen, wenn du gehst.« Dann verließ sie das Zimmer, denn sie wusste, dass es jetzt besser war, das verliebte Paar allein zu lassen.
Jetzt erst wagte Holger es, Leonie wieder anzusehen.
Leonie rutschte an die Käfigtür und blickte wie hypnotisiert auf die Fernbedienung.
»Du bist eine sehr faszinierende Frau.« Holgers Stimme war sehr leise, als er durch die Käfigstangen griff und ihr über das Gesicht streichelte. Dann blickte er ebenfalls auf die Fernbedienung und drückte auf den Knopf, den er für richtig hielt.
Sie hörte Schritte im Treppenhaus, fremde Schritte. Sie hielt den Atem an. Ob es er war? Leonie war immer noch verzaubert von dem Moment, als er vor dem Käfig saß und zusah, wie ihr der Vibrator langsam aber unerbittlich einen Orgasmus aufzwang. Und trotzdem war er so ritterlich gewesen und hatte sie erst noch gefragt, ob er sie durch die Gitterstäbe streicheln dürfte.
* * *
»Das war toll gestern.« Amelie schwärmte, kaum dass sie die Augen aufgemacht hatte. »Lässt du mich bitte heraus?« Sie blickte sehr verliebt auf den erst vor kurzem angeschafften Reiseschlafsack, in dem sie diese Nacht verbracht hatte.
»Aber sicher.« Leonhard beugte sich zu ihr hinüber und zog den langen Reißverschluss auf. Der Schlafsack hatte innen Ärmel, die seitlich am Schlafsack befestigt waren. Selbst mit geöffnetem Reißverschluss war Amelie noch nicht in der Lage, sich selbst aus ihrem Nachtgefängnis zu befreien. Erst als Leonhard ihr die Schultern frei gemacht hatte, konnte sie langsam ihre Arme aus den so strengen Hüllen ziehen.
Der Schlafsack hatte den Vorteil, Amelie in einen Zustand völliger Hilflosigkeit zu versetzen, ohne dass sie weitere Hilfsmittel brauchten oder spezielle Vorrichtungen am Bett. Natürlich gab es an den strategischen Stellen noch extra Öffnungen für ausgiebige Spiele in der Nacht.
Amelie liebte den neuen Schlafsack, denn er erlaubte es ihr, sich Leonhard vollkommen auszuliefern. Natürlich gab es auch noch die Möglichkeit, den Schlafsack auf dem Bett zu fixieren, doch Amelie bevorzugte die Variante ohne weitere Riemen. Sie empfand es so noch gemeiner. Sie war nur durch eine Lage Leder, die an wenigen Stellen doppelt gearbeitet war, vollkommen hilflos.
»Du solltest dich beeilen, wir sind zum Frühstück eingeladen.« Leonhard bemerkte, dass seine Verlobte schon wieder ins Träumen geraten war.
* * *
Etwas wehmütig blickte Sophie auf den kleinen Kalender, den sie selbst sich gebastelt hatte. Jetzt begann das Wochenende, wegen dem sie aus dem Verkehr gezogen worden war.
Sie war sich dessen mittlerweile sicher, weil sie diese Aussage mehrmals in der Klinik gehört hatte, wenn ihr Vater und der Chefarzt sich über die Mindestdauer ihres Aufenthaltes unterhielten. Sie fragte sich, was Montag sein würde. Ob sie dann befreit werden würde?
Heute dachte sie anders über das Fest, und sie war sich sicher, dass sie es jetzt bestimmt mit Würde hätte spielen können. Doch die Gelegenheit war vorbei, und sie würde lange brauchen, um ihre Umgebung davon zu überzeugen, dass sie sich geändert hatte. Sie stutzte. Nein, sie wollte sich ändern, wenn sie wieder draußen sein dürfte.
Ihrem Vater gab sie nur einen geringen Anteil an der Schuld. Das Einzige, was sie ihm vorwerfen wollte, war, dass er ihr nach dem Tod der Mutter alle Freiheiten gelassen hatte. Wäre er etwas strenger gewesen, dann hätte sich ihre Entwicklung vielleicht in eine andere Richtung führen lassen.
Erst aus dem Radio hatte sie von den eigentlichen Festinhalten erfahren. Bis zu ihrem angeblichen Unfall hatte sie sich dafür überhaupt nicht interessiert. Doch der kleine Privatsender hatte es sich nicht nehmen lassen, zwischen der vielen Werbung ein wenig über den Ablauf des Festes und auch über die Hintergründe zu informieren.
Gegenüber Maria verspürte sie weder Neid noch Missgunst. Dieses Mädchen hatte es einfach verdient, die Rolle zu spielen. Immerhin war sie die Einzige, die sie jemals im Krankenhaus besucht hatte, und deswegen stand sie bei Sophie auch ganz oben auf ihrer Liste.
* * *
Wieder wählte Maria die lange Nummer, um ihre Freundin in Australien anzurufen, wie sie es fast jeden Freitag tat. Doch diesmal war zu ihrer Enttäuschung nur ihre Mutter Frau Dörtling am Telefon. »Rosalie ist nicht da«, erfuhr Maria von ihr. »Aber sie lässt schön grüßen.«
Maria war ein wenig verwundert. Ihre Freundin hatte ihr diesbezüglich gar nichts gesagt. »Wo ist sie denn?« fragte Maria, obwohl sie insgeheim schon wusste, dass sie darauf keine Antwort bekommen würde.
»Sie hat gesagt, das würdest du schon wissen«, antwortete die Mutter etwas rätselhaft.
Maria versuchte, sich die vergangenen Gespräche ins Gedächtnis zu rufen, doch sie fand keinen Anhaltspunkt dafür, was ihre beste Freundin vor haben könnte. »Hat sie noch Nachrichten für mich hinterlassen?«
Es kam schon mal vor, dass Rosalies Mutter oder auch Mrs. Potter Notizen auf einem Zettel bekamen, den sie dann vorlasen. Doch diesmal musste sie Frau Dörtling auch diese Frage verneinen. »Sie hat nichts für dich dagelassen.«
»Schade.« Maria bedankte sich für das Telefonat und verabschiedete sich, dann legte sie auf und ging zurück ins Esszimmer, wo Paul bereits dabei war, den großen Frühstückstisch zu decken.
Als er die Miene seiner Freundin sah, wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte. »Was ist denn los? Schlechte Nachrichten?«
»Nein, nicht wirklich.« Maria schien sich ihre Gedanken aus dem Kopf zu schütteln. »Sie war nicht da, und sie hat ihrer Mutter auch nichts für mich hinterlassen.« Sie blickte etwas verwirrt aus dem Fenster. »Sie lässt ausrichten, ich würde schon wissen, wo sie wäre.« Es war Maria anzuhören, wie sehr sie dieses Telefonat getroffen hatte.
»Vielleicht kommt sie dich ja besuchen?« Paul versuchte einen Scherz, um seine Freundin aufzumuntern.
»Aber dann hätte sie mir doch etwas gesagt.« Maria schüttelte wieder den Kopf, dann ging sie zum Tisch, um ihm beim Tischdecken zu helfen. »Wer kommt denn alles?«
Paul dachte kurz nach. »Deine drei Dienerinnen mit Begleitung, und Frau Bayer wollte kommen.«
»Gut, dass ihr so ein großes Esszimmer habt.« Maria verteilte Servietten auf die Teller.
»Anna und Florian haben sich bereit erklärt, bei der Bedienung zu helfen.« Paul blickte zur Anrichte, auf der einige große weiße Papiertüten lagen. »Ich habe mit ihm schon Brötchen und Weißbrot geholt. Und Anna hilft meiner Oma beim Kaffee kochen.«
* * *
»Leonie wartet schon auf dich.« Mit diesen Worten hatte Frau Mohr Holger nach oben geschickt. Mit Herzklopfen betrat er das Zimmer seiner Traumfrau. »Guten Morgen, Leonie. Wie geht es dir? Hast du gut geschlafen?« Er kniete sich vor den Käfig und entfernte das Siegel.
Leonie stöhnte leicht. »Das Bett wäre bequemer gewesen«, antwortete sie ihm, nachdem sie ihm auch einen guten Morgen gewünscht hatte.
»Das ist ein schöner Käfig.« Holger hatte sich nichts überlegt, er wollte einfach sein Herz sprechen lassen. Trotzdem war er von ihrer Antwort überrascht gewesen.
»Finde ich auch.« Leonie blickte ihn verliebt an. »Frau Mohr hat ihn extra für mich anfertigen lassen.«
»Bist du oft darin?« Holgers Stimme zeigte seine Faszination.
»Bisher noch nicht so oft.« Leonie flüsterte. »Aber so lange bin ich ja auch noch nicht bei ihr.«
»Kommt ihr zurecht?«, war die Stimme von Pauls Oma zu hören.
»Wir müssen uns beeilen.« Holger öffnete den Käfig und reichte Leonie die Hand. »Heute ist dein großer Tag.«
»Ja, du hast recht.« Leonie ließ sich von ihm aus dem Käfig helfen. Nur nebenbei bemerkte sie, dass seine Berührung sie geradezu elektrisierte.
»Sie hat gesagt, ich soll dir im Bad helfen.« Es war Holger anzusehen, dass es ihm sehr unangenehm war. Doch mit Leonies Antwort hatte er doch nicht gerechnet.
»Lieber du als sie.« Leonie stöhnte. »Als ich die Handschuhe trug, musste ich alles von ihr machen lassen, wirklich alles.«
Holger war verblüfft. »Aber jetzt trägst du ja nur die Ketten.« Er drehte sich weg. »Sag mir einfach, wenn du Hilfe brauchst.«
»Danke für die Einladung.« Theo reichte Selma einen Blumenstrauß. Mit der anderen Hand hielt er Doris im Arm.
»Kommt herein.« Selma trat zur Seite und bat ihre Gäste herein. »Wie war die Nacht?«
»Ruhig.« Theo lächelte geheimnisvoll, während mit seiner Verlobten ins Wohnzimmer ging.
Selma lächelte wissend, dann wandte sie sich wieder der Haustür zu. Sie hatte gesehen, dass auch Renate Bayer auf dem Weg zu ihr war, und sie hatte Amelie und Leonhard im Schlepptau.
»Dann sind wir ja vollständig.« sagte sie, als sie hinter ihnen die Haustür schloß. Sie ging ins Esszimmer und wartete, bis sich alle ihre Gäste einen Platz gesucht hatten, dann setzte sich sich ebenfalls. »Greift zu und lasst es euch schmecken.«
»Ihr glaubt ja gar nicht, was in der Stadt los ist«, berichtete Renate, nachdem sie mit ihrem Frühstück fertig war. »Es hat sich herum gesprochen, dass du das Gebet tragen wirst, und alle wollen es sehen.«
Maria lächelte bescheiden. »Ich hoffe, ich werde keinen enttäuschen.«
»Aber sie müssen sich noch bis Samstag gedulden.« Paul wischte sich den Mund ab. »Heute gibt es nur die Ketten zu sehen.«
Renates Blick wurde auf einmal ernst. Sie blickte zu Doris. »Du hast sicher schon von der traurigen Nachricht gehört?«
Doris zögerte erst ein wenig. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich gut schauspielern konnte. »Die Ketten in der Kirche?« fragte sie vorsichtig.
»Es tut mir sehr leid, dass wir dir das antun müssen« Renate holte tief Luft. »Aber da die Katerina das Gebet noch trägt, musst du als ihre Dienerin ebenfalls noch die Ketten tragen.«
»Es gibt Schlimmeres.« Doris hatte im Vorhinein lange über ihre Antwort gegrübelt.
Es klingelte. Selma stand auf und ging zur Tür. Nach wenigen Augenblicken kam sie zurück. »Maria, es ist für dich.« Aus ihrer Miene war nichts zu lesen.
Maria ging verwundert zur Tür. Draußen standen zwei Personen. Eine hochgewachsene schlanke Blondine mit schulterlangen Haaren, die sehr geschmackvoll gekleidet war, und neben ihr stand ein etwas fülliger Mann.
»Ja bitte?«Maria blickte das Paar verwundert an.
»Maria, erkennst du mich nicht mehr?« Die Blondine blickte verwundert auf ihr Gegenüber. »Ich bin es, Rosalie.«
»Rosalie? Was machst du denn hier?« Maria rieb sich die Augen. »Ich habe dich echt nicht erkannt, du hast dich sehr verändert.«
Marias beste Freundin blickte kurz zu ihrem Begleiter. »Ich bin vor einigen Jahren von hier weggegangen.« Sie drehte sich wieder zu Maria. »Ich muss doch dabei sein, wenn meine beste Freundin vor dem Altar steht. Außerdem möchte ich ihn unbedingt kennenlernen. Und das Gebet möchte ich auch sehen.«
»Ich hatte dich ganz anders in Erinnerung.« Maria war immer noch überwältigt. Ihre Freundin war früher immer etwas pummelig gewesen, und so war sie auch nach DownUnder gegangen.
»Willst du deinen Besuch nicht herein bitten?« Selma erkannte, dass sie Maria ein wenig Hilfestellung geben musste, schließlich war sie auch nur ein Gast bei Pauls Oma.
»Ja, bitte kommt herein.« Als Rosalie neben ihr stand, flüsterte sie ein 'Wer ist das?' zu ihr, in der Hoffnung, dass es der Begleiter ihrer Freundin nicht hören konnte.
»Das ist Karl Kollar.« Rosalie lächelte ein wenig verlegen. »Wir saßen im Flugzeug nebeneinander.«
»Jetzt kommt erstmal herein.« Selma bat ins Esszimmer und zeigte auf das kleine Sofa. »Nehmt Platz. Wollt ihr noch etwas essen?«
»Vielen Dank, nein.« Rosalie und ihr Begleiter setzen sich. »Wer ist jetzt Paul?« Rosalie blickte sich neugierig im Zimmer um.
Maria stutze einen Moment, dann lächelte sie und stellte die Teilnehmer des Frühstücks vor. Erst ganz zum Schluß stellte sie sich hinter ihren Freund und legte ihm die Arme von hinten um den Hals. »Und das ist Paul.« Sie strahlte sehr, doch dann erst bemerkte sie, dass es jetzt an ihr war, eine wichtige Frage zu stellen.
Obwohl sie räumlich so weit getrennt waren, wussten die beiden Freundinnen immer noch, was die andere jeweils dachte. »Das ist Herr Kollar.« Rosalie stellte ihren Begleiter vor. »Wir saßen im Flugzeug nebeneinander und sind so ins Gespräch gekommen.«
»Ich bin Geschichtsstudent und habe meinen Urlaub in Australien verbracht. Ich schreibe über die Historienspiele in Deutschland meine Doktorarbeit.« Er zählte auf, was er bisher kannte, unter anderem nannte er die Landshuter Hochzeit, den Rothenburger Meistertrunk und die Dinkelsbühler Kinderzeche. »Und dann hat Frau Dörtling mir erzählt, dass sie auch zu einem Historienspiel unterwegs ist, welches nur alle sieben Jahres stattfindet und bei dem ihre beste Freundin zudem die Hauptrolle spielen würde. Diese Gelegenheit konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen.«
»Oh Rosalie!« Maria explodierte geradezu vor Freude. »Das ist so schön, das du da bist.«
»Ich sehe, meine Mutter hat dicht gehalten.« Rosalie lächelte.
»Ja, das hat sie.« Maria lachte jetzt auch. »Von wegen, ich wüsste, was du vorhast.«
»Haben sie schon eine Unterkunft?« Selma spürte, dass noch ein paar Fragen zu klären waren.
»Ich bin bei meiner Tante.« Rosalie blickte zu Karl. »Und ich habe ihm das Gästezimmer vermittelt.«
»Es war kein Hotel- oder Pensionszimmer mehr zu bekommen, alles ausgebucht.« Karl lächelte. »Das liegt vermutlich an dem Fest. Darf ich fragen, um was es bei dem Fest geht?«
Rosalie blickte zu Paul und Maria. »Das lassen sie sich am besten von den beiden Hauptdarstellern berichten.« Sie lächelte.
Maria wollte gerade mit der Erzählung beginnen, als sie von Renate unterbrochen wurde. »Ich bitte um Entschuldigung, aber es stehen jetzt noch einige wichtige Termine an.« Aus ihrer Tasche holte sie die vertraute Mappe. »Für die drei Dienerinnen ist ein Tanzunterricht vorgesehen, und Anna und Florian haben einen Termin in der Kleiderkammer.« Sie steckte die Mappe wieder ein und stand auf.
* * *
»Ich bin gespannt, was Rosalie zu den Ketten sagt.« Maria blickte lächelnd zu Paul, als sie die Treppe herunter gingen. Selma hatte sie vor kurzem daran erinnert, dass sie sich für das Fest umziehen mussten. Natürlich hatte Maria ihrer Freundin schon am Telefon von ihren kommenden Auftritten berichtet, doch die Ketten in echt zu sehen, würde sicher noch etwas anderes sein.
»Warte, ich mache dir die Tür auf.« Paul ging mit schnellen Schritten zur Esszimmertür, öffnete sie und trat zur Seite. »Meine Damen und Herren, die Comtess Katerina.« Er deutete eine Verbeugung an, dann gab er Maria ein Zeichen.
»Vielen Dank, mein werter Prinz.« Maria machte einen Knicks, dann betrat sie das Esszimmer. Sie trug das einfache Leinenkleid, das sie als Geisel kennzeichnen würde und dazu das Kettengeschirr in der einfachen Ausführung.
Es lag eine gewisse Spannung im Raum, die unter anderem bewirkte, dass Rosalie und Karl aufgestanden waren. Sofort kamen sie auf sie zu und bestaunten die Ketten.
»Das ist aber kein Spielzeug.« Karl blickte fasziniert auf die Ketten. »Darf ich das mal anfassen?«
Maria gab ihm gern die Erlaubnis. Sie streckte ihre Arme aus.
»Ist das eine Maßanfertigung?« Karl war mehr als begeistert. »So etwas Präzises habe ich noch nie gesehen.« Er griff an die Handmanschette. »Die sitzt ja ganz ohne Spiel.«
»Die wurden extra von einem Kunstschmied angefertigt.« Paul war die Aufmerksamkeit des fremden Herrn nicht ganz geheuer.
»Sie haben sogar Gipsabdrücke genommen.« Maria berichtete ein wenig von den Abläufen in der Schmiede.
»Ich bin nur etwas von dem Kleid enttäuscht.« Rosalies Stimme zeigte, was sie von Marias Äußerem hielt. Die Ketten waren ihr gleichgültig.
»Am Freitag stellt die Katerina ja erst einmal die Geisel dar, die der Herzog damals genommen hat, um den Frieden abzusichern.« Paul berichtete ein wenig von der Geschichte, die mit dem Fest verbunden war. Zu seiner Freude hatte sich Karl schon wieder seinen Schreibblock zur Hand genommen und machte sich eifrig Notizen.
* * *
»Grüß dich, Renate.« Robert Greinert saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Die Nervosität war ihm deutlich anzusehen. »Wie geht es unseren vielen Darstellern?«
»Ich denke, sie fiebern alle darauf hin.« Renate Bayer setzte sich. »Was machst du noch?«
»Ich gehe gerade die Liste der Ehrengäste durch, die wir eingeladen haben, und streiche diejenigen durch, die abgesagt haben.« Robert hob kurz einen Zettel hoch. »Ich möchte nicht wieder jemanden vergessen.«
»Du kannst noch einige Namen auf die Liste setzen.« Renate nahm den kleinen Zettel zur Hand, den sie sich heute Morgen angefertigt hatte. »Wir haben zwei Gäste aus Australien und vier aus Brasilien.«
»Du machst Witze.« Robert blickte Renate ungläubig an. »Australien und Brasilien? Wieso kommen die zu unserem kleinen Fest?«
»Marias Freundin ist vor einigen Jahren nach Australien gezogen.« Sie gab wieder, was sie über Rosalie und Karl erfahren hatte. »Und die Brasilianer hat Maria in den Staaten kennengelernt.« Renate hatte zwar erfahren, dass es sich um Mitglieder des dortigen Hochadels handelte, doch sie hatte versprochen, es für sich zu behalten.
»Ich bin beeindruckt.« Robert machte sich einige Notizen. »Gibst du mir die Namen, damit wir sie begrüßen können? Ich habe gleich noch einen Termin beim Bürgermeister.«
Renate blickte auf ihren Zettel und las die Namen vor, die sie sich aufgeschrieben hatte. Die Titel von Sarah und Juan hatte sie bewusst gar nicht erst aufgeschrieben, obwohl sie davon sehr beeindruckt war.
»Unser kleines Landsbach bekommt internationalen Besuch.« Robert legte seinen Stift weg. »Ich bin begeistert.«
»Marias Mutter hast du auf deiner Liste?« Renate lächelte. »Immerhin lebt sie auch schon ein paar Jahre in Amerika.«
Robert blickte noch einmal auf seine Liste. »Sie steht drauf.« Er machte noch eine Notiz hinter ihren Namen. »Gibt es sonst noch etwas zu klären?«
»Doris hat die Nachricht wegen den Ketten in der Kirche zu meiner großen Erleichterung sehr gefasst aufgenommen.« Renate wollte nicht zugeben, dass sie den Eindruck hatte, die Schmiedetochter hätte sich über die Nachricht sogar gefreut.
Robert war erleichtert. »Dann können wir den Punkt auch abhaken.« Er blickte auf die Uhr. »Ich glaube, ich muss los.«
Renate stand auf. »Wir sehen uns.«
* * *
»Und sie spielen den Prinzen?« Karl hatte sich seinen Notizblock auf die Knie gelegt und machte sich Notizen.
»Ja«, bestätigte Paul und blickte zu Maria, die sich intensiv mit Rosalie unterhielt. »Dabei sollte ursprünglich die Rolle jemand anders spielen.« Er erzählte von seiner etwas überraschenden Auswahl.
»Ich störe euch ja nur sehr ungern, aber ich wollte euch zum Mittagessen abholen.« Frederike stand auf einmal im Raum. Sie blickte sich etwas verwirrt um. »Wo sind denn die anderen?«
»Die Dienerinnen sind beim Tanzunterricht.« Paul berichtete über Renates Aufgabenverteilung. »Und Anna und Florian sind in der Kleiderkammer.«
»Mama, was machst du denn hier?« Es war Maria deutlich anzusehen, dass sie jetzt von ihrer Mutter nur sehr ungern gestört wurde.
»Ich wollte euch zum Essen abholen.« Sie blickte ihre Tochter fragend an. »Wenn es erlaubt ist.«
Maria bemerkte die nicht ausgesprochene Frage ihrer Mutter sofort, doch sie war in Gedanken noch bei dem, was sie Rosalie erzählt hatte. Erst nach einiger Zeit wurde ihr klar, dass sie besser antworten sollte. »Du kennst Rosalie?«
Frederike kam näher und reichte Marias Freundin die Hand. »Ich freue mich, dich wiederzusehen. Du hast dich wirklich zu deinem Vorteil verändert« Sie blickte kurz zu Karl.
»Das ist Herr Kollar.« Rosalie erkannte, dass sie ihren Begleiter vorstellen musste. Sie erklärte kurz, warum sie ihn mitgebracht hatte.
Marias Mutter gab auch ihm die Hand.
»Von dem Katerinenfest hatte ich bisher noch nichts gewusst.« Karl blickte sich um. »Als Frau Dörtling mir erzählt hatte, dass es dieses Wochenende stattfindet, empfand ich das als einen ungeheuren Glücksfall.«
»Jetzt gibt es erst einmal etwas zu essen.« Maria stand energisch auf. Damit wollte sie allerdings nur ihre immer größer werdende Nervosität überspielen. »Rosalie, du kommst natürlich mit.«
»Und sie sind auch eingeladen, Herr Kollar, falls sie nichts anderes vorhaben.« Frederike drängte zum Aufbruch. »Wir sollten nicht trödeln.«
* * *
»Ah, die Schauspieler kommen.« Der Chef der goldenen Traube hielt die Tür auf und bat seine Gäste einzutreten. »Ich habe euch den kleinen Saal reserviert.«
»Danke Herbert.« Frederike lächelte, dann wandte sie sich ihren Begleitern zu. »Tretet ein.«
»Du kennst den Chef?« Maria war mehr als verwundert.
»Wir sind früher zusammen in die gleiche Klasse gegangen.« Marias Mutter hielt die Tür auf. »Nehmt bitte Platz.«
»Danke, Mama, dass du uns eingeladen hast.« Maria blickte sich um. Die drei Dienerinnen mit ihren Begleitern saßen schon am Tisch, ebenso Anna und Florian. Alle trugen schon das Kostüm, das sie auch auf dem Umzug tragen würden. Leises Klirren der Ketten war deutlich zu hören.
Doch dann stutzte sie. Neben Anna saßen auch vier Personen, die alle die gleiche historische Militäruniform trugen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Maria ihren brasilianischen Besuch. »Ich hätte euch fast nicht erkannt.« Sie lachte.
Wie üblich gab Betty die Wortführerin. »Wir dachten, dass das bestimmt zum historischen Charakter passt.«
»Eine sehr gute Idee.« Renate lächelte ebenfalls. »Ich habe euch schon beim Bürgermeister angemeldet. Er ist sehr stolz, dass sogar Besucher aus Brasilien und Australien zu seinem Fest kommen.«
Sarah blickte Renate verschreckt an, doch eine Frage stellte sie nicht.
Renate erkannte trotzdem, was die Prinzessin bewegte. »Ich habe ihm gesagt, dass ihr Freunde von Maria seit und euch in Amerika kennengelernt habt. Mehr weiß er nicht.«
»Danke.« Sarahs Stimme war leise.
»Es gibt Schnitzel, Käsespätzle oder einen Salatteller. Bitte sagt der Bedienung, was ihr haben wollt.« Frederike wartete, bis sich alle gesetzt hatten, dann setzte sie sich ebenfalls.
»Es sieht aus wie in einem Heerlager.« Karl war begeistert. »Die Ketten sehen so echt aus.« Er saß neben Doris und betrachtete seine Nachbarin sehr intensiv.
»Mein Verlobter ist Kunstschmied.« Doris hatte sich schon ein paar Sätze zurechtgelegt, die sie bei solchen Fragen antworten konnte. Sie legte ihre Hand auf Theos Hand, um ihre Verbundenheit zu zeigen.
»Sie haben die Ketten angefertigt?« Karl erinnerte sich an das, was er gerade erfahren hatte. »Das ist wirklich Präzisionsarbeit.«
»Danke, mein Herr.« Theo, der neben Doris saß, war sehr erfreut über das Kompliment.
»Wie war es beim Tanzen?« Maria war neugierig.
»Aufregend.« Doris lächelte. »Wegen des Umzugs heute haben wir das mit den Ketten gemacht.« Sie strahlte. »Ein Traum.«
Maria lächelte ebenfalls. Sie konnte ein wenig erahnen, wie viel der heutige Tag der Schmiedetochter bedeuten musste.
»Was hat es eigentlich mit der Originalhaltung auf sich?« Karl fühlte sich in der Gemeinschaft der Darsteller sehr wohl. »Das Rückengebet oder so ähnlich?«
Renate, die neben ihm saß, nahm sich der Frage an. »Es heißt 'das Gebet auf dem Rücken'.« Sie legte ihre Arme vor ihrem Oberkörper so zusammen, dass ihre Handflächen aufeinander lagen. »So wäre die Armhaltung, aber auf dem Rücken.« Sie blickte kurz zu Maria. »Sie könnte es vorführen, aber wegen den Ketten geht es im Moment nicht.«
»Oh, das eilt nicht.« Karl gab sich geduldig. »Ich kann auch sehr gern bis Morgen warten.« Doch dann stutzte er. »Das ist doch eine sehr ungesunde Haltung. Kommt es dabei nicht zu Schäden?«
»Nicht wenn man es lange und intensiv trainiert.« Frederike erzählte ein wenig von Marias langem Training.
»Ich bin überrascht, was für ein Aufwand für das Fest betrieben wird.« Karl blickte zu Maria.
Maria wollte seine falsche Vermutung richtig stellen, doch ein warnender Blick ihrer Mutter ließ sie inne halten. So begnügte sie sich mit einem höflichen Lächeln.
* * *
Renate stand auf. »Ich möchte mich im Namen aller Teilnehmer noch einmal für die Einladung zum Mittagessen bedanken.« Sie verbeugte sich vor Frederike, die lediglich eine Bewegung mit der Hand machte.
»Wie geht es jetzt weiter?« Marias Stimme zeigte ihre wachsende Nervosität.
»Draußen wartet hoffentlich der Bus, der uns zur Kleiderkammer bringen wird.« Renate griff zu ihrer Mappe. »Wir machen dort noch einen Kostüm-Check, und dann fährt uns der Bus zum Sportplatz.«
Und tatsächlich, als die Darsteller aus dem Restaurant traten, wartete draußen schon ein Kleinbus. Doch der Fahrer war ein wenig verlegen. »So viele Sitzplätze habe ich nicht.«
Erst jetzt realisierte Renate, dass weder Rosalie und ihr Begleiter noch die vier Brasilianer von ihr eingeplant waren. »Was machen wir denn da bloß?« Sie war ebenfalls ein wenig verlegen.
»Wenn sie uns sagen, wo wir hingehen müssen, können wir auch gern zu Fuß gehen.« Betty lächelte »Unsere Uniform muss ja nicht mehr geprüft werden.«
»Sie würden mir einen sehr großen Gefallen tun.« Renate wurde rot. »Wir hatten einfach nicht mit so viel Hauptdarstellern gerechnet.«
Auch Rosalie wurde hellhörig. »Wir können auch zu Fuß gehen.« Sie blickte ihren Begleiter fragend an.
»Natürlich.« Trotzdem war Karl ein wenig enttäuscht, das war ihm deutlich anzusehen. »Ich hatte nur gehofft, auch einen Blick in die Kleiderkammer werfen zu können.«
»Dafür ergibt sich sicher noch eine Gelegenheit.« Rosalie fühlte sich ein wenig für den fremden Herrn verantwortlich, denn schließlich hatte sie ihn ungefragt mitgebracht. »Wo geht es denn los?« Sie wandte sich an Renate. »Immer noch am alten Sportplatz?«
Renate bestätigte es. »Du kennst dich noch aus?« Sie war erleichtert. »Du könntest die Gruppe dorthin führen.«
»Das mache ich doch gern.« Rosalie drehte sich zu Maria. »Wir sehen uns am Sportplatz.«
* * *
»Und es macht ihnen wirklich nichts aus, die Ketten am Sonntag noch tragen zu müssen?« Robert Greinert hatte Doris mehr oder weniger direkt aus dem Bus heraus abgefangen. »Es tut uns sehr leid, dass wir sie damit belasten müssen.«
»Es ist einfacher, als es aussieht.« Doris gab eine ihrer mittlerweile bereitgelegten Antworten, die sie äußern konnte, ohne zu viel von sich zu verraten.
»Ich bin sehr erleichtert.« Robert blickte zu Boden. »Wir haben diesen Punkt in den Vorbereitungen wirklich übersehen.«
Doris lächelte. »Es ist in Ordnung.«
»Und, sind alle versorgt?« Renate blickte den Vorsitzenden fragend an.
»Die Kammer ist so gut wie leer.« Robert wies auf die offene Tür. »Sie sind alle unterwegs zum Sportplatz.«
»Gut, kommt bitte alle herein und stellt euch nebeneinander auf.« Renate bat die Darsteller in die Kleiderkammer, trat selbst auch ein und machte das Licht an. Zusammen mit Robert betrachtete sie die kleine Gruppe.
»Beim Prinzen fehlt noch das Schwert.« Robert rief sich die vergangenen Feste ins Gedächtnis. »Und das Wachpersonal darf bitte etwas grimmiger schauen. Immerhin kommen sie gerade von einer Schacht zurück.«
Renate musterte die vor Anspannung zitternden Darsteller ebenfalls. Sie ging auf Maria zu und zupfte ihr das einfache Leinenkleid zurecht, bei Doris und Leonie fingerte sie noch etwas an den Haaren. »Jetzt noch die Bewaffnung, und dann passt es.«
»Bewaffnung?« Die Herren wunderten sich, vor allem Leonhard.
»Naja, wir spielen ja die 'Heimkehr von der Schlacht'. Natürlich haben die Herren auch Waffen dabei.« Renate erkannte, dass sie den ortsfremden Personen etwas Hilfestellung geben musste.
»Es sind natürlich nur Holzwaffen, die bemalt sind.« Robert öffnete einen großen Schrank. »Bitte zuerst den Prinzen.«
Paul trat vor und blickte gespannt auf das Schwert, das Robert in der Hand hielt.
Robert trat einen Schritt näher und hängte das Schwert mit seiner Scheide um Pauls Hals, dann bat er auch die anderen Herren zu sich.
* * *
»Was meinst du damit, du willst den Stand nicht machen?« Herr Wetzler stellte den Motor ab und blickte seine Tochter fassungslos an.
»Das kann doch jemand anderes machen.« Claudia ließ ihren Kopf sinken.
»Jetzt platzt mir aber der Kragen, meine liebe Tochter.« Herr Wetzler schnallte sich los. »Ich habe wegen dir Herrn Bräuer abgesagt, weil du den Stand machen wolltest. Weißt du, wie geknickt er war? Das wäre sein letztes Fest gewesen und du hast es ihm kaputt gemacht.« Herr Bräuer war der alte sehr erfahrene Braumeister in der Brauerei von Herrn Wetzler. »Wie stehe ich denn jetzt da?«
»Das ist mir egal, ich mache es nicht.« Claudia hoffte, dass sie vielleicht doch noch um das sehr demütigende Ereignis herum kommen konnte, Maria als die Katerina bedienen zu müssen. Schließlich hatte sie ihre ganze Clique zu dem Fest eingeladen, weil sie ja ursprünglich die Baroness bedienen sollte.
»Nein, ich lasse mir deine Launen nicht mehr länger gefallen.« Herrn Wetzlers Stimme wurde auf einmal bedrohlich leise. »Entweder du machst den Stand, oder ich setzte dich vor die Tür und enterbe dich.«
Claudia blickte ihren Vater erschrocken an.
»Das ist mein voller Ernst.« Er sprach weiter in diesem so bedrohlich ruhigen Tonfall, von dem seine Tochter wusste, dass sie unbedingt ihn ernst zu nehmen hatte.
Claudia kam ins Grübeln. So aufgebracht und ernst hatte sie ihren Vater noch nie erlebt. Sie spürte, dass er es wirklich sehr ernst meinte, und sie erkannte, dass sie anscheinend den Bogen deutlich überspannt hatte. Natürlich hatte sie vor der riesigen Blamage gegenüber ihren Freundinnen Angst, weil sie ausgerechnet diese Maria würde bedienen müssen. Doch wenn ihr Vater seine Drohung wahr machen würde und sie sogar enterben würde, dann war ersteres wirklich das geringere Übel.
»Jetzt hilf mir, den Stand aufzubauen.« Er blickte seine Tochter noch einmal sehr böse an, dann stieg er aus.
Claudia blieb noch ein paar Sekunden auf dem Beifahrersitz sitzen, doch als sie die nächste Ermahnung ihres Vaters hörte, gab sie sich einen Ruck und öffnete die Tür.
* * *
»Es ist eigentlich gar nicht zu verfehlen.« Karl war amüsiert. »Einfach den vielen Leuten nachgehen.«
Rosalie gab ihm recht. »Es laufen ja auch viele Leute auf dem Umzug mit.« Sie versuchte, sich ein wenig an ihr letztes Fest zu erinnern, als sie noch in Landsbach gewohnt hatte. »Damals waren es, glaube ich, über vierzig Vereine. Ich durfte damals das Schild mit der Nummer 39 tragen. Und ich war irre stolz darauf.« Sie lächelte.
»Das glaube ich sofort. Für ein junges Mädchen muss das etwas sehr Schönes sein.« Karl lächelte. »Das war vor sieben Jahren?«
»Und natürlich wollten wir alle die Katerina spielen.« Rosalies Stimme war auf einmal sehr verträumt. »Jetzt hat es Maria getroffen.«
»War da nicht noch irgendwas mit einer Baroness?« Karl versuchte seine bisher erworbenen Kenntnisse zu vervollständigen.
»Ja, natürlich.« Rosalie lächelte, dann gab sie wieder, was sie schon von ihrer Freundin am Telefon erfahren hatte. »Schon vor sieben Jahren wurde die Tochter des Barons ausgewählt, auf diesem Fest die Katerina zu spielen. Aber dann hatte sie den seltsamen Unfall, und Maria musste einspringen.«
Sie gingen einige Zeit schweigend weiter.
»Aber es ist doch ein eher größerer Umzug, wenn ich die vielen verschiedenen Uniformen so sehe.« Karl blickte sich sehr interessiert um.
»Ihr passt mit den Uniformen wirklich gut dazu.« Rosalie blickte zu den vier 'Offizieren' und lächelte.
»Es sind sehr interessante Uniformen.« Karl bestätigte es. »Es passt gut in diesen historischen Kontext.«
* * *
»Und was muss die Katerina an unserem Stand machen?« Claudia wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Du hast dich ja sehr gut auf das Fest vorbereitet, wie ich sehe.« Herr Wetzler stellte den Tisch auf, den er zusammen mit seiner Tochter aus dem Auto geholt hatte. »Was haben wir denn für ein Geschäft, falls die gnädige Dame das überhaupt weiß?«
Claudia zuckte zusammen. Die Worte ihres Vaters stachen ihr direkt ins Herz. So kalt wie jetzt war er noch nie gewesen. »Wir haben eine Brauerei.«
»Ich bin erstaunt, dass du das überhaupt weißt«, sprach er weiter im gleichen Tonfall. »Und dass du 'wir' sagst.«
Claudia zuckte wieder zusammen. Sie fühlte sehr deutlich, dass sie den Bogen ordentlich überspannt hatte, und ihr tat der alte Braumeister jetzt schon leid. »Kannst du ihm nicht sagen, dass er es doch machen kann?« Ihre Stimme war sehr leise.
»Und damit blamieren wir uns noch viel mehr?« Herr Wetzler war fassungslos. »Warum haben wir dich überhaupt geboren?«
Claudia schluchzte auf. Ohne dass sie es verhindern konnte, liefen Tränen über ihr Gesicht. Tränen waren normalerweise das allerletzte Mittel, um Aufmerksamkeit von ihrem Vater zu bekommen, und sie setzte dieses Mittel nur äußerst selten ein.
»Wenn du fertig bist mit Weinen, kannst du mir bei den Fässern helfen.« Seine Stimme zeigte, dass er sich diesmal nicht von ihren Tränen beeindrucken ließ. »Schau dich nur um, alle anderen Stände sind schon fertig.«
Claudia richtete sich auf und wischte sich die Augen aus. Erst jetzt hatte sie Augen für ihre Umgebung. Zehn Tische waren in einem Halbkreis von ungefähr zehn Meter Durchmesser auf dem Marktplatz aufgebaut, und bei einigen war auch sofort zu sehen, zu welchem Handwerker oder Geschäft sie gehörten. Außerdem hing an jedem Stand ein Wappentuch, welches ein für den Standinhaber typisches Symbol zeigte. Unter anderem erkannte sie die Logos der Sparkasse, von der Bäckerei und weiteren Handwerkern. Hinter den Ständen war noch ein kleines auf historisch geschmücktes Partyzelt aufgebaut, dessen Funktion sie allerdings nicht kannte.
Auf der anderen Seite des Marktplatzes waren auch noch diverse Stände aufgebaut, die Getränke und Essen sowie Bastelarbeiten und Souvenirs verkauften. Aber es war Tradition, dass diese Stände erst nach dem Historienspiel öffneten.
Sie seufzte noch einmal, dann ging zu zum Auto, um ihrem Vater beim Ausladen zu helfen. Und sie wünschte sich sehr, eine kleine Maus zu sein und sich in ein Loch verkriechen zu können.
* * *
Franz-Ferdinand blickte sich unauffällig um. Er suchte die richtige Position, um den vermeintlichen Angriff seines Freundes auf die Dienerinnen so gut wie möglich abwehren zu können. Sie hatten ausgemacht, dass er vor der alten Bäckerei auf den Zug warten und dann die Mädchen belästigen würde. Das Geschäft war auf der rechten Straßenseite und so positionierte sich Franz-Ferdinand entsprechend neben Doris, die auf dieser Seite ihre 'Herrin' begleiten würde.
Es ging dem Neffen allerdings nur darum, bei Carlos, dem Chef der Tanzgruppe einen guten Eindruck zu erwecken und möglichst viel Vertrauen aufzubauen. Letzteres brauchte er unbedingt für seinen Plan am Sonntag. Es war wichtig, dass bei dem Fototermin möglichst keine anderen Wächter mehr anwesend waren. Nur dann hatte sein Plan eine Chance, auch zu funktionieren.
Relativ zügig begab er sich auf seinen Platz, bevor noch jemand anders aus der Wachmannschaft diese Position besetzen würde. Der Umzug würde bald los gehen.
* * *
Am Sportplatz wurden Rosalie und ihre Begleiter sofort von einem freundlichen Herrn in einem historischen Gewand empfangen, der sich als Bürgermeister Heinrich vorstellte. »Ich freue mich sehr, so weit gereiste Gäste auf unserem Fest begrüßen zu dürfen.« Er führte seine Gäste ganz nach links auf dem Sportplatz, wo ein Schild mit der Nummer Zwei aufgestellt war.
Karl blickte sich sehr interessiert um. Auf dem Platz Nummer eins nahmen die Mitglieder eines Fanfarenzuges Ausstellung, er konnte es an dem Aufkleber auf der großen Trommel ablesen. Er blickte über den Platz und erblickte neben einigen Musikkapellen, Feuerwehren und Sportvereinen auch Vereine, die in historischen Kostümen an dem Umzug teilnahmen. Auch einige Fahnenträger und Artisten waren zu sehen.
Insgesamt waren es 45 Schilder, die aufgestellt waren. »Das ist aber etwas mehr als die reine 'Heimkehr von der Schlacht'.« Er lächelte.
»Für viele ist es der Höhepunkt des Festes, weil sie hier mitmarschieren können.« Bürgermeister Heinrich blickte auf seine Uhr und sein Blick entspannte sich ein wenig. »Ich habe gehört, dass sie sich für unser Historienspiel interessieren im Rahmen ihrer Doktorarbeit?«
»Nicht ganz.« Karl wollte es richtig stellen. »Ich schreibe über die Historienspiele in Deutschland an sich und stelle Vergleiche an. Von ihrem Fest hatte ich bisher allerdings noch nichts gehört.«
»Es findet ja auch nur alle sieben Jahre statt, und wir sind nur eine Kleinstadt.« Herr Heinrich fühlte sich wegen des Interesses geschmeichelt. »Wir sind hier halt keine Touristengegend. Außerdem ist es ein Fest eher für uns selbst und die Nachbargemeinden.«
»Ich bin auch nur darauf gestoßen, weil Frau Dörtling mir im Flieger davon erzählt hat.« Karl berichtete kurz von dem langen Flug, während dem er mit seiner Sitznachbarin ins Gespräch gekommen waren.
»Aber wir haben immerhin ein kleines Museum über unser Fest.« Der Bürgermeister lächelte. »Wenn sie möchten, kann ich es ihnen zeigen.«
»Das würde mich sehr freuen.« Karl lächelte. »Vielleicht ergibt sich auch eine Möglichkeit, einen Blick in die Kleiderkammer zu werfen. Die würde mich wegen meiner Arbeit besonders interessieren.«
»Das werde ich veranlassen.« Er wandte sich an die Frau, die ebenfalls in einem Kleid aus der Vergangenheit neben ihm stand. »Können sie das alles organisieren, Frau Bauer?«
Die Sekretärin des Bürgermeisters nahm aus ihrem Gewand einen Notizblock und schrieb ein paar Worte darauf. »Wie war ihr Name, und wie kann ich sie erreichen?«
Karl beantwortete die Frage, dann wandte er sich wieder dem Bürgermeister zu. »Und wie lange gibt es das Fest schon?«
Zu einer Antwort kam der Bürgermeister nicht mehr, denn genau in dem Augenblick traf der Kleinbus ein und in dem Moment, als sich die Türen des Busses öffneten, ertönte von dem Fanfarenzug eine festliche Fanfare zur Begrüßung des Prinzenpaares.
Maria und Paul begriffen sofort, dass die Musiker dies extra für sie machten, und ihre Mienen zeigten, dass sie davon sehr beeindruckt waren.
Als die kurze Fanfare verklungen war, trat Renate zu ihnen und führte die Katerina zusammen mit ihren Dienerinnen auf den für die Hauptdarsteller vorgesehenen Platz, dann ging sie zu Rosalie und ihrem Begleiter. »Schön, dass sie da sind. Ich hoffe, unser kleiner Umzug wird ihnen gefallen.«
Karl lächelte. »Ich bin sehr gespannt, aber auch auf morgen und das Gebet.«
»Ja, das ist schon etwas Besonderes.« Renate blickte verträumt auf Maria. »So etwas in der Art hatten wir noch nie.«
Betty musste sich nur umdrehen, dann stand sie direkt vor der Katerina. Sie grinste. »Es ist schon etwas komisch.«
»Was ist komisch?« Maria wunderte sich.
»Naja, du gibst vor, eine Prinzessin zu sein.« Sie blickte sich kurz zu ihrer Geliebten um. »Und Sarah gibt vor, keine Prinzessin zu sein.«
Trotz ihrer Anspannung musste Maria lachen. »Ja, das ist tatsächlich witzig.« Doch dann wurde sie wieder ernst. »Wir müssen eben beide unsere Rollen gut spielen.«
Sie blickte sich noch einmal um. In der Wachmannschaft entdeckte sie Florian, doch sie sah seine Frau nicht. Auf einen fragenden Blick hin drehte Florian den Kopf und blickte auf die Gruppe mit der Nummer Vier.
Maria folgte dem Blick und sah, dass Anna sich mit dem Kleid, das ihr sehr gut stand, bei den Barock-Pfeiffern aufgestellt hatte. Sie winkte ihr kurz zu.
»Nehmt bitte eure Plätze ein.« Renate wuselte wie gewohnt herum. »Es geht gleich los.« Sie blickte sich um. »Und denkt bitte daran, ihr seid Geiseln und solltest ein trauriges Gesicht machen.«
Mit viel Getöse begann der Fanfarenzug seinen ersten Marsch, und damit setzte sich der Zug in Bewegung.
Kaum hatten sie den Sportplatz verlassen und links und rechts waren die ersten Wohnhäuser zu sehen, da fiel es ihnen auf, wie viele Zuschauer sich schon an den Straßenrändern tummelten.
»Erstaunlich für so eine kleine Stadt.« Karl wunderte sich ein wenig.
»Naja, es kommt der gesamte Landkreis zum Zuschauen.« Der Bürgermeister war sichtlich stolz.
»Warum findet das Fest eigentlich nicht öfters statt?« Karl wunderte sich ein wenig.
»Wir haben das nie in Frage gestellt.« Herr Heinrich zuckte mit den Schultern. »Außerdem ist es eine Menge Aufwand.«
* * *
Claudia sah voller Verzweiflung, dass die Mädchen ihrer Clique so nach und nach eintrafen. Sie hätte sich gern in eine Maus verwandelt, doch das musste ein hehrer Wunsch bleiben. Sie erkannte nach und nach, dass sie sich der befürchteten Demütigung wirklich stellen musste.
Ausgerechnet diese Maria. Bisher war sie ein dankbares Mobbingopfer, doch durch ihre Hauptrolle im Katerinenspiel hatte sie nun das Ansehen und den Respekt des ganzen Städtchens gewonnen, weit mehr noch als die Baroness.
Claudia war sich bewusst, dass sie ihr altes Spiel nicht mehr spielen konnte, schon gar nicht, ohne im Ansehen der Stadt selbst abzustürzen. Das war auch nicht das eigentlich Ärgerliche, sondern, dass sie durch ihre Rolle quasi dazu bestimmt war, die neue Rangordnung als erste zu akzeptieren.
Mit viel Verzweiflung blickte sie zu ihrem Vater, doch sie entnahm seiner Miene, dass sie sich alle Möglichkeiten verspielt hatte, mit denen sich die Demütigung vielleicht noch abwenden lassen konnte.
Jetzt erkannte sie ihren übergroßen Egoismus. Sie hatte dem alten Braumeister mehr als nur vor den Kopf gestoßen. Sie würde jetzt gern die Zeit zurück drehen, doch sie wusste, dass so etwas nicht möglich war.
Sie begann, ihre bisherige Arroganz zu überdenken. War es das wirklich wert?
* * *
Etwas Konkretes hatte Franz-Ferdinand mit seinen Freunden gar nicht abgesprochen, nur der Ort, an dem der 'Überfall' stattfinden sollte, war ausgemacht. Und tatsächlich, gerade als der Zug an der alten Bäckerei vorbei kam, löste sich plötzlich eine vermummte Gestalt aus der Zuschauermenge und torkelte auf die Gruppe der Hauptdarstellerinnen zu.
Die offensichtlich männliche Gestalt breite die Arme aus und stellte sich Doris in den Weg, als ob sie ein heimkehrendes Liebchen in ihre Arme nehmen wollte, und schien zu erwarten, dass Doris sich der angebotenen Umarmung hingab.
Dadurch, dass Carlos als Chef der Wachmannschaft jetzt auch auf die Prinzessin Katerina achten musste, bemerkte er die Attacke erst, als Franz-Ferdinand sich zwischen ihn und die verwirrte Doris stellte und mit ebenfalls ausgebreiteten Armen den vermeintlichen Verehrer von seinem Ziel abbrachte.
Dieser ließ unwillig seine Arme fallen und versuchte, an Franz-Ferdinand vorbei zu kommen, doch dieser versperrte ihm mit seinen Armen den Weg und drängte ihn mit sanfter Gewalt und energischen Flüchen zur Seite und danach in eine Gasse. Gleich darauf nahm der Neffe des Barons wieder seine Posiiton im Zug ein und tat, als wäre nichts gewesen.
»Gute Arbeit.« Carlos nickte ihm leise zu.
Franz-Ferdinand war erleichtert. Der falsche Überfall war geglückt und Carlos schien die Sache geglaubt zu haben. Der Neffe fühlte, dass sein Plan doch noch Chancen hatte aufzugehen.
* * *
Als die Spitze des Umzugs den Marktplatz erreichte, stellte sich der Fanfarenzug neben die Tribüne und spielte, während die nachfolgenden Gruppe der Ehrengäste sofort auf der Tribüne Platz nahm. In der ersten Reihen saßen natürlich die Darsteller der herzöglichen Familie, Paul als Darsteller des Herzogssohnes natürlich auch. In der zweiten Reihe nahmen der Bürgermeister und die ausländischen Gäste Platz, dahinter plazierten sich die Sponsoren und der restliche Vorstand des Festes.
Die Katerina wurde mit ihren Dienerinnen zu einem kleinen historischen Zelt geführt, um sich dort kurz ein wenig frisch machen zu können. Als Maria sich vor dem Zelt noch einmal zu der Tribüne drehte, entdeckte sie auch ihre Mutter, die zusammen mit einigen älteren Herren auf der letzten Reihe des mehrstufigen Podestes saß.
Während die anderen Vereine an der Tribüne vorbei zogen, machte sich Karl eifrig Notizen. Als der Bürgermeister ihn darauf ansprach, lächelte der Student. »Von ihrem Fest gibt es wenig in der Literatur, also muss ich hier fleißig mitschreiben.«
Auf einmal war die etwas atemlose Stimme eines Mannes zu hören, der sich als Moderator vorstellte und die auf den Marktplatz einmarschierenden Vereine und Gruppen vorstellte.
»Unser kleines Museum hatte ich ja schon erwähnt.« Herr Heinrich lächelte ein wenig stolz. »Das wird sie bestimmt interessieren.«
»Ich bin schon sehr gespannt.« Karl schrieb wieder etwas in seinen Block. Doch dann blickte er erstaunt auf. »Sie haben sogar Moriskentänzer?« Er schaute verwundert auf die Gruppe von Artisten, die gerade vor der Tribüne ihre Kunststücke vorführte.
»Ja und nein.« Herr Heinrich lächelte ein wenig verlegen. »Das ist die berühmte Gruppe aus München. Wir sind sehr stolz, dass sie unser kleines Fest mit ihren Künsten bereichern.«
»Und was passiert hier noch, wenn die Vereine durch sind?« Karl blickte sich um. »Sie haben die Tribüne sicher nicht nur wegen des Umzugs hier aufgestellt?«
Der Bürgermeister wartete die nächste Ankündigung des nächsten Vereins ab, dann zeigte er auf den Marktplatz. »Sehen sie dort die zehn Tische?«
Karl bestätigte es.
»Gemäß der Überlieferung wurde die Katerina, um sie als Geisel in der Stadt bekannt zu machen, bei den Handwerkern und Kaufleuten vorgestellt und musste dort immer ein wenig mitarbeiten.« Der Bürgermeister blickte sich suchend um. »Frau Bayer könnte ihnen mehr erzählen, sie kennt sich mit den Hintergründen zum Fest besser aus.« Er zeigte auf das Zelt, in dem vorhin die Hauptdarstellerinnen verschwunden waren. »Sie kümmert sich jetzt aber um die Darsteller.«
»Und der Prinz?« Karl äußerte, dass er den Freund von Maria kennengelernt hatte und dass dieser auch noch eine Rolle spielen würde.
»Das ist im Prinzip richtig.« Herr Heinrich drehte sich kurz zur Seite und zeigte auf den Prinzen. »Dort sitzt Paul Mohr, der später noch wichtig wird.«
»Ich bin fasziniert.« Karl blickte auf die verschiedenen Gruppen, die nach und nach einmarschierten. »Interessant, was es so alles an Vereinen gibt.«
»Naja, Landsbach ist immer noch ein Dorf, wenn auch etwas größer.« Der Bürgermeister richtete sich auf. »Jeder kennt jeden, und natürlich wollen alle beim Fest mitmachen. Für viele ist heutige Tag der Höhepunkt.«
»Aber der eigentliche Höhepunkt ist morgen, wenn die Comtess das Gebet zeigt, wenn ich das richtig verstanden habe?« Karl griff die nicht ausgesprochene Frage auf.
»Oh, sie kennen sich schon besser aus als viele meiner Bürger.« Herr Heinrich war begeistert. »Für die meisten Leute ist es einfach die Prinzessin, aber sie haben den historisch korrekten Titel benutzt. Schließlich war sie nur eine Grafentochter.«
»Was ist das denn Seltsames?« Karl blickte auf die Gruppe, die gerade vor der Tribüne entlang marschierte. »So etwas habe ich ja noch nie gesehen.«
»Das ist eine alte Feuerwehrspritze.« Herr Heinrich blickte der Gruppe hinterher. »Die Kameraden aus dem Nachbarort holen sie jedes Mal extra für unser Fest wieder von Dachboden herunter.«
»Beeindruckend.« Karl notierte sich wieder etwas. »Die Leute sind wirklich mit Herzblut dabei.« Er hob den Kopf und blickte sich um. »Die Vereine stellen sich alle um die Tische herum?«
»Ja, das sehen sie richtig.« Der Bürgermeister schaute kurz auf die Nummer des aktuellen Vereins. »Das war jetzt die Nummer 30. Wenn alle einmarschiert sind, wird es auf dem Marktplatz kaum noch Platz geben.«
* * *
»Leonie, du könntest jetzt schon einmal zur Kutsche gehen.« Renate blickte in ihre Liste. »Keine Angst, von dort hast du einen guten Blick auf den Marktplatz und die Stände. Kerstin sollte da schon auf dich warten.« Sie stand an der Zelttür und hielt die Tür von innen auf.
Doch Leonie zögerte ein wenig und blickte dabei auf ihre Ketten.
»Du hast recht, das solltest du lieber doch nicht allein machen.« Renate blickte sich verlegen um.
»Ich könnte mitgehen und auf sie aufpassen.« Holger hatte eine kleine Chance gesehen, sich nützlich zu machen.
»Das wäre gut, falls es ihnen nichts ausmacht.« Renates Blick zeigte ihre Erleichterung. »Dieses Jahr ist so viel anders, es ist nicht einfach, immer an alles zu denken.« Sie sah zu Amelie. »Für sie habe ich jetzt keine Aufgabe mehr.
»Das macht gar nichts.« Amelie winkte freudig ab. »Es war bis hierher schon sehr toll.«
»Würde es ihnen sehr viel ausmachen, wenn sie die Ketten noch bis zum Abschluß des Spieles tragen würden?« Renate gab sich verlegen. »Den Punkt haben wir auch übersehen.«
»Auch das macht gar nichts.« Amelie lächelte großmütig. »Sie lassen sich ja ganz bequem tragen.«
»Maria, hast du dich genügend erholt?« Renate wandte sich der Hauptdatstellerin zu. »Gerade läuft der vorletzte Verein ein.«
Als Antwort stand Maria auf. »Von mir aus kann es los gehen.«
* * *
Als sie aus dem Zelt trat, war der Moderator gerade dabei, die Ehrengäste zu begrüßen. Viele der Namen sagten ihr nur am Rande etwas, doch gegen Schluß wurden dann Rosalie und Karl sowie die vier Brasilianer noch einmal ausdrücklich begrüßt. Maria drehte ihren Kopf zur Tribüne, wo die sechs gerade aufgestanden waren und ihren Applaus genossen.
Doch dann fiel ihr Blick auf die zehn Tische, an denen sie gleich arbeiten würde und ihr Blick verfinsterte sich. Auf dem vorletzten Platz am Stand der Brauerer Wetzler entdeckte sie ihre Rivalin Claudia.
Renate war der Wechsel ihrer Miene nicht entgangen, doch noch hatte sie nicht erkannt, was die Ursache dafür war. Sie ging auf Maria zu und nahm sie kurz in den Arm. »Lampenfieber ist kein Grund, um Angst zu haben.« Sie strich Maria über das Gesicht. »Als Katerina solltest du jetzt ein stolzes Gesicht machen.«
Maria blickte kurz zu Paul und sein Blick zeigte ihr, dass auch er ihre Rivalin schon entdeckt hatte. Doch dann musste sie lächeln, denn Paul hatte das Zeichen benutzt, was eigentlich erst morgen für den Ball ausgemacht war und das so etwas wie 'Es wird alles gut' signalisieren sollte. Wie es überliefert war, hatte sich der Sohn des Herzogs und die Grafentochter auch einige Zeichen ausgedacht, um sich verständigen zu können. Pauls Geste gab ihr Mut.
»Und nun wird die Katerina an die Stände treten und an jedem Stand eine symbolische Arbeit machen.« Der Moderator erläuterte, wie es zu diesem Teil des Festes gekommen war. »Der erste Stand stellt die Bäckerinnung dar.« Es war etwas Papiergeraschel durch die Lautsprecher zu hören. »Hier wird die Katerina ein Brot aus dem Ofen holen.« Nach einer Pause sprach der Moderator weiter. »Entschuldigen sie bitte, das hätte ich jetzt fast vergessen. Der Stand gehört der Großbäckerei Friedrich.«
Renate legte Maria kurz die Hand auf die Schulter. »Es geht los.«
Maria blickte noch einmal kurz auf die Tribüne, dann holte sie tief Luft und setzte sich in Richtung des ersten Standes in Bewegung.
* * *
Es war den Standinhabern freigestellt, ob sie selbst auch etwas sagen wollten oder ob sie es bei der Ankündigung des Moderators belassen wollten. Für erstere Fälle hatte Renate ein Mikrofon dabei.
»Herzlich willkommen am Stand der Großbäckerei Friedrich.« Der Inhaber hatte es sich nicht nehmen lassen, selbst den Stand vorzuführen. »Ich freue mich sehr, die Comtess Katerina von Greifenklau bei uns begrüßen zu dürfen.« Er hatte sich anscheinend sogar die Mühe gemacht und den vollständigen historischen Titel herausgesucht.
Er griff zum Brotschieber, einer langen und flachen Holzschaufel, und reichte sie Maria. Doch dann bemerkte er ihr Zittern. »Kein Grund, Lampenfieber zu haben«, sagte er leise und ohne Mikro, so dass es nicht einmal die Umstehenden hören konnten.
Maria hob ihren Kopf. Auf dem Tisch stand etwas, dass mit einiger Phantasie Ähnlichkeit mit einem alten Dorfbackofen hatte, nur dass dieses Modell viel kleiner war.
Sie nahm sich die Schaufel entgegen und blickte sie etwas verwundert an, so als wisse sie nicht, was sie damit zu tun hatte. Doch tatsächlich waren ihre Gedanken fast ausschließlich beim Stand der Familie Wetzler.
Nachdem der erste Schreck vorüber war, begann Maria ihre Gedanken zu ordnen. Sie erkannte sofort, dass sie viel Kraft sammeln musste für die Begegnung mit Claudia. Kraft, die sie vor allem dafür brauchte, trotz der drohenden Demütigungen der Brauerstochter noch ein freundliches Gesicht machen zu können und vor allem ihre Rolle spielen zu können.
»Comtess?« Die Stimme von Herrn Friedrich riss Maria aus ihren Gedanken. »Bitte seid vorsichtig mit der Schaufel, das Modell ist nur aus Pappe und wir haben es schon mehrmals geflickt.«
Er hielt sich das Mikro wieder vor den Mund. »Die Comtess wird nun etwas tun, was früher sehr kennzeichnend für unseren Beruf war. Heute haben das alles Maschinen übernommen.« Er ließ kurz das Mikro sinken. »Warten sie bitte, bis ich das Modell hinten festhalte, sonst schieben sie es womöglich vom Tisch.« Dann nahm er das Mikro wieder hoch. »Bitte sehr, holen sie das Brot aus dem Ofen.« Er trat hinter das Pappmodell und hielt seine Hand darauf, dann nickte er Maria ermutigend zu.
Maria erkannte sofort, dass sie sich konzentieren musste, um die Illusion nicht zu zerstören. So schob sie den Brotschieber langsam in den Ofen. Sie konnte das Brot sehen, dass sie herausholen sollte. Zu ihrer Erleichterung liess sich das Brett leicht unter den Laib schieben und so konnte sie unter dem langsam einsetzenden Applaus das Brot auf dem Ofen holen und es auf dem Tisch ablegen.
»Das war doch sehr gut.« Renate war ebenfalls etwas erleichtert. Eigentlich hätte es im Rahmen der Festvorbereitung einen Probelauf bei den jeweiligen Standinhabern geben sollen, doch darauf hatten sie wegen Marias Amerika-Aufenthalt verzichtet.
* * *
Beim zweiten Stand musste sie sofort an den Besuch des Architektenbüros denken, bei dem die Inhaberin mit ihrem Vater über den Inhalt ihres Standes gestritten hatte. Maria erkannte sofort, dass sich die Tradition durchgesetzt hatte.
Der Moderator stellte den zweiten Inhaber vor und erklärte, dass die Katerina hier mit Bauklötzchen ein Haus zu bauen hatte. »Lachen sie nicht«, sprach er gleich weiter. »Es ist eine lange Tradition bei den Architekten, dass sie die meisten ihren ersten Entwürfe immer mit Hilfe solcher Bausteine machen. Die Tätigkeit der Katerina hier hat also durchaus einen realen Bezug zur Architektur.«
Maria trat heran und warf zunächst einen Blick auf den kleinen Baukasten, der sie trotzdem zunächst ein wenig an ihre frühe Kindheit erinnert. Sie nahm die ersten Klötzchen heraus und stellte sie vor sich auf den Tisch. Doch schon als sie sie aufeinanderstellen wollte, zitterte ihre Hand so sehr, dass die Steine daneben fielen.
Renate trat hinzu und schaute Maria kurz zu, dann ergriff sie ihre Hand und führte sie. »Warum zitterst den denn so? Hast du soviel Lampenfieber?«
Maria schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht.« Doch noch wollte sie nicht sagen, was sie wirklich bewegte.
Schließlich schaffte sie es doch noch, die Klötzchen so aufzustellen, dass es wenigstens ein wenig Ähnlichkeit mit einem Hausmodell hatte. Doch im Gesicht waren erste Schweißtropfen zu sehen. Und ihre Hände zitterten deutlich.
* * *
Während die Katerina noch damit beschäftigt war, das Haus zu bauen, trat der Metzger Sauer, der Inhaber des nächsten Standes, an Renate heran. »Ich wusste nicht, dass sie so viel Lampenfieber haben würde.« Er blickte besorgt auf den Nachbarstand. »Bei mir soll sie Fleisch schneiden, aber in ihrem Zustand möchte ich ihr das sehr scharfe Messer nur höchst ungern in die Hand geben.«
»Ich werde einmal mit ihr reden.« Renate war sichtlich betroffen. »Aber was könnte sie sonst machen? Haben sie eine Idee?«
»Wir haben sonst nichts vorbereitet.« Herr Sauer war sichtlich verlegen. »Wenn sie wenigstens einen Schutzhandschuh tragen würde.«
»Hätten sie so einen Handschuh griffbereit?« Renate blickte noch einmal auf Maria.
»Im Auto hätte ich einen.« Herr Sauer blickte zu dem weißen Lieferwagen, der am Rand des Marktplatzes geparkt war.
»Bitte holen sie ihn.« Renate gab dem Moderator eines der verabredeten Zeichen. »Wir warten so lange.«
»Was ist denn das?« Maria blickte etwas verwirrt auf den seltsamen Handschuh, den ihr Renate entgegen hielt.
»Das ist ein Kettenhandschuh.« Renate blickte Maria besorgt an. »Bei Herrn Sauer muss die Katerina Fleisch schneiden mit einem sehr scharfen Messer.«
»Ich verstehe.« Trotz ihrer Sorgen erkannte Maria die Zusammenhänge sofort. Sie streckte ihre Hand aus und blickte Renate verunsichert an.
»Warum bist du so nervös?« Renate wollte die Ursache für Marias fehlende Aufmerksamkeit ergründen. »Was lenkt dich denn so sehr ab?«
Maria blickte kurz auf den neunten Stand, an dem Claudia Wetzler gerade etwas Wasser in einen Topf schüttete. Ihre Stimme war auf einmal leise und etwas weinerlich. »Sie ist immer so gemein zu mir.« Natürlich wusste Maria, dass sie sich in diesem Moment wie ein kleines Kind anhörte, doch genauso fühlte sie sich auch. »Ich habe Angst vor ihr.« Jetzt war ihre Stimme noch leiser.
»Ah, ich verstehe.« Renate war dem Blick von Maria gefolgt. Bei allen anderen Ständen stand der Inhaber oder der Chef persönlich an dem Tisch, nur bei der Brauerei Wetzler hatte sich die Tochter des Hauses vorgedrängelt. Doch wirklich helfen konnte Renate ihrem Schützling auch nicht. »Ich bin immer an deiner Seite. Denk einfach daran, dass DU heute die Hauptperson bist, nicht sie!« Sie versuchte ihr etwas Mut zu machen.
Claudia hoffte immer noch, dass sich vielleicht die Erde auftun würde und sie oder Maria verschlucken würde. Mittlerweile hatte sich wirklich ihre gesamte Clique versammelt, und alle blickten entweder auf die Katerina oder auf ihren Stand. Claudia hatte sie eingeladen, damit sie alle sehen konnten, wie sie die Baroness bedienen würde. Und jetzt würde sie sich bis auf die Knochen blamieren, weil es nur Maria war, die sie sonst immer wegen ihrer seltsamen Kleidung so oft gehänselt hatte .
Weglaufen war auch keine Option, denn die Worte ihres Vaters klangen ihr noch in den Ohren. Sie kannte ihn gut und wusste, wann er etwas wirklich ernst meinte. Und sie wollte es auch nicht ausprobieren, um zu erfahren, ob er seine Drohung mit der Enterbung wirklich umsetzen wollte. Doch an seinem Gesichtsausdruck hatte sie erkannt, dass er außerordentlich wütend war. So wütend, wie sie ihn noch nie erlebt hatte.
Sie hatte den Bogen überspannt, und jetzt musste sie sich den Konsequenzen stellen. Sie würde sich noch monatelang den Spott ihrer Freundinnen anhören, und in ihrer selbst festgelegten Hackordnung würde sie sehr weit nach hinten rutschen.
Paul hatte sich kurz mit dem Darsteller des Herzogs beraten, ob er seinen Platz verlassen dürfe, weil er sich um Maria kümmern müsse. Beiden war aufgefallen, wie schlecht es Maria ging und Paul glaubte auch die Ursache für das Unbehagen zu kennen. Er ging zu Rosalie, weil ihm aufgefallen war, dass sie sich ebenfalls um ihre Freundin Sorgen machte.
Nach einem kurzen Gespräch mit Marias Freund erkannte Rosalie, dass sie handeln musste, und sie hatte auch schon eine Idee, was sie machen konnte. Sie ging zu den vier 'Offizieren' und erläuterte ihren Plan, nicht ohne immer wieder zu Maria zu blicken, die den Metzgerstand ohne Blssuren überstnden hatte und jetzt am Stand der Sparkasse Geld zählte.
»Machen wir doch gern.« Betty grinste. Sie drehte sich zu den anderen 'Offizieren'. »Immer hübsch grimmig schauen.« Sie hatte Marias sorgenvolle Blicke auch bemerkt und erläuterte kurz den Plan, den Rosalie vorgeschlagen hatte. Es waren alle einverstanden.
Zu fünft gingen sie zu Renate und Rosalie beschrieb kurz, was sie sich ausgedacht hatte.
Renate runzelte zunächst die Stirn, doch nach einem Blick auf Maria, die immer nervöser wurde, besprach sie sich kurz mit Robert Greinert, den sie kurz heran gewinkt hatte. Als auch er sein Einverständnis gab, gingen sie zum fünften Stand, an dem die Schneiderin Roswita Bartels zusammen mit ihrer Tochter eine Schneiderpuppe aufgebaut hatte. »Hoheit?«
Maria brauchte erst einen Moment, bis sie erkannte, dass sie gemeint war. Sie ließ das Kleid los, dass sie gerade in der Hand hatte und drehte sich um.
»Hier sind vier Offiziere ihres Leibregiments, die zusätzlich für ihren Schutz sorgen möchten.« Dabei blickte sie deutlich zum neunten Stand. »Ihre Feundin Rosalie Baronin von Canberra hat dafür gesorgt.«
Maria erkannte sofort, was der eigentliche Plan war, und darüber war sie sehr erleichtert. Sie nahm sich das Mikro, räusperte sich kurz und sprach dann mit klarer Stimme. »Ich danke sehr für die Unterstützung, meine Herren Offiziere.« Das es überhaupt nicht zum eigentlichen Inhalt des Historienspiels passte, war zwar allen bewusst, aber es störte auch nicht.
Danach wandte sie sich wieder ihrer Aufgabe zu, das Kleid der Schneiderpuppe überzustreifen. Dabei ließ sie sich gern von Judith, der Tochter der Schneiderin helfen.
An den folgenden Ständen war Maria wesentlich gefasster. Bei der Schusterei kam sie mit der gestellten Aufgabe, Nägel in die Sohlen zu stecken, gut zurecht und sie zitterte auch nicht dabei.
Auf den nächsten Stand hatte sie sich schon lange gefreut, denn es war der Stand von Theo, und wieder hatte er es sich nicht nehmen lassen, die kleine Reiseschmiede in Betrieb zu nehmen. Hier musste die Katerina nur mit dem Hammer auf das Stück Eisen schlagen, welches Theo dazu aus dem Feuer geholt hatte. Maria hatte sich schon im Vorfeld extra für den schweren Hammer entschieden, weil es damit besser aussah und sich auch besser anhörte, als mit dem Spielzeughammer, der auch zur Verfügung gestanden hätte.
»Danke für alles«, flüsterte Theo, als Maria den Hammer wieder weglegte. »Doris ist so was von glücklich.«
Maria nickte ihm nur zu. Wieder blickte sie zu dem Stand der Familie Wetzler und diesmal wagte sie es sogar Claudia ins Gesicht zu blicken. Sie hatte in ihrer Miene eigentlich Hohn und Spott erwartet, doch stattdessen war ein eher sorgenvolles Gesicht zu sehen. Maria erkannte die Zusammenhänge noch nicht, aber der unerwartete Blick ihrer Rivalin gab ihr Mut für die weiteren Stände.
»Schade, dass ihr das Gebet tragt.« Der Inhaber des nächsten Standes, der Kunstsattler Klaus Hörmann, begrüßte Maria, noch bevor Renate mit dem Mikro da war.
»Warum denn das?« Maria war etwas verwundert, weil sie sonst andere Reaktionen bekam.
»Ich hätte gern den Handschuh für die Katerina gefertigt.« Er blickte kurz zu Theo, der freundlich zurück lächelte.
Maria lächelte. »Ich hätte da schon ein paar Ideen für...« Doch sie konnte nicht weiter sprechen, weil Renate mit dem Mikrofon kam und den Standinhaber die Aufgabe erläutern ließ.
Maria blickte währenddessen heimlich zu Claudia, die immer nervöser wurde und ihrerseits immer in eine bestimmte Richtung blickte. Maria folgte schließlich dem Blick und entdeckte die anderen Mädchen von Claudias Clique. Ihr bisher aufgebauter Mut fiel auf einmal wieder zusammen.
»Maria?« Renate riss Maria aus ihren Gedanken. »Hier ist die Nadel, die ihr hier durch das Leder stehen müsst.«
* * *
Die Aufgabe für die Katerina am Stand der Brauerei war eine der einfachsten der zehn Stände. Sie würde einfach nur die Schale mit dem Hopfen in den Topf mit dem Sud schütten müssen.
Eigentlich war es nur eine einfache Handbewegung, doch durch die Anwesenheit von Claudia empfand es Maria eher wie einen Spießrutenlauf. Gerade erst hatte auch sie die Freundinnen von Claudia entdeckt, die am Rand standen und ihnen zusahen.
Doch dann stutzte Maria. Die Freundinnen, unter denen sie ebenfalls schon so oft schon leiden musste, blickten nicht zu ihr, sondern zu Claudia und lachten dabei. Auf einmal begriff sie die wahren Zusammenhänge. Claudia hatte ihre Mädchen bestimmt herbei geordert, weil sie ihr zeigen wollte, wie sie die Baroness bedienen würde. Und jetzt kam nur die kleine und unbedeutende Maria.
Maria blickte sich um. Betty und Sarah standen mit ihren Männern bereit, um ihr jegliche Unterstützung zukommen zu lassen. Sie fühlte so etwas wie Erleichterung. Dadurch, dass Juan und Bertram eher hochgewachsen waren, wirkten sie in der Uniform zudem sehr respekteinflössend.
Sie hatte ihrer Rivalin zwar nichts entgegen zu setzen, doch sie fühlte, dass die Brauerstochter gerade dabei war, sich gründlich zu blamieren. Maria erkannte, dass sie eigentlich gar nichts tun musste, und trotzdem würde Claudia eine schwere Niederlage einstecken. Der Spott ihrer Freundinnen würde ihr noch lange erhalten bleiben. Im Rücken spürte sie die Anwesendheit ihrer vier brasilianischen Freunde und so trat sie schließlich an den Stand der Familie Wetzler und holte tief Luft.
Claudia erkannte, dass sie keine andere Wahl hatte, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und Maria so zu bedienen, wie sie es eigentlich für die Baroness vorgehabt hatte. Die Brauerstochter hielt den Blick gesenkt, sie wagte es nicht, Maria anzusehen. Wortlos reichte sie ihr die Schale mit den Hopfendolden und nahm den Deckel vom Sudtopf.
Maria wartete wie auch an den anderen Ständen die Rede des Moderators ab, dann erst nahm sie die Schale in die Hand und schüttete den Hopfen in den Sud. Dass die Rede des Moderators besonders lang war im Vergleich zu den anderen Ständen, dafür konnte sie nichts, doch es bewirkte, dass Claudia die Schale besonders lange halten musste.
Am Schluß kam der Teil, vor dem sie sich bisher am meisten fürchtete. Sie musste dem Standinhaber die Hand reichen, um sich zu verabschieden. So wurde es seit Jahren gespielt, und an allen anderen Ständen hatte sie damit auch kein Problem gehabt, doch dies war Claudia Wetzler. Maria hatte eigentlich keinen besonders festen Händedruck, doch als sie Claudias Hand ergriff, kam es ihr doch vor, als würde sie einen nassen Lappen in der Hand halten. Claudia schwitze geradezu und setzte ihrem leichten Druck überhaupt nichts entgegen. Auch hielt sie ihren Kopf immer noch gesenkt und vermied es, Maria anzusehen.
Maria war in Gedanken schon beim letzten Stand. Hier hatte sie etwas Text und den rief sie sich noch einmal ins Gedächtnis. Traditionsgemäß bekam die Katerina hier am Stand des Juweliers eine Schmuckkette umgehängt, um sie damit symbolisch bei den Handwerkern und Gewerbetreibenden der Stadt willkommen zu heißen. Dafür musste sie sich mit einem Satz bedanken. Sie wusste, dass Renate in ihrer Nähe war und ihr nötigenfalls sogar soufflieren würde, doch sie war sich sicher, es auch ohne die Hilfe ihrer Betreuerin zu schaffen.
Claudia war gedanklich völlig am Boden zerstört, und sie konnte nur noch deswegen aufrecht stehen, weil sie sich am Tisch festhielt. Sie blickte Maria traurig hinterher, weil sie wusste, dass sich mit diesem Moment sehr viel in ihrem Leben ändern würde. Trotzdem war sie froh, dass es jetzt vorbei war. Doch dann hörte sie in der Ansage des Moderators ihren Namen. »Claudia Wetzler hat uns schon vor einiger Zeit gebeten, dass sie der Katerina die Kette umhängen darf, und der Festausschuss hat dem zugestimmt.«
Als Claudia diese Worte hörte und sie die ganze Tragweite erkannte, schossen ihr Tränen in die Augen, und ihr fielen wieder ihre Träume und Wünsche von damals wieder ein. Sie wollte der Baroness die Kette umhängen dürfen, und sie hatte auch sehr früh schon den Juwelier davon überzeugt, dass sie das machen dürfe.
Sie wollte sich nicht die Blöße geben, sich jetzt die Augen auswischen zu müssen, und so ging sie mehr oder weniger blind auf die Position, die Renate ihr gezeigt hatte. Doch auf dem Weg dahin übersah sie eine Unebenheit im Pflaster, stolperte direkt vor Maria und fiel auf den Boden.
Maria hatte das Mikro schon in der Hand, als Claudia vor ihr zu Boden ging. Viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf, die sich so gut wie alle damit befassten, wie sie die Situation im Sinne des Spieles retten konnte. Sie wollte Lacher vermeiden, weil es dem Spiel die Würde nehmen würde, und sie wollte auch Claudia nicht vor den Kopf stoßen, obwohl sie wusste, dass diese ihr gegenüber das ganz sicher gemacht hätte.
Doch sie war nicht Claudia. Sie reichte ihr eine Hand, während sie sich mit der anderen das Mikro vor den Mund führte. »Steht auf, junge Maid. Ich bin nur eine Geisel, es gibt also keinen Grund, vor mir niederzuknien.«
Das Blut schoß ihr in den Kopf, doch die entgegengestreckte Hand sah Claudia trotz ihrer Tränen und so ließ sie sich langsam wieder hoch ziehen. Als sie wieder auf ihren Beinen stand, machte Maria mit ihrem eigentlichen Text weiter.
»Danke«, Renate flüsterte ihr leise zu. »Das hat die Situation gerettet.«
Der Juwelier gab Claudia die Ketten in die Hände, und obwohl die Brauerstochter direkt vor der Katerina stand, war sie doch nicht in der Lage, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich musste Renate ihre Hände führen, damit sie der Katerina die Kette umhängen konnte.
Maria sprach die vorgesehenen Dankesworte, dann drehte sich zum Bürgermeister und reichte ihm das Mikro. Jetzt kam seine Rede und damit das Ende der Vorführungen auf dem Marktplatz.
Maria war sichtlich erleichtert, und sie freute sich, denn jetzt kam der erste Auftritt des Prinzen. Sie bemerkte nicht, das Claudia ihr lange nachschaute.
* * *
Nach dem Stand des Sattlers hatte Paul von Renate das verabredete Zeichen bekommen. Er war aufgestanden, hatte sich kurz vor dem Herzog verbeugt, dann verließ er die Tribüne und ging zügig, aber dennoch würdevoll zu dem Platz, an der die Kutsche wartete. Die Stelle war so gewählt, dass die Kutsche vom Marktplatz noch nicht gesehen werden konnte.
Paul drehte sich sofort um, als er von Maria den seltsamen Text hörte, doch er sah nur noch, wie Claudia neben Maria stand und die Kette in den Händen hielt. »Hast du gesehen, was passiert ist?« fragte er Kerstin, die vorn an der Ecke zum Marktplatz stand und so einen guten Blick auf den Marktplatz hatte.
Kerstin hatte das Geschehen verfolgt, und deswegen konnte sie Paul erklären, was gerade ereignet hatte. »Ich denke, Claudia ist gestolpert und Maria hat die Situation elegant gerettet.« Sie beschrieb, was sie gerade beobachtet hatte.
»Dann dürfte sie Maria hoffentlich dankbar sein.« Pauls Stimme zeigte eine geweisse Hoffnung.
»Meinst du wirklich?« Kerstin gab wieder, was sie über die Brauerstochter wusste. »Ich denke nicht, dass sie sich allein deswegen ändern wird.« Sie blickte kurz zu ihrer Kutsche. »Wir sind gleich dran.« Sie drehte sich um und ging die wenigen Schritte bis zur Kutsche. »Na, schon aufgeregt?« Sie lächelte, während sie sich auf den Kutschbock setzte zu die Zügel ergriff.
»Es geht so.« Paul lächelte. »Der Prinz hat heute zum Glück nur wenig Text.«
* * *
Wie schon am Tag zuvor klopfte Marias Herz etwas lauter, als sie das erste Hufgetrappel hörte, welches die Kutsche mit dem Prinzen, ihrem Prinzen, ankündigte. Natürlich hatte der Fanfarenzug wieder mit einer festlichen Fanfare die Ankunft des Prinzen angekündigt, doch für Maria waren die Geräusche der Pferde wichtiger. ER würde kommen und sie mit der Kutsche ins Schloß bringen. Natürlich würde die Kutsche nur ins Rathaus fahren, doch über diese kleine historische Ungenauigkeit wurde schon lange hinweg gesehen.
Sie nutzte die kleine Pause, um sich ein unauffällig ein wenig umzusehen. Neben ihr stand der Bürgermeister, ebenfalls in einem historischen Kostüm und wartete mit ihr auf den Prinzen. Hier ihr standen ihre vier 'Offiziere', und sie hatten große Mühe, ein ernstes Gesicht zu machen. Auch sie hatten das 'Duell' zwischen Maria und Claudia verfolgt, und obwohl sie nur wenig über die Brauerstochter wussten, hatten sie doch erkannt, wie viel Kraft Maria diese Begegnung gekostet hatte. Und auch sie freuten sich, dass Maria als die moralische Siegerin vom Platz gegangen war.
Ein Blick von ihr zum Stand der Brauerei zeigte ihr nur noch ein Häufchen Elend mit Namen Claudia Wetzler. Von der ehemals so stolzen und hochmütigen Brauereistochter war nichts mehr zu sehen. Stattdessen stand Claudia regungslos da und blickte Maria nach. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war schwer zu deuten. Obwohl Maria noch nicht viel Zeit gehabt hatte, über die Begegnung nachzudenken, fühlte sie doch, dass sie dieses Mal anders verlaufen war, als die Begegnungen zuvor.
Der Moderator erläuterte wieder die historischen Zusammenhänge, und auf das passende Stichwort führte der Bürgermeister die Katerina zu der Stelle, wo die Kutsche wartete. Ohne dass es abgesprochen war, gingen die vier 'Offiziere' hinter der Katerina her und nahmen hinter der Kutsche Aufstellung.
Auf Renates Zeichen hin ging Leonie zur Kutsche und klappte die Stufen herunter, dann sprach sie ihren Satz in das Mikro. Obwohl sie sich sehr bemühte, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Stimme leicht zitterte. Natürlich genoss sie ihren Auftritt, und sie freute sich auch sehr über den Applaus, als der Moderator sie extra namentlich erwähnte als die erste Dienerin ihrer Prinzessin. Sie hatte sich viel Mühe gegeben, damit es trotz ihrer vielen Ketten noch sehr würdevolll aussah, und der nochmalige Applaus zeigte ihr, dass es ihr gut gelungen war.
Maria musste warten, bis sie vom Prinzen die Erlaubnis bekommen hatte, die Kutsche zu besteigen. Es wirkte ein wenig spröde, weil für jeden Satz das Mikrofon herum gereicht werden musste. Aus diesem Grund beschränkten sich die Texte der Darsteller auf das Wesentliche, während der Moderator alles erzählte, was für die Zuschauer wichtig war.
Zwei ihrer Offiziere halfen ihr, die Kutsche zu besteigen. Sie trat vor den angedeuteten Thron, und auf ein Zeichen des Prinzens hin nahm sie darauf Platz.
»Ich glaube, das Duell hast du gewonnen.« Paul flüsterte, damit es auch die Umstehenden nicht hören konnten.
»Meinst du?«, fragte Maria im gleichen Tonfall.
»Schau doch nur, wie geknickt sie da jetzt steht.« Paul blickte einmal kurz auf den Marktplatz.
Doch Maria war nicht besonders glücklich darüber. »Sie wird sich bestimmt rächen wollen.« Aber dann blickte auch sie kurz auf den Marktplatz und sah, wie Claudia von ihrem Vater ordentlich ausgeschimpft wurde wegen ihres schlechten Benehmens, und weil sie die Brauerei in so ein schlechtes Licht gerückt hatte.
In diesem Moment hatte Maria fast so etwas wie Mitleid mit ihrer Rivalin. Doch dann fiel ihr wieder ein, wie sehr sie bisher unter Claudia gelitten hatte und ein erstes, leises Siegesgefühl machte sich in ihr breit.
Der Moderator unterbrach ihre Gedanken, in dem er ankündigte, dass die Katerina ja immer noch eine Geisel sei, und um dies zu verdeutlichen, würde der Prinz sie jetzt auf dem Thron in Eisen legen.
Auf das Stichwort hin hob Paul das Oberteil der einen Schelle hoch, und blickte die Katerina aufforderend an.
Maria legte ihren Arm würdevoll in den Metallring und sah, wie der Prinz danach die Schelle wieder schloss. »Wie gesagt, nicht bewegen, sie sitzen ganz locker.«, flüsterte er dazu.
Maria lächelte kurz. »Eine ganz andere Art von Fesselung.« Dann setzte sie wieder die Miene auf, die für die Szene abgesprochen war und klammerte sich an den Lehnen fest. Sie wusste, dass die Kutsche auf dem Kopfsteinpflaster ziemlich durchgeschüttelt wurde, und sie wollte verhindern, dass dadurch die Illusion zerstört wurde, sie wäre tatsächlich an den Thron gekettet.
Paul stellte sich hinter den Thron und signalisierte so, dass diese Szene vorbei war.
Wieder erläuterte der Moderator den weiteren Ablauf, dann setzte sich die Kutsche unter den festlichen Klängen des Fanfarenzuges langsam in Bewegung. Paul blickte sich kurz um und sah, dass die vier 'Offiziere' hinter der Kutsche her marschierten. Es verlieh dem Moment noch zusätzlich etwas Glanz. Bei den Proben bisher war es einfach nur eine kurze Kutschfahrt, doch jetzt mit der Musik und den jubelnden Zuschauern hatte es etwas Großes und sehr Feierliches.
Gleich darauf fuhr die Kutsche durch das Rathausportal, und unter dem tosenden Applaus des Publikums schlossen sich die beiden großen Türflügel des Rathauses.
»Oh, ich bin froh, dass es vorbei ist.« Maria flüsterte, obwohl sie sicher war, dass sie keiner außer Paul hören konnte.
»Du warst sehr gut.« Paul wusste natürlich, was die eigentlichen Sorgen seiner Freundin waren. »Ihr Vater hat sie eben auch noch mal ausgeschimpft.«
Maria lächelte. »Danke für die Unterstützung.«
»Das war wunderbar.« Renate kam auf die Kutsche zu. »Jetzt kommt bitte für das Schlussbild.«
Es dauerte noch einige Zeit, bis alle auf der breiten Rathaustreppe ihren Platz für das Erinnerungsfoto gefunden hatten. Doch dann stutzte der Bürgermeister und bat Hans, den Fotografen, noch ein wenig zu warten. Er ging zum Stand der Brauerei. »Wo ist ihre Tochter?«
»Sie sitzt im Auto.« Herr Wetzler schaffte es nicht, seinen Ärger zu verbergen.
»Holen sie sie bitte. Sie hat so sehr darauf gedrängelt, auf dem Abschlussfoto neben der Katerina stehen zu dürfen.« Es war nicht zu erkennen, ob der Bürgermeister die wahren Zusammenhänge erkannt hatte.
Normalerweise hätte der Vater widersprochen, doch jetzt erkannte er eine gute Gelegenheit, seiner sonst so aufmüpfigen und arroganten Tochter einen weiteren Denkzettel zu verpassen.
Er musste Claudia fast aus dem Auto ziehen. »Der Bürgermeister wartet auf dich. Jetzt mach hin, oder willst du uns noch mehr blamieren?«
Maria musste lächeln, als sie sah, wie betrübt Claudia aus der Wäsche schaute, doch noch erkannte sie noch nicht, warum.
»Fräulein Wetzler hat mich gebeten, auf dem Foto neben der Katerina stehen zu dürfen.« Er bat, Leonie einen Schritt nach rechts zu gehen.
Maria blieb zunächst fast das Herz stehen, doch dann erkannte langsam sie die ganzen Zusammenhänge. Claudia hätte neben der Baroness auf dem Foto stehen sollen. Jetzt grinste Maria. Bestimmt hatte sie auch allen ihren Freundinnen ein Bild versprochen, ein Bild, dass sie ab jetzt immer an diese große Blamage erinnern würde.
»Kannst du mir verzeihen?« Claudia wagte es nicht, Maria anzusehen. Sie sprach auch sehr leise.
Maria hielt den Atem an. So einfach wollte sie es der immer so gemeinen und arroganten Brauerstochter dann doch nicht machen. »Wir müssen lächeln für das Foto.« Auf die Frage ging sie bewusst nicht ein.
»Ich wäre gern an deiner Stelle, aber ich könnte die Ketten nicht tragen.« Claudia war auf einmal unerwartet freundlich.
»Und das Gebet?« Maria hatte bisher darauf verzichtet, mit ihrer besonderen Fähigkeit in irgendeiner Weise anzugeben, doch jetzt gegenüber Claudia flossen ihr die Worte direkt aus dem Herzen. Trotzdem kamen sie bewusst kalt aus ihrem Mund.
»Das erst recht nicht.« Claudia seufzte. »Wollen wir Freunde werden?«
Im ersten Moment glaubte Maria, sich verhört zu haben, doch dann war sie sich über ihre Antwort im Klaren. Sie wusste, dass sie auf diese mehr oder weniger falsche Freundschaft mit Claudia gern verzichten konnte. Außerdem ahnte sie, dass sie in Zukunft ganz andere Kontakte haben würde.
Je länger Maria darüber nachdachte, desto sicherer war sie sich, dass sie das Freundschaftsangebot von Claudia wirklich ausschlagen konnte. »Wir müssen lächeln«, war schließlich ihre nichtssagende Antwort.
* * *
Maria sehnte sich nicht nach einer Freundschaft mit Claudia. Sie war sich sicher, dass sich die Brauerstochter so schnell nicht ändern wurde. Doch die Aussicht, in der Schule nicht mehr gehänselt zu werden, hatte etwas Verlockendes. Maria fühlte, dass sie eine gute Position hatte, doch diese wollte sie auch nicht leichtfertig verspielen. Sie nahm sich vor, erst mit Rosalie und Paul darüber zu reden. Beim Essen im Rathaus würde sich sicher eine Gelegenheit ergeben.
Gleich nach den Fotos bat Renate die Teilnehmer ins Rathaus, wo die Metzgerei ein sehr leckeres kaltes Buffet aufgefahren hatte. Als Hauptdarstellerin durfte sie sich zusammen mit dem Prinzen als erste am Buffet bedienen. Gleich nach ihr durften sich ihre drei Dienerinnen anschließen und so saßen sie schließlich auch gemeinsam am Tisch. Lediglich der Platz neben Doris war noch frei, weil ihr Verlobter sich noch um den Abbau der Schmiede kümmern wollte.
Anfangs war die Schmiedstochter noch etwas nervös, weil sie das erste Mal mit den Ketten allein war. Doch schnell begann sie sich in der Gemeinschaft der anderen Mädchen wohl zu fühlen und die Ketten störten sie auch in der Öffentlichkeit nicht mehr.
Sowohl der Bürgermeister als auch Robert Greinert kam nach den Dankesworten an ihren Tisch und fragten, ob die Mädchen die Ketten nicht ablegen wollten. Das Spiel wäre doch jetzt vorbei.
Doch die Katerina und die drei Dienerinnen waren sich einig. »Sie stören ja nicht.« Ein etwas nervöses Kichern war dabei zu hören.
»Ich bin schon sehr gespannt auf das Gebet.« Der Bürgermeister deutete gegenüber Maria eine Verbeugung an. »Meine Leute schwärmen von ihnen.«
Maria lächelte ein wenig verlegen. »Ich hoffe, ich werde sie nicht enttäuschen.«
»Da bin ich mir sicher.« Herr Heinrich verbeugte sich noch einmal. »Ganz sicher.«
* * *
Nach einiger Zeit, als die meisten schon ihren ersten Hunger gestillt hatten, kam auch Theo an den Tisch, und er war in Begleitung eines Paares, welches er sofort als den Kunstsattler und dessen Schwester vorstellte. Er erläuterte sofort die Gründe dafür. »Wir haben uns über unsere Frauen unterhalten, und dann habe ich erkannt, dass ich etwas vermitteln kann.« Er blickte zu Leonie, die jedoch mit Turteln mit Holger beschäftigt war.
Erst ein Anstupser von Doris bewirkte, dass Leonie aufblickte. »Entschuldigung, ich war etwas abgelenkt.«
Theo grinste, dann übergab er an den Sattler. »Schildere bitte dein Anliegen. Ich denke, Leonie wird begeistert sein.«
Der Sattler zögerte noch einen Moment, dann räusperte er sich. »Ich bin Kunstsattler und suche ein Modell, das sich mir zur Verfügung stellt.« Seine Stimme wurde leiser. »Es sind allerdings Entwürfe von ziemlich restriktiver Kleidung.«
Leonie horchte auf. »Inwiefern restriktiv?« ihre Augen leuchteten verräterisch.
»Sagen ihnen Zwangsjacken etwas?« Die Schwester des Sattlers mischte sich ein. »Ich wäre froh, wenn ich sie nicht länger ausprobieren müsste.« Sie blickte ebenfalls sehr ermutigend zu Leonie.
»Ich habe hier meine Entwurfsmappe dabei mit den Sachen, die ich in der nächsten Zeit angehen möchte.« Er legte eine Mappe auf den Tisch. »Wenn ich das vielleicht mal erläutern dürfte.«
»Jetzt setzten sie sich erst einmal.« Holger drehte sich um. »Könnt ihr noch etwas zusammenrutschen?«
Leonie keuchte, als der Sattler seine Mappe aufgeschlagen hatte. »Sie suchen ein Modell?« Ihre Stimme war sehr leise.
»Ja, ich plane eine Ausstellung.« Er seufzte ein wenig. »Man muss es als Kunstprojekt tarnen, sonst wird es die Öffentlichkeit nicht akzeptieren.«
»Was wird die Öffentlichkeit nicht akzeptieren?« Leonie hatte beim Blättern in der Mappe nur mit einem Ohr zugehört.
»Naja, es ist Fesselkleidung.« Der Sattler war ein wenig verlegen. »Bestens dafür geeignet, junge und hübsche Frauen unter stremger Kontrolle zu halten.«
»Ich bin ihr Mann.« Leonie keuchte, dann erst bemerkte sie ihren Fehler und lachte. »Ich will das gern alles vorführen.«
»Vielleicht können sie auch etwas für uns anfertigen?« Holger blickte ebenfalls recht fasziniert in die Mappe. »Mich würde diese Kombination hier zum Beispiel sehr interessieren.«
»Ja, ein sehr schönes Stück.« Der Sattler lächelte. »Wenn sie zusagen, würde ich es ihnen sogar zum Selbstkostenpreis anfertigen.«
Leonie blickte etwas verwirrt auf das Stück, welches auf der Seite skizziert war. Es bestand aus einem langen Leder-Rock mit einem verschließbaren Gehschlitz und einem Oberteil, bei dem die Arme der Trägerin nicht zu sehen war. »Das sieht toll aus.« Doch dann fiel ihr Blick auf Holger und sie zögerte ein wenig. »Darin wäre ich ja völlig hilflos.«
»Ja, das dachte ich auch.« Holger war von dem Entwurf ebenfalls sehr beeindruckt. »Dafür würde ich sogar mein Sparbuch plündern.«
»Was habt ihr denn da Feines?« Maria war auf das Musterbuch aufmerksam geworden.
»Kleidung für ungehorsame junge Damen.« Paul war der Unterhaltung ein wenig gefolgt. Jetzt legte er den Arm um seine Freundin. »Du brauchst so etwas ja nicht.« Er gab sich Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten.
»So meinst du?« Maria sah ihn mit feurigen Augen an, dann blickte sie auf die Zeichnung, die Leonie ihr reichte.
»Außerdem ist es viel zu teuer.« Er versuchte, von dem ihm etwas unangenehmen Thema abzulenken. »Vielleicht interessiert sich deine Mutter dafür?«
»Ich mag sie aber nicht anpumpen.« Maria wusste natürlich, dass ihre Mutter im Moment keinerlei Geldsorgen hatte. Es war viel mehr das sehr restriktive Aussehen der Kleider, welches sie etwas abschreckte.
Der Sattler griff in seine Jackentasche, holte ein paar Visitenkarten heraus und verteilte sie.
Auch Leonhard griff zu, doch dann stutzte er. »Wir sollten unsere Adressen auch austauschen.« Er blickte am Tisch umher. »Es könnte von sehr interessant sein, uns auch mal ohne das Fest zu treffen.« Er sprach nicht weiter.
»Und zusehen, wie wir uns mit den Fesseln abmühen?« Amelie setzte den Satz fort.
Ein Lächeln ging um den Tisch.
»Das ist eine sehr gute Idee.« Doris war begeistert und ihre leuchtenden Augen steckten die anderen an.
»Ich übernehme das.« Leonhard wusste natürlich, was mit solchen Freundschaften verbunden war, doch er wollt das kleine zarte Pflänzchen nicht gleich wieder zertreten.
* * *
»Ich muss etwas mit euch besprechen.« Maria griff Rosalie und Paul jeweils an einer Hand und zog sie von den Anderen weg.
»Was gibt es denn?« fragten ihre beiden Begleiter fast gleichzeitig, während sie mit den anderen Darstellern noch etwas über den jetzt etwas ruhigeren Marktplatz bummelten.
»Claudia Wetzler hat mir ihre Freundschaft angeboten.« Obwohl sie ein paar Schritte von den anderen entfernt war, sprach Maria doch mit leiser Stimme.
»DIE Claudia?« Paul fielen sofort die Szenen vom Schulhof wieder ein.
»Ja, genau die.« In Marias Stimme war ihre Empörung zu hören. »Sie hatte wohl auf die Baroness gesetzt und ist deswegen jetzt bei ihren Freundinnen unten durch.«
»Und auf dem Foto steht sie neben dir.« Paul begriff langsam die wahren Zusammenhänge. »Was hast du denn geantwortet?«
»Ich bin noch nicht darauf eingegangen.« Sie schilderte kurz die Szene beim Abschlussfoto.
»Ist sie immer noch so hochnäsig wie früher?« Rosalie legte den Arm um ihre Freundin.
»Schlimmer denn je.« Maria seufzte.
»Jemand, der auf dem Boden liegt zu treten ist leicht.« Paul war sehr nachdenklich. »Sie würde das wahrscheinlich machen.«
»Du solltest ihr die Hand reichen und ihr aufhelfen. Gerade weil du nicht sie bist.« Rosalie griff das Bild auf, was Paul benutzt hatte. »Sie war zwar arrogant, aber ich bin mir sicher, dass sie nicht undankbar ist. Und vielleicht lernt sie dabei ja etwas…«
* * *
Je näher sie zum Haus von Selma kamen, desto nervöser wurde Leonie. Holger bemerkte es sofort, doch er konnte den Grund dafür nicht erkennen. Schließlich fragte er, was sie denn bewegte.
Leonie blieb stehen und blickte Holger lange an. Schließlich senkte sie ihren Blick und mit ganz leiser Stimme flüsterte sie: »Ich möchte nicht wieder in den Käfig. Ich habe kaum geschlafen und es ist so unbequem.«
»Möchtest du für die Nacht überhaupt fixiert werden?« Holger gab sich sehr sensibel.
Leonie blickte überrascht wieder hoch. Mit so einer Frage hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Sie zögerte lange mit ihrer Antwort. »Es mag komisch klingen, aber ich habe schon seit langem einen sehr ungewöhnlichen Wunsch.« Sie blickte sich um, als fürchte sie, sie könnten belauscht werden.
»Nun sag es schon.« Holger spürte durchaus den besonderen Moment.
»Ich möchte gefesselt einschlafen, aber ohne die Fesseln aufwachen.« Trotz der Nähe von Holger kostete es Leonie viel Kraft, ihre innigsten Wünsche auszusprechen.
»Und einen Knebel möchtest du auch tragen.« Holger kam ihrem Gesicht näher.
Leonie blickte ihn verwundert an, dann kam auch sie mit ihrem Gesicht näher. Langsam versanken sie in einen langen Kuss.
* * *
»Das war ein toller Tag.« Amelie schloss die Tür des Hotelzimmers hinter sich und ließ sich gleich darauf auf das große Bett fallen.
»Wie möchten Madame die Nacht verbringen?« Leonhard lächelte, während er sich seine Kleidung öffnete.
Amelie stutzte einen Moment. »Ich glaube, ich wähle den Schlafsack.« Sie grinste, denn es war auch die einzige Möglichkeit, die Nacht gefesselt zu verbringen. Weitere Sachen hatten sie nicht mitgebracht.
Leonhard schmunzelte. »Es hätte ja auch sein können, dass Madame die Nacht in Freiheit verbringen möchte.« Er holte tief Luft. »Nach so einem schönen Tag.«
Amelie blickte ihren Verlobten lächelnd an. »Ja, es war ein Traum.« Sie legte sich auf das Bett und ließ den Tag mit leisen Worten noch einmal an sich vorbei ziehen.
* * *
»Ich werde Frau Mohr fragen, was sie uns rät.« Holger blickte Leonie sehr verliebt an. »Ich glaube, sie hat eine Menge Erfahrung.«
Pauls Oma erwartete sie schon an der Haustür. »Na, wie war der erste Tag des Festes? Hat es euch gefallen?«
Holger beantwortete die Frage ausgiebig, dann holte er noch einmal tief Luft, und trug dann Leonies Wunsch vor. »Was würden sie uns raten?«
Selma blickte Leonie mit strenger Miene an. »So so, du möchtest heute nicht in den Käfig.« Es fiel auf, dass sie das 'heute' besonders betont hatte.
Leonie fühlte sich gedrängt, ihre Beweggründe zu erläutern. »Es war so unbequem. Mir tat heute Morgen alles weh.«
»Weil du es nicht gewohnt bist.« Selma hatte Mühe, ihr ernstes Gesicht zu halten. »Wenn du das häufiger machst, dann wird es dir eines Tages auch nichts mehr ausmachen.«
Leonie stöhnte laut, als sie die Trageweite der Antwort erkannte. Doch sie erwiderte nichts.
»Ich würde euch zu einer Spreizfesselung raten.« Selma sprach im gleichen ernsten Tonfall weiter. »Damit lässt es sich gut einschlafen und die Fesseln können geradezu unbemerkt entfernt werden.« Sie ahnte die Frage, die kommen würde. »Nach ungefähr einer halben Stunde setzt die erste Tiefschlafphase ein, und solange solltest du auf jeden Fall bei ihr sein.«
Leonie blickte etwas erschrocken auf, doch wieder stellte sie keine Frage.
»Wenn du morgen etwas früher kommst, kannst du Leonie sogar wecken.« Selma blickte dabei aber nicht zu Holger, sondern zu Leonie.
»Das wäre sehr schön.« Leonie blickte etwas verlegen zu Boden.
»Und jetzt ist genug geredet.« Selma griff in ihre Tasche und holte einen Ball auf einem Stoffriemen heraus. »Dieser Knebel hat einen Klettverschluss auf der Wange und lässt sich fast unbemerkt entfernen.«
»Du hast gehört, was sie gesagt hat?« Holger nahm den Knebel in die Hand und näherte sich Leonies Gesicht. Es wunderte sie in dem Moment überhaupt nicht, dass Selma den Knebel schon in der Tasche hatte.
Und als sie das Zimmer betraten, sahen sie, dass der Käfig mit einer Decke abgedeckt war. Und am Bett waren an den Kopf und Fußenden jeweils Ledermanschetten angebracht.
Samstag, 25. September 1984 - Festwochenende
Maria hatte sich extra den Wecker gestellt, denn sie wollte beim Vorbereiten des Frühstück helfen. Im Gegensatz zu Pauls Oma war ihre Erzieherin es nicht gewohnt, viele Personen zu Gast zu haben, außerdem hatte Maria doch recht spontan eingeladen. Sie hätte sich an diesem so wichtigen Tag zwar gern von Paul wecken lassen, doch auch ihn wollte sie damit nicht extra belasten.
Doch als sie nach dem Bad herunter kam, sah sie, dass er schon dabei war, den Tisch zu decken. »Was machst du denn schon hier?« Sie war erstaunt.
»Dir auch einen guten Morgen.« Er lächelte etwas verlegen. »Ich wollte dich eigentlich wecken, aber deine Erzieherin meinte, dass ich lieber besser ausschlafen lassen soll. Ich habe dann gefragt, ob ich mich etwas nützlich machen kann.«
Maria musste lachen. »Und ich habe mir extra einen Wecker gestellt, damit ich beim Vorbereiten helfen kann. Ich habe das Klingeln gar nicht gehört.«
»Ich habe nur geklopft, weil ich dich nicht stören wollte.« Letzteres hatte er allerdings nur gemacht, weil er von außen Schritte gehört hatte.
»Ich wollte dich an diesem wichtigen Tag ausschlafen lassen.« Mrs. Potter trug eine Warmhaltekanne herein. »Wer kommt noch mal alles?«
Maria zählte auf. »Meine Mutter natürlich, Rosalie und Herr Kollar kommen zum Frühstück. Und später kommen auch Sarah und Betty mit ihren Männern.«
Die Erzieherin schaute etwas verschreckt.
»Die Vier kommen aber nicht zum Frühstück.« Maria erkannte die Besorgnis von Mrs. Potter sofort. »Wir treffen uns hier, weil wir gemeinsam zur Sparkasse gehen wollen.«
»Wollte Frau Bayer nicht auch kommen?« Paul erinnerte sich an den gestrigen Abend.
»Ja, das hatte sie gesagt. Doch dann hat Herr Greinert sie doch noch zu einer sehr frühen Besprechung eingeladen.« Maria gab wieder, was sie zuletzt von ihr erfahren hatte.
»Naja, du bringst mit deinen vielen Besuchern das Fest aber auch ganz schön durcheinander.« Mrs. Potter lächelte und ihre Miene zeigte, dass sie trotz allem sehr stolz war auf ihren Schützling.
»Das Gebet ist eben auch etwas besonderes.« Paul gab seiner Freundin einen Kuss.
* * *
»Das war toll gestern.« Doris schwärmte schon wieder vom vorhergehenden Tag, während sie sich auf dem Bett räkelte und darauf wartete, dass sie von ihren Nachtfesseln befreit wurde. »So ein Tag wird so bald nicht wieder kommen.« Sie blickte zu Theo, der schon das Werkzeug in der Hand hatte, mit dem er ihre Ketten öffnen konnte. Sie war etwas nervös, weil dies in der neueren Zeit nur äußert selten passiert war.
»Ich habe eine Überraschung für dich. Also beeile dich.« Er beugte sich zu ihr herunter und öffnete die sonst immer verschlossenen Eisenmanschetten.
Doris wägte kurz ab, ob sie sich auf eine Diskussion bezüglich der angekündigten Neuigkeit einlassen sollte, doch dann entschied sie sich dafür, sich lieber im Bad zu beeilen. Er würde vorher doch nichts verraten, und sie würde damit nur Zeit verlieren.
Als sie aus dem Bad zurück kam, musste sie schmunzeln. »Die Ketten fehlen mir richtig. Ich habe mich schon so daran gewöhnt, dass ich mich ohne sie richtig unwohl fühle.« Erst jetzt fiel ihr Blick auf die Kommode, auf der Theo die Überraschung offenbar schon ausgebreitet hatte. Sie erkannte einige goldfarbene Schmuckketten, die mit kleinen roten und blauen Steinen besetzt waren.
»Du hast extra Schmuck für mich machen lassen?« Doris war sehr erfreut.
»Besonderer Schmuck!« Theo grinste bis über beide Ohren. »Ich war extra bei einem Goldschmied.«
»Du bist ein Schatz.« Doris nahm eine der Ketten in die Hand.
»Für meine Beste nur das Beste.« Theo lächelte stolz.
»Wie macht man das denn auf?« Doris hatte eines der offensichtlichen Armbänder in der Hand und suchte den Verschluss. »Ich sehe da überhaupt nichts.«
»Es ist aus Titanstahl gearbeitet, welcher ganz dünn vergoldet wurde. Sehr robust« Theo ging noch nicht auf die Frage ein. »Die Steine sind allerdings nur gefärbtes Glas.«
»Das macht ja nichts.« Doris war davon nicht enttäuscht. »Aber jetzt möchte ich ihn anlegen.«
»Willst du dich nicht erst mal anziehen?« Theo hatte immer noch dieses leicht angespannte Lächeln im Gesicht.
Doris war mit dem Ankleiden nicht minder schnell als zuvor im Bad. Gleich darauf stand sie wieder erwartungsvoll vor der Kommode und nahm das Armband erneut in die Hand. »Und wie öffnet man das jetzt?«
»Man braucht einen Schlüssel.« Theo griff sich an den Hals, zog an seiner Halskette und holte ein Medallion hervor. Er klappte es auf und holte einen geradezu winzigen Stift hervor. »Damit kann man es aufschließen.«
»Das war doch bestimmt sehr teuer?« Noch hatte Doris die Zusammenhänge nicht vollständig erkannt.
»Er hat mir nur die Materialkosten berechnet, weil ich ihm dafür sein Gartentor repariert habe.« Theo kam mit dem Schlüssel näher.
Doris streckte fast automatisch den Arm aus und sah zu, wie ihr Verlobter mit Hilfe des winzigen Schlüssels den Schmuck um ihr Handgelenk legte. »Warum aus Titan? Es gibt doch billigeres Material.«
Theo grinste. »Weil es sehr robust ist und mit normalen Mittel nicht zu beschädigen ist.«
Langsam dämmerte es seiner Freundin. »Du schließt mich in den Schmuck ein?«
»Könnte man so sagen.« Theo grinste noch mehr. »Und jetzt gib mir bitte deinen anderen Arm.«
Wie hypnotisiert streckte Doris auch ihren anderen Arm vor, und noch bevor sie ihre Gedanken alle sortiert hatte, sah sie, das Theo auch ihr zweites Handgelenk mit einem Schmuckarmband versehen hatte. An diesem Armband baumelte eine kurze Kette herunter. Sie stutzte etwas und blickte zu ihrem anderen Arm. Auch dort baumelte ein kurzes Stück Kette herunter.
»Wofür sind die kurzen Ketten?« Doris' Stimme zitterte ein wenig.
»Jetzt lass uns erst einmal frühstücken.« Theo hatte noch immer das Grinsen im Gesicht.
* * *
Leonie erwachte, als sie eine Berührung im Gesicht spürte.
»Aufwachen, meine Liebe.« Holger streichelte ihr zärtlich über die Wange. »Heute ist ein wichtiger Tag.«
Leonie schlug die Augen auf. Sie spürte sofort, dass sie noch die Ledermanschetten und Hand- und Fußgelenke trug, doch sie waren nicht mehr mit dem Bett verbunden. Sie richtete sich auf und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Erst jetzt realisierte sie, dass Holger neben ihr auf ihrem Bett saß.
»Ich wollte dir auf jeden Fall einen guten Morgen wünschen und fragen, ob du die Nacht genossen hast.« Wie sie es sich gestern Abend noch gewünscht hatte, war Holger heute schon sehr früh zu Selma gekommen, um auf jeden Fall bei ihrem Erwachen dabei zu sein.
»Ich hatte einen tollen und zugleich sehr seltsamen Traum.« Leonie dachte nicht darüber nach, dass sie ihre Gedanken einem fast noch Fremden anvertraute. Sie fühlte seit ihrer erste Begegnung mit ihm fast so etwas wie ein Urvertrauen.
»Inwiefern seltsam?« Holger gab sich ehrlich interessiert.
»Es war wie vorgestern, als ich die gemeinen Armschienen tragen musste.« Sie blickte fasziniert auf die Kommode, wo die angesprochenen Foltergegenstände immer noch lagen. »Nur das diesmal die Schienen fest in die Ärmel mit eingebaut waren.«
»Wie ging dann das Anziehen?« Holger hatte schon eine Idee, von was Leonie geträumt haben könnte.
»Es wurde einfach ein langer Reißverschluss geschlossen.« Leonies Stimme wurde leiser. »Und dann konnte ich meine Arme nicht mehr beugen, wie bei den Handschuhen auch.« Sie blickte wieder zur Kommode.
»Und mit einem zweiten Reißverschluss wurden die Arme dann längs am Körper fixiert.« Holger lächelte. »Und es war ein Kleid aus Leder.«
»Ja. Woher weißt du das?« Leonie wurde es auf einmal unheimlich.
»Ich habe dir doch gestern die Broschüre von Klaus Hörmann gezeigt.« Holger grinste.
»Dem Kunstsattler?« Leonie erinnerte sich nach einem kurzen Moment.
»Ja.« Holger bestätigte es. »Genau der.«
»Und?« Leonie begriff die Zusammenhänge noch nicht.
»Das war einer seiner Entwürfe.« Holger streichelte ihr vorsichtig über den Kopf. »Ich habe für das nächste Wochenende einen Besuchstermin ausgemacht, damit du dich mit seinen Entwürfen vertraut machen kannst.«
Leonie wischte sich noch einmal die Augen aus. Zu einer Antwort war sie in diesem Augenblick nicht fähig.
»Du sollst dich doch mit den Kostümen vertraut machen, die du vorführen sollst.« Holger lächelte stolz. »Und eines seiner Modelle darfst du behalten. Quasi als Lohn.«
Leonie hob erstaunt den Kopf. Doch zu einer Antwort war sie immer noch nicht in der Lage.
»Komm bitte nach unten, wenn du fertig bist.« Holger stand auf. »Sie wartet mit dem Frühstück auf uns.«
* * *
Amelie von Grünberg blinzelte, als ein Sonnenstrahl in ihre Augen fiel. Verträumt blickte sie zu ihrem Verlobten, der neben ihr noch zu schlafen schien.
Sie verzichtete darauf, ihn zu wecken, denn dazu hätte sie sich sehr mühsam in ihrem engen Leder-Schlafsack zu ihm hinüber robben müssen, und sie wusste, wie anstrengend das werden konnte. Ihre Arme waren längs am Körper in den inneren Ärmeln fixiert, und sie konnte sie und ihre Finger nur millimeterweise bewegen.
Stattdessen genoss sie die Ruhe des Morgens und den Blick aus dem Fenster und ließ sich dabei von der Sonne kitzeln.
Sehr gern dachte sie zurück an den vergangenen Abend, an dem sie mit den anderen Darstellern im Rathaus noch zusammen gesessen und nach dem Buffet die gereichten Getränke genossen hatte.
Es hatte sich keiner daran gestört, dass die vier Mädchen im Rathaus noch bis tief in die Nacht mit ihren Ketten am Tisch saßen. Im Gegenteil, sie hatten teilweise sogar Komplimente dafür bekommen, weil ihre Fesseln so echt ausgesehen hatten. Dass die Ketten echt waren, war nicht zu erkennen.
Unter dem Tisch, wo es die anderen nicht sehen konnte, tauschte sie mit Leonhard intime Zärtlichkeiten aus, während sie ihre Ketten klirren hörte. Es war ein Traum gewesen.
»Guten Morgen mein Schatz.« Leonhard schlug die Augen auf.
Amelie erwiderte den Gruß. »Das war ein schöner Tag gestern.« Sie drehte den Kopf zur Decke. »Lässt du mich bitte heraus? Ich müsste dringend ins Bad.«
»Aber gern, mein Schatz.« Er beugte sich zu seiner Verlobten und zog den langen Reißverschluss auf. Doch wie sonst auch musste er auch ihre Arme aus den Ärmeln ziehen, erst dann war Amelie in der Lage, sich weiter aus dem Schlafsack zu befreien. Sofort sprang sie aus dem Bett und lief ins Bad.
»Ein teures Vergnügen.« Leonhard sprach mehr zu sich selbst, als er den Schlafsack zum Lüften umdrehte und über das Bettgestell am Fußende hängte.
»Aber er ist jeden einzelne Mark wert...«, ergänzte Amelie durch die offene Badezimmertür.
* * *
»Danke, das war sehr lecker.« Rosalie legte ihr Besteck beiseite und wischte sich mit der Servierte den Mund ab.
»Ich möchte mich ebenfalls noch einmal herzlich für die Einladung bedanken.« Herr Kollar nahm einen Schluck Kaffee. »Ich bin schon sehr auf das Gebet gespannt.«
Maria verdrehte die Augen und stöhnte ein wenig. »Den Satz habe ich in den letzten Tagen schon so oft gehört.« Doch dann lächelte sie.
»Es ist aber auch etwas Besonderes.« Es war Marias Mutter anzuhören, wie stolz sie auf ihre Tochter war. Zwar hatte das Gebet nichts mit ihrem Programm zu tun, doch letzteres war eine wichtige Grundlage für Marias jetzige Fähigkeiten. »Wie geht es heute los?«
»Renate holt die Katerina für die Sponsorenbesuche ab.« Paul gab wieder, was er über den Ablauf des Festes wusste.
»Wir gehen zunächst alle zur Sparkasse für den offiziellen Emfang«, ergänzte Rosalie. »Der Bürgermeister will uns dann das Museum zeigen.« Sie blickte kurz zu ihrer Flugbekanntschaft.
»Und die Kleiderkammer möchte er uns auch zeigen.« Herr Kollar berichtete, dass er sich das gewünscht hatte. »Ihr Fest findet zwar nur alle sieben Jahre statt, aber es kann sich mit den anderen Festen durchaus messen.«
»Sie können vergleichen.« Rosalie hatte ein wenig von dem behalten, was sie im Flieger über die anderen Feste erfahren hatte. »Aber der Höhepunkt kommt morgen, wenn die Katerina vor dem Altar steht.« Sie blickte ein wenig neckisch zu ihrer Freundin.
Maria nahm den Blick auf. »Wir haben das schon mit der Pfarrerin besprochen. Morgen heiratet die Comtess Katerina den Prinzen Anselm.« Sie stoppte ihre Gedanken und vermied es in diesem Moment zu Paul zu blicken.
Frederike hatte den Wink zwar auch bemerkt, doch auch sie vermied es, das Thema zu vertiefen. »Wann kommt Frau Bayer?«
Maria blickte auf die Uhr. »Sie wollte gleich nach der Besprechung vorbei kommen.«
* * *
»Das war ein sehr schöner Tag gestern.« Leonie blickte Holger verliebt an.
»Möchte noch jemand Kaffee?« Selma hielt die Kaffeekanne hoch.
»Wenn noch welcher da ist, gern.« Florian reichte seine Tasse hin.
»Ja, das ist wohl war.« Holger erwiderte den Blick von Leonie. »Das Fest bietet außergewöhnliche Möglichkeiten.«
Anna erkannte die Zusammenhänge sofort. »Was ist so schön daran, gefangen zu sein?«
»Ich weiß es nicht.« Leonie zuckte mit den Schultern. »Meine Schwester und ich befassen uns damit, seid wir denken können.«
»Wie das?« Florian nahm einen Schluck Kaffee.
»Wir haben immer schon die Gefangenen gespielt, sei es als Indianermädchen oder als die Prinzessin, die vom bösen Ritter entführt wurde.« Leonies Stimme hatte etwas Wehmütiges, als sie von ihrer Jugend erzählte. »Und die Fesseln wurden dabei immer professioneller.« Sie blickte etwas verlegen zu Holger.
»Wie war es denn bei deiner Fotosession?« Selma erinnerte sich daran, dass Anna diesen Termin ausgemacht hatte, bei dem sie der Freund der Reporterin in Fesseln ablichten wollte.
Anna stammelte kurz, dann räusperte sie sich. »Ich mache das, weil er mir dafür Geld zahlt.« Es war ihr wichtig, ihre Beweggründe zu erläutern. »Aber es war schön.«
»Siehst du?« Leonie wurde aufmerksam. »Es hat dir auch gefallen.«
»Nein, so war es nicht gemeint.« Anna lächelte verlegen. »Ich meinte nur, dass ich die Kamera schon nach kurzer Zeit völlig vergessen hatte.«
»Ich bin sehr auf die Bilder gespannt.« Florian berichtete, dass sie von jedem gelungenen Bild einen Abzug bekommen sollten. »Du hast teilweise recht heftig mit der Kamera geflirtet.« Er hatte Mühe, keine Eifersucht zu zeigen.
»Ich habe mir einfach vorgestellt, du wärst die Kamera gewesen.« Anna wurde rot. »Sein Gesicht habe ich ja kaum gesehen.«
»Wie bist du mit den Seilen zurecht gekommen?« Florian hatte seine Frau bisher noch nicht danach gefragt.
»Es war genau so, wie Maria es mir gesagt hat.« Anna fühlte sich erleichtert. »Ich habe mir vorgestellt, du würdest mich festhalten.«
»Habt ihr schon Seile gekauft?« Holger fragte das Naheliegende.
»Nein!« Anna gab sich empört. »Es reicht mir, dass ich damit Geld verdienen kann. In meiner Freizeit will ich frei sein.«
»Das verstehe ich überhaupt nicht.« Leonie lachte.
»Es ist eben nicht jeder so veranlagt wie du.« Selma griff den Gedanken auf. »Wichtig ist vor allem, dass es in beiderseitgem Einverständnis stattfindet.« Sie blickte übertrieben deutlich zu Leonie und Holger.
»Wir haben schon Kontakt zu dem Sattler aufgenommen.« Holger erzählte, dass Herr Hörmann ihnen schon einige seiner Entwürfe gezeigt hatte.
»Ich habe sogar schon davon geträumt.« Leonie hatte etwas schwärmerisches in der Stimme. »Ich freue mich schon sehr.«
»Worauf freust du dich?« Florian hatte den Zusammenhang noch nicht erkannt.
»Er ist ein Künstler, ein Kunstsattler.« Selma versuchte, die Wissenslücken zu stopfen. »Er ist berühmt für seine restriktive Kleidung, die er im Rahmen von Kunstausstellungen präsentiert.
»Und ich darf für ihn modellen.« Leonie strahlte über das ganze Gesicht. »Und ein Stück darf ich sogar behalten.«
»Ich glaube, du hast dich sogar schon entschieden.« Holger lächelte. »Zumindest, wenn ich an deinen Traum denke.«
»Ein Lederkleid mit Ärmeln, die versteift und fixiert werden können.« Leonies Stimme war leise. »Und einem sehr engen Rock.«
»Mit einem verschließbaren Gehschlitz.« Holger blickte Leonie sehr verliebt an.
»Er hat aber auch Entwürfe, bei denen ein Monohandschuh integriert ist.« Selma berichtete, dass sie sich alle seine Ausstellungen angesehen hatte. »Schade, dass es früher so etwas noch nicht gegeben hat.«
»Es gab früher keine Fesselkleidung?« Leonie war etwas erstaunt.
»Nein, ich meinte die Ausstellungen.« Selma lachte über das Missverständnis. »Es gab schon immer geeignete Kleidung, um junge ungehorsame Damen unauffällig unter strenger Disziplin zu halten.« Sie seufzte. »Doch mit der heutigen Mode geht das leider nicht mehr.«
»Eigentlich schade.« Leonie seufzte ebenfalls. »Heute fallen ja schon Hosen mit zusammengenähten Beinen unangenehm auf.«
Es brachte ihr einen sehr verwunderten Blick von Holger ein.
* * *
Danke, dass ihr euch schon so früh die Zeit genommen habt.« Robert Greinert bat seine Gäste, die Betreuerin des Prinzenpaares, den Kassierer und den Chef der Wachmannschaft zu sich herein. »Ich möchte auch gleich zur Sache kommen.«
»Was ist denn dieses Mal so anders?« Herr Schulte, der schon das vierte Fest als Kassierer erlebte, war ein wenig verwundert.
»Sag bloß, das hast du noch nicht mitbekommen?« Renate war verblüfft. »Maria trägt das Gebet und wir haben viele prominente Besucher.«
Robert Greinert griff zu der Liste, die er bereit gelegt hatte. »Zunächst ist in der Sparkasse der offizielle Empfang durch den Direktor und den Bürgermeister.«
»Dort sind noch alle zusammen.« Renate gab wieder, was sie schon über den Vormittag wusste.
»Genau.« Robert blickte auf seine Liste. »Die drei Freundinnen der Katerina bekommen dann noch einmal Tanzunterricht.«
»Warum braucht es das?« Herr Schulte erinnerte an die vergangenen Feste, bei denen diese Tänze nicht extra geübt werden mussten.
»Es sind alles Freundinnen von Maria, die unbedingt bei dem Fest mitmachen wollten.« Renate gab wieder, was sie wusste.
»Meinen Mädchen war es mehr als recht.« Carlos, der den Tanzverein leitete und auf dem Fest auch die Wachmannschaft stellte, lächelte. »Soviel fadenscheinige Ausreden wie dieses Mal hatte ich noch nie.«
»Und dann sind da ja auch noch die Ehrengäste aus Brasilien und Australien.« Es fiel Robert schwer, seinen Stolz nicht zu zeigen. »Der Bürgermeister hat sich bereit erklärt, sich um sie zu kümmern. Er wird ihnen das Museum und die Kleiderkammer zeigen.«
»Das Prinzenpaar hat nach dem Empfang erst den Fototermin mit den Sponsoren und ist dann beim Archtekturbüro Walter vorstellig.« Renate gab ihre Aufgaben wieder.
»Walter? Das ist doch so weit draußen, fast im Nachbarort.« Herr Schulte war verwundert.
»Sie haben sich bereit erklärt, ins Rathaus zu kommen.« Robert konnte den Einwand entkräften. »Das ist ja einfach für sie.«
»Um zwölf Uhr treffen wir uns alle wieder im Rathaus, die Metzgerei Sauer richtet das Mittagessen aus.« Robert drehte sich zu Herrn Schulte. »Kannst du dich um die drei Mädchen kümmern und sie zum Unterricht begleiten?«
Herr Schulte war etwas nachdenklich. »Das müsste sich einrichten lassen.« Normalerweise hatte er sich auf dem Fest nur um die Finanzen zu kümmern.
* * *
»Jetzt sehen wir aus, wie ganz normale Europäer.« Betty strahlte über beide Ohren.
»Und es ist schön, einmal nicht der Etikette unterworfen zu sein.« Sarah beschrieb, dass sie sich gerade sehr frei fühlte.
Zu viert gingen sie die wenigen Straßen zu Marias Haus. Lediglich ihre persönlichen Neigungen wollten sie hier auch etwas verstecken. Sie wussten nicht, wie die Bewohner einer kleinen Bayerischen Stadt auf zwei gleichgeschlechtiliche Paare reagieren würden.
Durch die Zwänge ihrer Heimat machte es ihnen auch hier nichts aus, zwei normale Paare vorzuspielen. Selbst Betty hatte kein Problem damit, Hand in Hand mit Bertram durch die Straßen zu schlendern. Auch im Hotel traten sie als zwei normale Paare auf, und sie hatten sogar Spaß dabei, weil ihnen allen bewusst war, dass es alles nur Fassade war. Nur eines war ihnen wichtig: Zwischen ihren Hotelzimmern sollte es nach Möglichkeit eine Verbindungstür geben.
»Ah, der Besuch aus Brasilien.« Andrea sah eine gute Möglichkeit, ihre Artikel über das Fest zusätzlich noch mit etwas Glamour auszustatten. Aus den Gesprächen mit Maria hatte sie schon erfahren, dass es Vertreter des dortigen Hochadels waren.
Maria erkannte die Zusammenhänge sofort. Sie ging auf Andrea zu und bat sie um ihr Stillschweigen. »Reicht es nicht, dass sie aus Brasilien sind?«
»Ich hatte die Schlagzeile schon vor mir gesehen.« Andrea war etwas geknickt. »Warum wollen sie denn unerkannt bleiben?«
»Wir sind in unserer Heimat einer strengen Etikette unterworfen.« Zur Überraschung aller meldete sich Sarah zu Wort. »Hier sind wir frei und können endlich einmal wir selbst sein.« Ihre Stimme wurde etwas leiser. »Bitte machen sie uns diese Gelegenheit nicht kaputt.«
»Darf ich dann wenigstens ein Märchen erzählen?« Andrea klopfte ihre Ideen ab. »Das Märchen von den Königskindern, die zusammen kommen sollten, dies aber gar nicht wollten?«
»Wenn keiner erfährt, dass wir damit gemeint sind, dann gern.« Sarah blickte sich um, so als wolle sie das Einverständnis der anderen Personen einholen.
»Darf ich noch einige Fragen stellen?« Andrea gab sich bewusst zurückhaltend. »Wie war das mit ihrem Vater und dem Börsencrash?«
Sarah blickte sich verwundert zu Maria um.
»Ich wusste nicht, dass ihr kommen würdet.« Maria war sichtlich verlegen. »Ich habe keine Namen genannt.«
»Komm, so schlimm ist es nicht.« Betty schaltete sich ein. »Hier kennt uns nur eine einzige Person.«
»Nein, zwei Personen.« Frederike mischte sich an. »Frau Baseling, wir haben sie bisher als sehr vertrauenswürdig kennenlernen dürfen. Bitte enttäuschen sie uns jetzt nicht.« Sie hatte weder das Gesicht verzogen, noch ihren Tonfall geändert. Dennoch war der Druck deutlich im Raum zu spüren, der ab sofort auf Andrea lastete.
»Ich muss aber auch an meine Zukunft denken.« Andrea fühlte sich etwas bedrängt.
»Ich hätte etwas für sie.« Frederike hatte ihre Idee blitzschnell abgewogen. Sie würde Andrea ihre Sorgen anvertrauen und wenn die Reporterin es aufgeklärt hatte, würde sie schon wieder in den Staaten sein. Sie bat Andrea, ihr auf den Flur zu folgen, dann berichtete sie von ihrem Verdacht. »Bitte finden sie heraus, was damals wirklich passiert ist.« Immer, wenn der Alltagsstress etwas nachließ, kamen in ihr wieder die Gedanken an damals hoch. Sie brauchte Klarheit über die wenigen Stunden, an die sie überhaupt keine Erinnerung hatte.
»Und wenn sich ihr Verdacht bewahrtheitet?« Andrea hatte angebissen.
»Das Risiko muss ich eingehen.« Frederike seufzte. »Ich brauche endlich Gewissheit.« Der Gedanke, direkt oder indirekt am Tod der Baronin schuld zu sein, quälte sie schon lange. »Aber bitte sagen sie meiner Tochter nichts davon.«
Andrea war nicht die Reporterin, die mit jeder Kleinigkeit an die Öffenltichkeit musste. Sie hatte Geduld und konnte auf die große Story warten. Außerdem spürte sie, dass hier eventuell ein schmerzhaftes Geheimnis verborgen war, und sie war sich im Moment überhaupt nicht sicher, wie sie damit umgehen sollte.
* * *
Claudia hielt den Blumenstrauß in ihrer Hand und hatte ihren Blick zu Boden gesenkt. Seit ihrer großen Blamage von gestern hatte sie nur noch einen Gedanken. Sie wollte sich bei Maria entschuldigen und sich zugleich auch dafür bedanken, dass sie ihren Sturz gestern am Stand ihres Vaters als einen Kniefall gedeutet hatte und so die sonst sehr peinliches Situation auf diese sehr elegante Weise gerettet hatte.
Claudia hatte sehr hoch gepokert und sprichwörtlich alles verloren. Ihren Vater hatte sie gegen sich aufgebracht, in der Brauerei konnte sie sich auf absehbare Zeit nicht mehr blicken lassen und ihre angeblichen Freundinnen würden noch lange über ihre Blamage spotten.
Sie fühlte sich auf einmal deutlich auf der Seite, auf der sie bisher immer Maria gesehen hatte, und sie begriff so langsam, was sie dem armen Mädchen angetan hatte und wie grausam es gewesen war.
Nur gelegentlich blickte Claudia auf, um die Richtung ihres Weges zu kontrollieren, ansonsten hielt sie ihren Bick zu Boden gesenkt. Sie kannte den Weg zu Marias Haus, und sie betete, dass ihre Freundinnen um diese Zeit das taten, was sie sonst immer taten, nämlich lange ausschlafen.
Schließlich hatte sie ihr Ziel erreicht und drückte sehr verschüchtert auf den Klingelknopf. Sie erwartete nicht, hereingebeten zu werden, doch sie wollte Maria zumindest den Blumenstrauß persönlich überreichen.
Wie üblich hatte ihre Erzieherin die Tür geöffnet, und Claudia fragte mit sehr leiser Stimme nach Maria.
»Maria, da ist jemand für dich.« Die Stimme von Mrs. Potter schallte und sehr enerigisch laut durch das Haus.
Claudia war durch die laute Stimme noch eingeschüchterter, sie versuchte sich geradezu hinter den Blumen zu verstecken.
Maria kam an die Tür und war sichtlich erstaunt, die Brauerstochter an der Tür stehen zu sehen.
Claudia schluckte noch einmal, dann streckte sie den Arm mit den Blumen aus. »Ich erwarte nicht, dass wir Freundinnen werden, aber ich möchte dich bitten, meine Entschuldigung zu akzeptieren.«
Maria war nur im ersten Moment sprachlos, dann nahm sie die Blumen entgegen. »Komm doch bitte herein.« Sie machte eine einladende Handbewegung.
* * *
»Wie sieht es aus? Seit ihr startklar?« Renate hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich ihre Jacke auszuziehen. Sie blickte sich um und ihr Blick blieb auf Maria hängen. »Nach den Berichten in der Zeitung wollen die Sponsoren, dass sie von der Katerina mit dem Gebet besucht wird.« Sie seufzte. »Es sind viele Sponsoren.« Sie sprach nicht weiter.
Frederike begriff sofort, was Frau Bayer eigentlich sagen wollte. »Wie lange wird es dauern?«
»Wir konnten es schon etwas komprimieren.« Renate holte tief Luft. »Aber es werden wohl zwei Stunden am Vormittag und zweieinhalb am Nachmittag werden.«
»Und dann noch mal drei Stunden für den Ball« Marias Mutter hatte ein sogenvolles Gesicht. »Das wird heftig.«
»Es wäre sehr wichtig.« Renates Blick reichte Frederike ihre Liste und zeigte ihre Verlegenheit.
»Maria, Paul, kommt bitte einmal mit?« Sie stand auf und ging zur Tür. »Ich muss einmal mit euch reden.«
Die Beiden kamen der Aufforderung nach und verließen den Raum.
»Ganz Landsbach ist in Aufruhr?« Herr Kollar gab sich sehr interessiert.
»Kann man wohl sagen.« Renate keuchte ein wenig. »Ich bin echt froh, dass das Fest nur alle sieben Jahre stattfindet.«
»Es besteht also nur aus diesem Wochenende?« Karl hatte wieder seinen Notizblock gezückt und begann, sich Notizen zu machen.
»Nein, das ist so nicht richtig.« Renate lehnte sich an den Türrahmen. »Wir beginnen ja schon ein Jahr vorher mit den Vorbereitungen.«
»Und das Katerinenjahr gibt es doch auch noch.« Rosalie ergänzte das, was sie schon von Maria erfahren hatte.
»Um was handelt es sich dabei?« Herr Kollar gab sich sehr interessiert.
»Es ist so ähnlich wie bei einer Weinkönigin.« Renate erklärte die Hintergründe. »Die Katerina hat in dem Jahr noch viele Auftritte bei allen möglichen Gelegenheiten.«
»Und dabei trägt sie immer das Gebet?« Rosalies Gesicht zeigte, dass sie sich ebenfalls Sorgen um ihre Freundin machte.
»Naja, bisher haben die Mädchen immer nur einen Handschuh getragen.« Renate holte tief Luft. »Und je nach dem, wie gut sie damit klar gekommen sind, haben sie den auch noch in dem Katerinanjahr getragen.« Renate überlegte, ob sie auch noch die Baroness erwähnen sollte, die ursprünglich für die Rolle ausgewählt wurde, doch dann behielt sie das für sich. Mit Maria war es sehr viel einfacher.
»Hier ist die Liste von Renate mit den Sachen, die ihr alle dabei haben solltet.« Frederike reichte Paul das Papier, welches sie gerade bekommen hatte. »Ich habe euch schon eine Tasche gepackt.« Sie reichte Paul die Tasche. »Müsst ihr euch noch umziehen?«
»Herr Steinhagen hat sich das Kleid mit den Spaghetti-Trägern gewünscht.« Maria blickte ein wenig verlegen an sich herunter.
»Spaghetti-Träger? Kleid?« Frederike trug wegen ihres Berufes wegen schon seit Ewigkeiten keine Kleider mehr.
»Er hat für Maria zehn Kleider bei der Schneiderin bestellt.« Paul gab wieder, was er bei Frau Bartels erfahren hatte.
»So so, du hast einen heimlichen Verehrer?« Frederike musste schmunzeln. »Dann solltet ihr ihn aber auch nicht enttäuschen.«
»Wollten sie uns nicht noch etwas sagen wegen der Tragedauer des Gebetes?« Paul war etwas verwundert.
»Ich denke, ihr wisst sehr gut, was wann wichtig ist.« Sie blickte Paul und Maria gespielt streng an.
Innerlich atmete Maria tief durch, als sie erkannte, welche Freiheit sie von von ihrer Mutter erhielt und welches Vertrauen sie in sie setzte. »Danke, Mama.« Ihre Stimme zitterte ein wenig.
* * *
»Schön, dass ihr alle pünktlich seit.« Fritz, der Leiter der Barock-Pfeiffer, betrat als erster die kleine Bühne mitten auf dem Marktplatz und begann sofort, die bereitgestellten Stühle zu verteilen. »Macht euch bitte spielfertig, dann gehen wir zu dem Empfang in die Sparkasse.«
Immer wieder blickte Florian geradezu verzaubert auf seine Frau, die in dem Barock-Kleid sehr anmutig aussah und sich auch ein wenig anders als sonst bewegte. Der Rock hatte fast eineinhalb Meter Durchmesser und ließ allein schon deswegen die Taille der Trägerin sehr gut zur Geltung. Sie trug heute nur ein geliehenes Korsett unter dem Kleid, und obwohl es ganz geschlossen war, saß es doch sehr locker.
Anna war darüber allerdings eher erleichtert, weil sie beim Flöte spielen lieber auf ein Korsett verzichtete, auch wenn ihre Familie früher darauf bestanden hatte.
»Hier ist dein Notenständer.« Florians Worte rissen sie aus ihren Gedanken. Sie nahm den Ständer entgegen und baute ihn auf, um dann gleich danach auch ihre Notenmappe darauf zu legen. Sie nutzte die kleine Atempause, um sich ein wenig auf dem Marktplatz umzusehen. Es sah letztendlich genauso aus wie gestern, nur die zehn Stände, an denen die Katerina gearbeitet hatte, fehlten jetzt. An dieser Stelle wurde im Moment eine zweite Bühne aufgebaut, so dass der Platz von zwei Seiten bespielt werden konnte und so die Umbaupausen der Musiker und Tanzgruppen geschickt überspielt werden konnten.
»Spielt ihr sofort?« Florian blickte auf die Uhr.
»Nein.« Fritz schüttelte den Kopf. »Unser Auftritt beginnt erst um zehn Uhr.« Der Chef der Musikgruppe blickte hoch und drehte den Kopf in Richtung der Sparkasse. »Wir sind vorher beim Empfang eingelden.«
»Wie kommst du mit dem Korsett klar?« Karin stellte ihre Flöte auf den Ständer und wandte sich an Anna. »Passt es dir?«
»Es ist mir etwas zu groß.« Anna war ein wenig verlegen.
»Schade.« Karin lächelte. »Ich hätte es dir gern geschenkt.«
»Seit ihr fertig?« Fritz blickte sich um. »Dann lasst uns gehen.«
* * *
Immer wieder blickte Maria sich unauffällig zu der traurigen Gestalt um, die auf dem Weg in die Sparkasse hinter ihnen her schlich. Von der einst so stolzen Brauerstochter war so gut wie nichts mehr zu sehen, und Maria war kurz davor, sogar Mitleid mit ihr zu empfinden. Doch dann gingen ihre Gedanken in die Vergangenheit, und sofort fiel ihr wieder ein, wie gemein Claudia bisher zu ihr gewesen war und wie wenig sie dem entgegensetzen konnte.
»Du siehst echt toll aus in dem Kleid.« Pauls Kompliment riss sie aus ihren Gedanken.
Maria lächelte verlegen. »Ich musste gerade nachdenken.«
»Über Claudia?« Paul ahnte, was seine Freundin beschäftigte. »Ich kann ja kaum glauben, dass sie das ist.« Er blickte ebenfalls kurz einmal nach hinten.
»Wer bist du und was hast du mit Claudia gemacht?« Maria lachte. »Der Witz ist zwar alt, aber hier passt er wirklich.«
»Total ausgewechselt.« Paul erinnerte sich an das Ende des Frühstück von eben. »Sie hat dir sogar Blumen gebracht. Was hat sie denn gesagt?«
»Sie hat mich um Entschuldigung gebeten.« Marias Stimme zeigte, wie wenig sie von dem Verhalten hielt. »Einfach so. Sie macht es sich sehr einfach.«
»Du lässt sie zappeln?« Paul war ein wenig verwundert.
»Ich habe die Blumen entgegengenommen und habe sie auch kurz ins Haus gebeten, weil ich ein höflicher Mensch bin.« Maria versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich bin bestimmt nicht nachtragend, aber ich musste so oft unter ihr leiden.«
»Du meinst, sie muss sich deine Freundschaft erst verdienen.« Paul öffnete die Tür des großen Sparkassenportals.
»Ich hätte es nicht 'Freundschaft' genannt.« Maria seufzte. »Aber ich möchte sicher sein, dass sie auch so bleibt.« Sie betrat hinter ihrem Freund das Rathaus.
»Ah, schön, dass ihr schon da seit.« Renate Bayer empfing das Prinzenpaar noch vor der Treppe, die zum großen Saal hinauf führte. »Ich habe extra noch dafür gesorgt, dass für euch immer Organgensaft bereit steht.«
Beide blickten ihre Betreuerin ein wenig verwundert an.
»Natürlich dürftet ihr auch Sekt trinken.« Renate bemerkte die Fragen den Blicke sofort. »Aber wenn ihr bei jedem Empfang Sekt trinkt, dürftet ihr heute Abend nicht mehr tanzen können.«
»Okay, das ist einzusehen.« Paul nickte. »Wir sollten heute wirklich auf Alkohol verzichten.«
Maria lächelte ebenfalls.
»Jetzt kommt nach oben.« Renate schritt die Stufen voran. »Die meisten anderen Gäste sind schon da.«
Maria blickte auf die Uhr, die an der Wand hingt. »Wir sind aber pünktlich.« In iher Stimme schwang ein wenig Empörung mit.
Renate drehte sich um und lachte. »Die Ehrengäste und Hauptdarstellerin dürfen natürlich auf die Minute kommen. Alle anderen waren schon etwas früher geladen.«
Das die Brauerstochter hinter ihnen die Treppe empor stieg, schien Renate gar nicht zu bemerken. Doch Herr Wetzler stand oben an der Treppe und blickte sehr ungeduldig auf seine Tochter. »Da bist du ja endlich. Hast du ihr die Blumen überreicht?« Eine Antwort wartete er allerdings nicht ab. »Jetzt komm, es geht gleich los.« Dass Claudia bei den Worten ihres Vaters zusammenzuckte ließ darauf schließen, dass er sie zu der Entschuldigung gedrängt hatte.
* * *
»Ich danke ihnen, dass sie sich kurz für mich Zeit genommen haben.« Frederike schloss die Tür des kleinen Besprechungsraums neben dem Sparkassensaal, nachdem sie es mit dem Bürgermeister und dem Sparkassendirektor betreten hatte.
»Sie sagten, es sei wichtig.« Auf Herrn Steinhagens Stirn zeigten sich ein paar Sorgenfalten. »Ist mit ihrer Tochter alles in Ordnung?«
»Ja und nein.« Frederike hatte um diese Besprechung gebeten, weil sie sich ernsthaft um die Gesundheit ihrer Tochter Sorgen machte. Sie äußerte dies. »Wie sie wissen, hat die Katerina heute einen durchgeplanten Tagesablauf mit vielen Auftritten.« Sie war ein wenig verlegen, weil sie nicht wusste, wie die beiden wichtigen Herren auf ihr Anliegen reagieren würden. »Wir müssen dabei aber auch auf Marias Gesundheit achten.«
»Natürlich.« Der Bürgermeister Herr Heinrich schien noch nicht zu wissen, was Marias Mutter bewegte. »Was ist denn das Problem?«
»Meine Tochter soll ja das Gebet zeigen.« Frederike holte tief Luft. »Und zwar bei allen Sponsoren und dann heute Abend auch auf dem Ball.«
»So war es vereinbahrt, und ihre Tochter hat dafür ja auch trainiert.« Herr Steinhagen stutzte. »Sie meinen, dass es ihr trotzdem noch zuviel werden könnte?«
»Genau das meine ich.« Marias Mutter spürte, dass sie ihren Vorschlag jetzt unterbreiten konnte. »Wie wäre es, wenn die Katerina jetzt nicht gleich mit dem Gebet auftritt, sondern wenn es ihr erst nach den Reden angelegt wird, dann aber vor alller Augen.«
Die beiden Herren mussten sich nur kurz gegenseitig ansehen. »Das ist ein sehr guter Vorschlag.« Der Bürgermeister reichte Frederike die Hand. »Sie machen wir es.«
»Sie haben recht.« Herr Steinhagen war in diesem Moment auch ein wenig verlegen. »Ich hatte immer nur diesen Auftritt hier im Sinn, aber ihre Tochter hat ja auch noch drei andere Termine.«
»Ich gehe zu ihnen und werde es ihnen sagen.« Frederike ging zur Tür.
»Sagen sie es bitte auch Frau Bayer.« Herr Steinhagen hielt die Tür auf. »Sie muss darüber informiert sein.«
* * *
Mit ein wenig Erleichterung betrat Frederike den kleinen Raum, der dem Prinzenpaar zur Vorbereitung zur Verfügung gestellt wurde. Paul war gerade dabei, die Riemen auszupacken, mit denen er Marias Arme fixieren würde. Maria stand vor dem Spiegel und machte ein paar der Lockerungsübungen, die sie in der Klinik gelernt hatte.
»Ich habe es abgeklärt.« Frederikes Stimme zeigte, dass sie über ihr Verhandlungsergebnis sehr erfreut war. »Die Katerina muss nicht mit dem Gebet den Saal betreten.«
Paul und Maria blickten Frederike verwundert an.
»Wieso denn das?« Paul war verwundert. »Sie waren doch alle so heiß darauf.«
»Das sind sie auch.« Frederike lächelte, dann wandte sie sich an ihre Tochter. »Aber ich möchte nicht, dass du den ganzen Tag und auch noch den Abend damit herumläufst.«
»Was wurde vereinbart?« Maria erkannte sofort, dass sich ihre Mutter sehr um ihre Gesundheit sorgte.
»Es werden erst die Reden gehalten und dann bekommt die Katerina das Gebet angelegt.« Frederike erzählte kurz von der kleinen Unterredung, die sie gerade erfolgreich hinter sich gebracht hatte. »Ich werde Frau Bayer noch darüber informieren. Wisst ihr, wo die sich gerade aufhält?«
»Ich glaube, die kümmert sich um die Getränke.« Maria berichtete davon, dass ihre Betreuerin um nicht alkoholische Getränke bemüht war.
»Ich gehe sie mal suchen.« Frederike ging zur Tür. »Bitte nehmt alles mit, was ihr für das Gebet braucht.«
»Du weißt, was du zu tun hast?« Maria blickte ihren Freund sehr ernst an.
Paul wollte erst ein wenig leichtfertig antworten, doch dann erkannte er die Wichtigkeit des Augenblicks und schluckte kurz. »Ich denke, ich kann alle Handgriffe, und ich werde nicht zittern.«
»Wie viel Riemen brauchst du eigentlich dafür?« Maria blickte auf den kleinen Haufen mit Lederriemen, die ein wenig im hereinfallenden Sonnenschein glänzten.
Paul trat an den Tisch heran, auf dem die Riemen lagen. »Ich brauche einen kurzen für deine Hände und drei für die Ellenbogen.« Er sortierte den kleinen Haufen und legte die Riemen der Länge nach nebeneinander.
Maria blickte wortlos auf seine Hände, die fast ein wenig mit dem Leder spielten.
»Es würde vielleicht auch nur mit einem Riemen für die Ellenbogen gehen, aber die könnten leicht herunter rutschen.« Paul lächelte verlegen. »Mit drei Riemen sieht es einfach schöner aus.«
»Es fühlt sich auch schöner an.« Maria gab ihm einen kurzen Kuss. »Wenn du es machst.«
»Na, ihr Turteltäubchen.« Renate stand auf einmal im Raum. »Seid ihr bereit?«
Aus dem Saal war lautes Stimmengewirr zu hören, bis auf einmal ein Gong ertönte. Augenblicklich setzte Ruhe ein.
In die einsetzende Stille war die Stimme von dem Sparkassendirektor Herrn Steinhagen zu hören. »Meine Damen und Herren, begrüßen sie bitte zusammen mit mir die diesjährige Katerina mit ihrem Prinzen.«
Sofort setzte Applaus ein und Paul und Maria betraten zusammen den Sparkassensaal. Hinter ihnen trug Frau Bayer die Riemen, die Paul später für das Gebet brauchen würde.
»Sie werden sich vielleicht wundern, warum die Katerina dieses Jahr nicht mit dem traditionellen Handschuh auftritt.« Der Direktor blickte kurz in die Runde, so als würde er eine Antwort erwarten. »Maria Beller wird dieses Jahr als erste Darstellerin der Katerina überhaupt die Originalhaltung tragen.«
Er machte eine Pause, und als der einsetzende Applaus abebbte, fuhr er fort. »Diese Haltung, die damals der Herzog seiner so wichtigen Geisel aufzwang, um sie für die Verlobung unmöglich zu machen, ist sehr anstrengend, und deswegen wollen wir erst unsere Reden halten, und dann werden wir das besondere Kunststück bestaunen.«
Er ging zu dem Rednerpult und holte einen Zettel aus seiner Jackettasche. »Doch zuvor möchte ich einige Ehrengäste begrüßen.«
»Sie trägt es ja gar nicht.« Hans stand mit seinem gezückten Fotoapparat neben Andrea und machte ein paar Bilder.
»Was trägt sie nicht?« Andrea hatte mit einer anderen Reaktion ihres Freundes gerechnet.
»Na das Korsett.« Hans gab sich verwundert. »Das Venuskorsett.« Er machte wieder ein paar Bilder. »Deswegen sind wir doch hier.«
»Du bist unmöglich.« Andrea gab ihm einen Stoß in die Seite. »Du kannst wieder die Zeit nicht abwarten.« Sie blickte nach vorn auf die kleine Bühne, wo sich das Prinzenpaar neben das Rednerpult gestellt hatte. »Du weißt doch, dass wir dafür einen Termin bekommen haben. Und jetzt sei bitte ruhig und mache schöne Bilder.«
»Besonders begrüßen möchte ich auch Marias beste Freundin, Frau Dörtling, die extra wegen dem Fest aus Australien angereist ist.« Er wartete den Applaus ab.
»Ebenso bin ich auch sehr stolz darauf, dass wir auch vier Gäste aus Brasilien hier begrüßen dürfen. Maria hat sie während ihres Klinikaufenthaltes in den Staaten kennengelernt, und jetzt beehren sie unser kleines Landbach mit ihrem Besuch. Ich freue mich sehr, dass sie unser Fest gestern mit ihren so schicken Uniformen bereichert haben.«
Maria suchte unwillkürlich den Blick von Sarah, denn sie wusste, dass die echte Prinzessin sehr viel Wert darauf legte, dass man ihren wahren Status als Mitglied des brasilianischen Hochadels nicht kannte. Als der Direktor gleich danach auf den gestrigen Tag zu sprechen kam, entspannte sich Sarahs Miene deutlich.
»Gestern gab es schon den traditionellen Festzug und das Arbeiten der Katerina auf dem Marktplatz.« Der Direktor machte eine Pause. »Ich möchte der Rede des Bürgermeisters nicht vorgreifen, doch auch dieses Mal war die Liebe stärker als die äußeren Zwänge.«
Er blickte noch einmal neben sich. »Wie sie mir verraten haben, haben sich die beiden Darsteller Maria Beller und Paul Mohr auch privat gefunden und sind bereit, gemeinsam ins Leben zu treten.«
Während des anschließenden Applauses blickte er kurz zu Marias Mutter, die gerade dabei war, sich eine Träne aus dem Gesicht zu wischen.
»Wir wollen aber auch an die Baroness denken, die ursprünglich für diese Rolle vorgesehen war, die jedoch durch ihren so schweren Unfall aus dem Verkehr gezogen wurde.« Er deutete eine kleine Verbeugung an. Dabei verschwieg er allerdings, dass im Moment keiner wusste, wo sich die Baroness gerade aufhielt. Doch da man in der Vergangenheit diverse Eskapaden von ihr gewöhnt war, nahm man es nicht weiter zur Kenntnis.
»Und nun wollen wir das Glas erheben auf ein weiterhin so schönes und friedliches Fest.« Er griff zu seinem Glas und brachte einen Toast aus.
* * *
Als nächster trat der Bürgermeister ans Pult. Auch er begrüßte die Anwesenden, dann verkündete er. »Ich möchte ihnen einen Überblick über die damaligen Geschehnisse geben, soweit sie uns überliefert sind.«
Er sprach zunächst über die zeitliche Einordnung der Ereignisse, die zu dem Fest geführt hatten. »Das genaue Datum ist nicht überliefert, aber alle Quellen sind sich einig, dass es im 13. Jahrhundert passiert sein muss.«
»Wie es damals nach einem Krieg üblich war, nahm der Herzog als Gewinner die Tochter des verfeindeten Grafen als Geisel mit zu sich ins Reich.« Er beschrieb, dass das am Vortag mit der Heimkehr von der Schlacht dargestellt wurde. »Der Herzog befahl dann seinem Sohn, sich persönlich um die Geisel zu kümmern. Die Comtess wurde vom Prinzen bei allen wichtigen Leuten vorgestellt, und wie das Leben auch damals schon spielte, haben sie die beiden ineinander verliebt.«
Er machte eine bedeutsame Pause, während der Maria die Hand von Paul ergriff und sie festhielt.
»Natürlich ging das damals über eine längere Zeit.« Er berichtete davon, dass die Katerina als Geisel in der Stadt bekannt gemacht wurde und dass sie deswegen bei den Zünften jeweils ein wenig mitzuarbeiten hatte. »Dabei wurde sie immer von dem Sohn des Herzogs begleitet, und wegen der Folgen davon feiern wir heute das rauschende Fest.«
Er machte wieder eine kleine Pause.
»Das Fest wäre bestimmt in Vergessenheit geraten, wenn sich der Herzog nicht eine besondere Grausamkeit ausgedacht hatte, um die Verbindung zwischen seinem Sohn und der Comtess zu verhindern.«
Er informierte über die Intrige des Herzogs, die darin bestand, der Comtess die Arme sehr grausam auf den Rücken zu fesseln. »Doch die Liebe zwischen den beiden war stärker, und was sich auf dem Verlobungsball zugetragen hat, das werden uns Paul und Maria zusammen mit der Theatergruppe heute Abend vorführen.«
Mit einem Zuklappen seiner Mappe deutete er das Ende seiner Rede an. Wieder kam Applaus auf.
* * *
Herr Wetzler trat als nächster an das Pult, denn er hatte als Vertreter der Sponsoren um diesen Termin gebeten. Auch er begrüßte mit fröhlicher Stimme die Ehrengäste, doch dann wurde seine Stimme auf einmal sehr ernst. »Wir möchten uns noch einmal bei der Katerina für unseren Fehler entschuldigen.« Er verbeugte sich symbolisch vor Maria, die mit einer Handbewegung ihre Dankbarkeit ausdrückte.
»Die inneren Werte sind das allein Wichtige. Titel zählen nicht, auch nicht das Aussehen, sondern nur das, was man aus seinen Fähigkeiten macht.« Er machte eine bedeutsame Pause.
»Natürlich, ein Adelstitel verlangt ein wenig Respekt. Aber erst, wenn dahinter auch eine anerkennenswerte Leistung steht, ist dieser Respekt auch gerechtfertigt. Wenn das Leben nur darin besteht, schnelle Autos zu fahren und sich auf Partys zu amüsieren, dann ist das kein Leben, welches diesen Respekt rechtfertigt.« Es war deutlich zu spüren, wer mit der Rede gemeint war, obwohl er keinen Namen genannte hatte.
»Aber auch die andere Seite sollte man betrachten. Wer eine Person einfach nur wegen des Titels und nicht wegen der Leistung bewundert, sollte sein eigenes Weltbild überprüfen.« Sein Blick fiel überdeutlich auf seine Tochter, die neben ganz nah an der kleinen Bühne stand. »Ich nehme mich da selbst nicht aus. Auch ich und meine Kollegen haben nur auf den Titel geschaut, und obwohl Frau Beller uns ein atemberaubendes Kunststück vorgeführt hat, waren wir geradezu verblendet.«
Maria hatte die Ablehnung damals sehr getroffen, und noch immer gab es ihr einen kleinen Stich ins Herz, als sie durch die Worte von Herrn Wetzler daran erinnert wurde.
»Worte können sehr verletzen, und sie sind schnell gesagt.« Er machte eine deutlich Pause. »Wir tun alle gut daran, unsere Werte und unser Weltbild zu überdenken, und unsere Worte immer wieder auf Korrektheit und Fairness zu überprüfen, bevor wir sie äußern.« Wieder machte er einedeutliche Pause.
»Umso mehr freue ich mich darüber, dass wir nicht nur alle daraus gelernt haben, sondern dass wir in Frau Beller ein außergewöhnlich schöne, charmante und überaus fähige Katerina gefunden haben, die alle bisherigen Feste in den Schatten stellen wird. Ich danke ihnen für ihre Aufmerksamkeit.« Er verließ den Platz vor dem Pult und ging wieder an seinen Platz.
* * *
Als nächster Redner trat Robert Greinert an das Mikrofon. »Danke, Herr Wetzler, für diese mahnenden Worte, die leider viel zu selten wirklich berücksichtigt werden.« Erst jetzt zog er sein Manuskript aus dem Jackett und auch er begann seine Rede zunächst mit der Begrüßung der Ehrengäste.
»Mir wurde die Rolle des Vorsitzenden erst sehr spät angetragen in Folge der turbulenten Ereignisse um die überraschende Verhaftung des Barons. Deswegen möchte ich auch gar nicht viel sagen, sondern uns nur ein weiterhin so harmonisches Fest wünschen. Und natürlich sind wir alle sehr gespannt auf das Kunststück, welches uns Maria Beller vorführen wird. Ich danke ihnen.« Er blickte zu Frederike, die sich ebenfalls als Rednerin gemeldet hatte.
* * *
Marias Mutter begann ihre Rede anders als alle ihre Vorredner. Sie sprach als erstes ihre Tochter an und äußerte ihren Stolz als Mutter darüber, welche Ehre Maria hier zugedacht wurde. Erst danach begrüßte auch sie die Ehrengäste.
Sarah zitterte innerlich ein wenig, denn Marias Mutter kannte ihre wahre Herkunft. Doch zu ihrer Erleichterung erwähnte auch Frederike Sarah nur als eine Freundin von Maria. »Ich freue mich sehr, einmal wieder in der alten Heimat zu sein und sogar das Katerinenfest mitfeiern zu dürfen, auf dem meine Tochter die Hauptrolle spielen darf.«
Leichter Applaus kam auf. Frederike blickte sich derweil im Saal um, weil sie ein paar ganz bestimmte Herren suchte. Sie entdeckte sie schließlich ganz am Rande des Saales, wo diese ihrerseits aufmerksam ihre Tochter vorn auf der Bühne musterten.
Sie dankte Herrn Wetzler für seine weisen Worte und fügte den Wunsch hinzu, dass viel mehr Wert gelegt werden sollte auf die inneren Werte, und dass es nicht nur nach dem Äußeren gehen sollte. »Wahre Schönheit kommt von Innen.« Wieder machte sie eine Pause.
»Natürlich weiß ich am besten, dass meine Tochter gut für das 'Gebet auf dem Rücken' vorbereitet ist, und ich bin selbstverständlich sehr stolz auf sie. Auch ich habe früher davon geträumt, einmal die Katerina darstellen zu dürfen.« Frederike machte eine kleine Pause. »Doch als Mutter habe ich auch den Wunsch, sie sofort aus dem Gebet zu befreien, weil es eben eine sehr grausame Haltung darstellt.«
Wieder hielt sie kurz inne. »Aber lassen sie sich versichern, dass Maria wirklich in der Lage ist, diese Haltung auch für längere Zeit einzunehmen. In der Klinik, die ich in den Staaten leite, hat sie das trainiert und wurde dabei von den besten Ärzten und Orthopäden betreut. Es gab auch schon mal eine Gelegenheit, wo sie ihre Fähigkeiten in seinem sehr feierlichen Rahmen sehr würdevoll vorführen konnte. Das wird sie auch hier tun, und ich freue mich darauf! Ich danke ihnen für ihre Aufmerksamkeit.« Sie verließ die Bühne und setzte sich auf ihren Platz.
* * *
Herr Steinhagen trat wieder an das Mikrofon. »Wir kommen jetzt zum ersten Höhepunkt des Tages. Der Katerina wird das Gebet angelegt. Ich möchte sie aber bitten, eine kleine Ungenauigkeit in unserer Darstellung zu übersehen.« Er blickte kurz zum Prinzenpaar und lächelte sie an. »Natürlich war es der Herzog selbst oder noch eher eine ihm gehorsame Dienerin, die der Katerina das Gebet angelegt hat.«
Er gab Paul und Maria das Zeichen, mit dem Anlegen des Gebetes zu beginnen.
»Dass es hier der Prinz selbst tut, ist natürlich falsch, aber da Paul und Maria sehr gut aufeinander eingespielt sind und weil es sich um eine sehr gefährliche, weil ungesunde Aktion handelt, wenn man es falsch macht, wollen wir heute darüber hinweg sehen.«
Der Direktor musste dem Paar allerdings noch ein zweites Zeichen geben, erst dann setzte sich das Paar in Bewegung und trat vor an den Bühnenrand.
Zunächst stand Maria mit dem Gesicht zum Publikum, doch sie erkannte sofort, dass Paul so arbeiten müsste, ohne dass es das Publikum sehen konnte. »Ich werde mich besser umdrehen, dann können sie es sehen.« Es hatte noch einen anderen Grund, warum sie dies Variante bevorzugte. Bei der Vorstellung im Rathaus stand sie erst mit dem Gesicht zum Publikum und musste in die Gesichter sehen. So konnte sie diesen Blick vermeiden und würde eventuell eine erneute Ablehnung leichter ertragen.
Sie war sich immer noch nicht sicher, wie Leute, die mit dem Thema nicht vertraut waren, auf ihre seltsame Haltung reagieren würden.
Maria hatte die Augen geschlossen und versuchte auf die Geräusche zu hören, doch letztendlich hörte sie nur Pauls Atmen. Er ging ruhig, doch sie spürte allein an seinen Berührungen, wie angespannt er innerlich war.
Nach dem vierten Riemen hörte sie sein leises 'Fertig' und sie öffnete die Augen. Auf die bisher atemlose Stille folgte auf einmal ein tosender Applaus, und als Maria sich langsam zum Publikum drehte, sah sie, dass jeder von seinem Platz aufgestanden war und im Stehen applaudierte.
»Bitte drehen sie sich noch einmal.« Der Direktor konnte den Applaus kaum übertönen, Maria verstand ihn nur, weil er dazu eine kreisende Handbewegung machte.
Er trat wieder ans Mikrofon und bat um Ruhe. »Ich freue mich, dass ihnen die Darbietung von unserer so ehrgeizigen Darstellerin gefällt.«
Wieder brauste der Applaus auf.
»Wir können dann mit den Erinnerungsfotos für die Sponsoren beginnen.« Er griff zu einer Liste und las die Reihenfolge vor, dann gab er Hans und seiner Freundin ein Zeichen.
»Sie trägt das Korsett ja immer noch nicht.« Hans war sichtlich enttäuscht.
»Du verdienst echt eine Ohrfeige.« Andreas Stimme zeigte, wie aufgebracht sie war. »Da führt Maria ein echtes atemberaubendes Kunststück vor, und du kannst nur an deine Unterwäsche denken.«
»Es ist nicht nur Unterwäsche.« Hans blickte noch einmal zur Bühne und wollte erst weitersprechen, doch dann besann er sich. »Wir müssen jetzt die Fotos machen.«
»Wir?« Andrea wollte zwar keinen Streit mit ihrem Freund vor Fremden, doch sie hasste es, wenn er einfach so über sie verfügte.
»Jetzt sei nicht so empfindlich.« Hans verdrehte die Augen. »Würdest du mir bitte helfen, das Stativ aufzubauen?«
Andrea schluckte ihre Wut herunter, weil sie wusste, dass eine weitere Diskussion nichts bringen würde. Außerdem hatte sie in der Vergangenheit schon oft solche Dispute führen müssen, doch geändert hatten sie nie etwas.
* * *
»Und was passiert jetzt?« Karl Kollar blickte noch einmal in den Saal, als er dem Bürgermeister aus dem Saal folgte.
»Den Sponsoren wurden jeweils einige Fotos mit der Katerina versprochen, mit denen sie später Werbung machen dürfen.« Der Bürgermeister hielt die Tür auf und wartete, bis Karl, Rosalie und die vier Brasilianer den Saal verlassen hatten.
»Das liebe Geld.« Karl lächelte. »Die anderen Feste haben ähnliche Finanzierungsmodelle.«
»Naja, die Sponsorengelder erlauben es uns, keinen Eintritt zu nehmen.« Herr Heinrich ging zum Treppenhaus. »Nur heute Abend in der Stadthalle kostet es Eintritt.« Er stutzte kurz. »Sie sind natürlich alle eingeladen.«
Rosalie und die Anderen bedankten sich.
»Erwarten sie bitte nicht zu viel von unserem kleinen Museum. Es sind nur ein paar Vitrinen mit Informationen über die vergangenen Feste.« Er ging zur Außentür und hielt sie ebenfalls auf. »Einfach gerade über den Marktplatz. Aber vorher sind sie noch bei mir zu einem kleinen Empfang eingeladen.«
»Wir sagen dankeschön.« Sarah hatte sich zur inoffiziellen Sprecherin der Brasilianer gemacht, seit sie erkannt hatte, wie gut ihr Inkognito hier gewahrt wurde.
* * *
Zehn Sponsoren hatten sich gemeldet, weil sie ein Erinnerungsfoto mit der Katerina haben wollen und dafür hatten sie auch einen Extra-Betrag gezahlt.
Wegen des knappen Terminplan, und weil alle dafür Verständnis hatten, Maria nicht über Gebühr zu belasten, waren sie damit einverstanden, dass es quasi im Fließbandverfahren gemacht wurde.
Meistens stellte sich Maria zu dem entsprechenden Ehepaar in die Mitte und zeigte im Halbprofil sowohl ihre Arme als auch ihr Gesicht mit einem strahlenden Lächeln. Nur Claudia hatte sich ein Foto allein mit der Katerina bestellt. Doch während Hans wie bei den anderen auch die Fotos machte, musste er Claudia mehrmals zum Lächeln nötigen.
Maria nutzte die kurzen Wartezeiten, um sich etwas im Saal umzublicken. Auch ihr waren die älteren Herren aufgefallen, die am Rande des Saales standen und sie doch die ganze Zeit mit deutlichem Interesse musterten. Sie vermied es, sie direkt anzusehen.
Erst gegen Ende, als die meisten Sponsoren nach ihrem Foto schon gegangen waren, kamen auch sie näher und musterten Maria aus der Nähe. Interessanterweise waren ihnen die Arme in ihrer so außergewöhnlichen Haltung aber gar nicht so wichtig, hatte Maria den Eindruck. Sie schienen mehr auf ihre Gesamterscheinung zu achten.
Maria war sich ziemlich sicher, dass es sich bei ihnen um die Auftraggeber ihrer Mutter handelte, denn sie waren nicht aus Landsbach und machten teilweise auch einen etwas exotischen Eindruck, obwohl sie alle den üblichen schwarzen Anzug trugen.
Zur ihrer eigenen Überraschung war sie aber nicht nervös, als sie glaubte, vom ihnen gemustert zu werden. Sie hatte mittlerweile, auch wegen der Unterstützung, die sie durch Paul bekam, genügend Selbstbewusstsein, um sich dieser Musterung zu stellen. Außerdem gab ihr der zumindest nach außen offensichtliche Sieg über Claudia zusätzlich Mut und Kraft.
Noch spürte sie in ihren Arme nicht ein einziges Anzeichen von Unbehagen, und so konnte sie die ganze Zeit das ehrlichste Lächeln zeigen, zu dem sie in der Lage war.
Nur einmal traten kurz Sorgenfalten auf ihre Stirn, als sie Franz-Ferdinand, den Neffen des Barons, bei den Zuschauern entdeckte. Er hatte sich bisher zwar immer vorbildlich benommen und sogar zweimal irgendwelche Rüpel abgewehrt, doch Maria blieb skeptisch. Obwohl er sich seit dem immer wie ein Gentleman benommen hatte, fühlte Maria dennoch, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Doch sie behielt ihren Verdacht für sich, denn selbst Paul teilte ihre diesbezügliche Meinung nicht, als sie ihn vor kurzem darauf angesprochen hatte.
* * *
»Der Empfang war schön.« Anna lächelte, während sie mit Florian und den anderen Musikern zurück auf den Marktplatz unterwegs war.
»Nehmt bitte gleich Platz.« Fritz zeigte auf die Bühne, dann trat er an Anna heran. »Mein Großvater ist heute anwesend, und er hat sich ein Stück gewünscht, welches wir zwar im Repertoire haben, aber wir haben es bisher nicht angespielt.«
Anna spürte die nicht ausgesprochene Frage. »Was ist es denn?«
»Es handelt sich um die Badinerie von Bach.« Fritz lächelte etwas verlegen. »Du kennst es bestimmt.«
Anna stöhnte laut auf. Es war das Lieblingsstück ihres Vaters, und sie hasste das Stück, weil sie es in der Vergangenheit so oft für ihn spielen musste.
Florian, der noch in der Nähe war, kam sofort auf sie zu, und an ihrer Miene erkannte er sofort, dass sie etwas an ihre Familie erinnert hatte. »Was ist denn los, mein Schatz?«
»Ich soll die Badinerie spielen.« Anna blickte recht traurig.
Jetzt war auch Fritz aufmerksam geworden. »Was ist Anna, ist sie dir zu schwer?«
»Nein, das ist es nicht.« Anna wischte sich ein paar Tränen weg.
»Was ist es dann?« Fritz wunderte sich sehr über Annas so heftige Reaktion.
»Gibt es Probleme?« Auch Karin hatte Annas Miene bemerkt.
Anna wischte sich die Augen aus, dann suchte ihre Hand die Hand von Florian. »Es war das Lieblingsstück von meinem Vater.« Sie schluchzte.
»Darf ich euch kurz einmal allein sprechen?« Florian spürte, dass er hier helfen musste. Er bat das Paar ihm kurz hinter die Bühne zu folgen. Dort berichtete er, warum Anna so auf heftig das Stück reagierte.
»Warum willst du das Stück überhaupt spielen?« Karin schaute ihren Mann fragen an.
»Gustav ist da, und er hat es sich gewünscht.« Fritz war ein wenig verlegen.
»Es ist also ein Stück Vergangenheitsbewältigung.« Karin drehte sich zur Bühne um. »Ich rede mit Anna. Ich habe schon eine Idee, was ich ihr sagen kann.«
* * *
»Nehmt bitte Platz.« Theo hatte sich extra einen Tisch ausgesucht, der im Ratskeller etwas abseits gelegen war, weil ihre Gesprächsthemen sicherlich nicht für Jedermanns Ohren gedacht waren. Er wartete, bis Holger und Leonhard sich gesetzt hatten, dann nahm er auch Platz.
»Was machen unsere Damen jetzt?« Leonhard lehnte sich zurück.
»Die haben doch Tanzunterricht.« Holger erinnerte ihn daran, dass sie vom Kassierer abgeholt wurden. »Wir sehen sie gegen Mittag im Rathaus wieder.«
»Und wir warten auf sie?« Leonhard war ein wenig irritiert. »Es stört mich etwas, dass ich nicht auf Amelie aufpassen kann.«
»Mir geht es mit meiner Doris auch so.« Theo lächelte. »Aber ich weiß, dass sie in guten Händen sind.«
»Du hast echt Glück mit Leonie.« Leonhard lächelte zu Holger. »So fesselverrückt wie sie habe ich selten eine Frau erlebt.«
»So?« Holger sah noch etwas unsicher aus. »Du meinst, das macht sie nicht nur wegen des Festes?«
»Ich kenne sie und ihre Familie schon länger.« Leonhard blickte fast etwas verschwörerisch um. »Und glaube mir, sie ist praktisch in Fesseln aufgewachsen.«
»Von so einer Frau habe ich immer schon geträumt.« Holgers Stimme zitterte.
»Ich denke, sie ist verliebt in dich.« Er blickte Holger kurz an. »Und du auch, oder?«
»Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich dem Ganzen trauen darf.« Holger lächelte verlegen. »Bisher hat Frau Mohr viel für uns getan.«
Die Bedienung kam an den Tisch und fragte nach den Getränkewünschen.
»Drei Bier, oder?« Theo blickte sich kurz um, und als kein Widerspruch kam, wiederholte er es. »Drei Bier.«
»Auf Frau Mohr kannst du dich verlassen.« Leonhard konnte Holger ermutigen. »Sie hat viel Erfahrung in solchen Sachen.«
Holger blickte etwas verwundert auf.
»Sie war früher Erzieherin in einem ganz strengen Haus.« Er gab ein wenig von dem wieder, was er aus dem Leben seiner zukünftigen Schwiegermutter erfahren hatte.
* * *
Florian kam mit besorgter Miene von der Bühne und blieb kurz vor den wenigen Stuhlreihen stehen, die vor der Bühne für die Zuhörer aufgebaut waren.
Selma winkte ihm kurz zu und zeigte auf den Stuhl neben sich.
Florian blickte noch einmal zur Bühne, dann ging er zu Pauls Oma und nahm neben ihr Platz. »Schön, dass sie zum Zuhören gekommen sind.«
Selma blickte kurz zur anderen Seite, wo sich Mrs. Potter ebenfalls zum Zuhören hingesetzt hatte. »Wir dachten, dass wenigstens wir kommen, wenn die anderen alle mit dem Fest beschäftigt sind.«
»Ist mit Anna alles in Ordnung?« Mrs. Potter beschrieb, dass sie sowohl Annas trauriges Gesicht als auch Florians Besorgnis aufgefallen war.
Florian beugte sich ein wenig vor und erklärte die Zusammenhänge.
»Oh ja, so etwas kann durchaus schwer sein.« Selma blickte ebenfalls zur Bühne. »Was wird sie jetzt machen?«
»Die Frau vom Leiter hat mir ihr gesprochen.« Florian hatte immer noch den besorgten Blick. »Mal sehen, was passieren wird.«
»Die Badinerie ist eigentlich ein sehr schönes Stück.« Selma lächelte ein wenig. »Wir werden ja sehen, ob sie es spielen wird.«
Immer wieder blickte Florian vor zur Bühne, und die angespannte Erscheinung von Anna bewirkte, dass auch er sich noch nicht zurücklehnen konnte.
* * *
»Nach dem Sektempfang und dem Austausch der Gastgeschenke möchte ich ihnen nun unser kleines Museum zeigen.« Bürgermeister Heinrich öffnete die Tür. »Wie schon gesagt, es ist nur ein Raum mit ein paar Vitrinen und einigen Fotowänden.«
Karl, Rosalie und die Brasilianer traten ehrfürchtig ein und blickten sich um.
»Frau Bayer könnte die Führung besser halten, sie kennt sich mit den Ausstellungsstücken besser aus, und sie selbst war auch einmal eine Katerina.« Herr Heinrich schloß die Tür. »Wie sie sehen können, ist das Fest immer auch einem gewissen Zeitgeschmack unterworfen.«
Er ging zur ersten großen Vitrine. »Hier sind verschieden Kleider, die die Katerina getragen hat. Eigentlich dürfen die Darstellerinnen das Ballkleid und die Ketten als Erinnerungsstücke behalten, doch manche von ihnen haben sie uns dann für das Museum gegeben.«
»Die Katerina musste immer so einen Handschuh tragen?« Karl blickte auf die kleinen Fotos, die auch in der Vitrine ausgestellt waren und die die jeweilige Katerina mit dem Kleid zeigten.
»Das ist ja der Kern unseres Festes.« Er zeigte auf das zweite Kleid, das in der Vitrine ausgestellt war. »Bei diesem Kleid wurde der Handschuh unter dem Kleid getragen. Deswegen hat es keine Arme.«
Betty trat näher an die Vitrine heran. »Das sieht sehr faszinierend aus.« Sie blickte sehr verliebt zu Sarah.
Herr Heinrich ließ seine Besucher noch ein wenig die Kleider bestaunen, dann trat er an die nächste Vitrine. »Früher gab es nur einen einzigen Satz von Ketten, der auch schon damals etwas verrostet war.« Er wartete, bis seine Besucher näher gekommen waren.
»Ist das Blut?« Rosalie zeigte auf die rostigen Schellen.
»Das ist natürlich nur rote Farbe.« Herr Heinrich lächelte. »Aber es gab eine Zeit, wo so etwas in Mode war.«
Er zeigte auf die glänzenden Ketten, die daneben lagen. »Seit wir die Kunstschmiede bei uns im Ort haben, sind die Ketten geradezu luxuriös geworden. Die Darstellerinnen sind sich einig, dass sie sich sehr gut tragen lassen. Auch der Geschmack hat sich gewandelt. Heute sind saubere glänzende Ketten gefragt.«
»Welch ein Unterschied.« Sarah staunte.
»Wobei Schwerteles auch Ketten herstellen könnten, die alt und verrostet aussehen würden.« Herr Heinrich ging zu der kleinen Fotowand. »Hier sehen sie Fotos von den bisherigen Festen.«
Karl sah sich die Bilder sehr interessiert an. Es waren Aufnahmen aus allen Epochen seit die Fotografie erfunden wurde, beginnend mit der Prinzregentenzeit. Auch einige Fotos mit Hakenkreuzfahnen waren zu sehen. »1942 gab es kein Fest«, stellte er fest. »Das ist bei den anderen Festen auch so. Die beiden Kriege waren immer ein deutlicher Einschnitt.«
»Unser Fest ist, solange wir es feiern, nur ein einziges Mal ausgefallen und das war während des zweiten Weltkriegs.« In der Stimme des Bürgermeisters war ein gewisser Stolz zu hören.
Karl rechnete kurz nach. »Dann war es 1914 aber kurz vor Beginn des Krieges.«
»Damals, so erzählt man sich, war es vor Beginn des Krieges noch eine andere Stimmung.« Der Bürgermeister ging langsam weiter zur dritten Vitrine. »Und hier sind einige der Handschuhe, die von den jeweiligen Darstellerinnen getragen wurden. Je nach ihren Fähigkeiten und ihrer Gelenkigkeit waren die Handschuhe mal weiter und mal enger.«
»Das ist schon etwas komisch.« Karl wunderte sich. »Eigentlich sind das ja Fesselungsgegenstände.«
»Das ist das Besondere an unserem Fest, weil die Katerina laut der Überlieferung ja ohne ihre Arme tanzen musste. Es war immer schon so ein Handschuh, seit es Bilder von dem Fest gibt.«
Er zeigte auf einen kleinen unscheinbaren Zettel, der in der Mitte der Vitrine ausgestellt war. »Hier ist der älteste Hinweis auf unser Fest.« Es war eine Rechnung eines Sattlers, der für die Arbeit an einem Handschuh einen Gulden und fünf Kreuzer verlangte. »Sie ist datiert auf Juni 1865.«
Karl nickte. »Die meisten dieser Feste scheinen zwar eine lange Tradition zu haben, doch tatsächlich sind sehr viele erst in der Zeit des Historismus entstanden.«
Herr Heinrich blickte auf die Uhr. »Schauen sie sich noch etwas hier um. In Kürze werde ich sie dann noch zur Kleiderkammer führen.«
* * *
»Du warst gut.« Paul schloß die Tür ihrer kleinen Raumes und machte sich daran, die Riemen von Marias Gebet wieder zu öffnen.
»Was machst du da?« Marias Tonfall zeigte, dass sie natürlich wusste, was ihren Freund bewegte, und dass sie sich nur spielerisch ein wenig sträuben wollte. »Es ist doch nur eine kurze Strecke.«
Paul stutzte einen Moment, denn er hatte bemerkt, dass Maria gerade versuchte ein Spiel zu spielen. »Die Prinzessin ist schon etwas komisch.« Er öffnete den nächsten Riemen. »Sie möchte von ihrem Prinzen anscheinend gar nicht befreit werden.«
Jetzt war es an Maria zu lächeln. »Ich wollte dem Prinzen doch bloß Arbeit ersparen.«
»Das ist sehr lieb von euch, meine Liebe, aber die Königin hat mir gewisse Vorschriften mit auf den Weg gegeben.« Paul lächelte ebenfalls. »Außerdem soll das Gebet doch geheim bleiben.« Seine Stimme wurde verschwörerisch. »Nur ausgewählte Personen dürfen es überhaupt zu Gesicht bekommen.«
Maria griff den Gedanken auf. »Wer ist der nächste Audienzbesucher?« Erst nachdem sie die Frage ausgesprochen hatte, fiel ihr auf, dass dieser Satz zu ihren Lieblingszitaten aus den Sissi-Filmen gehörte, und sofort sah sie sich wieder in der Rolle der Prinzessin, die ihre Besucher erwartete.
»Unser Gesandter in Paris«, antwortete Paul gemäß der Stelle aus dem Film, den er sich in den Tagen ohne Maria mehrmals angesehen hatte. Doch dann lachte er. »Das Architekturbüro Walter wartet im Rathaus auf uns.«
»Dann haben wir ja noch ein paar Minuten Zeit«, antwortete Maria in Bezug auf den Film, in dem Sissi sich eine Pause von zwei Minuten ausgebeten hatte. Gleich nachdem Paul ihr die Arme befreit hatte, umarmte Maria ihren Freund und gab ihm einen langen Kuss. »Danke für diesen tollen Auftritt.«
Es klopfte, und gleich danach steckte Renate ihren Kopf zur Tür herein. »Seid ihr fertig?«
Maria entließ Paul aus ihrer Umarmung. »Es kann weitergehen.« Sie seufzte ein wenig.
»Ich soll euch an die Gymnastik erinnern.« Renate war es ein wenig unangenehm, doch es war im Rahmen des Festes auch ihre Aufgabe, auf die Gesundheit des Paares und vor allem der Katerina zu achten.
Maria verdrehte die Augen. »Die haben wir schon gemacht.«
Paul blickte sie verwundert an, sagte aber nichts.
»Ja, ja, ist ja schon gut.« Maria schluckte noch einmal, dann begann sie mit ihren kleinen Übungen.
Erst nach einiger Zeit erkannte sie, wie Paul sie nur mit einem Blick und ganz ohne Worte dazu gebracht hatte, zu gehorchen und die von ihr so wenig geliebten Übungen zu absolvieren. Ein seltsames Gefühl regte sich in ihr.
Renate sah sich die Übungen einige Zeit lang an, dann blickte sie wieder auf ihre Uhr. »Ich denke, wir sollten dann gehen.«
Maria ließ erleichtert die Arme sinken, doch dann erschrak sie innerlich und blickte verlegen zu Paul. Aber er war zu ihrer Erleichterung schon dabei, die leichten Sommerjacken vom Ständer zu nehmen.
* * *
»Ich weiß nicht, was die Frau mit ihr gemacht hat, aber jetzt spielt sie wie verwandelt.« Florian war sichtlich erleichtert.
»Und sie hat die Badinerie wirklich schön gespielt.« Selma äußerte ihre Bewunderung.
»Das Stück war schon dran?« Florian war überrascht. »Ich kenne mich mit dieser Musik überhaupt nicht aus.«
»Aber sie scheint ihnen trotzdem gefallen zu haben.« Selma lächelte verschmitzt.
»Ich kannte Musik dieser Art bisher überhaupt nicht.« Florian war etwas verlegen. »Aber ich muss sagen, dass sie trotz allem sehr zu Herzen gehen kann.«
»Das liegt aber auch an der Musikerin.« Mrs. Potter beugte sich vor und schmunzelte. »Ich glaube, sie spielt nur für sie.«
»Meinen sie wirklich?« Florian blickte kurz zur Seite.
»Ich denke, jetzt wo sie die Badenerie gespielt hat, kann sie auch nichts mehr durcheinander bringen.« Selma lächelte »Schauen sie doch, wie sehr sie strahlt.«
»Sie lässt sich nicht einmal durch das Korsett stören.« Mrs. Potter blickte auf die prachtvollen Kostüme der Damen.
»Was hat es eigentlich mit diesen Korsetts auf sich?« Florian gestand gern ein, dass er über diesen Aspekt seiner Beziehung zu Anna so gut wie gar nichts wusste. »Frau Beller hat gesagt, dass Anna mit dem Tragen des Korsetts nur langsam aufhören darf. Ich weiß aber nichts über die Hintergründe.«
»Es hat zwei Aspekte.« Selma sprach etwas leiser. »Zum einen unterbindet das Korsett die Bauch- oder besser Zwerchfell-Atmung, die beim Musizieren eigentlich recht wichtig ist. Deswegen ist es um so beeindruckender, wie gut Anna mit dem Korsett klar kommt.« Sie blickte kurz zur Bühne. »Und was die Tragedauer betrifft: Wenn sie das Korsett lange trägt, bildet sich die Rückenmuskulatur zurück. Dagegensteuern kann man mit Sport, zum Beispiel Rudern.«
»Deswegen hat mich Anna schon nach einem Sportverein gefragt und hat davon geschwärmt, sie wollte mich auf den See hinaus rudern.« Florian winkte seiner Frau zu. »Das hat mich sehr überrascht, denn eigentlich soll doch der Kavalier seine Dame romantisch rudern. Aber jetzt verstehe ich die Zusammenhänge.«
»Sie sollten sie in dieser Hinsicht unterstützen und hinter ihr stehen.« Selma lehnte sich zurück.
* * *
Die Familie Walter als einer der vier Hauptsponsoren war auf den Vorschlag eingegangen, den Besuch der Katerina im Rathaus stattfinden zu lassen. So konnten Maria unnötig lange Wege erspart werden. Auf drei kleinen Tischen hatten sie einige ihrer Projekte in Form von kleinen Modellen ausgestellt.
Neben Frau Walter als Chefin waren auch ihr Vater und ihr Mann sowie ihre Tochter Paula anwesend. Gemeinsam hatten sie die kleinen Modellhäuser aufgebaut, und dabei war deutlich zu sehen, wie stolz der Vater auf seine Tochter war, die sich schon sehr für den Beruf ihres Vaters interessierte. Beim Aufbau der Modelle hatte sie begeistert mitgeholfen.
Doch über Marias Armhaltung war die Architektentochter etwas enttäuscht. »Damit ist man ja völlig hilflos.« Sie seufzte. »Mir hat der Handschuh wirklich besser gefallen.«
»Du meinst den Monohandschuh?« Paul fand die Tochter ebenfalls sehr sympathisch. Er griff in die Tasche, die er für Maria trug und holte die weisse Lederhülle heraus.
»Papa?« Die Tochter blickte ihren Vater mit großen Augen an. »Kannst du nicht fragen, ob die Katerina nicht lieber den Handschuh tragen kann?«
»Aber das mache ich doch gern.« Maria antwortete sofort.
Es waren zwei Gründe, die sie dazu bewegten. Zum einen war der Handschuh tatsächlich wesentlich bequemer als das Gebet, und zum anderen wusste sie, dass sie das Gebet heute noch sehr oft tragen musste und jede Minute, in der sie jetzt ihre Muskeln schonte, kam dem Abend zugute, wo sie das Gebet lange zu tragen hatte.
Sie selbst hätte es nie gewagt, einfach so um ihre Befreiung zu bitten, doch der süßen Architektentochter konnte sie den Wunsch einfach nicht abschlagen.
Sie wartete, bis Paul die Riemen des Gebetes gelöst hatte, dann nahm den Handschuh und reichte ihn Paula. »Möchtest du ihn schließen?«
»Gern.« Paula nahm den Handschuh entgegen und strahlte, doch dann stutzte sie. »Ich weiß aber nicht, wie das geht.«
»Mein Freund wird es dir zeigen und dir helfen.« Sie blickte kurz zu ihrem Freund und lächelte ihn ermutigend an.
Paul erklärte kurz den Umgang mit dem Handschuh, dann trat er auf Paula zu und führte ihre Hände.
»Aber das hält man doch nicht lange aus, oder?« Paula gab sich sehr aufmerksam.
»Ich trainiere das schon mehrere Jahre.« Maria war es mittlerweile egal, was die Leute darüber dachten. »Es ist nur wichtig, dass sich die Muskeln langsam daran gewöhnen können.«
»Und wofür haben sie das trainiert?« Der alte Herr Walter war hellhörig geworden.
Maria machte unauffällig das Zeichen, mit dem sie gegenüber Paul andeutete, dass sie diesen Dialog nicht weiterführen wollte. Renate hatte ihnen den Tipp gegeben, ein paar solcher Zeichen zu vereinbaren.
Das Vorbild dafür war die englische Königin, die ihrer Dienerin allein mit dem Tragen der Handtasche gewisse Botschaften übermitteln konnte. Auf diese Weise konnte die Katerina Unwohlsein signalisieren, ohne die Sponsoren unnötig zu verärgern.
Es war jetzt an Paul, passend das Thema zu wechseln. Er räusperte sich etwas übertrieben, dann ließ er kurz den Handschuh los und zeigte er wahllos auf eines der Modell und fragte, wo dieses Gebäude stand.
Die Ablenkung funktionierte. Herr Walter berichtete stolz und ausführlich, wo sich dieses Gebäude befand und was sich während des Baues so alles Interessantes zugetragen hatte, und die Frage seines Schwiegervaters war damit vergessen.
Nach einiger Zeit fragte Herr Walter, ob seine Tochter Maria den Handschuh wieder abnehmen wolle. Doch zur Überraschung aller antwortete Paula, dass Maria den Handschuh weiter tragen solle.
Ihre Mutter Frau Walter war entsetzt. »Aber mein Schatz.«
»Ich glaube, es gefällt ihr gut.« Paula lächelte. »Und es ist bestimmt leichter zu tragen als das komische Gebet.«
Maria konnte es nicht verhindern, dass sie etwas rot wurde, weil ihr das Ansinnen der Tochter gefiel und weil Paula natürlich auch recht hatte. Der Handschuh war wesentlich leichter zu tragen als das Gebet.
Mittlerweile waren auch Andrea und Hans eingetroffen, und der Fotograf begann sofort, Maria mit dem Handschuh neben den Architekturmodellen abzulichten, so wie die Familie es bestellt hatte.
»Warum trägt Maria eigentlich nicht das Gebet?« Hans wunderte sich ein wenig.
»Es war der Wunsch meiner Tochter.« Frau Walter seufzte ein wenig. »Sie meint, dass das für Maria einfacher ist.«
»Der Handschuh kann wirklich bequem sein.« Andrea nickte. »Ich habe das kürzlich einmal ausprobiert.«
Hans ließ vor Verblüffung die Kamera sinken. »Warum hast du davon nicht gesagt?«
Auf einmal realisierte Andrea, was sie gerade gesagt hatte. Sie war sichtlich verlegen.
Hans war etwas verärgert. »Komm du mir nach Hause.«
Andrea seufzte. Insgeheim sah sie sich schon so hilflos, wie sie es kürzlich bei Leonie erlebt hatte, und sie wusste, dass sie sich Hans so nicht ausliefern wollte.
Maria glaubte, die Sorgen der Reporterin erkannt zu haben. Sie ging zu ihr, um ihr einige ihrer Verteidigungsübungen vorzuführen.
»So wehrlos wie es aussieht, ist man mit dem Handschuh gar nicht.« Sie spürte, dass sie Andrea Mut machen musste. »Im Notfall kannst du ihnen immer in die Eier treten. Das kühlt sie ab.«
Natürlich waren das nicht Marias eigene Worte, sie gab nur wieder, was sie beim Selbstverteidigungskurs gelernt hatte. Und sie spürte, dass Andrea und vor allem Hans eine klare Ansage gebrauchen konnten.
Paul schluckte, obwohl er überhaupt nicht gemeint war. Zugleich war er aber auch ein wenig stolz auf das Selbstbewusstsein seiner Freundin.
Frau Walter nahm ihre Tochter in den Arm. »Aber jetzt hätte ich gern noch ein paar Aufnahmen mit dem Gebet.« Sie streichelte ihr über den Kopf. »Wir machen es auch ganz schnell.«
* * *
»Wie sie es gesagt hatten, es war nur ein kleines Stück.« Karl war erleichtert, als der Bürgermeister ihm die Tür zur Kleiderkammer aufhielt. Er keuchte ein wenig. Hinter ihm betraten Rosalie und die vier Brasilianer die alte historische Kornkammer in ihrer neuen Verwendung.
»Die Leute haben die Anweisung, nach dem Umzug die Sachen gleich zurück zu bringen.« Herr Heinrich seufzte. »Aber nicht alle halten sich daran.« Er lächelte ein wenig verlegen.
»Sie ist ja trotzdem gut gefüllt.« Karl schaute sich um. »Das erste Fest war Anfang des 19. Jahrhunderts.«
»Das können sie erkennen?« Der Bürgermeister war beeindruckt.
»Man sieht deutlich den jeweiligen Modegeschmack und das historische Verständnis. Und da das Fest nur alle sieben Jahre stattfindet, dürften viele Kostüme gleich neu angefertigt worden sein.« Karl lächelte. »Und außerdem haben fast alle Historienspiele in der Zeit des Historismus begonnen.«
»Sie können das ja gut vergleichen.« Der Bürgermeister machte eine entsprechende Handbewegung. »Schauen sie sich ruhig um.«
»Was ist das hier?« Karl zeigte auf einen einzelnen Kleiderständer, an dem neben altmodischer Kleidung sowohl Bärenfellen als auch diverse Ketten hingen. »An so etwas kann ich mich gar nicht erinnern.«
»Sie haben recht.« Bürgermeister Heinrich lächelte. »Die 'geraubten Jungfrauen' sind dieses Jahr ausgefallen. Es gab sowohl eine Schwangerschaft als auch einen Todesfall.«
»Das ist schade.« Karl lächelte. »Ich hätte die Gruppe gern gesehen.«
»Dabei hat das gar nichts mit unserem Fest zu tun.« Herr Heinrich dachte kurz nach. »Es geht auf eine alte Sage zurück, die in dieser Gegend passiert sein soll. Aber da fragen sie lieber Herrn Schulte. Er kennt sich damit besser aus.«
»Das werde ich machen.« Karl bedankte sich für die kleine Führung.
* * *
»Wie war es beim Tanzen?« Leonhard war sichtlich erleichtert, als er seine Verlobte wieder in die Arme schließen konnte. Er hatte etwas Unruhe in seiner Stimme.
»Das war ein sehr fesselnder Tanzunterricht.« Amelie lächelte geheimnisvoll. »Aber auch berührend.«
»Bitte?« Leonhard hatte eigentlich eine andere Antwort erwartet.
»Herr Schulte hat uns begleitet.« Sie lächelte und blickte zu dem älteren Herrn mit den weißen Haaren, der sich im Moment allerdings außerhalb ihrer Hörweite befand. »Er war so verlegen.«
»Warum das?« Leonhard spürte, dass ein wirklich bewegender Moment hinter seiner Verlobten lag.
»Er sollte uns Fesseln anlegen.« Amelies Miene zeigte ein breites Lächeln. »Aber er scheute sich sehr davor, uns zu berühren.«
»Ich dachte, ihr wart beim Tanzen?« Leohard war etwas verwundert. »Hätte ich dich doch begleiten sollen?«
»Nein, es war alles in Ordnung.« Amelie lachte. »Wir waren beim Tanzunterricht, aber heute Abend müssen wir gemäß der Tradition einen Tanz ohne unsere Arme tanzen.«
»Wieso denn das?« Leonhard war etwas verwundert.
»Heute Abend werden wir Kleider tragen, in denen unsere Arme versteckt sind, aber jetzt musste sicher gestellt sein, dass wir die Arme nicht benutzen können.« Sie hielt kurz inne. »Es war ein Traum.«
Es war ihm furchtbar unangenehm, doch der Kassierer Herr Schulte musste den Damen, die er zum Tanzunterricht begleitete, die vorbereiteten Fesseln anlegen. Der Tanz war bewusst ohne Arme zu tanzen.
»Heute Abend werden sie entsprechende Kleider tragen, doch jetzt müssen wir etwas improvisieren.« Er schluckte deutlich sichtbar. »Es tut mir sehr leid, und ich habe so etwas auch noch nie gemacht, aber ich muss sicherstellen, dass sie jetzt so tanzen, wie es heute Abend sein wird.«
»Gestern brauchten wir das aber nicht.« Amelie hinterfragte die Anweisung.
»Das wurde in der Nachbesprechung gestern extra noch mal angesprochen.« Herr Schulte hatte eine deutlich Rötung im Gesicht. »Heute Abend werden sie entsprechende Kleider tragen, bei denen die Arme nicht sichtbar sind, und wir sollen heute genau das schon einmal proben.«
»Dann machen wir es doch einfach.« Amelie begriff sofort, was den alten Herrn bewegte. »Wenn es ihnen hilft, kann ich mich um die beiden Mädchen kümmern und sie müssen nur mich anfassen.«
Herr Schulte hatte Schwierigkeiten, seine Erleichterung zu verbergen. »Das würde mir sehr entgegenkommen.«
»Was für Fesseln sind denn vorgesehen?« Amelie war begeistert. Sie hatte ursprünglich erwartet, nur am Freitag die Fesseln tragen zu dürfen, jetzt ergaben sich zwei weitere tolle Gelegenheiten.
»Er hat euch drei gefesselt?« Leonhard war verwundert.
»Nein, das haben wir ihm erspart. Ich habe mich um Doris und Leonie gekümmert und dann habe ich mir selbst die Fesseln angelegt. Er musst mir dann nur noch bei dem rechten Arm helfen.« Sie lachte. »Ich glaube, er war sehr erleichtert darüber.«
Leonhard nahm sie in den Arm. »Meine Prinzessin.« Er gab ihr einen langen Kuss.
* * *
Die Pause nach Mittagesssen wurde genutzt, um sich über die Ereignisse des Vormittags auszutauschen. Karl hielt sich mit seinen Berichten zunächst etwas zurück, erst als er von Sarah aufgefordert wurde, von den Kettenkostümen zu berichten, taute er ein wenig auf. »Es gibt hier eine Sage von verschleppten Frauen.« Er beschrieb die Kostüme, die dazu gehörten und die sie in der Kleiderkammer gesehen hatten.
»Ja«, bestätigte Renate. »Die Sage wird gern auf dem Fest thematisiert, weil sie so schön in die historischen Ereignisse passt.«
»Nur gestern ist mir gar nichts Diesbezügliches aufgefallen.« Leonhard wunderte sich ein wenig.
»Das kommt, weil die Gruppe, die es sonst darstellt, wegen Schwangerschaft und einem Trauerfall absagen musste.« Karl gab wieder, was er darüber schon erfahren hatte. »Es soll auf eine alte Sage zurückgehen, aber so genau wusste es der Bürgermeister nicht.«
»Die Geschichte der entführten Jungfrauen?« Herr Schulte war hellhörig geworden.
»Sie kennen die Sage?« Karl wurde aufmerksam.
Herr Schulte nickte zurückhaltend.
»Können sie uns darüber etwas erzählen?« Rosalie war neugierig.
Der Kassierer lehnte sich zurück und wartete auf einen angenehmen Lautstärkepegel, dann begann er mit leiser Stimme zu erzählen.
»Es geht auf eine alte Sage zurück. Wandergesellen waren in die Stadt gekommen, und obwohl sie sehr wüst und wild aussahen, hatten sie doch sehr ordentlich und zur Zufriedenheit ihrer Auftraggeber gearbeitet.
Doch als es um das Bezahlen ging, waren die Bürger nicht mehr bereit, den versprochenen Lohn zu zahlen und die Gesellen zogen enttäuscht ab. Aber in der Nacht kamen sie wieder, lockten die Töchter der Auftraggeber nach draußen und entführten sie.
Immer wieder kam einer der Gesellen in die Stadt, um den versprochenen Lohn abzuholen, doch erst nach einem Jahr waren die Stadtbewohner endlich bereit, den ausgemachten Lohn zu zahlen.
Als die Mädchen nach einem Jahr zurück in die Stadt kamen, berichteten sie davon, dass sie von den Gesellen zwar gut behandelt, doch stets in Ketten gehalten worden waren.«
»Leute, denkt ihr auch, was ich denke?« Amelie grinste bis über beide Ohren. »Dann könnten wir doch...? Doris, Leonie, seid ihr dabei?«
Leonie grinste. »Du führst doch etwas im Schilde.«
Auch Leonard war von der Idee angetan. »Es wäre doch schön, wenn wir auch noch einen Betrag zum Fest leisten könnten.«
Theo hatte die besondere Gelegenheit ebenfalls sofort erkannt. »Wir spielen die wilden Wandergesellen aus der alten Sage..«
»Naheliegend.« Leonhard lachte. »Also dann, auf in die Kleiderkammer.«
Doch Doris bremste ihren Verlobten. »Sollten wir das nicht erst mit dem Vorstand besprechen?«
»Das wäre schön, wenn sie das machen würden.« Herr Schulte lächelte. »Die Gruppe hat sich immer mitten auf dem Marktplatz versammelt und die Mädchen in Ketten vorgeführt. Dabei wurden sie oft von den Geschäftsleuten unterstützt, denn unterschwellig war die Botschaft klar. 'Leute, zahlt eure Rechnungen, sonst geht es euren Töchtern schlecht.'«
Alle am Tisch lachten.
»Braucht ihr Unterstützung?« Renate keuchte, denn langsam wurde es ihr zuviel.
»Nein, das schaffen wir allein.« Leonhard lächelte. »Aber es wäre sehr nett, wenn wir uns aus der Kleiderkammer bedienen könnten.«
Renate war ein wenig erleichtert. »Herrn Schulte wird sich um euch kümmern.«
* * *
»Ich wusste nicht, dass dir die Badinerie so zu schaffen macht. Du hast es toll gespielt.« Fritz hielt eine Hand hinter dem Rücken versteckt.
»Es war ein Stück Vergangenheitsbewältigung.« Anna lächelte etwas verlegen. »Das Stück hat mir letztendlich geholfen, mich weiter von meinem Vater zu lösen.«
»Du hast wunderbar gespielt.« Fritz hielt auf dem Rücken einen kleinen, aber prächtigen Blumenstrauß, den er jetzt hervorholte und Anna überreichte. »Ein kleines Dankeschön, dass du für Maria eingesprungen bist.«
Anna wurde etwas rot. »Das habe ich doch gern gemacht.«
* * *
»Was hast du denn mit Claudia gemacht?« Rosalie legte ihr Besteck beiseite, dann wischte sie sich mit der Serviette den Mund ab. »Sie ist ja völlig verändert.«
Maria blickte ihre Freundin verwundert an. »Ich habe gar nichts gemacht.«
Paul saß neben ihnen. »Ich glaube, Claudia hatte die Baroness als Katerina erwartet und wollte ein wenig vom Ruhm abbekommen.« Er zählte die einzelnen Ereignisse auf. »Ich denke, sie hatte sich das ganz anders vorgestellt.«
»Das geschieht ihr recht.« Rosalie lachte. »Sie war schon immer so hochnäsig.«
»Dabei hat ihr Vater nur eine Brauerei.« Paul griff die Stimmung auf. »Sie hat jetzt sogar schon zwei Erinnerungsfotos mit der Katerina.«
»Deine Reaktion mit der Geisel war echt toll.« Rosalies Stimme zeigte ihre Bewunderung. »Damit hast du das Spiel gerettet und hast sie auch noch das Gesicht wahren lassen.«
»Sie an deiner Stelle hatte wahrscheinlich nur gelacht.« Paul war ebenfalls sehr stolz auf seine Freundin. »Wo ist sie jetzt eigentlich?«
»Ich glaube, sie hat die Nase voll.« Maria berichtete, dass sie gleich nach dem gewünschten Foto wieder zum Firmenwagen zurück gegangen war. »Ich hoffe, wir sehen sie so bald nicht wieder.«
Sie hatte auf die Freundschaftsanfrage von Claudia bisher nur ausweichend geantwortet. Sie wollte Claudia nicht zur Freundin haben, doch sie ahnte, dass sie schlecht beraten war, wenn sie das Angebot direkt ausschlagen würde. Es war sicher besser, sie weiterhin etwas zappeln zu lassen. Insofern war sie froh, Claudia erst einmal nicht mehr sehen zu müssen.
* * *
»Es war schön im Museum und in der Kleiderkammer.« Sarah ließ sich auf das Bett im Hotel fallen.
»Maria sah wirklich schön aus mit dem Gebet.« Betty schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf das Bett neben ihre Geliebte, dann gab sie ihr einen Kuss. »Ich habe eine tolle Idee.«
Sarah rollte sich über ihre Geliebte. »Was hast du denn vor?«
»Wie wäre es, wenn du gleich mit dem Gebet zur Bäckerei gehst?« Betty strahlte bis über beide Ohren.
»Meinst du, das wäre geschickt?« Sarah ließ sich von der Begeisterung nicht anstecken. »Es ist doch schließlich Marias Fest.«
»Aber wenn sie das Gebet so lieben, dann wäre es doch gut, wenn es von zwei Mädchen getragen wird.« Betty befreite sich von der auf ihr liegenden Sarah. »Außerdem musst du trainieren. Du hast es jetzt schon zwei Tage lang gar nicht getragen.« Ihre Stimme hatte dabei etwas sinnliches.
»Meinst du, wir könnten es wagen?« Sarah blickte verliebt auf ihre Freundin.
Es klopfte, und nach dem 'Herein' streckte Juan seinen Kopf zur Tür herein.
»Was meinst du, Juan?« Betty überfiel ihn sofort. »Sollte Sarah es wagen?«
»Wir müssen gleich wieder los.« Juan blickte bewusst aus dem Fenster »Um was geht es?« Er vermied es, auf das Bett zu sehen.
»Wir überlegen, ob Sarah bei dem nächsten Termin das Gebet tragen sollte.« Sie wiederholte die Argumente von ihr und von Sarah.
»Und ich soll jetzt entscheiden?« Juan zuckte zunächst mit den Schultern, doch dann lächelte er. »Warum nicht. Wenn ihr meint, dass Sarah mal wieder üben müsste.« Die besondere Leidenschaft seiner Frau war ihm eigentlich gleichgültig, trotzdem achtete er darauf, dass sie glücklich war.
* * *
Maria erkannte auf den ersten Blick, dass auch Sarah ihr 'Gebet auf dem Rücken' angelegt hatte, als sie mit ihr und den anderen Brasilianern auf dem Weg zur Bäckerei-Filiale am Marktplatz zusammentraf. Doch als Gastgeberin war sie höflich genug, um es einfach zu übersehen.
Auch Paul hatte das Gebet bemerkt, und obwohl Maria nichts gesagt hatte, war ihm doch ihre Reaktion aufgefallen, als sie die Armhaltung bei der Prinzessin bemerkt hatte. Er fasste sich ein Herz und sprach Sarah darauf an. »Ich finde es etwas unpassend, weil du Maria damit ein wenig die Show stiehlst.«
»Oh, das war überhaupt nicht meine Absicht.« Sarah wurde auf einmal ganz rot im Gesicht. »Ich habe eigentlich nur Betty nachgegeben, weil sie mich dazu gedrängt hat.« Sie blickte ihre Geliebte mit funkelnden Augen an.
»Ich war ein wenig eifersüchtig.« Betty versuchte so etwas wie eine Trotzmiene aufzusetzen. »Warum sollte Sarah nicht zeigen dürfen, dass sie es auch kann.«
»Es ist unsensibel, denn damit stiehlt Sarah Maria die Show. Sie ist die erste Darstellerin in der Geschichte des Festes, die das Gebet tragen kann, und wenn Sarah es nun auch zeigt, dann schmälert es ihre Leistung, und verdirbt auch die Sensation. Bitte bleibe etwas im Hintergrund damit.« Paul gab sich vorsichtig, denn er war zwar auch mit Betty und Sarah befreundet, doch hier waren klare Worte gefragt. »An einem anderen Wochenende wäre es kein Problem, aber heute ist es wirklich ungeschickt.«
* * *
Gabi, eine der Verkäuferinnen in der Bäckereifiliale, rückte noch einmal alle Brote zurecht und wischte die wenigen Krümel weg, die noch auf dem Arbeitsfläche lagen. Für den Auftritt der Katerina hatte die Fabrik extra noch einmal frische Backwaren geliefert, obwohl die Filiale schon geschlossen hatte.
Ihre Kollegin Anja sah sie verwundert an. »Was bist du denn heute so pingelig? Wir haben doch schon zu.«
»'Sie' kommt.« Mehr sagte Gabi nicht.
Sofort brach auch bei Anja so etwas wie Hektik aus. »Ich bin mir sicher, sie wird wieder etwas finden.« Sie seufzte, während sie die Stehtische zurechtrückte. »Man kann es ihr einfach nicht recht machen.«
»Wenn sie nur nicht so eine strenge Art hätte.« Auch Gabi stöhnte. »Ein Blick von ihr und man fürchtet die Kündigung.«
»Zum Glück kommt sie nur selten in den Laden.« Anja seufzte tief.
Herr Friedrich betrat den Verkaufsraum. Normalerweise trug er als Chef der Großbäckerei den üblichen Anzug, doch heute hatte er sich extra für den Besuch der Katerina wieder in seine alte Bäcker-Kluft geworfen und hatte sich auch die entsprechende Kopfbedeckung aufgesetzt.
»Ist alles bereit? 'Sie' wird gleich kommen.« Es war seiner Stimme anzuhören, dass er nicht minder Respekt vor seiner älteren Schwester hatte. Auch er blickte sich um und zeigte eine gewisse Nervosität, als er auf die langsamen Schritte auf der Treppe hörte.
»Eigentlich geht es ja heute um ganz etwas Anderes.« Gabi stöhnte.
»Das ist schon richtig, aber der Laden muss in Ordnung sein.« Die laute Stimme von Emilie Friedrich war schon zu hören, bevor sie den Laden betreten hatte.
Karl Friedrich hatte schon lange aufgegeben, mit seiner Schwester zu diskutieren. Er blickte kurz zu seinen Verkäuferinnen, um sie wenigstens ein bisschen zu beruhigen.
Wie üblich sah sich Frau Friedrich im Verkaufsraum um, scheuchte Gabi und Anja herum und ließ sie lauter Nichtigkeiten korrigieren. »Heute kommt ein Mädchen, das vorgibt, das 'Gebet auf dem Rücken' zu beherschen.« Ihre Stimme wurde noch energischer. »So ein Blödsinn, das schafft heute doch heute keine mehr. Diese Gören sind doch alle so verzogen.«
Gabi blickte aus dem Schaufenster. »Ich glaube, sie kommen.« Ihre Stimme zeigte, wie sehr sie durch die Schwester des Chefs eingeschüchtert war.
* * *
Herr Friedrich empfing seine Gäste persönlich an der Ladentür. »Ich freue mich, dass sie trotz ihrer knappen Zeit den Besuch möglich machen konnten.« Er blickte kurz in den Laden. »Meine Schwester und ich sind sehr gespannt auf das Gebet.«
Sarah trat zwar mit den anderen ein, doch sie hielt sie bewusst im Hintergrund. Es war wirklich nicht ihre Absicht gewesen, Maria die zu Show stehlen, deswegen versuchte sie ihre Arme zu verstecken. Sie lächelte etwas verlegen.
»Ich habe ein paar Häppchen vorbereiten lassen.« Der Bäckermeister gab seinen Angestellten ein Zeichen. »Ich denke, Sekt hatten sie schon genug.«
»Und nun möchte Maria uns etwas vorführen.« Herr Friedrich gab das Signal für Paul.
Sofort machte Marias Freund sich ans Werk. Er hatte mittlerweile eine gewisse Routine entwickelt und entsprechend bereitete ihm auch die Aufmerksamkeit der anderen Leute keine Probleme mehr.
Frau Friedrich hatte sich bisher mit kritischer Miene im Hintergrund gehalten, doch jetzt kam sie etwas näher. Sie blickte mit aufmerksamer Miene auf Maria und hob nur kurz ihren Kopf, um ihre Angestellten herbei zu holen. »Sehen sie sich das an, meine Damen.«
Einmal fiel ihr Blick auf die anderen Zuschauer, und als sie Sarah erblickte, stutzte sie. Die Prinzessin stand zwischen Juan und Betty und trug die Arme auf dem Rücken versteckt, so gut es eben in der Situation ging. Doch natürlich fiel sie durch ihre Körperhaltung auf.
»Du Mädchen, komm doch mal nach vorn.« Sie blickte Sarah auffordernd an.
Bettys Geliebte blickte sich unsicher um, dann trat sie einen Schritt nach vorn.
»Dreh dich einmal um« Noch war die Stimme von Emilie Friedrich unverändert hart und herrisch.
Sarah blickte Maria entschuldigend an, dann kam sie der Aufforderung nach.
»Karl, bring zwei Stühle für diese außergewöhnlichen jungen Damen, die sich noch zu benehmen wissen.« Eine gewisse Faszination hatte sich in ihre Stimme geschlichen. »Und ihr, bringt etwas Sekt.« Sie wandte ihren Blick nicht von den Armen ab.
»Verzeihung, aber ich trinke keinen Sekt.« Maria hatte erkannt, dass sie selbst sprechen musste. Von einer Anderen hätte es Frau Friedrich nicht akzeptiert. »Ich brauche heute Abend einen klaren Kopf.«
»Ein vernünftiges Mädchen.« Sie rief ihrem Bruder hinterher. »Bring auch etwas Orangensaft mit.« Sie blickte zu Sarah. »Aber du darfst doch, oder?«
Sarah nickte. Sie war immer noch sehr verlegen.
Betty nahm das Glas entgegen und reichte es Sarah zum Trinken.
»Sollte das nicht lieber dein Mann machen?« Emilie blickte streng auf Betty.
Juan zuckte kurz zusammen, auch Betty zeigte sich erschrocken.
Emilie blickte noch einmal sehr aufmerksam auf Sarah und Betty. Dann wurde ihre Stimme auf einmal sehr weich. »Das ist auch eine schöne Lösung.« Sie blickte zu Juan und Bertram. »Und ihr seid auch ein Paar?«
Es war sehr still in der Filiale.
Sehr verlegen nickten Juan und Bertram. Der Respekt vor der hochgewachsenen älteren Frau brachte es einfach mit sich.
»Ich wünschte, uns wäre so etwas eingefallen.« Emilie war sehr wehmütig. »Doch dazu ist es leider nicht mehr gekommen.«
Anja keuchte auf einmal. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihre Mutter, als sie noch lebte, eigentlich sehr viel Zeit in der Bäckerei verbracht hatte. Sie wurde rot.
Herr Friedrich brachte die zwei Stühle und stellte sie bereit. Trotzdem nahmen Maria und Sarah erst nach erneuter Aufforderung auf ihnen Platz.
»Karl, ich hatte dich immer kritisiert, als du diese jungen Gören mit deinem Geld versorgt hast.« Emilie wandte sich an ihren Bruder. »Jetzt sehe ich, dass es doch nicht zum Fenster hinaus geschmissen ist.«
Sie blickte wieder zu Sarah und Maria. »Wenn das Fest vorbei ist, kommt ihr mich einmal besuchen und dann werde ich euch von den alten Zeiten erzählen.« Sie holte tief Luft. »Ich hätte damals sehr gern die Katerina gespielt, doch so kurz nach dem Krieg hatten wir wirklich andere Sorgen. Und mein Vater hätte es auch nie erlaubt.«
»Vater hat damals die Bäckerei wieder aufgebaut.« Karl ergänzte die Worte seiner Schwester.
»Ich konnte auch das Gebet, wenigstens für ein paar Minuten, doch es war einfach nicht die richtige Zeit.« Das Bedauern in Emilies Stimme war deutlich zu hören. »Die Leute hatten andere Sorgen.«
»Du konntest das Gebet?« Karl war verwundert. »Davon wusste ich nichts.«
»Es wusste nur eine andere Person.« Emilie blickte kurz zu Anja. »Und sie hat nie etwas verraten.« Ihr Blick fiel wieder auf die beiden Gebetsträgerinnen. »Ich bin sehr stolz, dass wir das Fest und diese sehr talentierte Darstellerin unterstützen dürfen.«
* * *
»Ich finde es echt toll, dass wir jetzt schon wieder die Ketten zeigen dürfen.« Doris stand mit den anderen vor der Kleiderkammer. Gemeinsam warteten sie auf Herrn Schulte, der ihnen beim Umkleiden helfen sollte.
»Ich hoffe, sie warten nicht schon zu lange?« Der Kassierer kam um die Ecke und hielt in seiner Hand ein großes Schlüsselbund. »Ich freue mich, dass sie für ausgefallene Gruppe einspringen wollen.«
»Das machen wir doch gern.« Amelie stürmte geradezu in die Kleiderkammer, als Herr Schulte die Tür geöffnet hatte.
Leonhard ging langsam hinter ihr her und schüttelte den Kopf dabei. Manchmal war ihm die Leidenschaft seiner Verlobten etwas unheimlich.
»Nun musst du mich schon wieder in Ketten legen.« Leonie blickte Holger verliebt an.
»Ja, so sieht es aus.« Es war Holger anzusehen, dass er wie Leonhard auch mit der heftigen Leidenschaft seiner neuen Freundin noch so seine Probleme hatte.
Nur Doris und Theo genossen den Augenblick ohne weitere Kommentare.
Kurz darauf waren die drei Paare umgezogen, und die Mädchen schauten interessiert zu, wie sie von ihren Männern wieder in die Ketten gelegt wurden.
Herr Schulte war ein wenig irritiert. »Sie haben eigene Ketten?«
»Schwerterles haben sie für den Festumzug gefertigt.« Amelie hatte sich schon auf solche Fragen eingestellt. »Sie sind eine Maßanfertigung.«
»Das hier gehört auch noch zu dem Kostüm.« Herr Schulte holte drei weitere Ketten aus dem Schrank. An den Enden war jeweils ein breiterer Ring angebracht. »Die Frauen wurden an Ketten durch die Stadt geführt.« Er war sichtlich verlegen.
Doris ging auf ihn zu, nahm sich eine der Ketten in die Hand und legte sich das Halsband um den Hals, dann reichte sie Theo die Kette und blickte ihn verliebt an.
Leonhard nahm sich die zweite Kette und legte sie seiner Verlobten ebenfalls um. »Das Fest ist ein ungeheurer Glücksfall für uns.«
Nur Leonie und Holger zögerten noch ein wenig. Amelie sprach sie schließlich an. »Was ist mit euch, wollt ihr nicht?«
Holger seufzte ein wenig, und es war ihm anzumerken, dass diese Äußerung nicht gespielt war. »Ich kenne dich gerade mal ein, zwei Tage und muss dich schon wieder in aller Öffentlichkeit als meine Gefangene präsentieren.«
»So kann jeder gleich sehen, dass wir zusammengehören.« Leonie nahm sich das Halsband und legte es sich um den Hals. »Würdest du es bitte zumachen?« sagte sie in einem Tonfall, als ginge es darum, den Reißverschluss eines Abendkleides zu schließen.
»Du bist eine sehr faszinierende Frau.« Holger kam der Bitte nach und nahm so auch Leonie an die Kette.
»Was müssen wir auf dem Marktplatz eigentlich machen?« Leonhard fragte Herrn Schulte, als sie die Kleiderkammer verlassen hatten und auf dem Weg zum Auftrittsort waren.
»Eigentlich gar nichts.« Herr Schulte versuchte sich an die vorangegangenen Feste zu erinnern. »Die Gruppe saß einfach nur zusammen an einem kleinen Lagerfeuer und hielt dabei die Frauen deutlich an den Ketten.«
Leonhard blickte sich um. Er und die anderen beiden Herren waren nicht wieder zu erkennnen. Jetzt trugen sie mittelalterliche Arbeitskleidung und trugen dazu noch ein paar symbolische Werkzeuge mit sich herum, weil sie ja Wandergesellen darstellten. Auch die Frauen trugen ein einfach Kleid aus Leinen und darüber ihre in der Sonne glänzenden Ketten.
»Manchmal bringen die Geschäftsleute von sich aus etwas zu essen oder zu trinken vorbei. Aber abgesprochen ist nichts.« Herr Schulte verwies noch einmal auf den ursprünglichen Sinn des Auftritts.
Amelie lachte. »Ja, die Mahnverfahren damals waren etwas rabiater als heute.«
* * *
Es war nur ein kurzer Weg quer über den Marktplatz, bis sie bei dem Geschäft der Familie Sauer waren. Auf dem Weg dahin wurden sie von wilden bärtigen Gesellen aufgehalten, die ihre Frauen in Ketten hinter ihnen herzogen. Doch erst als Amelie lachte, erkannten Paul, Maria und die anderen, wer sich ihnen gerade in den Weg gestellt hatte. »Was macht ihr denn hier?«
»Wir spielen die gefangenen Jungfrauen aus der alten Sage.« Amelie strahlte kurz über das ganze Gesicht, dann nahm sie wieder die Trauermiene an, die die anderen beiden Kettenmädchen auch zeigten.
»Wir dachten, dass wir so auch noch einen Beitrag zum Fest leisten könnten.« Leonhard sprach für die Gruppe, denn die anderen beiden Paare waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
»Eine schöne Idee.« Maria erkannte sofort, was es den Mädchen bedeutete, sich so in den Ketten zeigen zu dürfen. »Wir zeigen jetzt noch einmal das Gebet, diesmal bei Sauers.«
»Na dann viel Spaß.« Leonhard blickte noch einmal auf Marias Arme, auf denen noch ein paar Abdrücke der Riemen zu sehen war. »Übernimm dich bitte nicht.«
»Er passt auf mich auf.« Maria legte den Arm um Paul. »Mehr als mir lieb ist.« Sie lachte, dann gab sie ihm einen Kuss.
* * *
»Wo sind denn die Brasilianer?« fragte Maria leise, als sie die Metzgerei betraten.
»Sarah wollte sich wieder umziehen, und die anderen begleiten sie.« Pauls Erleichterung war deutlich zu hören. »Hoffentlich ist sie mir nicht böse?«
»Ich glaube, sie wird es richtig verstehen.« Maria lächelte, dann wandte sie sich Herrn Sauer zu, der sie schon erwartungsvoll ansah.
»Meine Mutter fühlte sich heute nicht so gut, doch sie möchte sie auf jeden Fall sehen.« Er machte eine deutliche Pause. »Nach dem kleinen Umtrunk wird meine Tochter Anna sie und ihren Mann zu ihr bringen.«
Maria hatte noch nicht Luft geholt, als Anna Sauer schon neben ihr stand und ihr das Tablett mit Gläsern entgegen hielt. »Links ist O-Saft pur und in der Mitte ist es gemischt.«
Maria nahm sich ein Glas Orangensaft vom Tablett, dann lauschte sie der Rede, die Herr Sauer hielt.
»Mein Vater hat euch schon informiert?« Anna trat an das Paar heran. »Ich führe euch nach oben.«
»Wollen sie das Gebet nicht sehen?« Paul war etwas verwundert.
»Doch schon.« Annas Augen leuchteten. »Ich bin sogar sehr darauf gespannt.« Sie führte das Paar zu einer Treppe. »Doch erst ist Oma dran.« Es war Annas Stimme deutlich anzuhören, dass sie vor ihrer Großmutter sehr viel Ehrfurcht hatte.
Maria ließ sich davon anstecken, denn auch sie wusste, dass sie in wenigen Augenblicken der ältesten noch lebenden Darstellerin der Katerina gegenüberstehen würde. Zudem hatte Frau Sauer das Fest auch noch zu politisch äußerst schwierigen Zeiten erlebt.
Nach Annas Anklopfen traten sie ein. Paul war erstaunt. Es sah aus wie in einem Biedermeier-Zimmer, so wie er es im Museum kennengelernt hatte. Und mittendrin saß Frau Sauer am Tisch und legte die Zeitung beiseite.
»Kommt herein und nehmt Platz«, begrüßte sie ihre Gäste mit leiser Stimme.
Anna drehte sich wieder zur Tür, doch sie wurde von ihrer Oma aufgehalten. »Du bleibst.« Sie lächelte. »Du möchtest das Gebet doch sicher auch sehen.«
Anna lächelte etwas verlegen.
Maria blickte Paul auffordernd an. Insgeheim hoffte sie, dass Frau Sauer nicht auf dem Versprechen bestehen würde, das sie ihr gegeben hatte, denn entgegen aller Planungen wusste Maria jetzt schon, dass sie in der Kutsche das Gebet tragen würde.
Sofort holte Paul die Riemen aus der Jackentasche und blickte Frau Sauer erwartungsvoll an.
»Ich habe es ja zuerst nur für ein Gerücht gehalten.« Frau Sauer streichelte Maria leicht über den Kopf. »Aber ich bin mir mittlerweile sicher, dass du es wirklich kannst.« Sie gab Paul ein Zeichen.
Paul brauchte für die vier Riemen diesmal wirklich nicht lange, und sogar Maria war überrascht, als sie von ihm das übliche Signal bekam.
»Komm einmal näher, mein Kind.« Frau Sauer war sichtlich gerührt, als Maria an sie heran trat und sich vor dem Stuhl niederkniete. »Von uns hat das keine geschafft.« Sie strich Maria zärtlich über die Arme. »Sag mir, wie lange hast du dafür trainiert?«
Maria brachte nur ein 'sehr lange' über die Lippen, so sehr war sie von der Situation in den Bann gezogen.
»Wir haben damals alle davon geträumt.« In diesem Moment hatte sie einen sehr sehnsüchtigen Blick. »Aber es war immer außerhalb unserer Fähigkeiten. Früher wussten noch mehr Leute von dem Gebet, doch heute ist es so gut wie in Vergessenheit geraten.«
Maria sah mit Erstaunen, dass eine Träne über das Gesicht der alten Frau lief.
»Dass ist das noch erleben darf.« Frau Sauer wischte sich die Tränen weg. »Du bist die Beste von uns allen.« Sie strich ihr über das Gesicht.
Als Maria den ganzen Inhalt dieses Satzes begriff, musste sie weinen, so ergriffen war sie.
Paul war wie immer sehr aufmerksam und wischte ihr die Tränen weg.
»Das machst du gut, mein Junge.« Frau Sauer blickte ihn an. »Passe nur immer gut auf deine Frau auf. Sie ist etwas sehr Kostbares.«
In diesem besonderen Moment wollte Paul nicht widersprechen. »Das mache ich.« Er legte einen Arm um Maria, um seine Worte zu bekräftigen.
* * *
Auf dem Weg von der Metzgerei zum Rathaus gingen Paul und Maria schweigend nebeneinander her. Sie waren noch sehr ergriffen von der Begegnung mit der alten Frau Sauer und sie ließen sich auch nicht von der Anwesenheit der Anderen ablenken.
Renate erkannte sofort, wie beschäftigt das Paar noch mit dem Besuch war, deswegen verzichtete sie darauf, sie in ihrer Stimmung zu stören. Sie hatte schon in der Metzgerei erkannt, dass die Begegnung mit der alten Frau Sauer für Maria etwas Besonderes gewesen sein musste. Als sie danach in der Metzgerei wunschgemäß das Gebet präsentierte, war sie seltsam abwesend und ließ sich auch durch die vielen Bewunderer nicht aus der Ruhe bringen.
So sorgte sie nur dafür, dass sie den Weg ins Rathaus fanden, wo zunächst eine kleine Kaffeepause und noch eine kurze Auffrischung der Tänze angesetzt war. Danach war bis halb sieben für alle eine Pause vorgesehen.
* * *
»Und was passiert jetzt?« Karl war an allen Vorgängen, die das Fest betrafen, sehr interessiert.
»Nach der Kaffeepause sollen jetzt die Tänze noch einmal aufgefrischt werden.« Rosalie gab wieder, was sie schon von Maria erfahren hatte.
»Der Verlobungstanz...« Karl kratzte sich am Kopf.
»Und der Tanz der Dienerinnen«, ergänzte Rosalie. »Da hat es ja noch einige Überraschungen gegeben.«
»Und was passiert dann?« Karl lächelte verlegen. »Falls ich sie nicht nerve.«
»Kein Problem.« Rosalie lachte. »Ich müßte ohnehin auf Maria warten.« Sie machte eine kleine Pause. »Weiter geht es dann um acht mit dem Ball, dazwischen ist Pause.«
»Was kann man bis dahin unternehmen?« Karl begriff, dass er die Zeit allein verbringen musste.
»So gut wie alle fiebern auf den Abend hin.« Rosalie war ein wenig verlegen. »Vielleicht gibt es in der Stadthalle so etwas wie ein Café oder so etwas ähnliches.« Sie spürte die nicht ausgesprochene Frage. »Ich werde Maria begleiten.«
»Okay, dann mache ich mich mal auf die Suche.« Karl reichte ihr die Hand. »Ich muss ohnehin noch meine Notizen vervollständigen.«
* * *
»Wieso Theaterstück?« Maria blickte Renate verwundert an. »Davon wussten wir nichts.«
Renate war für einen Moment irritiert. »Eure Texte habt ihr doch bekommen und sie auch gelernt, oder?«
»Ja schon.« Maria war ein wenig verärgert. »Aber wir wussten doch nicht, dass wir Theater spielen müssen.«
»Warum erfahren wir das erst jetzt?« Auch Paul war von den Neuigkeiten deutlich irritiert.
»Damit ihr euch nicht so viel Sorgen macht.« Die Betreuerin des Paares war sichtlich bemüht, ihre Sorgen zu zerstreuen. »Das sind alles sehr nette Schauspieler, und sie machen es euch ganz leicht.« Sie griff zu einer Mappe, die sie bisher verdeckt gehalten hatte. »Das Stück wurde extra so geschrieben, dass ihr ganz leicht erkennen könnt, wann welcher Satz an der Reihe ist.«
»Deswegen mussten wir also diese komischen Texte lernen.« Maria lächelte. »Jetzt ergibt das Ganze Sinn.«
»Ich freue mich, dass ihr es auch gemacht habt.« Renate war erleichtert. »Wir machen jetzt einen Probelauf, damit ihr erkennt, was ihr zu tun habt und wann welcher Text an der Reihe ist.«
»Unser Prinzessinnenspiel...« Maria lächelte.
»Eure Hoheit haben Recht.« Paul deutete eine Verbeugung an und lächelte. »Darf ich die Prinzessin ins Theater führen?«
Renate blickte dem Paar verblüfft hinterher.
* * *
»Was machen wir jetzt?« Sarah blickte sich um, als sie und die anderen Brasilianer das Rathaus verlassen hatten.
»Wir gehen ins Hotel.« Betty hatte ein verdächtiges Leuchten in den Augen. »Wir machen uns etwas frisch. Und dann sollten wir uns langsam umziehen. Es wartet ein schönes Kleid auf dich.«
»Ich dachte, wir treten wieder in Uniform auf?« Sarah war ein wenig irritiert.
»Die Herren schon.« Betty grinste breit. »Doch für dich wird es wieder Zeit für das schöne Ballkleid.«
»Oh je, das wird ein strenger und hilfloser Abend.« Sie verdrehte die Augen.
Betty küsste sie zur Antwort.
»Die Bäckersfrau war wirklich unheimlich.« Sarah war immer noch beeindruckt. »Sie hat uns sofort durchschaut.«
»Naja, immerhin war sie in der gleichen Situation wie wir.« Juan mischte sich ein. »Und sie musste sich verstecken.«
»Das hatte sie gesagt?« Betty war erstaunt.
»Nein, natürlich nicht.« Juan ergriff die Hand seines Freundes. »Aber zwischen den Zeilen hat sie es geradezu herausgeschrieen.«
»Die eine Verkäuferin war sichtlich getroffen.« Bertram ergänzte seine Beobachtungen. »Sie schien davon nichts gewusst zu haben.«
* * *
»Hier werden sie morgen stehen.« Andrea blickte sich in der Kirche um. »Kannst du mir Fotos von vorn und von hinten machen?«
»Meinetwegen.« Hans brummte ein wenig. »Was wird sie denn tragen?« Insgeheim hoffte er noch auf ein paar spannende Fotos.
»Das Fest sieht ein Brautkleid vor.« Andrea ging in Richtung des Altars. »Was dachtest du denn?«
Hans lächelte verlegen. Die Antwort verkniff er sich.
Trotzdem verdrehte Andrea die Augen. »Du bist geradezu versessen. Gibt es irgendwas, mit dem ich dich ablenken könnte?« Sie war sich sicher, dass die Antwort 'nein' war.
»Wenn du einen Handschuh trägst.« Hans grinste. Auch er wusste, wie ungern sich seine Freundin ihm auslieferte, auch wenn sie es selbst nicht zugeben würde.
Andrea blickte ihn nur verwundert an. Doch tief in ihrem Inneren arbeitete es heftig. War sie bereit, dieses Opfer zu bringen? Und für wen würde sie dieses Opfer bringen? Für ihn oder für sich selbst? Wäre es das wirklich wert?
* * *
»Danke schön, das war es.« Der Spielleiter der kleinen Laienspielgruppe war sehr zufrieden. »Ich denke, so können wir das Fest spielen.«
»Warum habt ihr uns nicht früher etwas davon gesagt, dass wir Theater spielen müssen?« Maria war immer noch sichtlich bewegt.
»Wir wollten euch nicht zusätzlich belasten.« Mrs. Potter lächelte verlegen. »Außerdem bist du das Prinzessinnenspiel doch auch gewöhnt.«
»Und natürlich wisst ihr auch, welche Geschichte ihr erzählen sollt«, ergänzte Selma. »Aber habt keine Sorgen, die anderen Schauspieler und der Moderator werden euch beistehen und euch auch mit dem Text helfen.«
Paul legte die Hand um Maria. »Es lief doch eben schon sehr gut.« Im Gegensatz zu seiner Freundin war er recht zuversichtlich.
»Wir haben die Szene eben aus Zeitgründen übersprungen.« Maria blickte etwas abwesend zu Boden, während sie sprach. »Aber das Gebet legt die Dienerin an, nicht der Prinz.« Ihre Stimme blieb dabei völlig ruhig.
Paul erkannte sofort, was Maria bewegte und er wusste auch sofort, dass er dies sehr ernst zu nehmen hatte. »Claudia spielt die Dienerin.« Er sagte nur diesen einen Satz, und doch erkannte jeder sofort, welcher Konflikt sich damit auftat.
»Du musst mir zeigen, wie das Gebet anzulegen ist.« Claudia war etwas forsch an Paul herangetreten, doch dann bemerkte sie die Blicke, das Paar austauschte, und sie trat wieder zurück.
Paul war alamiert, denn er wusste, wie angespannt das Verhältnis zwischen seiner Freundin und der Brauerstochter war. Ihrer Miene nach zu urteilen, war Maria drauf und dran, alles hinzuwerfen. Denn sonst hätte sie sich die Demütigung gefallen lassen müssen, von Claudia gefesselt zu werden. Von dem Mädchen, dass sie seit langem immer wieder quälte, ohne dass es dafür einen Grund gegeben hätte.
Paul überlegte fieberhaft, doch ihm fiel nichts ein, mit dem er die Situation hätte retten können.
Doch auch Claudia hatte Marias Zögern und ihre Miene bemerkt und sie blickte sehr besorgt zu ihrem Vater, der ebenfalls bei der Laienspielgruppe mitspielte.
Auch Frederike war aufgebracht. Sie ahnte, wie viel Kraft es ihrer Tochter an kostete, sich ihrer Peinigerin auszuliefern, doch auf der anderen Seite wartet ein großes Vermögen auf sie, wenn sie dieses Opfer bringen würde. Doch dazu durfte sie ihr jetzt noch nichts sagen.
Es zerriss sie geradezu, doch es gab nichts, was sie tun konnte, um ihrer Tochter die Situation zu erleichtern.
»Das Spiel ist wichtiger.« Herr Wetzler hatte die angespannte Situation natürlich auch bemerkt. »Lasst eure Differenzen außen vor.« Dabei blickte er allerdings sehr intensiv auf seine Tochter.
Schließlich erkannte Claudia, dass sie den nächsten Schritt machen musste. »Maria?« Sie wartete, bis Pauls Freundin sie anblickte. »Ich weiß, dass ich dich oft gequält habe. Doch lass uns das vergessen und das Fest gemeinsam gut spielen.«
Schließlich richten sich alle Blicke auf Maria. Es war sehr still im Raum, während Maria immer deutlicher klar wurde, dass sie die Entscheidung dieses Mal selbst treffen musste. Doch noch schwieg sie.
»Du liebst ihn sehr.« Es war ungewohnt für Claudia, sich so intensiv mit den Gefühlen anderer Leute zu befassen. Dennoch horchte sie auf, als sie den tiefen Seufzer von Maria hörte.
Es irritierte Maria sehr, wie tief Claudia in ihre Gedanken eindringen konnte. Doch eine Antwort blieb sie immer noch schuldig.
»Ich wollte der Baroness den Handschuh anlegen.« Claudia erkannte, dass sie sich offenbahren musste. »Das sollte für mich der Höhepunkt des Festes werden, für das ich solche Opfer gebracht habe.«
»Und jetzt musst du mir das Gebet anlegen.« Maria versuchte den Gedanken zu folgen.
»Das Gebet ist die Sensation schlechthin.« Claudia war auf einmal sehr nachdenklich. »Ich weiß nicht, ob ich die Ehre wirklich verdient habe.« Sie machte eine Pause. »Du hättest es sicher sehr gern gesehen, wenn Paul dir das Gebet angelegt hätte.«
»Mit dem Theaterstück ist alles anders.« Maria seufzte. »Wenn ich das nur vorher gewusst hätte.«
»Wem sagst du das.« Claudia suefzte ebenfalls. »Die Baroness hätte das doch bestimmt verbockt und er hätte es ebenfalls kaputt gemacht.«
Maria war erstaunt.
»Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, und ich glaube, ich habe sehr viel falsch gemacht.« Claudia suchte Marias Blick. »Kannst du mir eines Tages einmal verzeihen?«
»Habt ihr euch nun wegen der Armhaltung geeinigt?« Der Spielleiter war hinzugetreten, und sofort hatte er die Anspannung bemerkt. Von Herrn Wetzler ließ er sich über die Probleme informieren.
Er erkannte die Dimensionen sofort. »Wie wäre es, wenn die Dienerin in der Szene von einem Mönch begleitet wird, der sich um das Gebet kümmern wird? Schließlich geht es ja um ein Gebet.« Es war ihm anzuhören, dass er noch nicht erkannt hatte, was es mit dem Gebet wirklich auf sich hatte.
»Wenn das gehen würde?« Claudia hatte mittlerweile auch erkannt, was der Kern des Konfliktes war. »Aber wieso ein Mönch?«
»Weil wir noch ein Mönchskostüm haben. Darunter lässt sich viel verstecken, zum Beispiel die Uniform des Prinzen.« Er grinste breit.
»Wenn das gehen würde?« Maria hob langsam den Kopf und suchte Pauls Blick. »Ehrwürdiger Bruder Paul, euch werde ich gern meine Arme für das Gebet anvertrauen.« Ihr Gesicht wandelte sich dabei zusehens zu einem Strahlen.
* * *
»Und du träumst wirklich von einem Leben in Fesseln?« Holger hatte einige Probleme, diese Frage auszusprechen. Erst als Selma ihm mehrfach zugewunken hatte, fasste er sich ein Herz und sprach Leonie auf ihren Traum an.
Leonie ging verträumt neben Holger her auf dem Weg zu Selmas Haus. »Im Prinzip schon.« Ihre Stimme war auf einmal sehr nachdenklich. »Aber im realen Leben lässt sich so etwas natürlich nicht umsetzen.«
»Was gefällt dir so daran?« Selma wusste, dass sie ein paar strategische Fragen zu stellen hatte.
»Ich mag es, wenn ich so gefesselt bin, dass ich mich noch mühsam bewegen kann, wenn ich gegen die Fesseln kämpfen kann und mich gleichzeitig aber darauf verlassen kann, dass sie nicht nachgeben werden.« Sie stutzte. »Das klingt bestimmt paradox.«
»Ich verstehe dich sehr gut.« Holger ergriff ihre Hand. »Und ich bin fest entschlossen, dir deinen Traum so nahe wie möglich zu bringen.«
»Aber ich muss doch zur Uni in die Stadt.« Leonies Seufzer zeigte, dass sie sich schon oft über das Thema den Kopf zerbrochen hatte.
»Naja, es gebe da schon einige Möglichkeiten.« Selma lächelte. »Was meint ihr, warum die jungen Mädchen früher immer so ruhig und artig waren?«
Leonie seufzte. »Sie waren gut erzogen.«
»Das auch.« Selma grinste. »Aber hauptsächlich, weil sie sich in ihren Kleidern so gut wie nicht mehr bewegen konnten.«
»Das war aber auch eine andere Mode damals«, gab Holger zu bedenken.
»Unter einem Rock lässt sich viel verstecken.« Selma blickte zu Leonie. »Und ich denke, du bist nicht der Typ Frau, der unbedingt Hosen tragen muss.«
Als Antwort stöhnte Leonie leicht auf.
»Die Handschuhe waren doch auch sehr unauffällig.« Holger hatte sich damit schon vertraut gemacht. »Im Winter kannst du die außerdem problemlos unter einem Pullover verstecken.«
»Ich habe auch noch ein Paar, die nur bis zur Mitte des Unterarms reichen. Die sind unauffälliger als die oberarmlangen Handschuhe.«
»Beinschienen, die Handschuhe.« Leonies Blick ging ins Leere. »Damit wäre ich sehr hilflos und keiner könnte es sehen.«
»Du brauchst natürlich etwas Ausgleichssport wegen der mangelnden Bewegung.« Holgers nebenbei geäußerten Worte zeigten, dass auch er sich schon mit dem Thema beschäftigt hatte. »Sonst wäre es sehr ungesund.«
Leonie blieb auf einmal stehen und blickte Holger verwundert an. »Du hast dir darüber schon Gedanken gemacht?«
»Ich habe mich schon mit dem Sattler verständigt. Er hat tolle Ideen.« Holger blieb ebenfalls stehen und legte den Arm um Leonie. »Und alles, was du auf seinen Ausstellungen vorgeführt hast, darfst du behalten.« Er holte tief Luft. »Einiges davon ist durchaus alltagstauglich.«
»Und von mir könnt ihr auch noch Sachen haben.« Selma wusste, dass ihre Anwesenheit nicht störte. »Ihr müsst euch nur mit Paul und Maria einigen.«
»Holger, ich liebe dich.« Leonie blickte ihr Gegenüber lange an. Die Worte kamen direkt aus ihrem Herzen. »Nimm mich bitte gefangen, für immer.«
Holger legte jetzt beide Arme um seine Freundin und blickte ihr lange in die Augen. »Ich habe noch nie ein Mädchen kennengelernt, dass mich so sehr in den Bann gezogen hat wie du. Du sollst für immer meine Gefangene sein, wenn du es möchtest.«
»Sehr gern, Holger. Sehr gern.« Leonie kam mit ihrem Gesicht näher. Gemeinsam versanken sie in einen langen Kuss.
* * *
»Das war doch bisher ein sehr erfolgreicher Tag.« Mrs. Potter schloss die Haustür, nach dem Paul, Maria und ihre Mutter eingetreten waren.
»Das finde ich auch.« Frederike ließ sich auf das im Flur stehende Sofa fallen.
»Maria, Paul?« Mrs. Potter hatte auf einmal einen sehr strengen Tonfall. »Ihr geht jetzt auf euer Zimmer und ruht euch aus.«
Maria blickte sich verschüchtert um. So sprach ihre Erzieherin nur, wenn sie sich über ein grobes Fehlverhalten ärgerte. Doch Pauls Freundin empfand es diesmal als ungerecht. »Was haben wir denn falsch gemacht?« Sie ergriff Pauls Hand.
»Gar nichts.« Die Stimme von Mrs. Potter wurde wieder etwas weicher. »Aber es tut euch gut, wenn ihr jetzt etwas Pause macht.«
»Und ein paar Gymnastikübungen würden auch nicht schaden«, ergänzte Marias Mutter.
»Aber natürlich.« Maria war sichtlich erleichtert. »Komm, Paul! Wir gehen nach oben.« Sie zog ihn in Richtung der Treppe.
»Halten sie es für richtig, sie jetzt allein zu lassen?« Frederike blickte etwas nachdenklich zur Treppe.
»Ich halte sie für vernünftig genug.« Mrs. Potter verteidigte ihre Entscheidung. »Außerdem hängt das Schlüsselbund immer noch dort am Haken.«
Frederike blickte kurz in die Richtung, die Marias Erzieherin angedeutet hatte. Eine Frage formte sich in ihrem Gesicht.
»Ich habe Paul geraten, den Schlüssel hier zu lassen, wenn sie wegen des Festes unterwegs sind.« Mrs. Potter blickte ebenfalls kurz nach oben.
»Ein guter Rat.« Frederike lächelte.
* * *
»Die Festleitung hat mich davon überzeugt, dass du auf im Theaterstück auch noch Ketten tragen musst, denn du stellst immer noch eine Geisel dar.« Theo lächelte, als er sah, wie Doris in Unterwäsche vor dem Schlafzimmerspiegel stand und den Schmuck begutachtete, den er ihr heute Morgen schon angelegt hatte. »Ich habe sie dir in die Tasche gepackt.«
»Er sieht wirklich schön aus.« Doris lächelte verträumt. »Jetzt sag mir, was ist die Überraschung?«
Theo ging zu seinem Teil der Schrankwand und öffnete sie. Er holte ein Ballkleid heraus, dass er Doris präsentierte. »Das hier ist Teil eins der Überraschung.«
»Wo hast du denn das her?« Doris war sofort verzaubert.
»Die Schneiderin hat es für uns angefertigt als Dank dafür, dass wir so viel für das Fest getan haben.« Er zupfte ein wenig an dem Kleid herum. »Wenn du es angezogen hast, kann ich dir den zweiten Teil der Überraschung zeigen.«
»Und was ist jetzt die Überraschung?« Doris drehte sich mit dem Ballkleid vor dem Spiegel und bewunderte die Arbeit der Schneiderin.
»Du hast doch heute morgen schon bemerkt, dass an deinen Armbändern kleine Ketten herunterhängen.« Theo liebte es, seine Verlobte ein wenig hinzuhalten.
»Ja, habe ich.« Doris schmollte ein wenig. »Und jetzt will ich endlich wissen warum.«
»In deinem Kleid ist eine ähnliche Kette eingearbeitet.« Theo lächelte. »Ich werde dir jetzt die Arme damit verbinden.« Er griff an das Medallion und holte den winzigen Schlüssel hervor.
Doris sah atemlos zu, wie Theo erst den linken, dann den rechten Arm mit der Kette verband, die im Kleid an der Taille heraus kam. »Du sperrst mich in das Kleid ein?« Ihre Stimme war sehr leise.
»Nicht nur das.« Theo trat hinter Doris. »Mal sehen, ob das hier genauso gut klappt.«
Auf einmal spürte Doris einen Zug an ihren Armen, dem sie sofort nachgab, bis ihre Arme nur noch eine Handbreit von ihrer Taille entfernt waren. Gleich darauf spürte sie, wie Theo etwas auf ihrem Rücken machte. Sie war sprachlos.
»Ich habe ihr gesagt, dass ich später auch mit dir tanzen möchte.« Theo trat wieder in ihr Blickfeld. »Dafür kann ich dir die Arme wieder freigeben.«
Doris war total verzaubert. Sie blickte ihren Verlobten wortlos an. Langsam näherten sich ihre Lippen.
* * *
»Zum Glück gelten unsere Regeln hier nicht.« Amelie ließ sich in ihrem Hotelzimmer sofort auf das Bett fallen. Doch dann sah sie, dass ihr Verlobter zum Schrank ging.
»Das sehe ich nicht so.« Leonhard sprach in einem bewusst ganz ruhigen Ton. Er öffnete die Schranktüren und nahm den zusammengerollten Schlafsack heraus.
Amelie war alamiert. Wenn er diesem ruhigen Ton benutzte, wurde es stets ungemütlich für sie. »Bitte Leonhard, ich bin auch ganz ruhig.«
Seelenruhig breitete Leonhard den Schlafsack neben Amelie aus. »Wenn ich Madame dann bitten dürfte.«
Amelie hatte schon mehrfach versucht, sich gegen ihn zu wehren, doch er war einfach viel stärker als sie. Sie wusste, dass sie einen eventuellen Kampf gegen ihn verlieren würde. »Aber nur unter Protest.« Sie begann sich auszuziehen.
»Protestieren darfst du.« Leonhard griff kurz in seine Tasche. Er wollte sich überzeugen, das er einen ganz bestimmten Gegenstand eingesteckt hatte. 'Noch' fügte er in Gedanken hinzu.
Eigentlich liebte Amelie den Schlafsack, weil er sie mit wenigen Handgriffen völlig hilflos machte. Besonders faszinierend fand sie die Ärmel, die innen in der Lederhülle angebracht waren, und die ihre Arme so wundervoll aufnahmen und fixierten. Und wenn Leonhard dann auch noch den langen Reißverschluss zu machte, hatte sie fast immer die Augen geschlossen, um die zunehmende Enge in Verbindung mit dem Geräusch des Reißverschlusses zu genießen.
Doch es gab auch Momente, wo sie ihre Freiheit nur ungern aufgab. »Warum?« Amelie versuchte einen schwachen Widerstand, während sie sich in die Lederhülle legte.
»Du sollst dich entspannen.« Leonhard nahm ihren linken Arm und führte ihn langsam, aber unnachgiebig in die davor vorgesehene Öffnung.
»Aber das kann ich doch auch so.« Amelie versuchte, sich zumindest mit Worten gegen ihr drohendes Schicksal zu wehren, obwohl sie wusste, dass dies aussichtslos war. Insgeheim liebte sie diese Situationen, doch das hätte sie nie zugegeben.
»Jetzt rede nicht, sondern mache es dir gemütlich.« Er griff zum rechten Arm und schob ihn in die andere Armhülle.
»Der Herr haben Humor.« Amelie setzte ihre Schmollmiene auf. Doch innerlich war sie angespannt. Gleich würde er den Reißverschluss zumachen, und dann wäre ihr Schicksal für die nächsten Stunden besiegelt. Dann war sie wieder vollständig auf ihn angewiesen und nur durch Worte konnte sie ihn ein wenig beeinflussen. Doch natürlich wusste sie auch, dass es sinnlos war, um ihre Befreiung zu bitten, wenn er dazu noch nicht bereit war.
Als sie fühlte, dass ihr rechter Arm auch korrekt in dem Ärmel angekommen war, schloss sie die Augen. Jetzt gab es nichts mehr, was sie noch tun konnte, um ihre drohende Gefangenschaft anzuwenden.
Leonhard kannte seine Verlobte sehr gut, und als er ihre geschlossenen Augen sah, wusste er, dass trotz ihres Protestes alles in Ordnung war.
Natürlich wusste er von seiner körperlichen Überlegenheit, trotzdem liebte er es auch, wenn Amelie sich mit aller Kraft gegen eine Fesselung wehrte. Er griff zum Reißverschluss und zog ihn langsam zu.
Der Schlafsack war eine Maßanfertigung, und stellenweise musste er die beiden Lederhälften erst aneinander ziehen, bevor er den sehr robusten Reißverschluss weiter schließen konnte.
Das letzte Stück oberhalb ihrer Brüste konnte er mit einer Hand zuziehen, und das nutzte er aus, um unbemerkt von Amelie in seine Tasche zu greifen. Er wollte den Knebel bereit haben, bevor Amelie etwas davon bemerkten konnte. Denn das Gummiteil zum Aufblasen ließ sich dann am leichtesten in ihren Mund einsetzen, wenn sie es gar nicht erwartete.
Wie sonst auch gab er ihr einen Kuss auf die Lippen, und als Amelie den Mund öffnete, um den Kuss zu erwidern, schob er den Knebel in ihren Mund und drückte ihren Mund wieder zu. Sofort pumpte er das Gummiteil auf und erreichte so, dass sich der Knebel an ihren Zahnreihen festklemmte, so dass sie ihren Mund auch nicht mehr öffnen konnte.
Jetzt hatte Amelie nur noch ihren Augen, um ihren erneuten und jetzt sogar heftigeren Protest auszudrücken. Sie funkelte ihn mit einem bösen Blick an, denn mit diesem so perfiden Knebel hatte sie in dem Moment überhaupt nicht gerechnet.
Doch Leonhard hatte ein ebenso perfides Mittel, um sich gegen ihren sonst so unwiderstehlichen Blick zu wehren. Er nahm einfach die Augenbinde vom Nachttisch und streifte sie seiner Verlobten über den Kopf.
Ein heftiges Zucken im Schlafsack war die Antwort, und erst als er seine Hand auf ihren so streng verpackten Körper legte und sie streichelte, ließen die Zuckungen nach. Er wusste, dass Amelie dabei war, sich mit ihrer Hilflosigkeit und Isolation abzufinden.
Er griff zum Telefon. »Zimmerservice? Bringen sie mir bitte einen Kaffee auf mein Zimmer.«
Nach einer kurzen Pause nannte er noch seine Zimmernummer. Er legte auf und grinste. Natürlich hatte er sich schon beim Beziehen des Zimmers davon überzeugt, dass das Bett von der Zimmertür her nicht einsehbar war.
Amelie achtete nicht auf solche Details, das wusste er. Und richtig, es kam sofort wieder etwas Leben in den Schlafsack, kaum dass er den Hörer aufgelegt hatte.
»Ich werde dir jetzt auch noch die Ohren verstopfen.« Er hatte sich zu ihrem Kopf herunter gebeugt und sprach leise, aber noch so laut, dass Amelie es unbedingt hören musste. Gleich darauf schob er die Ohrenstöpsel, die ebenfalls auf dem Nachttisch bereit lagen, in ihre Ohren.
Wieder kam etwas Leben in Amelies Körper. So wie er ihre Zuckungen beobachtete, schien sie sich wirklich sehr wild gegen ihre Fesselung zu wehren, obwohl sie wissen musste, dass es ein aussichtsloser Kampf war.
Wieder streichelte er mit seinen Händen über ihren Körper, bis sie sich beruhigt hatte. Schließlich zeigten ihre ruhigen Atemzüge, dass sie sich auf einer sicher sehr schönen Traumreise befand.
* * *
Sarah klopfte kurz an der Tür zum benachbarten Hotelzimmer, dann trat sie in das Zimmer ihres Mannes und des Geliebten ein. Bevor sie sprach, vergewisserte sie sich, dass die Tür geschlossen war. »Ich habe einen Plan, um Betty eine kleine Lehre zu erteilen, doch dazu brauche ich eure Hilfe.«
»Was möchtest du denn machen?« Juan hatte ein ganz bestimmtes Lächeln im Gesicht seiner zukünftigen Frau bemerkt.
»Ich möchte Betty eine perfide Lektion erteilen.« Ihre Stimme wurde leiser. »Als kleine Rache für das Gebet in der Bäckerei.«
»Und wie stellst du dir das vor?« Juan war durchaus bereit, seiner Frau einen solchen Gefallen zu tun.
»Ihr müsst sie in das Ballkleid stecken.« Obwohl sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, sprach sie sehr leise. »Mit drei Leute sollte das zu schaffen sein.«
»Wir sind aber nur zu zweit.« Auch Bertram war von dem Plan angetan.
»Stimmt.« Sarah erkannte den Fehler in ihrem Plan. »Und ich werde zu dem Zeitpunkt schon in dem Kleid stecken, werde also völlig hilflos sein.« Sie gab sich nachdenklich. »Ich glaube, ich werde Paul einweihen, er wird uns bestimmt helfen.« Diesen Punkt hatte sie übersehen, sie war sich jedoch sicher, dass Marias Freund ihnen gern helfen würde.
»Aber wie soll das genau gehen?« Bertram wiederholte die Frage seines Freundes.
»Ich habe folgendes Plan.« Sarahs Stimme wurde verschwörerisch leise. »Ich werde Betty bitten, euch zu zeigen, wie sie mir das Ballkleid anzieht. Als mein künftiger Ehemann solltest du das wissen.«
»Und das wird funktionieren?« Juan war noch etwas skeptisch.
»Ich kenne Betty gut, sie wird mir sicher auf den Leim gehen.« Sarah grinste.
* * *
»Leonie, ziehe dich bitte gleich aus.« Selma schloss die Haustür hinter sich und führte das Paar ins Wohnzimmer. »Holger kann dir helfen, ich habe alle nötigen Schlüssel bereitgelegt.«
Holger betrat nach Leonie das Zimmer und blickte sich um. Auf dem Tisch lag ein kleiner Schlüsselbund, und an der Schrankwand hing deutlich sichtbar das Kleid, welches Leonie auf der Generalprobe schon getragen hatte.
Selma sah, dass ihr Schützling etwas zögerte. »Nun mach schon, wir haben nicht so viel Zeit.«
Es störte sie ein wenig, dass Holger sie jetzt schon in ihrer Unterwäsche sehen sollte, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie eigentlich immer noch in das Keuschheitsensemble eingeschlossen war, mit dem sie sich auf der Hütte so gern präsentiert hatte. Trotzdem betete sie, dass Holger bleiben würde, wenn er es sehen würde. Sie war sich immer noch nicht sicher, wie er reagieren würde.
Seufzend kam sie der Aufforderung nach, und nachdem Holger ihr bei den Ketten geholfen hatte, stand sie gleich darauf in ihrer Stahlunterwäsche im Raum. Sie hielt innerlich die Luft an.
Holger hatte zunächst höflich weggeschaut, doch als Selma erneut drängelte, gab er seine Zurückhaltung auf und war einigermaßen erstaunt, als er Leonie mit dem Keuschheitsensemble vor sich stehen sah. »Das ist etwas Hochwertiges. Wer hat den Schlüssel?« fragte er nach einer Schrecksekunde mit fachkundiger Miene.
»Die Schlüssel verwalte im Moment ich«, antwortete Selma. Diesen Moment hatte sie schon länger geplant und erwartet.
Holger blickte zwischen Leonie und Selma hin und her. Es war deutlich, das er etwas fragen wollte, sich aber nicht so recht traute.
Selma lächelte. »Nach dem Fest kannst du die Schlüssel bekommen.« Sie blickte zu Leonie. »Falls du damit einverstanden bist.«
Leonie seufzte. »Ich hatte mich eigentlich schon darauf gefreut, den Gürtel endlich wieder loszuwerden.« Sie berichtete kurz, wie es dazu gekommen war, dass sie ihn trug.
Holger hörte fasziniert zu. »Du magst es, so eingeschlossen zu sein?« Er war sehr verwundert.
Leonie war verlegen. »Ich finde es schön, wenn ich da nicht dran kann, weil jemand anders die Kontrolle darüber hat.« Sie hatte in diesem Moment einen knallroten Kopf.
»Das würde sich machen lassen.« Holger lächelte. »Du bist voller Überraschungen. Ich mag dich.«
Leonie wurde etwas rot. »Ich freue mich, dass es dich gefällt.« Sie seufzte laut. »Du bist der Allererste, der sich davon nicht abstoßen lässt.«
Selma räusperte sich. »Wir müssten dann mit dem Kleid anfangen, sonst reicht die Zeit nicht.«
»Ich bin schon sehr auf das Kleid gespannt.« Leonie lächelte. »Vorgestern habt ihr mich ja ziemlich überrumpelt.«
»Aber es hat dir gefallen?« Selma wollte es noch einmal hören. »Du bist ja ganz gut damit zurecht gekommen.«
»Es war ein klein wenig zu groß.« Leonie trat näher an das Kleid heran, um es zu begutachten. »Das sind ja alles Dreifach-Nähte.« Sie blickte abwechseln zu Selma und zu Holger.
»Damit du dich in dem Kleid auch sicher fühlen kannst.« Selma lächelte erwartungsvoll. »Du würdest es also tragen, wenn es dir passen würde?«
Leonies Stimme klang verträumt. »Das wäre ein Traum.«
»Dann nehmt bitte das Kleid und folgt mir.« Selma ging in den Nebenraum.
Leonie blickte noch einmal auffordernd zu Holger, dann ergriff sie das Kleid und kam der Bitte nach.
Sie stellte fest, dass sie in diesem Zimmer des Hauses bisher noch nicht gewesen war. Es sah aus wie in einem Schneideratelier.
»Ich habe früher viele Kleider selbst genäht«, erklärte Selma stolz.
»Es sieht aus wie ein ganz normales Kleid.« Holger war ebenfalls fasziniert. »Sehr elegant mit den oberarmlangen Handschuhen.«
»Natürlich sieht so ein Fesselkleid äußerlich wie ein normales Kleid aus.« Selma lächelte, nachdem sie ein Maßband zur Hand genommen hatte. »Es sind die Details, die im Inneren versteckt sind.«
»Welche sind das?« Holger war sichtbar interessiert.
»Leonie, strecke bitte deine Arme zur Seite aus.« Selma gab zunächst ihrem Schützling die Anweisung und nahm diverse Maße, dabei ging sie auf Holgers Frage ein. »Ein Arm wird mit in das Kleid eingeschlossen, der anderen ist mit einem Reißverschluss längs am Körper befestigt.«
Leonie blickte Selma erstaunt an.
»Den Reißverschluss kannst du öffnen, wenn ihr tanzen wollt.« Pauls Oma blickte zu Holger. »Hier ist außerdem eine Extra-Lasche in das Kleid eingenäht, damit du sie besser festhalten kannst.«
Leonies Freund war sichtlich beeindruckt.
»Des Weiteren gibt es einen Unterrock, der zum Tanzen ebenfalls mit einem Reißverschluss geöffnet werden kann.« Selma legte das Kleid auf den Tisch und machte sich daran, ein paar Nähte abzustecken. »Und die oberarmlangen Handschuhe haben eine Doppelfunktion. Zum einen lässt sich damit die Arm-Attrappe besser tarnen, und zum anderen sind bei dem freien Arm die Finger aneinander genäht.«
Leonie stöhnte leise.
»Eigentlich gehört auch noch ein strenges Korsett unter das Kleid, aber das verträgt sich nicht mit deiner hübschen Unterwäsche.« Selma lächelte. »Es gibt allerdings auch Gürtel, die sich trotz eines Korsetts tragen lassen. Wenn ihr wollt, kann ich euch ein paar Propekte überlassen.«
»Sehr gern, danke.« Für einen kurzen Moment wurde Leonie bewusst, dass sie außer dem Keuschheitsgürtel, den Schrittbändern und dem Metall-BH keine weitere Kleidung trug. Doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Kleid gerichtet.
Selma setzte sich jetzt an die Maschine und nähte die vorbereiteten Stellen etwas enger. »Wegen der Dreifach-Nähte dauert es etwas, aber das muss sein. Es soll ja sicher sein.« Sie blickte zu Holger.
Wieder stöhnte Leonie leise.
»Ich habe dir deine Schuhe bereit gestellt.« Selma zeigte darauf. »Ziehe sie bitte gleich an. Wenn wir mit dem Kleid fertig sind und ich dich darin eingenäht habe, würde es sonst sehr mühsam für dich werden.«
Holger blickte interessiert auf die Stiefelletten, auf die Selma gedeutet hatte. Sie hatten einen sehr hohen Absatz und wurden mit einer kurzen Schnürung geschlossen.
Leonie zitterte sehr, als sie der Bitte nachkam. Neben den Stiefelletten lagen zwei kleine offene Vorhängeschlösser. Leonie nahm sie wortlos und ohne Zögern, und verschloss sich die Stiefel, nachdem sie die Schnürung festgezogen hatte. »Sie werden mich in das Kleid einnähen?« Natürlich hatte sie diesen Satz gestern schon gehört, doch sie hatte es für einen Scherz gehalten.
»Genau das werden ich machen.« Sie sah von der Maschine auf und blickte etwas verträumt aus dem Fenster. »So war das früher.«
»Ich kann also auch keinen anderen bitten, mir das Kleid zu öffnen?« Sie dachte mehr laut, als dass sie eine Frage stellte.
»So ist es.« Selma zeigte auf eine Stoffbahn. »Hiermit wird die Schnürung verdeckt. Ich muss die Naht erst wieder auftrennen, um dich aus dem Kleid heraus zu lassen.«
Leonie begann etwas zu schwanken. Sofort trat Holger zu ihr und hielt sie fest.
»Es gäbe natürlich auch noch die Variante des Kleides, bei der beide Arme im Kleid eingeschlossen sind.« Selma sprach etwas lauter, um die Maschine zu übertönen. »Aber ich denke, dass ihr miteinander tanzen wollt.«
* * *
Uschi, die Freundin der Reporterin war etwas genervt, als sie bei Andrea klingelte. »Was ist denn so wichtig, dass du mich am Samstag Abend noch sprechen willst?« fragte sie gleich nach der Begrüßung.
»Jetzt komm erst einmal herein.« Andrea schloss die Tür hinter ihrer Freundin. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Für was?« Uschi stöhnte ein wenig.
»Ich muss ihn ablenken.« Andrea gab sich etwas kurz angebunden.
»Wen?« Die Freundin war ungeduldig. »Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.
»Na wen schon?« Andrea verdrehte die Augen. »Hans!«
»Und womit willst du das machen?« Uschi kannte das manchmal etwas angespannte Verhältnis ihrer Freundin zu dem Fotografen.
Andrea holte tief Luft. »Du sollst mir den Handschuh anlegen.« Sie zeigte auf den Tisch, wo sie den Monohandschuh schon bereit gelegt hatte.
»Bist du dir wirklich sicher?« Uschi wurde nachdenklich. »Für wen bringst du so ein großes Opfer?«
»Für Maria.« Andrea erläuterte ihren Plan. »Ich will verhindern, dass er sich in die Garderobe schleicht und sie heimlich fotografiert.«
»Und du meinst, mit dem Handschuh geht das?« Ihre Freundin hatte einen sehr zweifelnden Blick.
»Es wird ihn zumindest ablenken und sicher auf andere Gedanken bringen.« Andrea zögerte. »Du müsstest mich allerdings begleiten. Allein traue ich mich das nicht.«
»Ich hätte dich damit auch nicht mit ihm allein gelassen.« Uschi blickte noch einmal auf den Tisch. »Du bist doch heute auch auf dem Ball, oder?«
Andrea bestätigte es. »Ich gehe nur etwas früher hin.«
»Dann passt es ja.« Uschi blickte noch einmal zum Handschuh. »Und du bist sicher, dass du ihn den ganzen Abend tragen willst?«
»Nein, bei Weitem nicht.« Andrea war entsetzt. »Ich muss nur die Zeit überbrücken, wenn Maria in der Garderobe ist.« Sie zeigte den Zeitplan, den sie heimlich bei Renate abgeschrieben hatte.
»Und du bist wirklich sicher, dass dein Plan funktioniert?« Die Freundin war etwas verwundert. »Ich dachte, er soll nichts davon wissen.«
»Ich habe mich neulich verplappert.« Andrea war sehr verlegen. »Und auf dem Fest bin ich unter Leuten.«
»Du meinst, er wird sich dann zurück halten?« Uschi runzelte die Stirn.
»Ich hoffe es zumindest. Und wenn du ihn mir wieder abgenommen hast, musst du ihn versehentlich einstecken.« Sie grinste. »Dann hätte ich etwas Zeit gewonnen.«
»Ich bin nach dem Fest eine Woche im Urlaub.« Uschi griff den Gedanken auf.
»Super, dann habe ich noch eine Gnadenfrist.« Andrea seufzte leicht. »Natürlich weiß ich nicht, wo du den Handschuh gelassen hast.«
»Ich hoffe wirklich für dich, dass dein Plan wirklich aufgeht.« Es war Uschi anzuhören, dass sie sich Sorgen um ihre Freundin machte.
»Das hoffe ich auch.« Andrea seufzte wieder.
»Und du willst wirklich mit dem Handschuh durch die Stadthalle laufen?« Uschi erinnerte sich daran, dass Andrea sich in der Beziehung bisher eher öffentlichkeitsscheu gegeben hatte.
»Ich ziehe mir einen Poncho darüber.« Andrea hatte diesen Aspekt schon berücksichtigt. »Oder ich hänge mir ein Tuch um.«
Uschi runzelt die Stirn.
Andrea lachte nervös. »Du musst es mir über die Schultern legen.«
»Aber dann ist der Handschuh nicht zu sehen.« Uschi blieb weiter skeptisch.
»Stimmt.« Andrea war etwas nachdenklich. »Aber die gekreuzten Riemen vor der Brust wird er erkennen. Er soll ruhig etwas spekulieren. Hauptsache, er ist von Maria abgelenkt.«
»Aber das wird doch nicht lange reichen.« Uschi war immer noch nicht von dem Plan ihrer Freundin überzeugt.
»Wir haben bald einen offiziellen Termin bei ihnen. Dort bekommt er das Foto, das er haben möchte.« Andrea begann, ihre Tasche zu packen. »Ich möchte heute nur dafür sorgen, dass er Maria in der Garderobe nicht stört.«
»Sie wird es dir hoffentlich danken.« Uschi ging zum Tisch und nahm den Handschuh in die Hand.
»Das wäre mir gar nicht so wichtig.« Andrea nahm den Handschuh aus Uschis Händen und packte ihn ganz oben in ihre Tasche. »Ich denke, ich habe alles. Lass uns gehen.«
* * *
»Na, seid ihr ausgeruht?« Frederike blickte zur Treppe, als sie die Schritte von Paul und Maria hörte.
Eigentlich erübrigte sich die Fragen, denn als sie die Treppe herunter kamen, hielten sie sich an der Hand und strahlten erwartungsvoll.
Paul trug die Uniform für das Fest, während Maria noch in ihrer Alltagskleidung unterwegs war. Mit der Schneiderei war ausgemacht, dass sie die Kleider für die Katerina gleich in die Stadthalle bringen würde und Maria sich erst vor Ort umziehen sollte.
Trotzdem hätte Maria ihre Ballettstiefel gern sofort angezogen, doch ihre Mutter konnte sie davon überzeugen, es erst in der Stadthalle zu machen. »Damit hat es etwas mehr Dramatik« hatte sie argumentiert und ihre Tochter war einverstanden.
Frederike ging zu dem kleinen Schlüsselbrett, wo im Moment als einziges Schlüsselbund das von Paul für Maria hing. Sie nahm es in die Hand und suchte einen bestimmten Schlüssel. »Dieser hier?« Sie hielt einen davon hoch und blickte dabei zu Marias Erzieherin.
»Nein, der kleine daneben.« Mrs. Potter korrigierte Marias Mutter.
Paul fiel sofort auf, dass sie ihr den Schlüssel für Marias Keuschheitsgürtel gezeigt hatte, einen Schlüssel, den er selbst bisher nur in Notfällen benutzt hatte.
»Maria, kommst du bitte?« Sie bat ihr Tochter, ihr ins Gästebad zu folgen. In der Hand hielt sie dabei einen kleinen rosa Gegenstand. An der Tür drehte sie sich noch einmal zu Marias Freund um. »Paul, du könntest bitte schon mal die Tasche packen. Ich habe alles auf dem Tisch bereit gelegt.«
Paul war ziemlich in Gedanken, als er der Bitte nachkam. Er fragte sich, was mit Maria im Bad passierte. Er hatte einen ganz bestimmten Verdacht.
Seine Hände zitterten, als er die bereitgelegten Gegenstände einpackte. Dabei waren unteranderem Marias knielange Ballettstiefel, das Venuskorsett, aber auch der Monohandschuh und die Riemen für das Gebet sowie noch eine extra Tasche. Paul vermutete, dass sie noch ein paar Toilettenartikel oder Schminksachen enthielt.
Kaum war er damit fertig, als sich die Tür des Badezimmers schon wieder öffnete. Maria kam als erstes heraus und nach einem nur ganz kurzen Blick erkannte Paul sofort, was passiert war. Maria hatte ein sehr gerötetes Gesicht, und das ließ nur einen einzigen Schluss zu. Bestimmt hatte ihre Mutter einen Vibrator in den Keuschheitsgürtel eingesetzt, denn es gab sonst keinen Grund, den Gürtel zu öffnen.
Doch er traute sich nicht, danach zu fragen.
Auch Maria machte einen etwas konsternierten Eindruck, weil ihre Mutter sich so sehr eingemischt hatte, doch auch sie traute sich nicht, etwas zu sagen.
Frederike ging wortlos zum Schüsselbrett und hängte das kleine Bund wieder an seinen Platz.
»Welche Jacke möchtest du tragen?« Mrs. Potter stand an der Garderobe und blickte zu Maria.
Maria blickte kurz zwischen der Garderobe und ihrer Mutter hin und her, dann senkte sie den Kopf. »Ich träume schon lange davon, auf diesem Weg das Cape tragen zu dürfen. Und Paul hat es abgeschlossen.« Den letzten Satz hatte sie besonders leise gesagt.
»Warum nicht?« Frederike gab Mrs. Potter ein Zeichen.
Diese nahm das Cape vom Haken und reichte es Paul. »Die Prinzessin bittet um ihre Hilfe.«
Zu seiner eigenen Überraschung zitterten seine Hände nicht, als er das Cape entgegen nahm. Er klappte es auf und trat auf Maria zu.
Maria blickte noch einmal fragend zu Mrs. Potter, und erst als diese freundlich nickte, hob sie ihre Arme und steckte sie in die Ärmel des Capes, die sie vor allem in Pauls Gegenwart zu gern benutzte. »Danke mein Prinz, ihr seid so hilfsbereit.« Sie lächelte ihrem Freund zu.
Gleich darauf hatte Paul das Cape bis über die Schultern hochgezogen und war dabei, es am Kragen zu verriegeln.
»Stecke bitte die Schlüssel ein, sonst wird es peinlich«, flüsterte Maria recht leise.
Paul lächte verlegen. »Mache ich sofort.« Gleich nach dem der Riegel zugeschnappt war, holte er sich das Schlüsselbund, kontrollierte noch einmal die Anzahl der Schlüssel und steckte es dann ein.
»Ich glaube, es ist Wind angesagt.« Marias Stimme war leise, aber dennoch gut im Raum zu verstehen.
Paul wusste sofort, was sie damit wirklich sagen wollte. Er sollte das Cape richtig verschließen, also auch die Bänder am unteren Saum an ihren Beinen befestigen. Er kniete sich vor sie hin und band das Cape an ihren Beinen fest.
Natürlich wussten alle, dass letzteres völlig überflüssig war, denn mit den gefangenen Armen und dem Kragenriegel war es Maria auch ohne die Bänder nicht mehr möglich, sich aus dem Cape zu befreien. Doch sie liebte den Gedanken, dem Cape ganz ausgeliefert zu sein. Und sie hoffte darauf, dass Paul sie auf dem Weg zur Stadthalle wieder in den Arm zu nehmen.
»Wo hast du denn die Fernbedienung?« Frederikes Stimme riss Maria aus ihren Gedanken.
»Die liegt auf meinem Nachttisch.« Sie wurde etwas rot dabei, denn sie fühlte sich ertappt.
»Kannst du die noch holen?« Frederike blickte aus dem Fenster, so dass ihre Miene nicht sichtbar war, als sie es aussprach.
Maria schluckte. »Nein, ich kann sie so nicht mehr festhalten.«
»Das ist richtig.« Frederike hatte Mühe, das Grinsen in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Paul, kannst du sie holen und mir geben?«
Paul zögerte deutlich sichtbar. Nur langsam ging er auf die Treppe zu, um der Bitte nachzukommen.
Erst als Frederike mit sehr trockener Stimme über die Funktion des Orgasmus als Schmerzmittel dozierte, erkannte Paul, warum das Vorhaben von Marias Mutter auch auch seiner Sicht richtig und vernüftig war.
Trotzdem hatte er ein mulmiges Gefühl, als er ihr die Fernbedienung überreichte. Es störte ihn, dass Maria so ihrer Mutter ein wenig ausgeliefert war. Doch als er bemerkte, dass er so etwas wie Eifersucht gegenüber Marias Mutter bemerkte, musste er doch schmunzeln. Dazu gab es bisher keinen vernüftigen Grund.
»Lasst uns gehen.« Mrs. Potter hatte dem Vorgang wortlos zugesehen. »Frau Bartels soll nicht unseretwegen warten müssen.« Sie ging zur Tür und öffnete sie.
»Außerdem freue ich sehr auf das Kleid.« Maria hatte ein Strahlen in der Stimme, als sie ihrer Erzieherin folgte.
Paul griff sich wortlos die Tasche vom Tisch und verließ ebenfalls das Haus.
Frederike zog hinter sich die Tür ins Schloß, dann trat auch sie auf den Kiesweg vor dem Haus.
* * *
»Morgen in der Kirche muss ich noch einmal die schweren Ketten tragen.« Doris war auf dem Weg in die Stadthalle und sie wurde begleitet von Theo sowie ihren Eltern. »Frau Bayer hat es mir gebeichtet.«
»Das war aber eine schlechte Nachricht.« Ruth Schwerterle, ihre Mutter, seufzte ein wenig.
Doris war zunächst etwas verwundert, doch als sie ihre Mutter ansah, erkannte sie, dass diese einen Scherz gemacht hatte.
Obwohl Ruth ihre Tochter in Ketten vor sich sah, war sie doch sehr stolz auf sie, weil sie bei ihrem selbstgewählten Alltag sehr glücklich war. Wehmütig blickte sie auf Theo und Doris, denn sie wusste, dass sie ihre Tochter bald in seine Hände geben würde.
Natürlich war sie zuerst sehr verschreckt gewesen, als sie von der Ketten erfahren hatte, doch als sie sah, wie glücklich ihre Tochter damit war, wurde ihr klar, dass sie trotz der erschreckenden Aussichten zu der Verbindung ihren Segen geben musste.
»Ich weiß, dass es eine besondere Gelegenheit ist.« Doris gab sich sehr vernünftig. »Und deswegen bin ich fest entschlossen, jede Sekunde zu genießen.«
»Solange du nicht in Ketten heiraten willst...« Ruth lächelte etwas gequält.
»Wie gefällt ihnen das heutige Geschirr?« Theo mischte sich ein. »Es sieht doch sehr unauffällig aus.«
»Es sieht wirklich schön aus, und es ist wirklich unauffällig.« Ruth musterte den Schmuck ihrer Tochter. »Aber das ist doch bestimmt nur Spielzeug, oder?«
»Glauben sie mir, das ist aus Titanstahl gearbeitet und sehr robust.« Theo erzählte, wie er zu dem Schmuck gekommen war. »Obwohl es sehr filigran aussiehst, hält es genauso wie die großen Ketten.«
»Es sieht gar nicht aus wie Ketten, sondern nur wie außergewöhnlicher Schmuck.« Ruths Stimme wurde auf einmal weich.
»Willst du damit sagen, dass ich den Schmuck zum Brautkleid tragen dürfte?« Doris war stehen geblieben und blickte ihre Mutter verwundert an.
Ruth erkannte auf einmal, auf welch dünnes Eis sie gerade gelockt wurde. »Ich möchte mich jetzt noch nicht festlegen.« Sie seufzte. »Unsere Verwandtschaft möchte da sicher auch mit reden.«
Doris seufzte nur, dann ging sie weiter.
* * *
»Warum habt ihr denn den großen Kleiderbeutel mitgeschleppt?« Betty war etwas verwundert, als sie gemeinsam mit den anderen Brasilianern die Garderobe in der Stadthalle betrat.
Sarah grinste. »Da ist das Ballkleid für dich drin.«
»Da will ich mal sehen, wie ihr das schaffen wollt.« Betty setzte zunächst eine Spottmiene auf. »Schließlich seit ihr nur zu zweit.« Sie blickte triumphierend auf Sarah, die schon seit dem Hotel sehr hilflos in ihrem Ballkleid steckte und sich fast gar nicht mehr bewegen konnte.
In diesem Moment klopfte es.
»Zu dritt.« Jetzt triumphierte Sarah. »Ich war gerade bei Paul und Maria und habe gefragt, ob Paul mithelfen kann, dich in das Kleid zu stecken.«
»Ihr kennt euch doch damit überhaupt nicht aus.« Betty fühlte sich in die Enge getrieben, denn sie wusste, dass sie sich gegen die drei Herren nicht hätte wehren konnte.
»Doch, wir kennen uns aus.« Juan grinste. »Du hast es uns doch gerade erst so schön erklärt.«
Auf einmal realisierte Betty, wie sie von ihrer Geliebten in die Falle gelockt wurde.
»Wir sind zu dritt, und wir werden dir das Kleid anziehen, notfalls mit Gewalt.« Sarah lächelte süffisant. »Aber du würdest es uns einfacher machen, wenn du es freiwillig anziehst.«
Betty blickte entsetzt auf ihre Geliebte, die sie gerade eben noch mit sehr viel Lust in ihr Fesselkleid gesteckt hatte. »Aber warum?«
»Ich sage nur 'Gebet in der Bäckerei'.« Juan lächelte ebenfalls. »Das ist Sarahs Antwort.«
»Von dir geht das alles aus?« Betty war empört, denn von ihrer Geliebten hatte sie so etwas nicht erwartet.
»Komm, das Opfer kannst du schon mal bringen.« Sarah lächelte süffisant. »Ich mache es doch auch.«
Betty blickte sich um. Sie sah in vier entschlossene Gesichter. »Ich fürchte, da habe ich wohl keine Wahl.« Bisher wusste sie aber nur aus den Erzählungen von Sarah, wie streng diese Kleider in Wirklichkeit sein würden. »Ich mache freiwillig mit.« Doch dann fiel ihr Blick zu Sarah. »Das gibt Rache. Ich werde ich lange und grausam quälen.«
»Ich bitte darum.« Sarah lächelte nur. »Aber es ist doch nur ein Ballkleid.« Sie trat auf Betty zu und küsste sie auf den Mund. »Ich liebe dich.«
* * *
»Was machen wir jetzt?« Theo blickte sich um, als sie im Eingangsbereich der Stadthalle standen. »Bis zum Ball ist ja noch etwas Zeit.«
»Wir könnten ins Café gehen.« Doris zeigte auf die Glastür auf der linken Seite, die deutlich sichtbar mit »Moni's Café« beschriftet war.
»Na gut.« Herr Schwerterle war einverstanden. »Gehen wir zu Moni.«
»Hallo Reiner, schön, dass du dich mal wieder sehen lässt« Die Inhaberin Monika reichte der Familie die Hand. »Ich habe einen schönen Tisch für euch am Fenster.«
»Gern.« Herr Schwerterle war ein wenig verlegen. »Ich war schon lange nicht mehr hier.«
»Das kann man wohl sagen.« Moni lächelte. »Deine Familie?«
Reiner stellte seine Begleitung vor. »Und das ist Theo, mein zukünftiger Schwiegersohn.«
Moni blickte Doris verwundert an. »Ich kenne dich noch als das kleine Mädchen.« Sie strich ihr über den Kopf. »An den Kindern merkt man, dass man älter wird.« Sie lachte. »Was darf ich euch bringen?«
»Ich habe noch eine Überraschung für dich.« Ruth stellte ihre Tasse ab und blickte etwas wehmütig auf ihre Tochter. Dann griff sie in ihre Jackentasche. »Ich habe Theo gebeten, dir auch ein schönes Halsband anzufertigen.« Sie reichte ihrer Tochter eine kleine Schachtel.
Doris' Hände zitterten ein wenig, als sie die Schachtel öffnete. »Eine lange Halskette.« Es fiel ihr sofort auf, dass sie genauso gearbeitet war, wie die Schmuckfesseln, die sie schon trug. Sie blickte sehr glücklich zwischen ihrer Mutter und ihrem Verlobten hin und her. »Vielen Dank.« Sie strahlte.
»Magst du sie ihr gleich anlegen?« Ruth blickte zu ihrem zukünftigen Schwiegersohn.
Theo zögerte etwas. »Es gibt zwei Möglichkeiten, wie sich diese Kette tragen lässt.« Er nahm die Kette in die Hand. »Man kann dieses Ende an das andere Ende der Ketten befestigen.« Er deutete an, was er mit Worten beschrieben hatte. »Oder man befestigt das Ende hier und erhält ein enges Halsband mit einer Art Leine.«
Doris war verzaubert. Sie blickte ihre Mutter verlegen an, und als diese nickte, lächelte sie. »Bitte die Halsband-Variante.«
»Heute wird jeder glauben, dass es zum Kostüm gehört.« Theo kam dem Wunsch nach und legte seiner Verlobten die Kette um den Hals.
* * *
»Wie geht es dir jetzt?« Florian hatte den Arm um Anna gelegt, gemeinsam waren sie auf dem Weg in die Stadthalle. »Konntest du dich etwas ausruhen?«
»Oh ja, der Schlaf hat gut getan.« Anna seufzte etwas. »Ich habe doch tatsächlich von meinem Vater geträumt.«
»Oh, das tut mir leid.« Florian zog Anna noch etwas zu sich heran.
Doch zu seiner Überraschung lachte Anna. »Das war ein lustiger Traum.«
»Magst du mir etwas darüber erzählen?« Florian hoffte, dass seine Nachfrage richtig war.
»Ich weiß ja, wie er das Stück haben wollte.« Anna grinste. »Ich habe die Badinerie in einem anderen Tempo und in einer anderen Tonart gespielt. Und dazu auch noch in Moll.«
»Es hat ihn geärgert?« Florian versuchte, sich in die Gedanken seiner Frau zu versetzen.
»Und wie!« Anna lachte. »Aber er konnte nichts machen, weil ich auf der Bühne stand, und er saß im Rollstuhl.«
»Das ist auch eine Art Vergangenheitsbewältigung.« Er kicherte. »Wird das Stück auf dem Ball eigentlich auch gespielt?«
»Es stand nicht auf der Liste.« Annas Stimme zeigte eine gewisse Erleichterung. »Aber ich glaube, jetzt würde es mir auch nicht mehr so viel ausmachen.«
Sie gingen eine Zeitlang schweigend nebeneinander her.
»Heute Nacht musst du mich noch in den Handschuh einschnüren. Ich habe heute gar nicht trainiert.« Anna lächelte.
»Nanu? Du willst ihn sogar freiwillig tragen?« Florian war verwundert.
»Es ist auch ein Stück Vergangenheitsbewältigung.« Anna war auf einmal sehr nachdenklich. »Wenn ich ihn bei etwas sehr Angenehmem trage, könnte mir das helfen.« Sie machte eine Pause. »Der Traum hat mir das gesagt.«
»Na dann.« Florian seufzte. »Ich mache alles, wenn es dich nur glücklich macht.«
Anna blieb auf einmal stehen. »Gib es bitte zu, es gefällt dir, wenn ich den Handschuh trage.«
Doch Florian blieb die Antwort schuldig. »Laß uns weiter gehen, sonst kommen wir zu spät.«
* * *
»Was machen wir jetzt?« Juan blickte auf die Uhr. »Bis zum Ball ist es noch eine Stunde.
»Vorne am Eingang habe ich das Café Moni gesehen.« Sarah lächelte. »Wie wäre es, wenn wir noch etwas trinken gehen?«
Bertram wunderte sich. »Geht das denn mit den Ballkleidern?«
»Wir haben die Beinkorsetts nicht ganz geschlossen.« Juan erinnerte seinen Freund an die beiden Ankleideprozeduren. »Schließlich wollen unsere Damen auch tanzen.«
»Mit diesem Kleid in die Öffentlichkeit?« Betty war erbost. »Nie im Leben.«
»Meine Liebe, du hast keine Wahl.« Sarah gab Juan und Bertram erneut ein Zeichen.
Die beiden Herren traten neben Betty und hoben sie leicht hoch.
»Schon gut, ich komme freiwillig mit.« Betty begriff, dass sie keine Option zum Handeln mehr hatte. »Das kommt alles mit auf die Rechnung.« Sie funkelte Sarah böse an.
Im Cafe nahm zu Bettys Erleichterung keiner eine Notiz von ihnen. Lediglich die Bedienung hatte kurz die Stirn gerunzelt, als sie zwei der Getränke mit Stohhalm bestellten.
* * *
»Es kommt mir vor wie in einem Traum.« Leonie blickte sich verzückt um, als sie mit Holger und Frau Mohr das Haus verließ. »Einerseits bin ich streng gefesselt, andererseits sind wir unterwegs zu einem Ball.«
»Das geht mir aber auch so.« Holger war nicht minder begeistert von dem Gang zur Stadthalle. »Ich finde es unglaublich, dass man so durch die Stadt gehen kann.«
Selma fühlte sich verpflichtet, auf die besondere Situation aufmerksam zu machen. »Das geht aber nur wegen des Festwochenendes.« Sie lächelte verträumt. »Sonst wäre das hier auch nicht möglich.«
»Ich hoffe, du wirst mit mir tanzen?« Holger war von seiner Freundin nicht minder begeistert. »Vielen Dank schon einmal für das schöne Kleid.« Er drehte sich kurz zu Selma um, die langsam hinter ihnen her ging.
»Das ist ein wirklich schönes Kleid.« Leonie hatte gerade atemlos verfolgt, wie Pauls Oma sie doch tatsächlich in das Kleid eingenäht hatte. Ein Arm war mit in das Korsett eingeschlossen, das zu diesem Kleid gehörte, und der andere Arm war mit einem Reißverschluss längs am Körper befestigt. Holger hatte die Erlaubnis, ihr den Arm frei zu machen, wenn sie tanzen wollten. Und natürlich hatte sie versprochen, sich den Arm danach gleich wieder fixieren zu lassen.
In das Kleid war außerdem recht unauffällig auch noch ein strenges Halskorsett eingearbeitet, und immer, wenn Leonie den Kopf drehen wollte, musste sie ihren ganzen Körper bewegen, um ihr Ziel erreichen zu können.
Und dann waren da noch ihre Stiefel, die sie tragen durfte. Leonie war es zwar gewöhnt, manchmal auf hohen Absätzen unterwegs zu sein, doch dieses Mal war es etwas anders. Sie war in die Stiefel eingesperrt, und selbst wenn sie über ihre Arme verfügen würde, könnte sie sich die Schuhe nicht ausziehen, weil sie beide jeweils mit einem Schloss verschlossen waren. Und die Schlüssel hingen bei Frau Mohr am Schlüsselbrett.
»Es freut mich, dass dir das Kleid gefällt und dass es so schön passt.« Selma war von dieser Frau mit ihren außergewöhnlichen Leidenschaften ebenfalls sehr fasziniert. »Wenn du einverstanden bist, dann würde ich es dir gern schenken. Ich kann auch einen Reißverschluss zum Schließen einnähen.«
Leonie war hin und weg. »Sehr gern.« Sie blickte zu Holger. »Aber du musst mir beim Anziehen helfen. Das kann ich nicht allein.« Sie grinste.
»Stets zu ihren Diensten, Madame.« Holger lächelte ebenfalls.
»Wenn das Fest vorbei ist, gehen wir noch einmal zusammen auf den Dachboden.« Selma lächelte verträumt. »Ich habe da noch eine große Kiste mit Erinnerungsstücken an meine Zeit als Erzieherin. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr davon das eine oder andere gebrauchen könntet.«
Leonie keuchte ein wenig. »Wir sagen jetzt schon danke schön.«
* * *
»Was ist nun, wird es zu der Auszahlung kommen?« Franz-Ferdinand hatte den Notar abgepasst, gerade als er zusammen mit seiner Tochter die Garderobe von Maria verlassen hatte.
»Nun machen sie mal langsam, mein junger Freund.« Herr Schrumm war der aufdringliche Verwandte des Barons sehr unangenehm. »Erst einmal muss Frau Beller noch tanzen.«
»Das ist doch sicher nur noch eine Formsache, oder?« Franz-Ferdinand verdrehte die Augen. »Oh, Frau Schrumm.« Er begrüßte die Tochter des Notars. »Wo haben sie denn heute ihren schicken Rock gelassen?«
Sonja vermied es, an sich herunter zu blicken. Den Minirock mit der dunklen Strumpfhose trug sie nur im Büro, wenn sie wieder einmal die Urlaubsvertretung machte. Ihr Vater hatte sie dazu aber nicht aufgefordert, stattdessen hatte sie es im Fernsehen bei einer dieser amerikanischen Anwaltsserien gesehen, und sie liebte es, auf diese Weise ihre Wirkung auf Männer auszutesten. In ihrer Freizeit lief sie viel lieber in bequemen Jeans herum, und dazu trug sie auch viel lieber ihre Turnschuhe statt der High Heels.
Schließlich realisierte sie, dass der Neffe des Barons noch auf eine Antwort wartete. Sie beschloss, auf die Frage überhaupt nicht einzugehen. Stattdessen zuckte sie nur kurz mit den Schultern.
»Würden sie ihn anziehen, wenn ich sie in die goldene Traube einlade?« Wieder versuchte Franz-Ferdinand, mit ihr anzubandeln.
»Vielleicht.« Sonja war die Nähe wirklich unangenehm. »Ich muss den Bericht noch schreiben.« Sie tat so, als würde sie sich von ihrem Vater verabschieden.
'Dann eben nicht', murmelte Franz-Ferdinand und gab sich Mühe, keine Anzeichen von Enttäuschung zu zeigen. Denn eigentlich verfolgte er einen viel wichtigeren Plan, mit dem er sich und vor allem seinen Onkel retten konnte. Er blickte dem Notar und seiner Tochter hinterher.
Er fragte sich, ob es nicht sinnvoller war, Maria gleich nach dem Tanz zu entführen. Doch er verwarf den Gedanken sofort wieder. Auf dem Ball würde es viel zu viele Zeugen geben, und bei dem Fototermin am Sonntag hätte er viel bessere Möglichkeiten. Außerdem waren er und Maria dann schon im Schloss, und die geplante Entführung würde er schnell hinter sich bringen können.
* * *
»So, hier ist es.« Andrea war mit ihrer Freundin in den Garderobengang gegangen und stand jetzt vor der Tür der Solistengarderobe.
»Willst du den Handschuh nicht wieder ablegen?« Uschi war verwundert. »Du trägst ihn doch schon ziemlich lange.«
»Dieses Interview noch.« Andrea schüttelte den Kopf. »Noch hat er nicht gemerkt, dass ich ihn damit nur ablenken wollte. Kannst du mir bei dem Interview helfen?«
»Was soll ich denn machen?« Uschi war es nicht gewöhnt, ihre Freundin auf diese Weise begleiten zu müssen.
»Du musst mir nur das Diktiergerät anschalten, wenn wir in der Garderobe sind und sie es erlaubt haben.« Andrea wollte ihr mühsam aufgebautes Vertrauen nicht unnötig verspielen.
»Und was erhoffst du dir davon?« Uschi war sich nicht sicher, was sie von dem Plan ihrer Freundin halten sollte.
»Ich möchte einfach die Stimmung aufnehmen.« Andrea hat sich wieder auf ihre Absicht besonnen. »Ich möchte noch einen Bericht über das Fest schreiben. Jetzt klopfe bitte.« Es war sehr ungewohnt für sie, auf ihre Arme verzichten zu müssen.
Ihre Freundin kam der Bitte nach. Gleich darauf wurden sie von Marias Mutter herein gebeten.
»Ich wollte fragen, ob Maria noch Zeit für ein kurzes Interview hat.« Andrea trug ihr Anliegen vor.
Frederike blickte auf die Uhr. »Aber nur noch zehn Minuten, dann müssen wir uns fertig machen.«
Maria drehte sich um. Sofort erkannte sie Andreas besondere Haltung. »Warum tragen sie einen Monohandschuh?«
Andrea war sichtlich verlegen. »Sieht man das sofort?« Sie lachte verlegen. »Ich dachte, mit dem Tuch kann ich das tarnen.«
»Ich erkenne es auch nur an den gekreuzten Riemen über der Brust.« Maria lächelte. »Und an der veränderten Haltung.«
»Schade.« Andrea lachte wieder. »Echt schade.«
»Warum tragen sie ihn?« Frederike wiederholte die Frage ihrer Tochter.
Andrea spürte sofort, dass sie die Wahrheit sagen musste. »Ich wollte Hans ablenken, damit er sich nicht heimlich in eure Garderobe schleicht, um Fotos von dem Venuskorsett zu machen.«
»Warum denn das?« Frederike war mehr als verwundert.
»Er ist sehr heiß darauf, davon ein Foto machen zu dürfen und es zu verwerten.« Andrea war es sichtlich unangenehm, dieses Thema zu erörtern.
»Wir haben doch schon einen Termin vereinbart.« Frederike war verwundert.
»Er ist aber sehr ungeduldig.« Andrea wurde rot. »Und damit er nichts davon merkt, trage ich ihn noch. Ich will es mir nicht mit ihm verderben.«
»Hat es denn funktioniert?« Frederike begriff, welches Opfer die Reporterin für sie erbracht hatte.
»Ja.« Andrea war zumindest in dieser Hinsicht erleichtert. »Er hing an mir wie eine Klette und wurde fast zudringlich. Das Korsett war vergessen.«
Maria erkannte jetzt auch, welches Opfer Andrea ganz selbstlos für sie gebracht hatte. Sie äußerte dies.
»Naja, ganz selbstlos war es nicht.« Andrea lächelte. »Ich wollte schon immer mal so einen Handschuh tragen.« Ihre Stimme wurde etwas leiser. »Und es ist sehr aufregend.«
»Sie sollten sich einen Keuschheitsgürtel dazu besorgen.« Mrs. Potter mischte sich ein. »Der erlaubt ein sehr viel sichereres Auftreten.«
Maria erkannte auf einmal, dass ihre Erfahrung gefragt war. »Nehmen sie ruhig ein teures Modell. Und es muss unbedingt eine Maßanfertigung sein. Nur dann lässt sich der Gürtel wirklich lange tragen.«
»Und sie müssen sich natürlich überlegen, wem sie den Schlüssel anvertrauen wollen«, ergänzte Frederike.
Andrea blickte zu Uschi. »Hans ganz bestimmt nicht.«
Uschi musste lachen. »Wir wird er wohl reagieren, wenn er es feststellt?«
Andrea verzog das Gesicht.
»Wie lange tragen sie den Handschuh jetzt?« Mrs. Potter war sehr aufmerksam.
»Ich glaube, eine halbe Stunde.« Andrea gab zu, dass sie nicht auf die Uhr gesehen hatte.
»Dann sollten sie in ihrem eigenen Interesse jetzt damit aufhören oder zumindest eine Gymnastikpause machen.« Mrs. Potter gab sich sehr viel Mühe, trotz der Ermahnung positiv zu klingen. »Es kann sonst zu Muskelzerrungen kommen.«
Andrea schluckte einmal, dann blickte sie sich zu Uschi um. »Läßt du mich bitte heraus?« Sie drehte sich mit dem Rücken zu ihrer Freundin. »Ich bin eigentlich wegen eines Interviews gekommen. Aber das mit dem Handschuh und der Gesundheit ist auch wichtig.«
Ein Gong ermahnte die Teilnehmer an den baldigen Beginn des Balles.
* * *
»Gibt es noch irgendetwas zu besprechen, bevor das Spiel beginnt?« Robert Greinert hatte die anderen Vorstandsmitglieder und den Bürgermeister zu sich gebeten.
Renate blickte in ihre Unterlegen. »Doris, die Schmiedstochter.« Ihre Stimme zitterte.
»Sie spielt die erste Dienerin.« Robert blickte Renate an. »Was ist mit ihr?«
»Es ist etwas seltsam.« Renate holte tief Luft. »Auf dem Ball trägt die Dienerin der Katerina keine Fesseln, am Sonntag in der Kirche schon.« Der Schmuck von Doris war Renate zwar aufgefallen, aber sie hatte seine fesselnden Eigenschaften nicht erkannt.
»Es reicht, wenn sie in der Kirche gefangen ist. Das entscheide ich jetzt einfach so.« Er seufzte. »Dieses Mal ist soo anders als das letzte Mal. Ein ganz neues Fest.«
Renate lächelte. »Naja, es ist aber auch eine Sensation, dass Maria in der Lage ist, die Originalhaltung zu tragen.«
»Schon.« Robert gab ihr recht. »Und ihre vielen Gästen bringen das Fest auch ordentlich durcheinander.« Er seufzte erneut.
»Auf jeden Fall waren die Sponsoren zufrieden und von Maria und ihrem Gebet sehr angetan.« Herr Schulte berichtete von den Nachbesprechungen, die er jeweils geführt hatte. »Von zweien haben wir sogar noch einen extra Betrag bekommen. Wir können dieses Mal etwas großzügiger sein.«
»Na immerhin.« Robert überreichte dem Bürgermeister die Liste mit den Ehrengästen. »Vor allem die Fünf hier solltest du noch einmal begrüßen.«
* * *
Schon den ganzen Tag war Sophie in Gedanken bei dem Ball, der heute über ihr im Schloss stattfinden würde. Von der Verlegung des Balles in die Stadthalle wusste sie nichts, auch weil der kleine Privatsender, den sie als einziges empfangen konnte, darüber nichts berichtet hatte. Im Gegenteil, sie wunderte sich eher, dass von den vielen Leuten, die jetzt sicher im Schloss waren, keine Geräusche zu ihr in den Keller kamen.
Hatte sie vorher noch erwogen, sich bemerkbar zu machen, war sie diesbezüglich jetzt entmutigt. Wenn sie die Leute nicht hörte, dann würden diese sie auch nicht hören.
Außerdem, so musste sie es sich eingestehen, hatte sie Angst vor der Welt da draussen. Ob sie ihr ihre Wandlung schon abnehmen würden, daran hatte sie große Zweifel. Die Schmach und die Demütigungen, die sicher auf sie warten würden, wollte sie sich noch ersparen.
Vor allem ihrem Vater wollte sie nicht begegnen, aber auch auf eine Begegnung mit Franz-Ferdinand oder Michael konnte sie verzichten. Sie beschloss, ihre wenigen Kräfte für andere wichtigere Sachen aufzuheben.
Vor sieben Jahren war die Welt noch in Ordnung gewesen. Damals hatte auch sie der Katerina zugejubelt, und wie jedes Mädchen in ihrem Alter hatte sie sich danach gesehnt, einmal selbst die Katerina spielen zu dürfen.
Sie war damals in dem Alter, welches für die Auswahl der Katerina in Frage kam, und es war für sie noch eine Überraschung, für die Rolle ausgewählt zu werden. Erst später kam ihre Arroganz dazu und ihre Meinung, dass sie als Baroness ein Anrecht auf diese Rolle hatte und dass sie nur zu Recht ausgewählt wurde. Heute konnte sie über ihre Anmaßung nur noch lachen.
Sie hätte liebend gern mit dem Handschuhtraining angefangen, doch ihre Mutter hatte ihr davon abgeraten, weil sie sich noch in der Phase der körperlichen Entwicklung befand. Aus diesem Grund wurde in der Regel erst ein Jahr vor dem Fest damit begonnen.
Doch das Problem stellte sich jetzt nicht mehr, Maria würde die Rolle spielen, und obwohl Sophie sie nur einmal erlebt hatte, war sie sich sicher, dass sie die Rolle mit Bravour spielen würde. Und Sophie empfand auch keinerlei Neid.
Immer wieder blickte sie zu dem Buch, welches ihr in der letzten Zeit so viel Trost gespendet hatte, sie gleichzeitig aber auch daran erinnerte, dass sie für ihre vielen Sünden zu büßen hatte.
Sie grübelte auch oft über die Gründe nach, die ihr Vater wohl gehabt haben musste, um sie auf so drastische Weise aus dem Verkehr zu ziehen. Natürlich war ihr klar, dass er damit das Fest retten musste, und sie musste sich eingestehen, dass dies auch wirklich nötig war.
Sie hatte jetzt lange genug darüber nachdenken können. Ohne ihren Unfall, oder was auch immer es gewesen war, wäre sie bei ihrer arroganten, ignoranten, selbstverliebten und verwöhnten Art geblieben. Sie war sogar kurz davor gewesen, mit Drogen anzufangen. Sie hätte das Fest ruiniert, darüber war sie sich jetzt sicher.
Vor ihr lagen die beiden Briefe, die sie schreiben wollte und zu denen sie sich immer wieder Notizen machte. Einer der Briefe war für Michael, bei dem sie sich vor allem dafür bedanken wollte, dass er ihr ihre Würde wiedergegeben hatte. Ohne ihn würde sie vermutlich immer noch auf der stickigen Bettwäsche liegen und mit verfilzten Haaren auf das Nichts warten, das sie erwartete.
Der andere Brief war für Maria. Es sollte ein besonderer Brief werden, deswegen wollte sie ihn morgen Vormittag schreiben, wenn die Katerina vor dem Altar stand. Darüber hatte der kleine Privatsender sie informiert. Natürlich hatte Maria ihr die Rolle weggenommen, aber andererseits war sie die Einzige, die sie jemals im Krankenhaus besucht hatte, und dafür wollte sie sich bedanken.
* * *
»Bitte nehmen sie hier Platz.« Robert Greinert hatte Karl, Rosalie und die vier Brasilianer in die Ehrenloge gebracht und ihnen dort die Plätze angeboten. »Von hier hat man den besten Blick auf die Bühne.«
»Wir sagen 'Dankeschön'.« Karl wartete, bis Rosalie sich gesetzt hatte, dann nahm er ebenfalls Platz. Er blickte sich um. Neben ihnen hatten die vier Gäste auf Südamerika Platz genommen und der Zuschauerraum unter ihnen füllte sich zusehends. Doch der Bühnenvorhang war noch zugezogen.
»Ihre Freundin ist bestimmt aufgeregt.« Karl versuchte ein wenig Smalltalk.
»Oh ja«, Rosalie nickte. »Immerhin fiebert sie schon seit einigen Monaten auf diesen Tag hin.«
»Wenn ich richtig informiert bin, dann sollte ja eigentlich jemand anders die Rolle spielen?« Karl nutzte die Zeit, um noch ein paar Wissenslücken aufzufüllen.
»Ja, die Baroness von Harsumstal.« Rosalie lächelte. »Sie wurde bald nach dem letzten Fest ausgewählt.«
»Aber dann hatte sie den Unfall?« Karl gab wieder, was er schon wusste.
»Ja, und man weiß im Moment auch nicht, wo sie sich befindet.« Rosalie berichtete davon, dass ihr Vater der Baron verhaftet wurde.
»Damit war das Spiel ja ziemlich in Gefahr.« Karl lehnte sich zurück.
»Ja, so könnte man das sehen.« Rosalie lächelte wieder. »Aber Maria ist ja eingesprungen.« Sie blickte noch einmal zur Bühne, doch noch tat sich dort nichts.
* * *
»Warum hast du denn den Handschuh schon wieder abgelegt?« Hans war über seine Freundin sowohl erfreut als auch enttäuscht.
»Marias Mutter hat mir dazu geraten.« Andrea wusste, dass sie an dieser Stelle sogar die Wahrheit sagen konnte.
»Warum denn dass?« Hans war seine Stimmung anzuhören.
»Es kann leicht zu Muskelzerrungen kommen, wenn man ihn am Beginn gleich zu lange trägt.« Andrea erkannte immer mehr, wie groß das Opfer war, welches sie für Maria gebracht hatte. Und sie wusste auch, dass es genauso ungeschickt wäre, sie hierfür um Dankbarkeit zu bitten.
»Du denkst darüber nach, den Handschuh öfters zu tragen?« Hans glaubte, bei seiner Freundin zwischen den Zeilen etwas Atemberaubendes gelesen zu haben.
»Jetzt mache uns schöne Fotos vom Theater.« Andrea vermied es, auf diese spezielle Fragen zu antworten. Doch als sie erkannte, dass Hans nicht locker lassen würde, fügte sie ein leises 'Ja, es ist sehr aufregend' hinzu.
* * *
Kaum war der Klang des Gongs verklungen, als sich der Vorhang öffnete und das Orchester mit der feierlichen Fanfare begann.
Dominiert wurde das Bühnenbild durch den großen Baldachin, der den Thron symbolisierte und dessen zwei reichlich verzierte Stühle sofort erkennen ließen, dass dort der Herzog mit seiner Frau sitzen würde.
Auf der bemalten Leinwand hinter dem Thron waren neben diversen Barock-Schmuckelementen auch ein paar Fenster aufgemalt und ließen scheinbar einen Blick in die Ferne zu.
Auf der vom Zuschauerraum aus gesehen auf der rechten Seite saßen die Musiker des Blasorchesters, die mit der feierlichen Fanfare für die richtige Stimmung sorgten. Zu sehen war zwar nur die erste Reihe der Musiker, trotzdem passten die historischen Uniformen der Musiker sehr gut in das Bühnenbild.
Auf der gegenüberliegenden Seite hatten die Barock-Pfeiffer Platz genommen und warteten auf ihren Auftritt. Fritz hatte sich gerade noch mit dem Dirigenten des Orchesters über einige Details ausgetauscht.
Anna vermied es, ins Publikum zu blicken. Sie hielt ihren Blick fest auf die Noten des ersten Stückes gerichtet, und genauso widerstand sie der Versuchung, den Blick von Florian zu suchen, der einer der vorderen Reihen saß.
Von Links betrat nun das Herzogspaar mit seinem Gefolge die Bühne. Sie gingen erst vor zum Bühnenrand, um sich zu verbeugen, um sich dann unter dem Applaus des Publikums um den Thron zu versammeln. Erst als die Musik verklungen war, nahmen Herzog und Herzogin auf den beiden Stühlen Platz. Paul stand gleich neben dem Herzog und blickte tief beeindruckt auf den vollen Saal.
Maria und Doris saßen noch außer Sichtweite des Publikums neben dem Bühneneingang und warteten auf ihren Auftritt. Sie trugen die gleichen Ketten wie gestern bei der 'Heimkehr von der Schlacht' und blickten fasziniert auf die Dekoration, die von der Seite gesehen gar nicht wie ein Thronsaal aussah.
Doris strahlte bis über beide Ohren, weil sie unerwartet noch einmal ihre Ketten vorführen durfte. Sie hatte dies erst vor kurzem erfahren, und Theo war extra noch einmal zur Schmiede gegangen, um sie zu holen.
Und ihre Rolle war einfach. Sie musste nur im ersten Bild neben der Katerina vor dem Thron stehen. Einen Text hatte sie nicht. Trotzdem war sie sehr glücklich, und Renate musste sie immer wieder an das traurige Gesicht erinnern, dass die Rolle eigentlich verlangte.
* * *
Als erstes trat der Bürgermeister an das Rednerpult, welches vorn links auf der Bühne aufgestellt war. Er wartete ab, bis der Applaus verklungen war, dann begann er mit seiner Rede.
»Ich freue mich außerordentlich, dass wir dieses Fest in der neuen Stadthalle feiern können. Dafür schon einmal ein herzliches Dankeschön an Alle, die das möglich gemacht haben.« Er blickte sich um. »Es sieht wirklich aus, wie in einem Thronsaal.« Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen.
»Des Weiteren möchte ich der ebenfalls neu gegründeten Theatergruppe danken, die den Ball dieses Jahr in etwas ganz besonders Festliches verwandeln. Und natürlich sind wir auch sehr dankbar, dass unsere beiden Musikgruppen sich bereit erklärt haben, das Fest wieder mit ihrer feierlichen Musik zu unterstützen, um ihm so den richtigen Rahmen zu geben.«
Wieder wartete er den Applaus ab. »Im Umgang mit Superlativen sollte man vorsichtig sein, denn sie nutzen sich schnell ab. Doch ich glaube, diesen Abend werden wir wirklich etwas ganz Außergewöhnliches zu sehen bekommen. Es hat sich schnell herum gesprochen, dass Maria Beller dieses Jahr die Originalhaltung tragen wird, und dafür wollen wir ihr vorab schon recht herzlich danken.«
Tosender Applaus brannte auf. Es war so stark, dass Renate sich genötigt sah, Maria einmal vor zum Bühnenrand zu schicken.
Erst jetzt, als Maria sah, dass das Publikum sogar aufgestanden war, begann sie zu ahnen, wie außergewöhnlich das Kunststück war, dass sie nun beherrschte, und es entschädigte für die Qualen, die sie auf dem Weg dahin in all den Jahren erlitten hatte.
»Es ist schon bekannt?« Karl Kollar war verwundert. »Ich dachte, das sollte geheim bleiben.«
»Seid der Generalprobe weiß es jeder. Landsbach ist in der Beziehung nur ein Dorf.« Rosalie lächelte. »So etwas geht rum wie nix.«
* * *
Nach dem Bürgermeister trat Robert Greinert an das Pult und begrüßte die Ehrengäste, die zahlreich erschienen waren.
Als sie ihren Namen hörte, zwang sich Maria, der Rede zuzuhören. Er begrüßte gerade ihre persönlichen Gäste, die eine außergewöhnlich weite Anreise hinter sich hatten. »Rosalie Dörtling ist mit ihren Eltern vor einiger Zeit nach Australien ausgewandert, trotzdem hat sie es nicht nehmen lassen, ihre beste Freundin bei ihrem Fest zu besuchen.«
Applaus setzte ein und Rosalie stand auf, als Herr Greinert deutlich sichtbar auf die Ehrentribüne blickte.
»Während ihres Aufenthaltes in Amerika hat Maria vier Brasilianer kennengelernt, und auch sie wollten bei unserem Fest unbedingt dabei sein.«
Betty sah, wie Sarah mit Hilfe von Juan aufstand, um sich ein wenig zu verbeugen, zumindest so weit, wie es das strenge Kleid erlaubte. Noch bevor sie sich zu Bertram umdrehen konnte, hatte sie dieser genauso angefasst und ihr beim Aufstehen geholfen. Sie war eigentlich noch dabei, sich über die Überrumpelung zu ärgern, doch dann erkannte sie, wie gut die Herren auf sie als hilflose Frauen aufpassten und sich um sie kümmerten.
Rosalie wandte sich an ihren Nachbarn. »Und sie, Herr Kollar?«
»Ich habe darum gebeten, nicht erwähnt zu werden.« Karl lächelte. »Schließlich habe ich keine solche Beziehung zu der Hauptdarstellerin.«
»Ich freue mich auch sehr, dass wir dieses Fest in der neuen Stadthalle feiern dürfen und möchte auch noch allen danken, die mitgeholfen haben, die Bühne in einen Thronsaal zu verwandeln.« Robert Greinert faltete seinen Zettel zusammen. »Und nun möchte ich an Herrn Kleinert übergeben, der als Moderator durch den weiteren Abend führen wird.«
* * *
Nachdem Herr Kleinert sich vorgestellt hatte, gab er einen kurzen Überblick über die historischen Ereignisse, die zu dem Fest geführt hatten. »Über die Wurzeln unseres Festes gibt es verschiedene Meinungen. Fest steht, dass es irgendwann im dreizehnten Jahrhundert eine Auseinandersetzung zwischen dem Herzog Franz von Schönborn und dem Grafen von Greiffenclau gegeben hatte, bei der der Graf verloren hatte.«
Er drehte sich zur Bühe und gab dem Bühnenpersonal das verabredete Zeichen, gleich darauf schloss sich der Vorhang.
»Was sich damals ereignet haben könnte, dass möchte ihnen jetzt unsere engagierte Theatergruppe vorführen.« Er ging zu dem Stuhl, der rechts vor dem Vorhang aufgestellt war und mit einem Scheinwerfer beleuchtet war und nahm darauf Platz. Es entstand der durchaus gewollte Eindruck einer Märchenstunde mit Erzähler.
* * *
»Ah, hier sind sie.« Robert Greinert war sichtlich nervös, als er Andrea und Hans gegenüber trat. »Es tut mir leid, dass ich sie so überrumpeln muss, aber wir haben einen ganz wichtigen Punkt in unseren Vorbereitungen übersehen.«
»Und der wäre?« Wie üblich übernahm Andrea das Reden. Sie war schon froh, dass ihr Freund, der Fotograf überhaupt mitgekommen war. Er würde wesentlich mehr Erfolg haben, wenn er an seiner Umwelt und den Mitmenschen etwas mehr Interesse zeigen würde.
»Wir haben uns überlegt, dass wir über Maria und ihren besonderen Auftritt einen Bildband in Auftrag geben möchten.« Robert holte tief Luft. »Und dafür brauchen wir viele Fotos vom Fest, von Maria und besonders natürlich von dem Gebet, und wenn sie es uns erlaubt, auch von dem besonderen Korsett, welches sie trägt.«
»Sie meinen von dem Venuskorsett?« Andrea hatte natürlich sofort die Möglichkeiten erkannt, die sich damit boten, und sie stellte die Frage nur, um unauffällig auch den Ehrgeiz ihres Freundes zu wecken.
»Ja, genau das.« Robert lächelte verlegen. »Viel dafür zahlen können wir aber nicht.« Robert hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als Hans schon seine Kamera zur Hand genommen hatte und sich nach einem guten Platz für die Aufnahmen umblickte.
»Was bedeutet 'nicht viel'? Andrea musste sich wie üblich um die finanziellen Aspekte kümmern.
Robert nannte die Summe, die sie im Vorstand gerade noch verabredet hatten.
Andrea reichte ihm die Hand. »Damit sind wir einverstanden.« Es waren immerhin gut drei Monatsgehälter, wenn man ihre beiden Einkünfte zusammenrechnete.
* * *
»Wir befinden uns im Thronsaal der herzoglichen Burg. Der Herzog berät sich mit seinen Ministern über die zurückliegende Schlacht. Wie es damals üblich war, wurde die Tochter des Grafen, die Comtess Katerina von Greiffenclau als Geisel mit in die herzögliche Burg geholt, um so den Frieden abzusichern.« Herr Kleinert ließ seinen Zettel sinken und gab das Zeichen. Der Vorhang öffnete sich.
»Nun, mein lieber Kriegsminister? Seid ihr mit dem Ausgang der Schlacht zufrieden?« Der Herzog blickte den uniformierten Herrn zu seiner Rechten an.
»Ja, Hoheit.« Der Minister verbeugte sich. »Die neuen Waffen haben sich bewährt.«
»Sie waren auch teuer genug.« Der Herr zu seiner Linken meldete sich zu Wort. »Verzeiht Hoheit, aber das Geld hätte man auch sinnvoller ausgeben können.«
»Das ist halt Politik, mein lieber Finanzminister.« Der Herzog ließ den Einwand nicht gelten. »Ich konnte mir die Eskapaden diees Grafen nicht mehr länger gefallen lassen.«
»Und wer soll sich jetzt um die Geisel kümmern?« Der Kriegsminister blickte aus dem Fenster auf den Hof. »Meine Truppen warten auf mich. Wohin sollen wir die Geisel bringen?«
»Ich werde sie meinem Sohn übergeben. Dann kann er auch mal etwas Nützliches tun.« Er wandte sich an den dritten Herrn, der etwas abseits stand und durch seine einfach Kleidung als Diener zu erkennen war. »Holen sie bitte meinen Sohn. Er ist sicher auf dem neuen Armbrustschießstand.«
Der Diener verbeugte sich, dann verließ er den Raum.
Kurz darauf kam der Prinz mit zackigen Schritten in den Saal. Er verbeugte sich kurz vor dem Herzog, dann lächelte er. »Vater, ihr habt mich rufen lassen?«
Der Herzog schien noch einmal kurz zu überlegen. »Ich muss das Reich verlassen, um mit dem Grafen einen guten Frieden auszuhandeln. Du wirst dich um die Geisel, die Comtess Katerina kümmern, ich vertraue sie dir an.«
Der Prinz verdrehte die Augen.
»Ich weiß schon, ihr wollt lieber mit der Armbrust herumtollen und auf die Jagd gehen. Aber jetzt werdet ihr die Geisel in der Stadt bekannt machen. Je mehr Leute sie kennen und davon wissen, desto besser ist das für unsere Zukunft.«
Der Prinz wollte etwas antworten, doch der Herzog schnitt ihm das Wort ab. »Bringt die Comtess herein.«
Gleich darauf betrat die Comtess Katerina zusammen mit ihrer Dienerin den Thronsaal. Beide trugen die Ketten, die sie deutlich als Gefangene kennzeichneten. Sie machten trotzdem einen stolzen und selbstbewussten Eindruck.
Der Herzog wandte sich an die Geisel. »Meine liebe Comtess Katerina von Greiffenclau. Ich werde jetzt euren Vater aufsuchen, um ihm den Frieden zu diktieren. Ich hoffe, ihr werdet euch bei uns wohlfühlen.«
Die Comtess hob einmal ihre Ketten und sagte stolz »So wohl man sich als Gefangene in Ketten fühlen kann. Wollt ihr mir nicht den Respekt erweisen, mir und meiner Dienerin die Ketten abzunehmen?«
»Das kann ich leider nicht tun, werte Comtess, denn um das Ende der Feindseligkeiten und unseren Sieg zu proklamieren, muss ich euch als Unterworfene zeigen.« Der Herzog machte eine Handbewegung in Richtung des Prinzen. »Mein Sohn wird sich um euch kümmern und euch bei uns im Reich vorstellen. Doch mein Sohn wird sich um euch kümmern und euch bei uns im Reich vorstellen. Er wird suchen, euch eure Rolle so wenig unangenehm wie möglich zu machen.«
Der Vorhang schloss sich und die Musik der Barock-Pfeiffer ertönte.
* * *
»Die Comtess wurde zunächst bei den Zünften vorgestellt.« Herr Kleinert las von seinem Zettel vor. »Das haben wir gestern auf dem Marktplatz gesehen.«
Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Nach den Handwerkern wurde die Katerina auch bei den Honoratioren der Stadt vorgestellt. Schauen wir nun, was sich damals bei den reichen Kaufleuten abgespielt haben könnte.«
Wieder öffnete sich der Vorhang und zeigte einen Herrn, der an einem großen Schreibtisch saß und der offensichtlich mit dem Zählen von Geld beschäftigt war.
Es klopfte.
»Tretet ein.« Der Herr blickte auf. »Was gibt es, Johann?«
»Der Herzog schickt seinen Sohn herum und lässt überall die neue Geisel bekannt machen.« Der Diener blickte kurz aus dem Fenster.
»Geisel?« Der Kaufmann wunderte sich.
»Er hat doch den Krieg geführt gegen den Grafen von Greiffenclau geführt, und dessen Tochter ist jetzt bei uns.« Der Diener informierte über den unfreiwilligen Gast des Herrschers.
»Ach ja, der Graf.« Der Kaufmann nickte verständnig. »Er hat einmal auch einen Handelszug von mir überfallen. Es ist gut, dass er jetzt zur Ordnung gerufen wurde.«
»Der Krieg ist beendet und der Sieger hat sich zur Absicherung des Friedens die Tochter als Geisel mit in die Stadt genommen.« Der Diener zeigte auf die Tür. »Jetzt möchte er sie überall bekannt machen.«
»Dann lasst sie eintreten.« Der Herzog stand auf.
Der Diener drehte sich zur Tür und ging hinaus. Gleich war seine Stimme zu hören. »Der Herzog bittet in Gestalt seines Sohnes um eure Aufmerksamkeit.« Er ließ den Prinz und Comtess eintreten.
»Nun, Hoheit, was führt euch zu mir?« Der Kaufmann blickte gespannt auf den Vertreter des Herzogs.
»Darf ich euch die Comtess Katerina von Greiffenclau vorstelllen? Sie ist für einige Zeit Gast bei uns.«
»Eine sehr reizende Begleitung habt ihr.« Er kam von seinem Schreibtisch nach vorn und gab der Comtess einen Handkuss.
Wieder schloss sich der Vorhang und die Musik ertönte.
* * *
»Die ständige Nähe zwischen Prinz und Comtess bewirkte, dass sie sich immer näher kamen, und der Herzog war zunächst auch von der Entwicklung sehr positiv angetan, denn die Armbrust und die wilden Freunde des Prinzen waren vergessen.« Herr Kleinert las vor. »Doch Tratsch und Gerüchte gab es damals schon.« Er ließ das Buch sinken und blickte auf die Bühne, wo sich der Vorhang wieder öffnete.
»Nun, mein lieber Minister, ihr habt um eine Audienz gebeten?« Der Herzog saß mit zufriedener Miene auf dem Thron und empfing seinen Haushofmeister.
»Hoheit, seit einigen Tagen gibt es gewisse Gerüchte in der Stadt.« Er war deutlich zu sehen, dass der Haushofmeister verlegen war.
»Die Friedensverhandlungen laufen gut. Die Comtess wird doch hoffentlich gut behandelt?« Der Herzog blickte auf. »Welche Gerüchte?«
»Euer Sohn kümmert sich sehr gut um die Geisel, doch die ständige Nähe tut ihnen nicht gut.« Der Minister druckste etwas herum.
»Redet bitte Klartext.« Der Herzog horchte auf. »Was ist los mit den beiden?«
»Man hat sie schon mehrfach Hand in Hand spazieren gehen sehen.« Der Minister begann zu schwitzten. »Eine Dienerin behauptet, sie hätte sogar schon einen Kuss beobachtet.«
»Ich möchte keine familiäre Verbindung zu den Greiffenclaus.« Die Miene des Herzogs verdunkelte sich. »Habt ihr einen Vorschlag, was man machen könnte, um das zu unterbinden?«
»In zwei Wochen ist der Ball, auf den ohnehin alle hinfiebern.« Er machte eine bewusste Pause. »Wie wäre es, wenn euer Sohn auf diesem Ball seine Verlobung bekannt gibt?«
»Und wie wollt ihr verhindern, dass er sich die Geisel als Braut aussucht?« Dem Herzog schien der Vorschlag mit der Verlobung zu gefallen. »Wegen ihres Ranges kann ich sie nicht vom Ball ausschließen.«
»Aber ihr könntet verhindern, dass sie in der Lage ist, den Verlobungstanz zu tanzen.« Ein vorsichtiges Lächeln erschien auf dem Gesicht des Ministers.
»Wie wollt ihr das erreichen?« Der Herzog klang interessiert.
»Ich habe eine mir sehr ergebene Schneiderin, die mir entsprechende Vorschläge unterbreitet hat. Einer davon ist das 'Gebet auf dem Rücken'.« Er grinste. »Den Tanz ohne die Arme tanzen zu müssen, dürfte so gut wie unmöglich sein.«
»Ich verlasse mich auf euch. Macht bitte alles, was ihr für richtig haltet.« Er machte eine winkende Handbewegung. »Ich möchte meinen Sohn sprechen.« sagte er zu der Dienerin, die näher gekommen war.
»Vater, ihr wolltet mich sprechen?« Der Prinz trat vor den Thron.
»Mein Sohn, ich habe gewisse Gerüchte über euch und die Katerina gehört.« Er holte tief Luft. »Sie ist unsere Geisel und muss entsprechend behandelt werden.«
»Jawohl, Vater.« Der Prinz verbeugte sich.
»Versprecht ihr mir, dass ihr keine Gefühle für sie hegt?« Der Herzog gab sich energisch.
Doch der Sohn blieb das Versprechen schuldig. »Verzeiht Vater, aber die Pflicht ruft mich.« Mit stolzer Miene verließ er die Bühne.
»Der Herzog war gegen die Verbindung, und so mussten die beiden Verliebten eine Lösung finden, mit der sie glücklich werden und sich vor allem gegen die bösen Intrigen des Vaters stellen konnten.« Herr Kleinert ließ sein Buch sinken, der Vorhang schloss sich und wieder ertönte die Musik.
* * *
»Es war ein grausames Schicksal, welches auf die Comtess in Form der besonderen Armhaltung wartete.« Herr Kleinert blickte wieder in sein Buch. »Doch eine Dienerin hatte Mitleid mit der Geisel.«
Der Vorhang öffnete sich und zeigte ein kleines rundes Zimmer, in dem nur ein Sofa stand. Der Blick aus dem Fenster ließ vermuten, dass es das oberste Zimmer eines Turmes war. Der Prinz saß auf dem Sofa und hielt die Comtess im Arm. Sie schwiegen.
Es waren Schritte auf einer Treppe zu hören, dann ein Klopfen. Nach dem Herein betrat eine etwas atemlose Dienerin das kleine Turmzimmer. »Verzeiht Hoheit, wenn ich euch störe, aber ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen.« Die Dienerin keuchte deutich hörbar.
Der Prinz blickte sich etwas missmutig um. Es war sehr ungebührlich vom Personal, die Herrschaften zu stören. Seine Miene zeigte dies deutlich. »Was gibt es denn?«
»Der Ball in zwei Wochen.« Die Dienerin keuchte immer noch. »Euer Vater möchte, dass ihr euch verlobt.«
»Das wissen wir.« Der Prinz war genervt. »Deswegen seid ihr doch nicht heraufgekommen, oder?«
»Er hat mich ausgewählt, der Comtess das Gebet auf dem Rücken anzulegen.« Ihre Stimme wurde lauter. »Und eine Schneiderin wird ein dazu passende Kleid nähen.« Sie drehte sich um und versuchte, mit ihren Armen die Haltung anzudeuten, die der Herzog ausgewählt hatte. Doch gerademal ihre Handflächen berührten sich.
Es war für einige Zeit still im Zimmer.
»Danke für die Botschaft.« Der Prinz machte eine Handbewegung. »Ihr könnt dann gehen.«
Die Dienerin machte einen Knicks, dann verließ sie das Zimmer. Gleich darauf waren ihre Schritte auf der Treppe des Turmes zu hören.
Die Comtess blickte den Prinzen mit Tränen in den Augen an. »Was machen wir jetzt?«
Der Vorhang schloß sich.
* * *
»Dank der Dienerin konnte sich das Paar auf die Intrige vorbereiten. Sie haben jede freie Minute genutzt, um sich auf die so grausame Armhaltung vorzubereiten und den Verlobungstanz ohne Arme zu üben.« Herr Kleinert ließ sein Buch kurz sinken und blickte ins Publikum. »In der damaligen Zeit gab es noch nicht viel Schriftverkehr und nur ganz wenige Sachen wurden mit einer Urkunde fixiert. So ein Verlobungstanz hatte damals etwas sehr Verbindliches. Es wurde wie ein Vertrag angesehen und durch die anderen anwesenden Adeligen bezeugt.«
Der Vorhang öffnete sich und gab den Blick frei auf die Gemächer der Comtess. Neben dem Bett stand eine Puppe und trug ein ärmelloses Kleid.
»Das ist also das Kleid, das die Katerina tragen wird?« Der Herzog stand neben der Puppe und begutachtete das Kleid.
»So ist es, Hoheit.« Die Schneiderin trat hinzu und erläuterte ihre Arbeit. »Man wird die Arme überhaupt nicht mehr sehen können, und sie hat trotzdem die von euch so gern gesehene schmale Taille.«
»Eine sehr gute Arbeit.« Der Herzog war beeindruckt. »Ich werde mich bei euch erkenntlich zeigen.«
Gemeinsam verließen sie das Zimmer.
»Kommt herein und bringt die Geisel mit, Ehrwürdiger Vater.« Die Dienerin betrat das Zimmer der Katerina und blickte sich um.
Ein Mönch kam herein, und hinter ihm betrat die Katerina den Raum. Es war deutlich zu sehen, dass sie geweint hatte.
»Ich danke euch, Vater, dass ihr mir die traurige Pflicht abnehmen wollt.« Die Dienerin blickte zu dem kleinen Kreuz, welches an der Wand hing.
»Es war richtig von euch, mit euren Sorgen zu mir zu kommen.« Der Mönch blickte zwischen der Comtess und der Dienerin hin und her.
Die Comtess schluchzte.
»Es ist eine grausame Haltung, zu der ihr gezwungen werdet.« Die Dienerin blickte die Comtess mitleidig an.
»Macht sie bitte bereit.« Der Mönch griff in die Tasche seiner Kutte und holte einige Riemen heraus.
Die Dienerin trat an die Katerina heran und nahm ihr das Tuch von den Schultern.
Der Mönch trat zu ihr und ergriff ihre Arme.
Die Comtess ließ kleine Schmerzensschreie von sich hören, als der Mönch ihre Arme langsam auf dem Rücken nach oben zog.
Maria stand mit dem Rücken zum Zuschauerraum, so dass das Publikum freien Blick auf ihre Arme hatte. Je näher sich ihre Ellenbogen auf dem Rücken näherten, desto leise wurde es im Publikum. Alle starrten wie gebannt auf die grausame Prozedur, und Maria konnte sich darauf konzentrieren, möglichst glaubwürdig zu jammern.
Erst als Paul alle Riemen befestigt hatte und gemäß seiner Rolle zurücktrat, brannte auf einmal tosender Applaus auf und der Vorhang schloss sich.
Der Applaus war so stark, dass sich der Vorhang gleich darauf noch einmal öffnete, und eine diesmal strahlende Maria trat vor das Publikum. Sie drehte sich noch einmal um ihre eigene Achse und genoss dabei die vielen Jubelrufe.
Beim zweiten Vorhang traten auch die anderen Schauspieler dazu und Herr Kleinert kündigte die Pause an.
* * *
Nach der fulminanten Schlussszene war Maria zusammen mit den anderen Darstellern gleich wieder auf dem Weg in die Garderobe. Renate hatte dazu geraten, sich nicht unter das Publikum zu mischen, um die Spannung des Stückes halten zu können.
»Da wären wir.« Paul hielt die Tür zum Garderobengang der Stadthalle auf. »Wir werden schon erwartet.«
Notar Schrumm stand im Gang und blätterte in einer Mappe. Neben ihm stand seine Tochter Sonja und blickte fast etwas gelangweilt auf die Gruppe, die sich auf dem Weg in die Solistengarderobe befand.
»Sonja Schrumm? Was machst du denn hier?« Rosalie blieb vor Erstaunen stehen.
»Rosalie? Rosalie Dörtling?« Sonjas Miene wandelte sich zunächst in Erstaunen. »Wir haben uns ja eine Ewigkeit lang nicht gesehen. Was machst du hier?«
»Ich begleite Maria bei ihrem Fest.« Rosalie war sehr erfreut, ihre alte Schulfreundin wiederzusehen.
»Ich störe die Wiedersehensfreude ja nur sehr ungern, aber wir haben einen wichtigen Auftrag zu erledigen.« Notar Schrumm begrüßte die Anwesenden. »Könnt ihr euch bitte nach dem Fest verabreden?«
Sonja wurde etwas rot. »Das machen wir.«
Gemeinsam betraten sie die Garderobe. Dort wartete schon die Schneiderin zusammen mit ihrer Tochter. Das Ballkleid war auf einer Schneiderpuppe drapiert, und sowohl Judith als auch Frau Bartels blickten sehr erwartungsvoll auf Maria.
Maria wartete, bis Paul sie von den Riemen befreit hatte, dann begann sie sich ihr Kostüm auszuziehen.
»Aber das ist ja ein Keuschheitsgürtel.« Judith war sehr verwundert, als Marias stählerne Unterwäsche zum Vorschein kam. »Warum musst du so etwas tragen?«
Maria erkannte sofort, das sie direkt antworten musste. Sie legte ihre Bluse beiseite und ging auf Judith zu. »Das ist sogar ein Keuschheitsensemble.« Sie legte ihren Hände demonstrativ auf die beiden Halbkugeln, die ihre Brüste abschirmten. »Das gibt mir Schutz.«
Judith war immer noch sprachlos. »Warum... Und wer?«
»Maria ist mit dem Gebet sehr hilflos.« Paul hatte das Gefühl, dass er eingreifen beziehungsweise seiner Freundin helfen musste. »So sind wir sicher, dass sie keiner ungebührlich berühren kann.«
»Und die Schlüssel?« Judith hatte die verschiedenen kleinen Vorhängeschlösser entdeckt. »Wer hat die?«
»Es wäre ja nicht gut, wenn Maria die selbst bei sich tragen würde.« Paul hatte sich schon ein paar Antworten bereit gelegt. »Die Schlüssel habe ich.«
»Und du bist ihr Freund.« Judith war immer noch sehr verwundert.
»Können wir dann weitermachen?« Roswita ließ ihre Tochter zwar gern ihre Entdeckungen machen, doch jetzt galt es noch einen anderen Auftrag zu verfolgen.
Auch Notar Schrumm hatte sich zunächst höflich weggedreht, doch jetzt hatte er das Gefühl, dass es nicht weiter verletzend sein würde, wenn er Maria in der Stahlunterwäsche zu Gesicht bekam. »Es sieht aus wie ein etwas größerer Bikini«, flüsterte er zu seiner Tochter, die ihrerseits Marias Dessous sehr interessiert musterte.
»Wie lange tragen sie das?« Sonja war sichtlich fasziniert.
»In den letzten Tagen eigentlich rund um die Uhr.« Es war Marias etwas unangenehm, wegen ihrer Unterwäsche so im Mittelpunkt zu stehen. Sie selbst hatte den Stahl schon lange als etwas ganz Normales akzeptiert, auch weil er sie nur geringfügig behinderte und vor allem, weil er sich sehr gut tragen ließ. »Können wir dann mit den Stiefeln weiter machen?« Sie klang ein wenig genervt.
»Natürlich.« Sonja trat wieder zurück und blickte zu Paul, der die Stiefel schon in die Hand genommen hatte.
»Das sind also Marias Ballettstiefel?« Herr Schrumm trat hervor und sah sehr interessiert zu, wie Paul Maria langsam und sorgfältig die Stiefel anzog.
Paul schluckte ein wenig, als er sah, dass Sonja ihm jeweils ein Schloss reichte. »Wo sind die Schlüssel?«
»Die liegen bei mir im Tresor.« Herr Schrumm lächelte ein wenig verlegen.
»Aber Maria ist doch ohnehin völlig hilflos. Sie kann sich die Stiefel doch gar nicht ausziehen.« Es war Paul anzuhören, dass er über das Anliegen leicht empört war.
»Aber sie könnte dich bitten, ihr die Stiefel auszuziehen.« Frederike lächelte. »Und du würdest es auch machen.«
»Ja, das stimmt.« Paul schluckte einmal, dann lächelte er verlegen. »Aber warum ist es denn so wichtig?«
»Darf ich euch das später erklären?« Frederike wartete ab, bis Paul die beiden Stiefel verschlossen hatte, dann reichte sie ihm die Riemen für das Gebet.
»Ich finde es erstaunlich, dass man die Stiefel überhaupt absperren kann.« Judith war verwundert. »Warum eigentlich?«
»Es geht um eine juristisch sichere Nachweisbarkeit.« Die Tochter des Notars klang auf einmal sehr wichtig. »Es geht um viel...« Sie hielt inne, denn sie merkte, dass sie fast etwas verraten hätte, was noch geheim bleiben sollte. »Es geht um eine ganz wichtige Sache.« Sie lächelte etwas verlegen.
»Obwohl ich es schon einmal gesehen habe, bin ich doch sehr erstaunt.« Notar Schrumm war näher getreten und bestaunte Marias Armhaltung, als Paul mit den vier Riemen für das Gebet fertig war. »Sie sind eine außergewöhnliche Frau.«
»Danke.« Maria bedankte sich höflich. »Ich habe es auch lange geübt.«
Frederike reichte Paul das Venuskorsett. »Bitte mach weiter.«
»Also schummeln ist damit nicht mehr möglich.« Rosalie war näher getreten und sah zu, wie Marias Arme nach und nach unter dem Korsettstoff verschwanden. »Was ist, wenn du dich jetzt kratzen musst, weil es juckt?«
»Dann bitte ich Paul, mich dort zu kratzen.« Maria lächelte verträumt. »Manchmal muss ich ihn nur ansehen und er weiß, was mich gerade bewegt.«
»Ich habe einen Kurs 'Von den Augen ablesen' belegt.« Paul lachte. »Das Geld war es wirklich wert.«
»Das ist das Kleid, welches Frau Beller gleich tragen wird?« Herr Schrumm war an die Schneiderpuppe herangetreten und hatte die Arbeit der Schneiderin begutachtet.
»So ist es.« Roswita trat hinzu. »Es ist eine Maßanfertigung.«
»Verständlich.« Herr Schrumm ließ ein kurzes Lächeln sehen, dann wurde er wieder ernst. »Wie wird das Kleid geschlossen?«
»Maria hat sich vorn einen Reißverschluss gewünscht. Dafür ist das Kleid hochgeschlossen gearbeitet.« Roswita führte den Verschluss vor.
Herr Schrumm begutachtete den Verschluss so genau, dass seine Tochter aufmerksam wurde. »Was schaust du denn da so aufmerksam?«
»Das mit dem Versiegeln wird aber schwierig.« Herr Schrumm zeigte auf die Mappe, die er auf den Schminktisch gelegt hatte.
Sonja sah ihn verwundert an. »Ist das wirklich notwendig?«
»Es gibt einen geheimen Zusatz zu dem Testament, und in dem werden ganz genaue Vorgaben gemacht.« Herr Schrumm sprach leise.
»Meinst du nicht, dass du ihrem Wort vertrauen kannst?« Sonja fühlte, dass sie Maria diese Demütigung ersparen musste. »Notfalls begleite ich sie auf die Toilette.«
Der Notar blickte seine Tochter lange an. Schließlich gab er der Schneiderin ein Zeichen. »Beginnen sie mit dem Kleid.«
Sonja war sichtlich erleichtert.
»Warum soll das Kleid denn versiegelt werden? Und was hat es mit diesem Testament auf sich?« Mrs. Potter hatte bisher nur zugesehen, wie Maria langsam in das Kleid gesteckt wurde. Sie stand neben Frederike und hatte nur geflüstert.
Marias Mutter lächelte, dann beugte sie sich zu ihr hinüber und flüsterte ihr ebenfalls etwas ins Ohr.
»Das ist natürlich ein guter Grund für alles.« Es war Marias Erzieherin anzusehen, wie sehr sie von der Information beeindruckt war.
»Bist du fertig, mein Schatz?« Frederike blickte zu ihrer Tochter. Zu ihrer Erleichterung schien sie von der Erwähnung des Testaments nichts mitbekommen zu haben. Zumindest hatte sie diesbezüglich keine Regung gezeigt.
»Von mir aus kann der Ball jetzt los gehen.« Maria blickte in den großen Spiegel über dem Schminktisch. »Es sieht toll aus.« Sie drehte sich ein wenig.
»Warte einen Moment.« Paul erkannte sofort, dass der Standspiegel auf Rollen jetzt wieder gute Dienste leisten konnte.
Doch Julia war schon dabei, den Spiegel hinter Maria zu rollen. »Bitte schön.«
»Danke.« Paul und Maria bedankten sich bei der so aufmerksamen Schneiderstochter.
* * *
Gerade hatte der Gong zum zweiten Mal geläutet. Damit wurden alle Darsteller daran erinnert, dass es nur noch fünf Minuten waren, bis der zweite Teil und damit der Ball beginnen würde.
Renate ging zu den einzelnen Garderoben, klopfte an und bat die Beteiligten, sich bereit zu machen.
Die Katerina und die Darstellerinnen der anderen Edeldamen führte sie an den Bühnenrand, wo einige vom Publikum aus nicht sichtbare Stühle standen. »Es dauert noch einen Moment, bis ihr dran seid, und so lange könnt ihr euch hier noch setzen, wenn ihr möchtet.« Dabei blieb ihr Blick immer wieder an Maria hängen. »Ich bewundere dich, dass du in solchen Stiefeln laufen kannst.«
Maria lächelte ihre Betreuerin an. »Es ist einfacher als es aussieht.«
»Ich finde diese Stiefel auch sehr faszinierend.« Amelie saß neben ihr und blickte gebannt auf Marias Stiefel, von denen jetzt etwas mehr zu sehen war. »Wenn ich sie trage, bin ich sehr unbeholfen.«
»Alles eine Frage der Übung.« Maria lächelte ein wenig verlegen, weil sie nicht wusste, wie viel sie von sich erzählen konnte.
Auch Sonja, die Tochter des Notars, stand mit ihrem Vater hinter der Bühne. Sie sagte zwar nichts, doch ihrem Blick war zu entnehmen, wie sehr sie von Marias Leistungen beeindruckt war.
»War es schwer, dich von den Ketten zu trennen?« Maria blickte auf Doris, die gerade neben ihr Platz genommen hatte. »Du trägst jetzt ja nur normalen Schmuck.«
»Er hat ihn mir geschenkt.« Doris lächelte sehr glücklich, doch auf einmal stutzte sie. »Wenn es nicht einmal dir auffällt?«
»Was sollte mir auffallen?« Maria blickte auf die Armbänder, die Doris' Handgelenke schmückten.
»Ich bin genauso gefesselt wie sonst auch.« Ihre Stimme wurde leiser. »Schau mal.« Sie hob ihren rechten Arm. »Es gibt keinen Verschluß, den ich bedienen könnte. Er hat den Schmuck abgeschlossen.«
Jetzt erkannte Maria, dass von dem Armreif eine gleich aussehende Kette von ihrem Handgelenk zu ihrer Taille führte. Jetzt erkannte sie den Sinn des besonderen Schmuckes. »Aber das ist doch nur Spielzeug, oder?«
»Das habe ich auch erst gedacht.« Doris blickte verträumt in Richtung des Publikumsraum. »Aber er hat es aus vergoldetem Titanstahl machen lassen. Sehr robust.«
»Faszinierend.« Maria lächelte.
»Das ist noch nicht das Schönste.« Doris' Augen leuchteten.
Maria blickte die Schmiedetochter nur an.
»Meine Mutter hat nichts dagegen, dass ich dieses Schmuckensemble auch während meiner Hochzeit trage.« Sie strahlte über das ganze Gesicht.
* * *
Claudia Wetzler stand während der Pause bei ihren Eltern. Auch sie hatte trotz ihrer eigenen Leistung als Darstellerin der Dienerin Maria begeistert applaudiert, denn sie war von ihrer Leistung ehrlich beeindruckt.
Außerdem ahnte sie, dass sie seit den ursprünglich so demütigenden Ereignissen vom Vortag auf ihre bisherigen Freundinnen keinerlei Rücksicht mehr zu nehmen hatte.
Denn jetzt fühlte sie sich seltsam befreit, und sie war fest entschlossen, Maria gegenüber wie eine Freundin aufzutreten, auch wenn diese ihr Angebot bisher nicht angenommen hatte.
Sie hatte in der Nacht lange wach gelegen und es war ihr klar geworden, dass sich mehrere Jahre der Demütigung nicht einfach durch eine Entschuldigung wegwischen lassen würden.
Der Auftritt auf dem Marktplatz hatte auch bewirkt, dass Claudia über ihre eigene Zukunft nachgedacht hatte, und es war ihr klar, dass sie sich ändern musste, wenn sie eines Tages einmal die Brauerei ihres Vater wirklich übernehmen sollte.
Der Gong ertönte zum dritten Mal.
* * *
»Der große Tag war gekommen. Heute fand der seit langem angekündigte Ball statt, auf dem der Prinz sich seine Braut aussuchen sollte. Von überall her waren die adeligen Familien eingeladen, die eine oder mehrere Töchter im heiratsfähigen Alter hatten.« Herr Kleinert ließ kurz sein Buch sinken. »Doch der Herzog hatte ein Problem. Er konnte seine Geisel wegen ihre Ranges nicht von dem Ball ausschließen, doch er wollte verhindern, dass sie als Braut in Frage kam.« Er blickte zum Vorhang, der gleich danach aufgezogen wurde.
»Nun, mein lieber Zeremonienmeister, ist alles bereit für den Ball?« Der Herzog blickte von seinem Thron in den noch leeren Saal.
»Es ist alles so vorbereitet, wie Hoheit es sich gewünscht haben.« Er griff zu einer Schriftrolle und schien darin zu lesen. »Die Comtess trägt das Kleid, welches ihre Arme verbirgt, und sie wird auch verschleiert sein. Aber sind Hoheit sicher, dass das ausreicht?«
»Ich kann sie von dem Ball nicht ausschließen.« Der Herzog wirkte nachdenklich. »Außerdem hat mir der Tanzmeister versichert, dass die Tänze ohne Arme nicht zu tanzen sind.«
»Ich habe mir erlaubt, mein Mündel genauso zu kleiden wie die Baroness.« Der Zeremonienmeister grinste verwegen. »Dann besteht auch noch Verwechslungsgefahr.«
»Wenn es hilft, die Verbindung zu verhindern...« Der Herzog zog seine Stirn in Falten. »Ich musste auch ihren Vater eingeladen, und ich möchte auf keinen Fall mit ihm verwandt werden.«
»Das wird nicht passieren, Hoheit. Ganz sicher nicht.« der Zeremonienmeister rollte seine Schriftrolle zusammen und verließ den Thronsaal.
Der Herzog stand vom Thron auf und ging langsam hinter. »Euer Wort in Gottes Ohr.« Er seufzte.
Der Vorhang schloß sich.
* * *
Herr Kleinert wartete den Applaus ab, dann hob er sein Buch wieder hoch. »Alle waren dem Ruf des Herzogs gefolgt, die Töchter waren sehr gespannt auf den Prinzen, und die Eltern hofften, für ihre Töchter eine sehr gute Partie zu bekommen.«
Die Fanfare ertönte und der Vorhang öffnete sich. Mit viel Getöse und Pomp betrat das herzogliche Paar mit seinem Gefolge den Thronsaal, und der Herzog ließ sich auf dem Thron nieder. Als die Musik verklungen war, stand der Herzog auf und hielt seine Rede. Nach der Begrüßung der Gäste gab er bekannt, dass sich sein Sohn heute seine Braut aussuchen würde.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Damen bereit waren, trat der Zeremonienmeister neben den Thron. »Wenn Hoheit es erlauben, möchte ich nun die geladenen Damen vorstellen.« Er wartete die Antwort des Herzogs ab, dann griff er zu einer Papierrolle und begann, daraus vorzulesen.
Nach jedem Namen machte er eine Pause und wartete, bis die entsprechende Edeldame vor den Thron getreten war und einen Knicks gemacht hatte.
»Das sind aber prachtvolle Kleider.« Karl lächelte zu Rosalie. »Ich bin erstaunt über den Aufwand, der hier getrieben wird.«
»Soweit ich weiß, sind es die Mitglieder einer Barock-Tanzgruppe. Die Kostüme sind sozusagen ihre Uniform.« Rosalie gab wieder, was sie wusste. »Ich bin sehr auf Marias Kleid gespannt.«
»Ich auch.« Karl blickte zur Bühne. »Ich bin sehr auf das Gebet gespannt.«
Die Comtess Katerina von Greiffenclau wurde vom Zeremonienmeister als letzte vorgestellt. Kaum hatte sie ihren Knicks beendet, als auf einmal alle Schauspieler innehielten.
Herr Kleinert wartete den Applaus ab, dann las er wieder aus seinem Buch vor. »Die ersten Tänze dienten dem Kennenlernen. Es waren deswegen auch keine Paartänze, sondern eher Formationstänze und Reigen - Frauen und Männer machten Bewegungen und Schritte als Gruppe, und umtanzten sich paarweise, ohne sich zu berühren, oder maximal an ausgestreckten Händen. Nach ein, zwei Drehungen fand immer ein Partnerwechsel zu neuen Gegenübern statt.«
Er machte eine kurze Pause.
»Im Verlauf des Tanzes konnte der Prinz so mit den einzelnen Damen ein paar Worte wechseln und sie so näher kennenlernen. Man erzählte sich allerdings, dass der Herzog die Comtess unter dem Schleier sogar knebeln ließ, damit sie mit dem Prinzen nicht reden konnte.« Er ließ das Buch sinken. »Doch zuvor möchte ich die Comtess einmal bitten, vorn an die Bühne zu kommen und ihr Kleid zu zeigen.«
Maria kam der Bitte nach, und gleich darauf hielt es keinen im Saal mehr auf seinem Sitz. Der Saal tobte, und alle applaudierten im Stehen.
Bedingt dadurch, dass das der Zuschauerraum zirka einen Meter tiefer lag als die Bühne, konnte jeder, der darauf achtete, sehen, dass Maria in ihren Stiefeln auf Zehenspitzen stand. Doch fast alle Blicke richteten sich auf Marias Oberkörper, wo keine Arme zu sehen waren, aber eine sehr schlanke Taille.
Paul stand mit Tränen in den Augen am Rand der Bühne. Er freute sich sehr über Marias Triumph, denn kaum einer wusste so gut wie er, wie sehr sich Maria bisher für diese Leistung geschunden und gequält hatte.
Der Moderator bedankte sich noch einmal für diesen so beeindruckenden Auftritt. »Wir werden dann im Spiel weiter machen.«
»Warum trägst sie eigentlich diese merkwürdigen Stiefel?« Auch Karl war Marias seltsame Haltung aufgefallen.
»Sie hat mir dazu nichts gesagt.« Rosalie zuckte mit den Schultern. »Aber ich weiß, dass sie es durchaus gewohnt ist, auf diesen Ballett-Stiefeln zu laufen.« Rosalie berichtete, was sie von den Telefonaten mit ihrer Freundin erfahren hatte.
»Das ist aber schon heftig.« Karl kratze sich am Kopf. »Die Arme in dieser seltsamen Haltung und die Stiefel. Kann sie denn damit überhaupt tanzen?«
»Sie kann.« Rosalie grinste. »Sie kann es.«
Nach dem letzten der Kennenlerntänze erhob sich der Herzog und wartete, bis Ruhe eingekehrt war. »Nun, mein Sohn, wer soll denn nun eure Braut werden? Wen werdet ihr zum Tanz bitten?« Er blickte auffordernd zu seinem Sohn.
Der Prinz schritt langsam, aber sehr würdevoll durch den Thronsaal, vorbei an fast allen Damen, bis er vor einer verschleierten Dame stand. Er verbeugte sich tief, dann sprach er mit ruhiger Stimme. »Holde Dame, darf ich euch um diesen Tanz bitten?«
Die Katerina machte einen Knicks, dann hielt sie und mit ihr auch alle anderen Darsteller in ihrer Bewegung inne.
»Jetzt wird es spannend.« Herr Schrumm blickte abwechselnd zu Maria und zu seiner Tochter, die neben ihm stand.
»Hast du etwa Zweifel?« Sonja grinste.
»Nein, natürlich nicht.« Der Notar lächelte ebenfalls. »Aber es geht immerhin um acht Millionen D-Mark, die zur Auszahlung kommen könnten.«
»Stimmt, da wäre ich auch nervös.« Sonja lächelte und blickte zu Maria. »Ich bin überrascht, dass sie so ruhig ist.«
»Sie weiß noch nichts von dem Geld.« Herr Schrumm blickte kurz in seiner Unterlagen, die er dabei hatte. »Frau Beller hat mich darum gebeten, ihrer Tochter noch nichts zu sagen.«
»In der damaligen Zeit war so ein Verlobungstanz durchaus verbindlich.« Herr Kleinert las wieder aus seinem Buch vor. »Es waren genügend adlige Zeugen anwesend, auf die sich die Familie im Zweifel berufen konnte. Es gab damals noch nicht so viel Schriftliches.«
Er machte eine Pause.
»In diesem Moment zeigte sich aber auch ein Fehler in den Plänen des Herzogs. Dadurch, dass die ausgewählte Dame verschleiert war, konnte keiner sehen, wen der Prinz sich wirklich ausgesucht hatte. Und wenn der Herzog dazwischen gegangen wäre, hätte er sein Gesicht verloren.« Er blickte wieder auf die Bühne.
Die Musik setzte ein und der Prinz begann mit seiner Dame zu tanzen. Es sah wunderschön aus, und dass die Katerina keine Arme hatte, fiel überhaupt nicht auf.
Der Herzog und auch der Zeremonienmeister standen mit versteinerter Miene am Thron und mussten zusehen, wie der Prinz diesen so wichtigen Tanz tanzte, ohne das sie es verhindern konnten.
»Schade, das es heute so viel strenger geregelt ist.« Rosalie seufzte, als sie ihre Freundin mit dem Prinzen tanzen sah.
»Was meinen sie mit strenger?« Karl war nicht ganz klar, was Rosalie gerade bewegte.
»Es wäre doch schön, wenn sie mit dem Tanz auch gleich juristisch verbunden wären.« Rosalie hatte ein Strahlen im Gesicht. »Heute muss man ja erst auf das Standesamt.«
»Ach ja, die beiden Darsteller sind ja auch im echten Leben ein Paar.« Karl war sich bei seinen bisherigen Beobachtungen nicht so ganz sicher gewesen.
»Morgen stehen sie ja sogar vor dem Altar.« Rosalie grinste. »Deswegen bin ich eigentlich gekommen.«
Mit einem triumphierenden Lächeln trat der Prinz nach dem Tanz vor den Thron. Neben ihm stand die Comtess, die immer noch den Schleier trug.
»Nein, ihr werdet diese Dame nicht heiraten.« Der Herzog war aufgebracht.
»Vater, darf ich euch an eure eigenen Worte erinnern?« Der Prinz blieb bewusst ruhig. »Ich sollte mir meine Braut aussuchen, und das habe ich gemacht.« Er blickte sich um. »Und es gibt genügend Zeugen für beides.«
Der Herzog erkannte, dass er gute Miene zum bösen Spiel machen musste. »Nehmt eurer Braut den Schleier ab.«
Hilflos musste der Herzog mitansehen, wie sein Sohn der Comtess Katerina von Greiffenclau den Verlobungskuss gab.
Der Vorhang schloss sich und es setzte tosender Applaus ein.
»Kommst du kurz mit?« Herr Schrumm blickte seine Tochter verzückt an.
»Was ist denn?« Es war Sonja anzumerken, dass sie ihrem Vater nur ungern folgte.
»Ich möchte Marias Leistung beglaubigen, und du musst als Zeugin mit unterschreiben.« Er zeigte seine Papiere vor.
»Ja, das ist wichtig.« Sonja seufzte.
* * *
»Nach dieser wundervollen Darbietung möchten wir uns bei ihnen bedanken.« Der Bürgermeister persönlich hatte wieder zum Mikrofon gegriffen und bat das Prinzenpaar zu sich. »Sie haben unser Fest mit einem ganz besonderen Glanz versehen, der sicher noch lange durch unser kleines Städtchen strahlen wird.«
Maria und Paul waren immer noch überwältigt von dem jubelnden Applaus, der gleich nach ihrem Tanz ertönt war. Etwas verlegen traten sie dem Bürgermeister gegenüber.
»Die Sponsoren haben zusammengelegt und möchten ihnen für die kommende Zeit als Katerinenpaar ein kleines Auto ihrer Wahl schenken.« Herr Herinrich überreichte ihnen einen symbolischen Umschlag. »Und falls sie noch keinen Führerschein haben sollten - dieser ist im Geschenk mit inbegriffen.«
»Das ist sehr freundlich.« Paul stotterte ein wenig vor Überraschung. Er legte seinen Arm um Maria. »Wir bedanken uns recht herzlich.«
»Kein Grund zur Bescheidenheit.« Herr Steinhagen trat hinzu und reichte Paul die Hand, dann legte er Maria die Hand auf die Schulter. »So eine außergewöhnliche Leistung muss belohnt werden.«
Ursprünglich war die Idee mit dem Auto von Herrn Wetzler gekommen, und Claudia hatte die Idee zum Führerschein noch mit eingebracht. Dies ging ihr durch den Kopf, als Paul und Maria von dem besonderen Geschenk erfuhren. Doch Claudia war nicht mutig genug, um deswegen in den Vordergrund zu treten. Dazu war ihr schlechtes Gewissen noch zu groß.
»Auch die Stadt möchte sich bei ihnen bedanken.« Der Bürgermeister blickte kurz zur Ehrenloge. »Herr Kollar hat mich auf den Gedanken gebracht. Wir möchten vor dem Rathaus ein Katerinen-Denkmal errichten, und wir würden uns sehr freuen, wenn sie dafür mit dem Gebet Modell stehen würden.«
Maria begann kurz zu taumeln, bis sie Pauls festen Griff spürte.
»Meine Tochter bedankt sich für die große Ehre.« Frederike war ebenfalls auf die Bühne gekommen. »Als Mutter bin ich sehr stolz auf Maria, und ich habe auch ein kleines Geschenk für sie.«
Maria hatte sich wieder in der Gewalt. Sie blickte neugierig zu ihrer Mutter.
»Im Nachbarort hat eine langjährige Freundin von mir eine Reithalle und viele Pferde. Ihr dürft sie jederzeit besuchen, und wenn Pferde frei sind, auch reiten.« Frederike hatte auch einen Briefumschlag in der Hand, den sie jetzt überreichte. »Es wartet dort aber auch ein kleines Pony namens Wildfire auf euch, wenn euch das gefallen sollte.« Frederike zwinkerte kurz, als sie Marias erschrockenen Blick bemerkte.
»Danke Mama.« Maria war den Tränen nahe.
Paul zog seine Freundin zu sich heran. Er spürte, wie sehr sie von den Geschenken überwältigt war.
»Meine Tochter ist erschöpft und möchte sich kurz zurückziehen.« Frederike wartete die Antwort nicht ab, sie führte Paul und Maria hinter die Bühne und bot Maria einen Stuhl an.
»Danke, das tut gut.« Maria war immer noch überwältigt.
»Ich möchte ihnen die Stiefel ausziehen.« Sonja stand auf einmal vor ihnen und hielt einen Schlüssel in der Hand.
»Oh, die wollte ich aber noch weiter tragen!« Maria blickte auf und erkannte die Tochter des Notars. Sie lächelte verlegen. »Aber es wäre nett, wenn sie mir die Schlösser öffnen könnten.«
»Ich bin überrascht.« Sonja kniete sich vor Maria. »Ich bin immer froh, wenn ich endlich meine High Heels ausziehen kann.«
Maria blickte sich verlegen um. Sie wollte sich erst vergewissern, wer in Hörweite stand. »Ich freue mich seit einem Vierteljahr auf diesen Abend und habe mir vorgenommen, das Gebet so lange wie möglich zu tragen.«
»Aber diese Mörderstiefel?« Sonja öffnete die Schlösser und nahm sie ab.
»Auch die bin ich seit Jahren gewöhnt.« Sie wurde etwas rot bei dem Satz. »Es macht mir wirklich nichts aus.«
»Sie sind eine faszinierende Frau.« Sonja erhob sich wieder.
»Ich bitte um Erlaubnis, die Comtess Katerina von Greifenklau um einen Tanz bitten zu dürfen.« Paul verbeugte sich sehr formvollendet vor Maria. Er mochte diese recht gestelzt wirkenden Formulierungen aus den Sissi-Filmen, und jetzt fand er die Gelegenheit sehr passend. Es gehörte zwar nicht zum Spiel, aber in diesem Moment konnten sie auch nicht gehört werden.
»Eure Bitte sei gewährt.« Maria lächelte.
Sonntag, 26. September 1984 - Festwochenende
»War es schön gestern?« Selma lächelte, als Leonie und Holger pünktlich um sieben Uhr die Treppe herunter kamen. »Dorothea und ich sind ja gleich nach dem Ball nach Hause gegangen.«
»Ein Traum«, schwärmte Leonie. »Vielen Dank, dass sie uns das ermöglicht haben.«
»Immer wieder gern.« Selma lächelte. »Aber jetzt müssen wir uns beeilen. Soviel Zeit ist nicht mehr bis zum Gottesdienst. Ich freue mich, dass ihr helfen wollt.«
Den letzten Teil ihrer Gedanken hatte sie nicht ausgesprochen. Holger erkannte trotzdem, was ihre Gastgeberin bewegte. »Wir waren uns einig, dass wir zu müde waren, um noch etwas zu unternehmen. Wir haben uns nur noch erzählt, wie wir uns diese Nacht vorgestellt hatten.« Er folgte Selma in die Küche.
»Wir haben uns bei den Ideen gut ergänzt.« Leonie ging zum Schrank mit dem Geschirr und öffnete ihn. »Den Käfig wollen wir nur für kurze Zeiträume einsetzen, weil er sonst eher unbequem ist.«
»Unbequem ist aber kein Kriterium.« Selma öffnete den Kühlschrank und holte die vorgesehenen Lebensmittel heraus. »Aber ich glaube, ich weiß, was ihr meint. Körperliche Unversehrtheit ist wichtig. Es darf nicht zu Schäden kommen, erst recht nicht zu dauerhaften..«
Holger kümmerte sich um das Besteck. »Ich hatte die Idee eines längeren Käfigs, der vor dem Bett stehen würde.«
»Und ich träume von einem Käfig, der von oben auf mein Bett herabgelassen werden kann.« Leonie lächelte verträumt. »Dann kannst du mich noch streicheln, wenn ich im Käfig bin.«
»Ja, das könnte schön werden.« Holger legte das Besteck auf das das Tablett mit dem Geschirr und trug es ins Esszimmer.
»Wie seid ihr mit dem Kleid zurecht gekommen?« Selma war ehrlich neugierig.
»Es war wunderschön.« Leonie bedankte sich überschwänglich für das Kleid. »Es ist ein Traum, so hilflos zu sein.«
»Viele haben mir dir getanzt und nur wenige haben wirklich gemerkt, was wirklich mit dir los war.« Holgers Stimme zeigte, wie fasziniert er von dem Abend war.
»Meinst du?« Leonie blickte ihn verwundert an. »Dass mein einer Arm nicht beweglich war, war doch ziemlich offensichtlich.«
»Naja, wie auch immer.« Holger lächelte. »Es war ein sehr schöner Abend. Vielen Dank dafür.«
* * *
Auf Anraten der 'Erwachsenen' hatte Paul und Maria die Nacht jeweils in ihrem eigenen Bett verbracht. Um so mehr freuten sie sich, als sie sich am Morgen wiedersahen, als Maria zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Erzieherin zu Pauls Oma zum gemeinsamen Frühstück kam.
»Es war wirklich schön gestern.« Maria schwärmte. »Wie bei Sissi auf ihren ersten Ball.«
»Du warst wirklich toll.« Paul schwärmte. »Alle haben dich bewundert.«
»Jetzt kommt erst einmal herein.« Selma bat ihren Besuch ins Haus. »Schön, dass ihr gekommen seid.«
Der Tisch im Esszimmer war schon festlich gedeckt. »Anna und Leonie haben mir geholfen.« Selma bat ihre Gäste, sich einen Platz zu suchen. »Und die Männer holen frische Brötchen und Brot.«
Paul setzte sich neben Maria und blickte sie verliebt an. »Ich wusste erst nicht, was mit dir los war, als wir tanzten, doch dann hatte ich es begriffen.«
»Ja, es hat gut getan.« Maria lächelte. »Es fing an, weh zu tun, und damit hat Mama es so schön verlängert. Danach habe ich es noch jeweils eine Stunde länger ausgehalten.«
»Du warst auch sehr tapfer.« Frederike lächelte ihre Tochter an.
»Es hat aber auch Spaß gemacht. Alle haben mich bewundert und angestarrt.« Doch dann seufzte sie. »Und heute noch mal.«
»Das Gebet wollen alle sehen.« Selma lächelte ebenfalls. »Du wirst noch für Jahre das Stadtgespräch sein.«
»Meint ihr?« Maria wurde auf einmal etwas nachdenklich. »Das wäre mir eigentlich gar nicht recht.«
»Du stehst jetzt vor Claudia Wetzler und auch vor der Baroness.« Selma erinnerte Maria an die Personen, die in der Vergangenheit für Maria eine mehr oder weniger wichtige Rolle spielten.
»Meinst du wirklich?« Maria gab sich bescheiden. »Das wäre mir gar nicht so wichtig.«
»Komm, die Früchte darfst du wirklich ernten und genießen.« Paul verschluckte den Rest seiner Gedanken. Er wollte Maria jetzt nicht an die endlosen Qualen erinnern, die sie sich angetan hatte, um dieses Ziel erreichen zu können.
»Judith war glücklich, dass du soviel mit ihr getanzt hast.« Maria versuchte vorsichtig einen Themenwechsel.
»Sie war ja so süß.« Paul lächelte verträumt. »Sie träumt davon, beim nächsten Fest die Katerina spielen zu dürfen.«
»Welches Mädchen träumt nicht davon?« Selma seufzte. »Im richtigen Alter wäre sie ja, um ausgewählt zu werden.«
Es klingelte. Paul ging zur Haustür und ließ Rosalie sowie die Brötchenholer herein und führte alle ins Esszimmer. Selma reichte Paul die beiden Brotkörbe und wartete, bis die Herren nach dem Füllen der Körbe sich gesetzt hatten. »Jetzt greift zu. Es ist genug von allem da.«
Rosalie blickte Maria verwundert an. »Du bist so ruhig. Schließlich heiratest du heute.«
»Es ist ja nicht die richtige Hochzeit.« Maria zuckte nur mit den Schultern. »Wo ist eigentlich dein Freund Karl?«
»Er ist lediglich meine Flugbekanntschaft.« Rosalie verdrehte die Augen. »Er kommt direkt zum Gottesdienst. Er sagte, er müsse seine Notizen sichten.«
Ich habe ihn gestern auf dem Ball auch nicht gesehen.« Maria war ein wenig verwundert.
»Er hat sich bald nach dem Theaterspiel verabschiedet.« Rosalie lächelte. »Er sagte, dass er die Tänze nicht so mag.«
* * *
»Das war ein schönes Wochenende.« Leonhard öffnete den Koffer und begann, ihre Habseligkeiten wieder hinein zu packen.
Amelie ließ es sich nicht nehmen, ihren Schlafsack selbst einzurollen, nachdem sie ihn von innen mit einem Handtuch ausgewischt hatte. »Es war wundervoll, darin zu schlafen.«
»Du siehst damit auch sehr schön aus.« Leonhard lächelte. »Und so wunderschön hilflos.«
»Das bin ich auch.« Sie lächelte. »Und ich liebe es.« Doch dann verzog sie das Gesicht. »Nur den Knebel hätte es nicht gebraucht. Ich hätte gern noch etwas mit dir gesprochen.«
»Ich war hundemüde... und wollte meine Ruhe haben.« Er lächelte verlegen. »Ich habe ihn dir auch gleich heraus genommen, nachdem du eingeschlafen warst.«
»Du bist extra noch wach geblieben deswegen?« Amelie war verwundert.
»Es ist schön, dich dann zu beobachten.« Seine Stimme klang ein wenig verliebt.
»Ich bin ja heute auf die Hochzeit gespannt.« Amelie blickte verträumt aus dem Fenster. »Bleiben wir noch bis zum Mittagessen?«
Leonhard blickte auf die Uhr. »Können wir schon machen.«
* * *
Doris war es gewöhnt, jede Nacht an das Bett gekettet zu werden, und die vorgesehene Befreiung für den Notfall hatte sie noch nie benutzen müssen. Sie liebte es, bei jeder Bewegung durch das Rasseln der Ketten an ihren Zustand erinnert zu werden. Und natürlich beschränkten die Ketten auch ihre Bewegungsfreiheit und erinnerten sie jederzeit daran, dass sie seit einiger Zeit Theos Gefangene war.
»Guten Morgen, mein Schatz.« Sie blinzelte, als sie das Geräusch der Schlüssel hörte.
Theo erwiderte den Gruß und befreite seine Verlobte vom Bett, um ihr gleich danach das Kettengeschirr anzulegen, welches Doris in der Kirche tragen musste. »Die Pflicht ruft.«
Doch Doris protestierte. »Darf ich mich vorher noch etwas frisch machen und mich anziehen?«
Theo bemerkte seinen Fehler und war etwas verlegen. »Entschuldige, natürlich.«
»Stell dir vor, meiner Mutter hat der Schmuck gefallen, und sie hat nichts dagegen, wenn ich ihn zum Brautkleid trage.« Doris strahlte sehr.
»Das freut mich sehr.« Doch dann verdunkelte sich Theos Gesicht. »Und die Verwandtschaft?«
»Sie sagt, das will sie ihnen beibringen.« Doris lächelte. »Gestern hat es ja auch kaum jemand bemerkt.«
»Stimmt, selbst als ich die Ketten etwas verkürzt hatte, kamen keine Reaktionen.« Theos Stimme zeigte, dass auch er von dem gestrigen Abend sehr beeindruckt war. »Das wird eine schöne Hochzeit.«
»Ja, das wird es.« Doris verschwand ins Bad. Doch dann steckte sie noch einmal kurz den Kopf zur Tür heraus. »Ich liebe dich.«
Theo warf ihr einen Handkuss zu.
* * *
»Da bist du ja endlich, du Schlafmütze.« Sarah saß an Bettys Bett und blickte verliebt auf ihre Partnerin, die sich gerade den Schlaf aus den Augen rieb. »Guten Morgen.«
»Dir auch einen guten Morgen.« Betty blickte sich um und entdeckte die zwei Ballkleider, die am Schrank hingen. »Ich bin gestern wohl gleich eingeschlafen.«
»Das kann man wohl sagen.« Sarah verdrehte die Augen. »Wir hatten ganz schön Mühe, dich aus dem Kleid herauszubekommen.«
»Das Kleid ist aber auch anstrengend.« Betty stöhnte. »Man kann sich darin so gut wie überhaupt nicht mehr bewegen.«
»Wem sagst du das?« Sarah lächelte ein wenig verlegen. »Ich bin halt von klein auf daran gewöhnt.« Sie zögerte. »Vergiss nicht, dass du mir Rache versprochen hast.« Sie blickte die ehemalige Krankenschwester mit einem Schlafzimmerblick an.
»Oh, die Liste ist lang.« Betty richtete sich auf. »Und ich werde dir jeden einzelnen Schritt vergelten.«
Es klopfte. Nach dem 'Herein' ließ Juan seinen Kopf sehen. »Seid ihr bereit für den Gottesdienst?«
»Wir müssen uns noch anziehen.« Sarah stand vom Bett auf und ging zum Schrank. »Ist für heute etwas Besonderes gefordert?«
»Ich dachte, wir ziehen heute alle vier die Uniformen an.« Juan blickte zum Fenster. »Dann fällt es nicht so auf, wenn wir 'richtig' zusammen sitzen.« Unter 'richtig' und 'falsch' verstanden sie schon seid einiger Zeit, ob sie mit ihren echten Partner zusammen waren oder schauspielern mussten. »Wir treffen uns dann beim Frühstück.«
»Ich bin ja schon sehr auf die Braut gespannt«, schwärmte Sarah, als die Tür von Juan wieder geschlossen wurde.
»Ich auch.« Betty seufzte. »Ich auch.«
»Und jetzt raus mit dir aus dem Bett.« Sarah zog ihrer Geliebten die Bettdecke weg.
* * *
»Und was hat sich alles auf dem Ball ereignet?« Selma legte ihr Besteck weg und wischte sich den Mund ab.
»Es waren letztendlich so viele Mädchen, die ohne ihre Arme getanzt haben, dass es fast schon normal wirkte.« Paul gab wieder, was er beobachtet hatte.
»Stimmt, jeder dritte Tanz wurde von den Barock-Pfeiiffern begleitet, und somit waren alle genötigt, sich mit den historischen Tänzen auseinanderzusetzen«, ergänzte Rosalie. »Und bei denen spielten die Arme eine nicht so große Rolle.«
»Du hast toll gespielt, Anna.« Maria blickte zu Florians Frau.
»Naja, die meisten der Stücke kannte ich ja.« Anna winkte bescheiden ab. »Und die anderen haben es mir auch leicht gemacht.«
»Ich wusste gar nicht, dass wir so viel Stücke im Repertoire haben.« Maria lachte.
»Habt ihr auch nicht.« Anna erwiderte das Lachen. »Wir haben vieles mehr als einmal gespielt.«
»Es hat sich kaum jemand getraut, Maria aufzufordern.« Paul grinste. »Ich hatte dich fast für mich allein.«
»Das dürfte auch an diesen mörderischen Stiefeln gelegen haben.« Rosalie lachte. »Ich glaube, die haben sehr abschreckend gewirkt.«
»Herr Steinhagen hat sich getraut.« Maria berichtete, wie vorsichtig der Sparkassendirektor zunächst mit ihr umgegangen war. »Erst als er erkannt hatte, dass ich auf den Stiefeln sicher gehen kann und auch meine Arme zum Balancieren nicht gebraucht habe, ist er etwas mutiger geworden.«
»Ich war gestern sehr stolz auf dich.« Frederike wischte sich ein paar Tränen weg.
»Diese älteren Herren, die mich so aufmerksam beobachtet haben.« Maria blickte ihre Mutter fragend an. »Waren das...« Sie zögerte.
»Ja, mein Schatz, das waren meine Auftraggeber.« Frederike blickte kurz aus dem Fenster. »Sie waren sehr zufrieden mit dir.«
»Amelies Kleid war toll.« Es war Rosalie anzuhören, wie sehr sie von dem Kleid fasziniert war.
»Was war das eigentlich für ein Kleid?« Florian zeigte unerwartet ebenfalls Interesse.
»Es geht auf den Entwurf eines Holländers zurück.« Maria lächelte. »Im Prinzip ist der Rücken des Kleides doppelt gearbeitet und in dem Zwischenraum können die Arme wie in einem Handschuh fixiert werden.«
Anna lächelte. »Ihr habt euch sicher schon die Adresse geben lassen.«
»Das nicht.« Paul lachte. »Aber der Schneider war so nett, ihnen eine Kopie der Entwürfe zukommen zu lassen, und wir haben schon einen Termin mit Frau Bartels ausgemacht.«
»Das dachte ich mir schon, dass ihr euch so eine Gelegenheit nicht entgehen lasst.« Rosalie lachte.
»Franz-Ferdinand hat auch mit mir getanzt.« Maria versuchte einen Themenwechsel. »Er war seltsam gelöst, so als wäre er von eine großen Last befreit.« Sie seufzte. »Mir war irgendwie komisch zumute.«
»Das war aber erst zu vorgerückter Stunde«, ergänzte Paul. »Juan und Sarah hatten sich dann auch getraut, mit ihren Liebsten zu tanzen.«
Rosalie wunderte sich. »Wie das?«
»Ich hatte dir doch davon erzählt. Sarah und Betty als Paar und Juan ebenfalls mit seinem Diener.« Maria wunderte sich ein wenig über ihre Freundin.
»Ach die unglücklichen Königskinder.« Rosalie lächelte. »Stimmt, davon hattest du erzählt.« Dann wurde sie nachdenklich. »Das haben sie aber geschickt verborgen.«
»In ihrer Heimat müssen sie sich verstecken.« Maria gab wieder, was sie von dem Leben der Brasilianer wusste. »Sie sind mittlerweile gut aufeinander eingespielt.«
»Sie sind manchmal sogar Hand in Hand gegangen, ich dachte es, es wären zwei normale Paare.« Aus Rosalie sprach die Bewunderung.
* * *
Es klingelte. Selma stand auf und ging zur Tür. Nach einem kurzen Moment kam sie zurück. »Frau Schrumm ist da und bittet sie, Frau Beller, um ein Gespräch.«
Frederike stand auf und blickte sich fragend um.
»Ich habe sie ins Wohnzimmer geführt.« Selma zeigte auf die entsprechende Tür.
»Frau Schrumm, was kann ich für sie tun?« Frederike ahnte natürlich, was das Anliegen der Notarstochter sein könnte.
»Mein Vater schickt mich, damit ich einen Termin mit ihnen ausmachen kann, an dem wir es bekannt geben.« Sonja holte tief Luft. »Nach dem Mittagessen muss er noch einen dringenden Termin vor Gericht am Montag Morgen vorbereiten.«
»Heute ist Sonntag.« Frederike war ein wenig erstaunt.
»Ein Klient hat eine Frist versäumt und jetzt versucht mein Vater zu retten, was zu retten ist.« Sonja nahm einen Zettel zur Hand. »Er sagt, dass er spätestens gegen sechzehn Uhr hier sein könnte.«
»Okay, das ist in Ordnung.« Frederike lächelte. »Das Geld läuft ja nicht weg.«
»Ach, noch etwas.« Sonja packte den Zettel wieder ein. »Gestern auf dem Ball wollte der Herr von Schleihtal mit mir tanzen. Erst dachte ich, dass er mich anbaggern wollte, doch dann hat er sich auffällig oft nach dem Testament erkundigt und wollte wissen, ob es jetzt zur Auszahlung kommen würde.«
Frederike blickte auf.
»Ich habe ihn nur auf meine Verschwiegenheitspflicht verwiesen und dass er sich direkt an meinen Vater wenden soll.« Es war Sonja anzumerken, wie unangenehm ihr der Kontakt zu dem Neffen des Barons war.
»Komisch.« Frederike war verwundert. »Was geht ihn das an?« Doch dann zögerte sie. »Ich hätte aber auch noch eine Bitte.«
»Und zwar?« Sonja blickte kurz auf ihre Uhr.
»Bitte sagen sie vorher nichts zu meiner Tochter.« Frederike sprach etwas leiser. »Sie soll das Fest ganz unbeschwert zu Ende spielen können.«
»Ja, das würde mich auch belasten. Sie können sich auf uns verlassen.« Sonja reichte Frederike die Hand. »Dann bis heute Nachmittag.«
* * *
Kaum hatte sich Frederike wieder an den Tisch gesetzt, als es erneut klingelte.
Selma ging wieder an die Tür und führte kurz darauf Fritz, den Leiter der Barock-Pfeiffer herein.
»Ich wollte Anna sprechen.« Er hielt einen großen Blumenstrauß in der Hand, den er Anna überreichte. »Als kleines Dankeschön für deinen so guten Einsatz gestern.«
Anna stand recht verlegen und bedankte sich.
»Ich hätte noch ein Anliegen.« Fritz reichte Anna eine Broschüre. »Meine Firma möchte ihr internationales Geschäft ausbauen und sucht jemand mit sehr guten englischen Sprachkenntnissen.«
Anna senkte betrübt den Kopf. »Ich habe aber nichts gelernt und kann auch nichts.«
»Das wissen meine Chefs, aber sie möchten dich trotzdem kennenlernen.« Fritz hatte sich ein paar Argumente zurecht gelegt. »Sie würden dich einarbeiten und du würdest nach einer verlängerten Probezeit vielleicht sogar eine Festanstellung bekommen.«
Anna hob langsam ihren Kopf. »Das wäre sehr schön.« Eine Träne lief über ihre Wange.
»Und jetzt muss ich mich noch entschuldigen. Ich habe gestern vergessen zu sagen, dass wir uns heute schon eine Stunde vorher treffen, damit wir uns die Choräle noch einmal in Ruhe ansehen können.« Fritz blickte etwas verlegen auf den gedeckten Frühstückstisch.
»Ich bin ohnehin schon fertig.« Anna blickte kurz in die Runde, dann stand sie auf und bedankte sich bei Selma für die Gastfreundschaft. »Ich hole nur schnell die Flöte.«
Gleich darauf hörte man sie auf der Treppe.
»Wie geht es Karin?« Selma blickte Fritz fragend an.
»Ein paar Wochen wird sie den Gips noch tragen müssen.« Fritz war das Bedauern deutlich anzuhören. »Und dann wird sie ihre Hand noch einige Zeit lang nicht belasten dürfen.«
»Ja, so etwas dauert lange.« Selma seufzte.
Anna kam etwas atemlos die Treppe herunter. »Wir können los.« Gemeinsam verabschiedeten sie sich.
* * *
Kaum war der Tisch abgeräumt, als es zum dritten Mal klingelte. Diesmal war es die Schneiderin, die zusammen mit ihrer Tochter das Brautkleid für Maria vorbeibrachte.
»Ich weiß nicht, ob es nicht ein großer Fehler war, aber das Kleid hat vorn einen Ausschnitt, der ein Stück oberhalb der Brust frei lässt.« Frau Bartels war sichtlich verlegen. »Ich fand es für ein Brautkleid einfach schöner, auch weil sie dann noch Schmuck tragen kann.«
»Wie haben sie es dann mit dem Reißverschluss gemacht?« Frederike erkannte die Zusammenhänge als Erste.
»Es gibt keinen Reißverschluss«, platzte Judith voller Faszination heraus. »Maria muss in das Kleid eingenäht werden.«
»Es lässt sich jetzt leider nicht mehr ändern.« Frau Bartels war sichtlich verlegen.
»Damit kannst du das Kleid nicht mehr ausziehen.« Paul hatte ebenfalls etwas Besorgnis in der Stimme. »Du musst das Gebet die ganze Zeit tragen, und ich kann es dir auch nicht erleichtern.«
»Doch, kannst du.« Maria fragte sich, wo sie gerade die Coolness hernahm. »Packe bitte die Fernbedienung ein.«
»Gestern hat es sehr gut funktioniert.« Frederike blickte aus dem Fenster.
»Du hast... Du bist...« Rosalie war fassungslos. »Vor allen Leuten?«
»Wenn es nicht einmal dir aufgefallen ist...« Maria grinste, dann wandte sie sich an die Schneiderin. »Also dann, nähen sie mich bitte in das Kleid ein.«
»Man erzählt sich ja, dass Sissi sich auch in ihre Kleider einnähen ließ.« Selma streichelte Maria kurz über den Kopf. »Und die ist ja dein großes Vorbild.«
»Ob ich auch wieder die Stiefel tragen kann?« Maria war etwas nachdenklich. »Gestern ging das ja ganz gut.«
»Aber die schwarzen Stiefel würden unter dem weißen Rock noch mehr auffallen.« Roswita erklärte, dass beide Röcke gleich lang gearbeitet waren. »Wenn sie wenigstens in Weiß wären.«
»Ich glaube, da kann ich helfen. Ich hatte so eine Ahnung.« Frederike griff hinter sich, und mit einem breiten Grinsen stellte sie einen sehr großen Schuhkarton auf den Tisch. »Jetzt mach ihn schon auf.« Sie blickte ihre Tochter ermutigend an.
Marias Hände zitterten ein wenig, als sie den Deckel des Kartons und die erste Lage Seidenpapier entfernte. »Die sind wunderschön.« Sie stand ehrfürchtig vor dem Karton und blickte hinein. Dort lag ein Paar schneeweiße knielange Ballettstiefel aus glänzendem Leder.
»Wir sollten dann mit dem Umziehen beginnen, sonst wird die Zeit knapp.« Die Stimme der Schneiderin zeriss die feierliche Stimmung.
»Rattenscharf.« Judith war hellauf begeistert. »Was müsste ich denn tun, wenn ich solche Stiefel auch tragen möchte?«
»Judith, bitte.« Frau Bartels war ihre eifrige Tochter etwas unangenehm.
»Ballettunterricht ist sehr hilfreich.« Pauls Stimme war ungewohnt trocken.
»Ja, das ist einzusehen.« Judith seufzte. »Dann wird es wohl ein Traum bleiben.«
* * *
»Die Pfarrerin hat bekannt gegeben, dass sie eine der alten Traditionen wieder aufgreifen möchte.« Selma reichte Leonie und Holger eine gepackte Tasche. »Je nachdem, wie mutig ihr seid, könnt ihr das eine oder andere aus der Tasche dafür nutzen.«
»Um welche Tradition geht es?« Holger gab Leonie einen Kuss.
»Bei den früheren Festen war es üblich, dass die jungen Mädchen, die für das nächste Fest als Darstellerin in Frage kommen würden, in diesem Gottesdienst ihre Arme versteckten.« Selma lächelte. »So als wollten sie sich für die nächste Katerina empfehlen.«
»Aber dafür bin ich doch zu alt.« Leonie ahnte noch nicht, was kommen würde.
»Aber auch die Mädchen, die im gleichen Alter wie die Katerina waren, versuchten, in gleicher Weise aufzutreten, so als wollten sie sagen 'Seht her, ich hätte die Katerina auch spielen können'.«
»Das wäre schon eher was.« Holger blickte in die Tasche hinein. »Sie meinen, wir sollten... Im Gottesdienst?«
»Wie ich es schon sagte, es kommt auf euren Mut an.« Selma lächelte. »Die ersten beiden Reihen sind für die jungen Mädchen reserviert, damit sie die Katerina gut sehen können, aber auch, damit sie von der Gemeinde gut gesehen werden können.«
Jetzt riskierte auch Leonie einen Blick in die Tasche. »Das wäre allerdings eine sehr interessante Geschichte.«
»Ich habe euch einen Handschuh mit Reißverschluss eingepackt.« Selma grinste. »Dann fällt es nicht so auf, wenn ihr euch erst in der Kirche entscheidet.«
* * *
Auf einmal war Hufgetrappel vor dem Haus zu hören. Paul blickte aus dem Fenster. »Wir werden anscheinend mit einer Kutsche abgeholt.« Er war beim Ankleiden der Braut dabei gewesen, was ihm zunächst ein Stirnrunzeln von Frau Bartels eingebracht hatte.
Maria und Frederike hatten der Schneiderin sofort erklärt, dass nur Paul das Gebet anlegen durfte, und auch nur er kannte sich mit dem Venuskorsett aus, das Maria wieder über den Armen trug.
Doch dieses Mal war es ein anderes Korsett als gestern, denn es hatte vorn den gleichen Ausschnitt wie das Kleid. Außerdem musste Paul wissen, welche Naht er an dem Kleid zu öffnen hatte, falls er Maria im Notfall zu befreien hatte. Dafür hatte er extra ein kleines Messer eingesteckt. Doch er hoffte, es nicht benutzten zu müssen.
»Maria, ich weiß, wie stolz du auf deine Leistungen und auf das Gebet bist, und das auch zu Recht.« Frederike blickte ihre Tochter ernst an. »Doch heute solltest du dir helfen lassen. Du hast gestern sehr ausführlich gezeigt, wie gut du mit dem Gebet und den Stiefeln zurechtkommst. Heute solltest du eine helfende Hand nicht ablehnen.«
Es war der besondere Tonfall, der Maria den Kopf heben ließ. Ihr Blick wechselte zwischen ihrer Mutter, Paul und ihrer Erzieherin hin und her. Doch noch sagte sie nichts.
»Das Historienspiel erfordert heute eine sehr würdevolle Hochzeit, und eine stolpernde Braut würde den bisher so tollen Gesamteindruck kaputt machen.« Frederike blickte kurz zu Paul. »Also lass dir bitte helfen.«
Marias Blick wandelte sich von Ehrfurcht zu fröhlichem Lächeln. Die kleine Rede ihrer Mutter hatte sie wieder an ihre Pflichten erinnert, und hatte sie auch ein wenig aus dem Himmel wieder zurück auf die Erde geholt. »Danke, Mama.« Dann blickte sie zu Paul. »Mein Prinz, würdet ihr mir auf dem Weg zur Kutsche eure Hand reichen?«
»Der Wunsch der Prinzessin ist mir Befehl.« Paul ging bewusst langsam zu dem Stuhl, auf dem Maria noch saß, dann streckte er den Arm aus. »Meine liebe Prinzessin, darf ich euch zur Kutsche bringen?«
»Wartet einen Moment.« Frau Bartels unterbrach die Zeremonie. »Ich möchte euch noch etwas zu dem Kleid sagen.« Sie trat ebenfalls an den Stuhl heran. »Ich habe Teile der Rückenpartie doppelt gearbeitet.« Sie blickte zu Paul. »Du kannst diese Lagen nutzen, um Maria damit leichter festzuhalten. Probiere es einmal aus.«
»Oh ja, ich sehe, was sie meinen.« Paul begutachtete die Rückseite des Kleides. Er griff in die entsprechenden Öffnungen und konnte Maria so leicht beim Aufstehen unterstützen.
»Moment!« Judith sprang auf einmal recht hektisch auf. »Das Wichtigste fehlt doch noch.«
Frau Bartels lächelte, als sie sah, dass ihre Tochter den Schleier in der Hand hatte. »Maria, setzte dich bitte noch mal.«
»Darf ich, Mama?« Judith blickte ihre Mutter fragend an.
Die leuchtende Augen ihrer Tochter machten es der Schneiderin schwer, jetzt 'Nein' zu sagen. »Das musst du die Braut fragen.«
Judith stutzte einen Moment, denn sie hatte eigentlich eine Ablehnung erwartet. Sie räusperte sich. »Comtess Katerina, darf ich euch den Schleier anlegen?«
»Sehr gern, Jungfer Judith.« Maria lächelte.
»Überraschung.« Kerstin saß auf dem Kutschbock und grinste. »Wir wussten nicht, ob es mit der Kutsche und den vier Pferden klappen würde, deswegen haben wir euch vorher nichts gesagt. Aber jetzt nehmt bitte Platz.« Doch dann stutzte sie. »Bringt es nicht Unglück, wenn der Bräutigam das Kleid der Braut vor der Hochzeit sieht?«
»Also erstens ist das nicht meine Hochzeit, sondern die der Comtess.« Maria grinste, nachdem sie in der Kutsche Platz genommen hatte. »Und außerdem muss Paul heute besonders auf mich aufpassen.«
»Damit ist die Latte aber ganz schön hochgelegt.« Kerstin lachte.
»Wie meinst du das?« Paul hatte den Zusammenhang noch nicht erkannt.
»Naja, bei eurer eigenen Hochzeit wollt ihr das vielleicht noch steigern.« Kerstin wartete, bis auch Paul sich gesetzt hatte, dann ließ sie die Pferde losgehen.
Maria verdrehte die Augen.
»Eine schöne Braut.« Frau Bartels hielt ihre Tochter im Arm. Gemeinsam blickte sie der Kutsche hinterher. »Jetzt sollten wir uns beeilen, damit wir auch rechtzeitig in die Kirche kommen.«
»Ja, Mama.« Judith wurde auf einmal etwas wehmütig.
»Hast du dein Armversteck dabei?« Frau Bartels blickte auf ihre Tochter herunter, die ihr schon bis zur Schulter reichte.
»Nein, das ist noch daheim.« Doch dann stutzte Judith. »Woher weißt du das?«
»Ich war auch einmal jung.« Die Schneiderin lächelte. »Und nachdem Frau Reger angekündigt hatte, dass sie die alte Tradition mit den versteckten Arme wieder aufleben lassen wollte, habe ich mich gefragt, ob du dir etwas Entsprechendes basteln würdest.«
Judith blickte ihre Mutter verwundert an.
»Und als du dann gefragt hast, ob du an die alte Maschine darfst, war mir klar, was du vor hast.« Frau Bartels strich ihrer Tochter über den Kopf. »Jetzt müssen wir aber los.«
* * *
Als der Klang der Kirchenglocken zu ihr in ihr kleines Gefängnis drang, wurde Sophie auf einmal sehr wehmütig. Heute würde die Katerina vor dem Altar stehen, und zusammen mit ihrem Prinzen würde sie dann in ihr zukünftiges Leben schreiten.
Sophie seufzte. Sie hatte sich zwar in ihrer Jugend zwar auch nach einem Prinzen gesehnt, doch spätestens nach dem Tod der Mutter hatte sie sich in dieser Beziehung sehr hemmungslos gegeben. Ihr war immer nur der schnelle Sex wichtig, ohne dass sie irgendwelche Konsequenzen zu fürchten hatte. Eine feste Bindung hatte sie nie eingehen wollen.
Erst seit Michael sie in ihrem Gefängnis besucht hatte, glaubte sie, wieder so etwas wie Gefühle entwickelt zu haben. Doch sie wusste auch, wie sehr sie Michael bisher gedemütigt und missachtet hatte, und dass es noch lange dauern würde, bis er ihr vielleicht verzeihen konnte.
Den Brief für ihn hatte sie gestern geschrieben, heute wollte sie sich bei der Person bedanken, die sie als Einzige im Krankenhaus besucht hatte.
Sophie setzte sich an ihren Tisch und lauschte dem Läuten der Glocken. Vor ihr lag der Block mit Briefpapier, und daneben lag ihr Schreibgerät. Wenn der Gottesdienst begann, wollte sie auch mit dem Dankesbrief an Maria beginnen. Und sie wollte ihr auch mitteilen, dass sie wegen des Festes nicht böse war, bei dem sie ihr die Rolle weggenommen hatte.
* * *
»Hier ist ja schon alles voll.« Karl war sehr verwundert, als er die Kirche betrat. Er blickte zu seiner Begleiterin.
»Ja, das wundert mich auch. So voll ist es sonst nicht einmal zu Weihnachten.« Rosalie blickte sich in der Kirche um. »Seltsam, ich hatte die Kirche größer in Erinnerung.«
»Ich glaube, den Effekt kenne ich.« Karl lächelte. »Es gibt in Hildesheim eine Kirche, Sankt Andreas. Wir waren dort öfters mit der Schule, und ich war damals beeindruckt über die Größe des Innenraums und vor allem von der Orgel.«
Rosalie blickte ihren Begleiter schweigend an.
»Später kam ich wieder einmal in diese Kirche und war regelrecht enttäuscht, als ich erkannte, dass es eigentlich eine kleine Kirche ist.«
»So geht es mir im Moment auch.« Rosalie lächelte. »Schauen wir mal, ob wir auf der Empore noch einen Sitzplatz bekommen. Von da sieht man die Braut auch besser.«
Karl war einverstanden.
Doch auch auf der Empore waren schon viele Plätze belegt. Neben Florian fanden sie schließlich noch Platz.
* * *
»Wartet noch mit dem Aufstehen, bis ich die Bremse angezogen habe.« Kerstin blickte kurz nach hinten zu dem Brautpaar, das sie mit ihrer Kutsche vor das Kirchenportal gefahren hatte. Sie hielt die Pferde an und hantierte danach an der Kutsche. »Jetzt könnt ihr.« Sie sprang vom Kutschbock, öffnete die Tür der Kutsche und klappte die Stufen aus.
Paul ging voran und half dann Maria beim Aussteigen. Im ersten Moment wollte Maria seine Hand noch mit einer Kopfbewegung zurückweisen, doch dann erinnerte sie sich an die Worte ihrer Mutter und befahl ihrem Ehrgeiz, sich heute der Sicherheit wegen zurückzuhalten.
Vor dem Kirchenportal wurden sie schon von der Pfarrerin erwartet. »Es ist alles bereit.« Frau Reger lächelte. »Kein Grund nervös zu werden.« Sie gab den Musikern, die nahe am Eingang standen, ein Zeichen.
Eine sehr feierliche Trompetenfanfare ertönte und gab der Gemeinde damit bekannt, dass das Brautpaar eingetroffen war.
Paul und Maria nahmen hinter der Pfarrerin Ausstellung, und gemeinsam warteten sie ab, bis die Trompeter mit ihrer Fanfare fertig waren. Gleich darauf ertönte der sehr eindrucksvolle festliche und laute Klang der Orgel, und unter den Blicken aller versammelten Gemeindeglieder schritten Maria und Paul langsam vor zum Altar.
Maria war geradezu überwältigt, als sie erkannte, wie voll die Kirche war. Sie strauchelte ein wenig, und Paul musste sie kurz fest festhalten.
Die Pfarrerin hielt ebenfalls sofort inne und drehte sich zu Maria um. »Ist alles in Ordnung?«
»Es ist nichts.« Maria versuchte zu lächeln. »Ich bin nur etwas überwältigt von den vielen Leuten.«
»Ja, die sind alle wegen dir gekommen.« Frau Reger war es klar, dass es falsch wäre, Maria in dieser Richtung zu schonen. »Alle wollen dein Kunststück sehen.«
»Wir können weiter gehen.« Maria hatte gesehen, dass auch ihre Mutter mit sorgenvoller Miene zu ihr herüber geblickt, und sie wusste, dass sie sich beherrschen musste.
Vor dem Altar standen zwei Stühle, und erst als das Brautpaar sich gesetzt hatte, nahm auch die Gemeinde Platz.
»Hätte nicht der Vater seine Tochter um Altar bringen müssen?« Rosalie war ein wenig verwundert.
»Das ist im deutschsprachigem Raum nicht üblich.« Karl gab sein Wissen wieder. »Das kommt eher aus dem englischen oder amerikanischen Raum.«
»Ich bin doch schon zu lange in Australien.« Rosalie berichtete mit leiser Stimme, dass sie vor kurzem erst der Hochzeit ihrer Schwester beigewohnt hatte.
Nach der Begrüßung der Gemeinde erinnerte die Pfarrerin noch einmal daran, dass heute eine Hochzeit von vor gut achthundert Jahren nachgespielt wurde. »Heute stehen der Prinz Anselm von Schönborn und die Comtess Katerina von Greiffenclau vor dem Altar, die von Paul Mohr und Maria Beller lediglich verkörpert werden.«
»Das Besondere an dieser Hochzeit ist das Gebet auf dem Rücken, welches uns Maria Beller heute so wunderschön präsentiert.« Sie deutete Maria an, einmal aufzustehen. »Ich denke, das ist einen Applaus wert.«
Der sehr stürmische Beifall verebbte nur langsam. Schließlich nahm Maria wieder Platz. »Wie ich es schon angekündigt habe, möchte ich gemäß der alten Tradition alle jungen Mädchen ermutigen, während des ersten Liedes mit ihren versteckten Armen nach vorn zu kommen und sich in die erste Reihe zu setzen.« Sie zeigte auf die beiden freigehaltenen Reihen.
»Und nun lasst uns den Gottesdienst beginnen im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.« Sie begab sich wieder auf ihren Platz in der ersten Reihe.
Die Barock-Pfeiffer begannen mit dem Vorspiel für das erste Lied. Wie es zu erwarten war, traute sich zunächst keines der jungen Mädchen nach vorn. Erst als die Pfarrerin direkt auf die Damen zuging, fassten sich einige der Mädchen ein Herz, kamen tatsächlich nach vorn und setzten sich in die ersten beiden Reihen, die extra zu diesem Zweck freigehalten worden waren.
Bei den früheren Festen empfahlen sich so die jungen Mädchen für die Auswahl der nächsten Katerina, und das eine oder andere Mal hatte eine besondere Anmut eines Mädchen durchaus einen großen Einfluß auf die spätere Entscheidung. Aber auch Mädchen im gleichen Alter wie die Katerina kamen jeweils nach vorn, um ihre versteckten Arme zu präsentieren. Ihre Botschaft war ähnlich: 'Seht her, ich hätte die Katerina auch spielen können.'
»Jetzt verstehe ich, was Frau Mohr meinte.« Leonie strahlte Holger an. »Hilfst du mir bitte in den Handschuh?«
»Aber sehr gern.« Holger grinste bis über beide Ohren. Er fühlte mit Leonie und hatte wie sie begriffen, dass so eine tolle Gelegenheit so bald nicht wieder kommen würde. Er holte den Handschuh aus der Tasche und seine Hände zitterten nicht, als er ihn seiner Freundin anlegte.
Als Leonie dann langsam nach vorn ging, hielt sie trotzdem ihren Blick gesenkt, denn sie traute dem Frieden noch nicht. Doch zu ihrer Überraschung wurde ihr Auftritt zusammen mit allen anderen jungen Mädchen sogar von leichtem Applaus begleitet.
»Die Lesung für den heutigen Tag findet sich im ersten Brief an die Korinther Kapitel 13, Vers 1-13, das sogenannte Hohe Lied der Liebe.« Frederike hatte darum gebeten, diesen Text lesen zu dürfen.
Wenn einer alle Sprachen der Menschen und sogar der Engel spricht, aber keine Liebe hat, ist er doch nur ein dröhnender Gong oder eine lärmende Pauke.
Wenn einer göttliche Eingebungen hat und alle Geheimnisse Gottes kennt, wenn er den Glauben hat, der Berge versetzt, aber ohne Liebe ist, hat das alles keinen Wert.
Wenn einer seinen ganzen Besitz verteilt und den Feuertod auf sich nimmt, aber die Liebe nicht hat, ist alles umsonst.
Wer liebt, hat Geduld. Er ist gütig und ereifert sich nicht; er prahlt nicht und spielt sich nicht auf.
Wer liebt, ist nicht taktlos, selbstsüchtig und reizbar. Er trägt keinem etwas nach.
Wer liebt, freut sich nicht, wenn der andere Fehler macht, sondern wenn er das Rechte tut.
Wer liebt, gibt niemals jemanden auf. In jeder Lage vertraut und hofft er für ihn. Alles nimmt er geduldig auf sich.
Liebe behält ihren Wert. Die Weisheit der Propheten wird ein Ende haben. Das Wissen um die göttlichen Geheimnisse wird ein Ende haben.
Denn unser Wissen und Reden erfasst von der Wahrheit nur einen kleinen Teil.
Wir werden einmal die ganze Wahrheit sehen.
Wir sehen jetzt nur ein Bild wie in einem Spiegel und können es nicht deutlich erkennen. Dann aber stehen wir Gott selbst gegenüber. Dann werden wir ihn erkennen, wie er uns schon jetzt kennt.
Alles wird aufhören; nur Glaube, Hoffnung und die Liebe nicht. Diese drei bleiben; aber die Liebe steht am höchsten.
Nach dem Glaubensbekenntnis und einem weiteren gemeinsamen Lied begann die Pfarrerin mit der Predigt. »Als Text für die Predigt habe ich einen Text ausgewählt, der nicht aus der Bibel stammt. Er heißt 'Die Insel der Gefühle' und ist von 'Le Poete Mos':
Vor langer Zeit existierte einmal eine wunderschöne kleine Insel. Auf dieser Insel waren alle Gefühle der Menschen zuhause: Der Humor und die gute Laune, die Traurigkeit und die Einsamkeit, das Glück und das Wissen und all die vielen anderen Gefühle. Natürlich lebte auch die Liebe dort.
Eines Tages wurde den Gefühlen jedoch überraschend mitgeteilt, dass die Insel sinken würde. Also machten alle ihre Schiffe seeklar um die Insel zu verlassen. Nur die Liebe wollte bis zum letzten Augenblick warten, denn sie hing sehr an ihrer Insel.
Bevor die Insel sank, bat die Liebe die anderen um Hilfe.
Als der Reichtum auf einem sehr schönen luxuriösen Schiff die Insel verließ, fragte die Liebe: »Reichtum, kannst du mich mitnehmen?«
»Nein, ich kann nicht. Auf meinem Schiff habe ich sehr viel Gold, Silber und Edelsteine. Da ist kein Platz mehr für dich.«
Also fragte die Liebe den Stolz, der auf einem wunderbaren Schiff vorbeikam. »Stolz, bitte, kannst du mich mitnehmen?«
»Liebe, ich kann dich nicht mitnehmen«, antwortete der Stolz, »hier ist alles perfekt und du könntest mein schönes Schiff beschädigen.«
Als nächstes fragte die Liebe die Traurigkeit: »Traurigkeit, bitte, nimm du mich mit.«
»Oh Liebe«, sagte die Traurigkeit, »ich bin so traurig, dass ich allein bleiben muss.«
Als die gute Laune losfuhr, war sie so zufrieden und ausgelassen, dass sie nicht einmal hörte, dass die Liebe sie rief.
Plötzlich aber rief eine Stimme: »Komm Liebe, ich nehme dich mit.«
Die Liebe war so dankbar und so glücklich, dass sie ganz und gar vergaß, ihren Retter nach seinem Namen zu fragen.
Später fragte die Liebe das Wissen: »Wissen, kannst du mir vielleicht sagen, wer es war, der mir geholfen hat?«
»Ja sicher«, antwortete das Wissen, »das war die Zeit.«
»Die Zeit?« fragte die Liebe erstaunt, »warum hat mir denn die Zeit geholfen?«
Und das Wissen antwortete: »Weil nur die Zeit versteht, wie wichtig die Liebe im Leben ist.«
»Ein schöner Text«, flüsterte Karl leise zu Rosalie.
»Ja.« Rosalie wischte sich eine Träne weg. »Eine sehr moderne Pfarrerin.«
Nach der Predigt spielten die Barock-Pfeiffer das Largo von Händel, und es war deutlich zu hören, dass Anna an der ersten Flöte all ihre Gefühle in ihr Spiel legte, um den Augenblick so feierlich wie möglich zu gestalten.
Auf ein Zeichen von Frau Reger traten der Prinz und die Comtess an den Altar.
»So frage ich euch vor Gott und dieser Gemeinde: Prinz Anselm von Schönborn, wollt ihr die Comtess Katerina von Greiffenclau, die Gott euch anvertraut, als eure Ehefrau lieben, achten und ehren und die Ehe mit ihr nach Gottes Gebot und Verheißung führen - in guten und schlechten Tagen -, bis dass der Tod euch scheidet, so antwortet: 'Ja, mit Gottes Hilfe'.«
Prinz Anselm antwortete. »Ja, mit Gottes Hilfe.«
»Comtess Katerina von Greiffenclau, wollt ihr den Prinzen Anselm von Schönborn, den Gott euch anvertraut, als euren Ehemann lieben, achten und ehren und die Ehe mit ihm nach Gottes Gebot und Verheißung führen - in guten und schlechten Tagen -, bis dass der Tod euch scheidet, so antwortet: 'Ja, mit Gottes Hilfe'.«
Auch die Comtess Katerina beantwortete die Frage klar und deutlich.
Dann wandte sich die Pfarrerin an die Gemeinde. »Wollt ihr dies Paar nach Kräften begleiten mit der Liebe und Phantasie, die Christus uns gezeigt hat, so antwortet: Ja, mit Gottes Hilfe.«
Alle in der Kirche antworteten: » Alle: Ja, mit Gottes Hilfe.«
Für die gegenseitigen Versprechen hatte die Pfarrerin kleine Texttafeln vorbereitet, so dass Paul und Maria nur ablesen mussten. Trotzdem waren sie bemüht, in der feierlichen Stimmung zu bleiben.
»Katerina, ich nehme dich als meine Ehefrau aus Gottes Hand. Ich will dich lieben und ehren, dir vertrauen und treu sein. Ich will dir helfen und für dich sorgen, will dir vergeben, wie Gott uns vergibt. Ich will zusammen mit dir Gott und den Menschen dienen, solange wir leben. Dazu helfe mir Gott.«
»Anselm, ich will dich als meinen Ehemann von Gott annehmen. Ich will mein Leben mit dir teilen. Ich will mit dir lachen und weinen. Ich will mit dir reden und schweigen. Ich will immer bei dir bleiben. Dazu helfe mir Gott.«
»Jetzt müssen sie die Ringe tauschen.« Rosalie war sehr angespannt, obwohl sie wusste, dass die Hochzeit von Maria nicht echt war.
»Aber wie kann das gehen?« Karl war etwas verwundert. »Sie trägt doch die Arme im Gebet.«
Erst jetzt kam Rosalie ins Grübeln. »Stimmt, gute Frage. Keine Ahnung, wie sie das machen wollen.«
Das Herz von Doris schlug und sowohl Theo als auch ihre Mutter mussten sie beruhigen. Gleich würde ihr kleiner und für sie doch so großer Auftritt kommen. Noch nie hatte sie ihre Ketten vor so viel Leuten gleichzeitig gezeigt.
»Jetzt müssten die Brautleute die Ringe tauschen.« Die Pfarrerin gab Doris das verabredete Zeichen. »Da die Katerina aus offensichtlichen Gründen ihre Finger nur sehr eingeschränkt benutzen kann, wird ihre Dienerin ihr bei diesem Teil der Zeremonie helfen. Kommen sie bitte nach vorn.« Frau Reger blickte Theos Verlobte ermunternd an.
Doris fühlte Pudding in den Knien, als sie jetzt aus der Reihe trat und mit dem deutlich hörbaren Klirren ihrer Ketten langsam vor zum Altar trat.
»Ein Applaus für diese engagierte Schauspielerin.« Die Pfarrerin zwinkerte Doris kurz zu.
Nachdem der Beifall verebbt war, reichte Frau Reger dem Prinzen ein kleines mit Samt bezogenes Kissen, auf dem die zwei Ringe lagen.
Als Paul die Ringe sah, fiel ihm ein, dass er sich extra den Verlobungsring seiner Mutter eingesteckt hatte, weil er die Plastikringe so billig fand. Doch es war jetzt zu spät, etwas zu ändern.
Doris trat an Maria heran und öffnete den kurzen Reißverschluss im Nacken, der ihre Finger verbarg. Paul trat zu ihr und konnte so Maria den Ring an den Finger stecken.
Ursprünglich hätte Doris den Ring für Paul zwischen Marias Finger stecken sollen und Maria hätte ihn dann an Pauls Finger stecken sollen. Doch es war ihnen recht bald klar geworden, dass Maria gar nicht sehen konnte, was sie mit ihren Armen machen würde.
Doch die Lösung war einfach. Doris hielt Maria den Ring so hin, dass sie ihn mit der befreiten Hand zwischen Daumen und Zeigefinger halten konnte. Dann führte Doris Pauls Hand mit dem ausgestreckten Ringfinger direkt in den bereitgehaltenen Ring.
Danach ging sie bewusst würdevoll wieder auf ihren Platz zurück und setzte sich. Theo ergrff ihre Hand und drückte sie.
Mit dem abschließenden Trausegen beendete die Pfarrerin diesen Teil der Zeremonie:
Der gütige und menschenfreundliche Gott segne euch und euer gemeinsames Leben, das ihr im Vertrauen aufeinander und auf Ihn begonnen habt.
Er schenke euch Freude aneinander und Geduld miteinander. Er lasse eure Liebe wachsen und befähige euch zur Treue. Er schenke euch viele gute Tage und stärke euch in den bösen Zeiten.
Er segne euch in euren Kindern und helfe euch, gute Eltern zu sein. Er segne Eure Wohnung, damit ihr gern und gastfreundlich darin wohnt. Er segne eure Arbeit, damit sie euch nicht nur Last, sondern auch Freude sei.
Er schenke euch ein langes, zufriedenes und erfülltes Leben. Er umgebe euch mit Freunden und euch wohlgesinnten Menschen. Er lasse euch das Ziel eures Lebens nie aus den Augen verlieren.
Ein geglücktes Leben hier und die ewige Freude dort schenke euch der allmächtige Gott: der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.
Als Lied nach der Trauung war 'Nun danket alle Gott' vorgesehen, und als die Orgel mit dem Vorspiel einsetzte, blickten sich Paul und Maria erleichtert an.
Nach dem Lied wurden die Fürbitten vorgetragen, und nach der letzten Bitte trat Herr Greinert vor die Gemeinde. »Bei den bisherigen Aufführungen wurde spätestens nach dem Ja-Wort der Katerina der Handschuh abgenommen. Doch wir alle möchten sie, Frau Beller, bitte, uns das Gebet auch auf der Kutschfahrt zu zeigen. Ich denke, dass ist der allgemeine Wunsch.«
Der sofort einsetzende tosende Applaus bewirkte, dass Paul und Maria aufstanden, sich gemeinsam zum Publikum drehten und mehrmals verbeugten. Erst als der Beifall langsam abebbte, räusperte sich Maria und mit klarer Stimme gab sie ihre Antwort. »Ich erfülle ihnen diesen Wunsch sehr gern.«
»Sie hat auch gar keine Wahl.« Rosalie blickte zu Karl. »Soweit ich das mitbekommen habe, ist sie in das Kleid eingenäht.«
»Trotzdem, ein toller Gottesdienst.« Karl ignorierte Rosalies leichten Spott.
Nach dem obligatorischen Vaterunser erteilte die Pfarrerin noch den Abschluss-Segen und gleich darauf ertönte das Vorspiel zu 'Großer Gott, wir loben dich'.
Nach den drei Strophen, die von den Barock-Pfeiffern begleitet wurde, war es für einen kurzen Moment ruhig in der Kirche, und dann begann die Orgel mit 'Toccata und Fuge' von Bach, deren sehr prägnanter Anfang dem Auszug noch einmal etwas sehr Feierliches gab.
Nach einigen Minuten stand die Pfarrerin auf und der Auszug des Brautpaares begann.
* * *
Als sie die Kirche verließen, hatte Paul eigentlich erwartet, die Kutsche vor der Kirche zu sehen. Nach einigem Umherschauen entdeckte er sie auch, doch sie stand noch etwas abseits, und Kerstin war gerade dabei, die Pferde mit etwas Wasser zu versorgen. Auf dem Platz vor der Kirche hingegen waren einige Stehtische aufgebaut und mit weißen Decken gedeckt. An der Seite stand ein Tisch mit gefüllten Sektgläsern.
»Wir geben noch einen kleinen Empfang, um die besondere Leistung zu würdigen.« Frau Reger hatte die Verwunderung bemerkt. »Hat euch Frau Bayer darüber nicht informiert?«
»Nein, das war uns nicht bekannt.« Paul schüttelte den Kopf. »Aber das gehört jetzt nicht mehr zum Katerinenfest, oder?«
»Nein! Das Fest ist vorbei. Oder eigentlich erst nach eurer Kutschfahrt nachher.« Die Pfarrerin lachte. »Aber es gibt viele, die euch und vor allem dir gratulieren und die Hand schütteln möchten.«
Maria erkannte sofort, dass die von ihrer Mutter angeregte Zurückhaltung immer noch galt. »Ich muss sie leider enttäuschen, aber das mit dem Händeschütteln wird schwierig.«
»Ach Gott, was rede ich da.« Frau Reger war etwas verlegen, als sie ihren Fehler bemerkte. »Aber ihr wisst doch sicherlich, wie es gemeint ist.
»Natürlich.« Paul lächelte.
»Aber auf ein Gläschen Sekt darf ich euch doch einladen.« Doch dann fiel der Blick der Pfarrerin auf Marias nicht mehr sichtbare Arme. »Ach wie ungeschickt von mir, Sekt geht ja auch nicht.«
»Sekt geht.« Maria erkannte, dass sie Farbe bekennen musste. »Paul wird mir das Glas halten.«
»Ich bin erleichtert.« Frau Reger blickte nach oben. »Und der Wettergott hatte auch ein Einsehen mit uns.« Sie lächelte. »Ich habe heute eigentlich schon genug geredet«, meinte sie etwas selbstironisch. »Aber so eine tolle Leistung muss einfach belohnt werden.«
Wieder hatten sich ein paar Redner gemeldet, die Maria wegen der außerordentlichen Leistung beglückwünschten und ihr auch Umschläge überreichten. Meistens bemerkten die Redner erst, dass Maria den Umschlag nicht entgegennehmen konnte, als sie etwas verlegen mit den Schultern zuckte. Paul nahm dann jeweils den Umschlag entgegen.
»Frau Beller, dies ist der Künstler, der die Statue von ihnen anfertigen wird.« Der Bürgermeister stellte einen Mann vor, dessen dichter Bart sein Alter schwer schätzen ließ. »Herr Rudolfo bittet sie um einen Besuch, damit sie die Statue gemeinsam entwerfen können.«
Maria bewegte schon lange etwas, jetzt erkannte sie, dass sich eine passende Gelegenheit bot. »Darf die Statue auch ein Paar darstellen?«
Der Bürgermeister und der Künstler blickten sich an. »Warum denn das?« fragte Herr Heinrich schließlich.
»Ich verdanke Paul so viel.« Maria blickte ihrem Freund ins Gesicht, während sie weiter sprach. »Er ist immer für mich da, verzichtet selbstlos auf eigene Wünsche und liest mir hingegen jeden Wunsch von den Augen ab. Er beschützt mich rund um die Uhr und gibt mir immer die Kraft für das Gebet.«
Während sie sprach, hatte Paul Mühe, die Fassung zu wahren und seine Tränen zurückzuhalten. Zu einer Antwort war er in diesem Moment nicht fähig.
Doch die spontane Liebeserklärung wirkte auch beim Bürgermeister und dem Künstler. Auch sie mussten erst einmal schlucken, bevor sie weitersprechen konnten.
»Das geht sicherlich.« Herr Heinrich versuchte zu verdrängen, dass der Preis für die Statue schon ausgehandelt war und eigentlich für Änderungen kein Geld mehr verfügbar war.
Frederike hatte das Zögern ebenfalls bemerkt. Sie trat an den Künstler heran und fragte unauffällig nach den Problemen.
»Es geht um die Materialkosten.« Er war bemüht, leise zu sprechen. »Ich müsste billigeres Material nehmen.«
Frederike war sehr stolz auf ihre Tochter. »Machen sie es wie von meiner Tochter gewünscht, und alle anfallenden Mehrkosten werde ich übernehmen.« Sie reichte ihm die Hand.
Auf einmal war Hufgeklapper zu hören. Kerstin näherte sich mit der Kutsche, nachdem Renate ihr diesbezüglich ein Zeichen gegeben hatte.
* * *
»Wie kann ich mich dafür bedanken?« Paul sprach leise, als sie in der Kutsche Platz genommen hatten.
»Bleib einfach so, wie du bist.« Maria gab ihm einen Kuss. »Und jetzt lege bitte den Arm um mich. Die Leute wollen ein glückliches Brautpaar sehen.«
»Das sind wir doch, oder?« Paul achtete peinlichst genau darauf, Marias Hilflosigkeit nicht zu missbrauchen, vor allem da er wusste, dass Maria seinen Berührungen nicht ausweichen konnte. Doch dieser so netten Aufforderung kam er gern nach.
»Ihr seid ein wirklich tolles Brautpaar.« Eine bekannte Stimme erklang hinter ihnen.
Paul drehte sich um und sah, dass sich die vier Brasilianer in ihren schicken Uniformen wieder hinter der Kutsche aufgestellt hatten.
»Das Leibregiment ihrer Hoheit meldet sich zum Dienst.« Sarah hatte ein breites Lächeln auf den Lippen.
»Die Prinzessin lässt ihren Dank ausrichten.« Paul lächelte ebenfalls.
»Da drüben sind Wolkenbergs.« Maria blickte in eine bestimmte Richtung. »Winkst du mal?«
Paul kam der Bitte nach. Dieses Mal standen drei Paare beieinander. Leonie mit ihrem Freund, ihre Schwester mit deren Freund sowie die Eltern. Es war deutlich zu erkennen, dass Leonie ihren Handschuh noch trug.
»Leonie ist sehr glücklich.« Maria seufzte. »Jetzt hat sie endlich einen Freund, der sie versteht.«
»Ja, da hatte meine Oma ein sehr geschicktes Händchen bewiesen.« Paul winkte erneut. »Es war sehr faszinierend, Leonie in ihrer selbstgewählten Hilflosigkeit zu beobachten.«
»Habe ich Grund zur Eifersucht?« Maria hatte ein Lächeln in der Stimme.
Paul erkannte sofort, wie Maria es gemeint hatte. »Naja, solche Handschuhe hast du halt nicht.« Er grinste.
»Vielleicht hat deine Oma noch ein Exemplar.« Maria blickte verträumt in die Ferne. »Oder wir fragen Frau Bartels, ob sie uns so welche nähen kann.«
»Bis zur Bäckerei könnten wir auch zu Fuß gehen.« Renate lächelte. »Aber mit der Kutsche ist es viel romantischer.«
»Sie bietet auch einen gewissen Schutz vor ungewollten Berührungen.« Kerstin war hochkonzentriert, denn sie musste ihre Pferde unter Kontrolle halten. »Wo kommen bloß all die Leute her?«
Renate war ebenfalls ein wenig besorgt. »Es scheint, ganz Landsbach ist auf den Beinen. Hoffentlich kommen wir da überhaupt durch.« Sie blickte nach vorn zu den Pferden. »Schaffen sie es wirklich, alle vier Pferde unter Kontrolle zu halten?«
»Ich hoffe es.« Kerstin war ein wenig verlegen. »Es bedarf hoher Aufmerksamkeit. Aber wir werden begleitet.«
»Begleitet von wem?« Renate war wegen der Massen von Menschen, die sich mittlerweile um die Kutsche geschart hatten, nichts aufgefallen.
»Wir sind eigentlich zu fünft.« Sie machte darauf aufmerksam, dass jeweils einer von ihrem Reitverein sich um jeweils ein Pferd kümmern wird. »Sie gehen direkt neben ihnen und können sofort eingreifen. Es ist auch wichtig für das Pferd, dass jemand Vertrautes in nächster Nähe ist.«
»Ich verstehe.« Renate war beeindruckt.
»Und wir werden auch noch von der berittenen Polizei begleitet.« Kerstin blickte sich um. »Sobald sie da sind, geht es los.«
»Ich wusste gar nicht, dass Landsbach eine berittene Polizei hat.« Renate wunderte sich.
»Haben sie auch nicht.« Kerstin berichtete, dass der hiesige Polizeichef extra zwei Reiter aus München angefordert hatte. »Wir haben die Route schon abgesprochen.«
In diesem Moment war weiteres Hufgetrappel zu hören, und gleich darauf erschienen zwei berittene Polizeibeamtinnen neben der Kutsche. »Alles klar?«
»Seid ihr bereit?« Kerstin hatte sich vom Kutschbock her zu dem Brautpaar hin umgedreht.
»Es kann losgehen.« Paul gab Maria noch einen Kuss.
Kerstin stimmte sich noch kurz mit der Beamtin ab, dann hob sie die Zügel hoch. »Sobald sie vor der Kutsche sind, geht es los.«
Die Größe der Polizeipferde bewirkte, dass die Leute, die am Straßenrand und teilweise auch auf der Straße standen, respektvoll zurückwichen und so auch Kerstin mit der Kutsche Platz machten.
Vor der Bäckerei blieb Kerstin stehen. Herr Friedrich selbst kam in Begleitung seiner Schwester an die Kutsche und beglückwünschte das Paar. »Eine tolle Leistung.«
Auch Frau Friedrich war von Marias Haltung und vor allem von ihrer Erscheinung tief beeindruckt.
Ähnlich verlief der Empfang bei der Metzgerei, doch als Maria sah, dass sogar die alte Frau Sauer in ihrem Rollstuhl vor dem Hausstand, sagte sie Kerstin, dass sie kurz aussteigen wollte.
»Das ist eigentlich nicht vorgesehen.« Sie wandte sich an Carlos, der mit seinen Leuten die Kutsche ebenfalls begleitete.
»Wenn Maria kurz aussteigen möchte, dann machen wir das möglich.« Der Chef der Wachmannschaft trat an die Kutsche heran und öffnete selbst die Tür.
Paul hatte sofort erkannt, was Maria bewegte. Sie wollte der ältesten noch lebenden Darstellerin der Katerina die Ehre erweisen, und er wusste, dass er sie dabei zu unterstützen hatte.
Frau Sauer war zu Tränen gerührt, als Maria vor ihr in die Hocke ging. »Dass ist das noch erleben darf.« wiederholte sie mehrfach, dabei strich sie ihr zärtlich über den Kopf.
Maria schluckte nur, sie war nicht zu einer Antwort fähig.
»Die Comtess muss jetzt weiter.« Es war ihre Enkelin Anna Sauer, die ihre Oma schließlich darauf aufmerksam machte, dass Maria noch weitere Termine hatte.
»Es ist gut, mein Kind.« Frau Sauer lehnte sich in ihrem Rollstuhl wieder zurück. »Ihr seid ein schönes Paar.«
Paul hatte einen Kloß im Hals, als er ihr die Hand reichte. Nur mühsam fand er ein paar Dankesworte.
Als sie wieder in der Kutsche saßen, schwiegen sie einige Zeit, so ergriffen waren sie von der Begegnung.
»Danke, dass du mich festgehalten hast.« Maria lächelte. »Ich habe erst an die Stiefel gedacht, als ich schon in der Hocke war.«
»Es war eine Schrecksekunde.« Paul lächelte ebenfalls. »Mir war sofort klar, dass du umfallen würdest, und das musste ich verhindern.«
»Ihr seid wirklich gut aufeinander eingespielt.« Renate drehte sich bewundernd nach hinten. »Es ist überhaupt nicht aufgefallen.«
Maria gab Paul einen Kuss. »Was ist die nächste Station?«
»Es kommen noch die Sparkasse und auf euren persönlichen Wunsch hin noch Herr Weiterer.« Renate blickte noch einmal kurz in die kleine Mappe, die sie fast immer bei sich trug. »Und dann kommt noch das Abschlussessen im Rathaus.«
»Dann haben wir es ja bald geschafft.« Paul drehte sich zu Maria. »Wie geht es dir?«
»Naja, das sind jetzt schon fast drei Stunden.« Maria drehte ihren Kopf langsam zu Paul und blickte ihn eindringlich an.
Paul erkannte sofort, was Maria bewegte, und er war bemüht, ihrer nicht ausgesprochenen Aufforderung nachzukommen. Er griff zu der Fernbedienung in seiner Tasche und drückte den entsprechenden Knopf. Gleichzeitig legte er den Arm um seine Freundin.
Maria gab ihm einen Kuss, dann schloss sie die Augen und ließ sich in seine Arme fallen. Das sanfte Schaukeln der Kutsche mischte sich mit den Vibrationen, die sie an so prominenter Stelle spürte, und schon bald hatte sie ihre Umgebung vergessen und gab sich ganz ihren Gefühlen hin. Sie achtete lediglich darauf, nicht zu auffällig zu stöhnen.
Paul erkannte ihren Höhepunkt sofort und er streichelte sie an den Stellen, von denen er wusste, dass Maria es mochte und jetzt auch noch spüren konnte.
Kerstin war extra etwas langsamer gefahren, und als Maria ihre Augen wieder öffnete, sah sie das Gebäude der Sparkasse gerade näher kommen, und jetzt realisierte sie auch, dass ihr schon die ganze Zeit zugejubelt wurde.
»War das die ganze Zeit schon?« fragte sie sehr verlegen.
»Keine Sorge, ich habe Kerstin gesagt, dass wir etwas Zeit brauchen, und ich habe für dich gewinkt.« Paul hatte erkannt, worum sich seine Freundin sorgte. »Es hat keiner gemerkt, und du hattest die ganze Zeit ein Lächeln im Gesicht.«
»Na dann.« Maria gab Paul wieder einen Kuss. »Jetzt werde ich es noch einige Zeit aushalten.«
»Es kommen ja nur noch das Mittagessen und der Fototermin.« Paul klang erleichtert. »Dann haben wir es geschafft.«
Maria seufzte, und es war nicht zu erkennen, ob sie es bedauerte oder ob sie erleichtert war.
Vor der Sparkasse wurden sie von Herrn Steinhagen persönlich begrüßt, und auch er überreichte ihnen einen Umschlag. »Für ihre ganz außergewöhnlichen Leistungen.«
»Wir sagen danke.« Paul deutete eine Verbeugung an.
Dieses Mal mussten sie zwar nicht aussteigen, aber dafür wurde wieder Sekt gereicht. »Jetzt habt ihr es doch fast überstanden.«
»Wir müssen dann weiter.« Kerstin fühlte, dass sie nun etwas auf das Tempo drücken durfte, ohne dass die Sparkasse in Gestalt von Herrn Steinhagen beleidigt sein würde.
»Natürlich.« Der Sparkassendirektor selbst nahm die Gläser entgegen und gab dann Kerstin das Signal zum Weiterfahren.
Der Besuch bei dem alten Monohandschuhlehrer war für Maria eine Herzensangelegenheit. Natürlich wusste sie, dass sie ihre 'Qual' damit deutlich verlängerte, weil er etwas abseits wohnte, doch der Besuch war ihr sehr wichtig. Sie hatte einfach eine zu große Achtung vor dem Herrn.
Er saß wie üblich vor dem Haus, doch als er die ersten Geräusche der Kutsche hörte, wurde er neugierig. Er stand auf und trat an vor an seinen Gartenzaun. Doch erst, als er sah, wer in der Kutsche saß, glitt auf einmal ein Lächeln in sein Gesicht.
Die Kutsche blieb vor seinem Haus stehen, und Carlos öffnete wieder die Tür der Kutsche.
Mit Hilfe von Paul stieg Maria aus der Kutsche aus und machte vor Herrn Weiterer einen tiefen Knicks.
»Ich wusste es«, Herr Weiterer war sichtlich fasziniert von Maria und ihrem Gebet. »Ich wusste es die ganze Zeit, dass du das kannst und machen wirst. Und du warst toll in der Kirche.«
Maria brachte kein Wort heraus. Sie wiederholte ihren Knicks.
»Das ich das noch erleben darf.« Tränen liefen über seine Wangen. »Und dass ihr an mich gedacht habt.«
Auch Paul war sehr ergriffen von der Szene. Er legte die Hand auf Marias Schulter.
»Wenn alles vorbei ist, dann kommt ihr noch einmal zu mir zum Kaffee.« Herr Weiterer blickte zu der Kutsche. Erst jetzt realisierte er auch die beiden Polizistinnen, die der Szene etwas unsicher zusahen. »Ich glaube, ihr müsst dann weiter.« Er verbeugte sich vor Maria. »Danke für den Besuch. Es war für mich eine große Ehre, und ich habe mich sehr gefreut.«
Mit einem Kloß im Hals bestieg das Paar wieder die Kutsche. Die Fahrt bis zum Rathaus verlief schweigend.
* * *
»Ich denke, es wurden genug Reden gehalten.« Robert Greinert war aufgestanden und hatte sein Glas gehoben. »Mit diesem Essen möchte ich mich bei ihnen allen für das rundum gelungene Fest bedanken.«
Alle, die irgendwie mit dem Fest zu tun hatten, waren an der großen Tafel im Rathaussaal versammelt. Sofort wurde applaudiert.
»Sieben Jahre Vorbereitung und nun ist es wieder vorbei.« In diesem Moment klang er etwas wehmütig. »Aber ich bin mehr als erleichtert, dass alles so gut gelaufen ist.« Er erhob sein Glas. »Lassen sie uns auf das wunderschöne Fest anstoßen.« Ein Meer von Glasklirren durchflutete den Saal. »Und nun wünsche ich ihnen allen einen guten Appetit.«
»Wollt ihr das Kleid nicht lieber ausziehen?« Robert lächelte. »Jetzt ist das Fest doch vorbei.«
Paul und Maria blickten sich kurz an. Schließlich rang sich Maria zu einer Antwort durch. »Das geht nicht. Ich bin in das Kleid eingenäht.«
»Und wie macht ihr das mit dem Essen?« Der Vorsitzende war etwas verlegen.
»Wir sind das gewöhnt.« Maria lächelte stolz. »Er wird mich füttern.«
Auch Leonie trug noch ihren Handschuh, und auch sie wurde von Holger gefüttert, doch es war deutlich zu sehen, dass sie bei weitem noch nicht so gut aufeinander eingespielt waren.
* * *
»Wollt ihr das Kleid nicht langsam mal ausziehen?« Amelie lachte. »Man könnte ja meinen, es wäre eure echte Hochzeit.«
»Wir üben schon dafür.« Maria lächelte kurz. »Ich bin in das Kleid eingenäht.«
»Ein anderes Kleid haben wir auch nicht dabei«, ergänzte Paul.
»Wir wollten uns verabschieden.« Leonhard reichte Paul die Hand und verbeugte sich vor Maria.
»Vielen Dank, dass wir bei diesem außergewöhnlichen Fest dabei sein durften.« Amelie lächelte verträumt. »Wir sehen uns bei meiner Hochzeit.«
»Wir fahren jetzt noch einmal zum Schloss, weil dort die offiziellen Fotos gemacht werden.« Carlos war zu Maria an den Tisch gekommen. »Ich habe meinen Leuten frei gegeben, es reicht, wenn ich und Franz-Ferdinand auf dich aufpassen.«
Maria hatte auf einmal ein seltsames Gefühl, doch sie wagte nicht, dem Chef der Wachmannschaft zu widersprechen.
* * *
»Wo wollt ihr die Fotos machen?« Franz-Ferdinand stieg aus dem Auto aus. »Wie wäre es auf der Terrasse? Dort gibt es entweder den Blick in den Schlosspark oder die schöne Mauer mit den alten Fenstern.« Es lag in seinem ureigensten Interesse, dass sie nicht zu weit vom Schloss entfernt waren.
Hans blickte sich um. »Ja, die Terrasse ist gut geeignet.« Er machte sich daran, seine Ausrüstung auszupacken.
»Ich habe noch einen kleinen Umtrunk vorbereitet.« Franz-Ferdinand trug ein Tablett mit Sektgläsern vor sich. »Bitte greift zu.« Er nahm sich als erster ein Glas herunter. »Auf das gelungene Fest.«
Die anderen ließen sich nicht lange bitten, gemeinsam tranken sie auf die hinter ihnen liegenden Stunden.
* * *
Maria schlug die Augen auf und blickte sich verwirt um. In ihrem Mund spürte sie einen Ball, wie sie ihn in der Vergangenheit schon so oft getragen hatte. Doch wo waren die anderen und vor allem, wo war sie?
»Hallo Maria!« Sophie saß auf dem stuhl vor dem Bett und lächelte verlegen. »Schön, dich zu sehen.«
Maria wollte fragen, wo sie sei, doch durch den Ball kam nichts verständliches heraus. Sie verdrehte die Augen. Paul hätte sie bestimmt verstanden. Auf einmal erschrak sie fürchterlich. Wo war Paul? Sie blickte hektisch umher.
»Warte, ich nehme dir den Knebel aus dem Mund.« Sophie kniete sich vor den Stuhl und öffnete die Schnalle des Knebels.
»Danke.« Maria blickte sich verwundert und ängstlich um. »Wo bin ich hier?«
»Im Schloss meines Vaters.« Die Baroness hatte etwas Resignation in der Stimme. »Er hält mich hier gefangen.«
»Er wurde doch verhaftet.« Maria war verwundert.
»Und ich bin schuld daran.« Sophie schlug sich die Hände vor das Gesicht und begann zu weinen. »Ich habe ihn dazu gezwungen.«
»Das ist doch Quatsch.« Maria drängte sich an Sophie. Sie hätte sie gern gestreichelt und getröstet, doch sie trug die Arme immer noch im Gebet auf dem Rücken.
»Wo sind denn deine Arme?« Sophie erinnerte sich an den Besuch im Krankenhaus. »Oder hast du gar keine?«
»Doch, natürlich.« Maria lachte trotz der angespannten Situation. »Die sind unter dem Kleid verborgen.«
Sophie ging einmal um Maria herum. »Ich sehe nichts.«
»Könntest du mir das Kleid aufmachen?« Marias Stimme war leise. »Auf dem Rücken müsste ein Reißverschluss sein.«
Sophie sah sich die Rückseite des Kleides an. »Da ist keiner.«
»Dann hatte die Schneiderin recht.« Maria seufzte. »Ich wollte es nicht glauben, als sie sagte, dass sie mich in das Brautkleid einnäht. Ich hatte bisher es für einen Scherz gehalten.«
»Du siehst toll aus.« Sophie bewunderte das Kleid.
»Ja.« Maria seufzte. »Nur langsam würde ich gern meine Arme wieder bewegen.«
»Du bist ja vollkommen hilflos.« Sophie war erstaunt. »Fast so wie ich im Gipspanzer.«
Maria blickte Sophie verwundert an. »Was für ein Gipspanzer?«
»Na der im Krankenhaus. Als du mich besucht hast.« Sophie lächelte. »Ich glaube, wir haben uns viel zu erzählen.«
»Wo bin ich, und was ist passiert?« Paul lag auf der Terrasse und blickte sich um. Carlos war gerade dabei, Andrea aufzuwecken.
»Er hat uns ein Schlafmittel gegeben und Maria entführt.« Hans stand neben Paul und rieb sich die Augen.
»Wer?«, fragte Paul, obwohl er wusste, dass er die Antwort nicht hören wollte.
»Franz-Ferdinand ist zusammen mit Maria verschwunden.« Carlos' Stimme zeigte, wie verärgert er war.
Jetzt erkannte Paul das ganze Bild. »Maria! Das Gebet! Sie trägt es jetzt schon fast sechs Stunden.« Er keuchte. »Wir müssen sie unbedingt finden!«
Auf einmal kamen Leonie und Holger um die Ecke. Es war sofort zu sehen, dass Leonie ihren Handschuh trug. »Wir wollten fragen, ob wir auch ein paar Fotos bekommen könnten.«
»Maria wurde entführt!« Paul schrie geradezu. »Wir wissen nicht, wo sie ist, und sie trägt immer noch das Gebet!«
»Wir müssen die Polizei einschalten.« Andrea stand auf. »Vor dem Schloss ist eine Telefonzelle.«
»Soll ich dir den Handschuh abnehmen?« Holger blickte Leonie besorgt an.
»Das kostet zuviel Zeit.« Leonie war ehrlich besorgt. »Wir müssen Maria finden.«
»Es tut mir leid, aber ich müsste dir das Kleid zerreissen, um es zu öffnen.« Sophie seufzte. »Aber dafür reicht meine Kraft nicht.«
»Nun ja, einen Versuch war es wert.« Maria verdrehte die Augen. »Wieso bist du eigentlich hier?«
Die Baroness holte sehr tief Luft. »Du weißt doch sicher noch, was für einen miserablen Ruf ich hatte. 'Das Partyluder' war noch die höflichste Bezeichnung.«
Maria hielt sich mit ihrer Antwort noch zurück.
»Ich hätte das Fest sicher ruiniert, und deswegen hat mein Vater mich aus dem Verkehr gezogen.« Sophie erzählte mit ruhiger Stimme. »Ich wünschte nur, er hätte es vielleicht auf eine weniger brutale Art gemacht.«
»Der scheinbare Autounfall?« Maria gab wieder, was sie wusste. »Die Reporterin ist deinem Vater ja auf die Schliche gekommen.«
»Und deswegen wurde er verhaftet.« Sophie erklärte, dass sie es im Radio gehört hatte.
»Und warum bin ich jetzt hier?« Maria blickte sich um und runzelte die Stirn.
»Das ist eine der alten Dienstboten-Wohnungen.« Sophie zeigte auf die Tür. »Mein Vater hat sie zu einem Gefängnis ausbauen lassen.« Sie schluckte. »Zu meinem Gefängnis.«
Maria schluckte ebenfalls heftig.
»Sein Neffe, dieser schleimige Franz-Ferdinand hat dich gerade herein getragen und gesagt, ich solle mich um dich kümmern.« Der Ekel war deutlich in ihrer Stimme zu hören.
»Warum nur?« Maria war entsetzt über die Neuigkeiten.
»Er sagte, er müsse noch etwas erledigen, und wenn er dann in Sicherheit wäre, würde er einen Tipp geben, wo man uns finden könne.« Sophie seufzte. »Ich glaube, er hat dann noch etwas vor die Tür geschoben.«
»Das kann aber noch lange dauern.« Maria kam ins Grübeln. »Wie spät mag es jetzt sein?«
»Ich habe keine Uhr hier.« Sophie lächelte verlegen. »Aber als du kamst, hatte es gerade drei Uhr geschlagen.«
Maria blickte Sophie verwundet an.
»Ich höre die Glocke vom Schlossturm.« Sophie blieb verlegen. »Das ist meine Uhr...« Sie zögerte ein wenig. »Und das dort ist mein Kalender.« Sie zeigte auf das kleine Brett, auf dem die Spielfiguren aufgestellt waren.
Maria zählte elf Figuren, und zwei davon waren Rot. In ihr arbeitete es heftig. Schließlich hatte sie sich zu einer Entscheidung durchgerungen. »Hast du eine Schere oder ein Messer?«
Mehr als einmal hatte Sophie ihr kleines Reich durchsucht, ob es nicht vielleicht etwas gebe, mit dem sie sich den Weg in die Freiheit bahnen konnte. Doch nichts von allem was sie gefunden hatte, kam dafür in Frage. »Ich habe eine Schere. Aber wofür brauchst du die?« Sophie blickte etwas verwirrt auf Maria und deren immer noch verpackte Arme.
»Ich muss unbedingt meine Arme wieder bewegen, sonst wird es gefährlich.« Es kostete sie einige Kraft, weiter zu sprechen. »Es tut mir zwar sehr weh, das schöne Kleid zu opfern, aber du musst mir die Arme befreien.«
»Ich weiß aber nicht, ob ich die Schere schon so lange halten kann.« Sophie schämte sich wegen ihrer Schwäche. »Ich habe über zwei Monate vollständig im Gips gelegen und meine Muskeln haben sich zurück gebildet.«
»Bitte lass es uns versuchen.« Maria hatte erkannt, dass sie selbst sich um ihre Gesundheit und ihre Freiheit kümmern musste, auch wenn sie dafür das traumhafte Kleid opfern musste.
»Danke, dass sie mich sofort informiert haben.« Frederike legte den Hörer auf und sah Mrs. Potter mit versteinerter Miene an. »Maria wurde entführt.«
»Sie wollten doch nur noch Fotos am Schloss machen?« Die Erzieherin war nicht minder entsetzt.
»Gleich kommt ein Streifenwagen und holt uns ab.« Frederike packte hektisch ein paar Sachen in ihre Tasche. Doch dann zögerte sie. »Bleiben sie bitte hier. Gleich hat sich der Notar angesagt. Informieren sie ihn über die aktuellen Entwicklungen«
»Ich sage auch Selma Bescheid.« Mrs. Potter griff zum Telefon.
»Das ist ja echt krass.« Sophie war mehr als beeindruckt, als sie schließlich das Venus-Korsett geöffnet hatte. Natürlich wäre es einfacher gewesen, die Schnürung durchzuschneiden, doch dafür fehlte ihr mittlerweile die Kraft. So musste sie die Schnürung nach und nach öffnen, und Marias Arme kamen langsam zum Vorschein. »Wieso kannst du so etwas? Tut das nicht weh?«
»Nein, tut es nicht. Aber das ist eine ganz lange Geschichte.« Maria fühlte, wie sich das Korsett langsam von ihren Armen löste. »Aber ich glaube, wir haben auch genug Zeit dafür.«
»Hier sind ja auch noch Riemen, die deine Arme fesseln.« Sophie war empört. »Wer hat dir denn das angetan?«
Maria antwortete nur mit einem Wort. »Paul!«
Doch es lag so viel Liebe in dem Wort, dass Sophie innehielt und aufhorchte. »Du liebst ihn sehr. Aber warum tut er dir so etwas an, und warum hältst du es so lange aus?« Sie öffnete den ersten der Riemen.
Maria lächelte verträumt. »Angefangen hat es mit Sissi.«
»Wir haben das Schloss durchsucht, aber wir haben von ihrer Tochter noch keine Spur.« Kommissar Klüver informierte Frederike über den aktuellen Stand der Ermittlungen.
»Irgendwelche Geheimzimmer?« Marias Mutter sah auf die Uhr. »Sie trägt das Gebet jetzt schon über sechs Stunden. Wir müssen sie unbedingt finden.«
»Das Schloss ist groß. Ich habe schon versucht, auf dem Amt die Pläne für das Schloss zu bekommen, aber heute ist Sonntag.« Der Kommissar seufzte. »Verdammte Bürokratie.«
»Verzeihen sie, Herr Klüver, aber mir ist da gerade etwas eingefallen.« Andrea trat an den Kommissar heran. Erst im letzten Moment fiel ihr auf, dass es genau der Kommissar war, der Maria verhaften ließ und den sie deswegen in ihren Artikeln so sehr beschuldigt hatte.
»Ja?« brummte Klüver. Auch er schien sich an den Vorfall zu erinnern.
»Ich hatte neulich zufällig einem Handwerker zugehört, der sich darüber gewundert hatte, warum in so einem noblen Schloss ein so düsterer und dreckiger Kellerraum zu einer Wohnung umgebaut werden sollte.« Andrea sah eine Gelegenheit zur Versöhnung. »'Wir mussten höllisch aufpassen, weil die Tür nicht von innen zu öffnen war und man sich auch sonst nicht bemerkbar machen konnte.'« Andrea gab wieder, was sie damals gehört hatte. »Ich habe dem nicht so viel Bedeutung beigemessen, doch jetzt mit dem Verschwinden von Maria bekommt das eine ganz anderes Gewicht.«
»Los, sofort noch einmal den Keller durchsuchen.« Klüver scheuchte seine Beamten auf. »Jede Tür wird aufgebrochen, auch wenn sie verschlossen ist. Das nehme ich auf meine Kappe.«
»Und dann bekam meine Mutter das Angebot, ein Erziehungsprogramm zu entwickeln, und ich sollte ihre Testkandidatin sein.« Maria hörte auf, ihre Arme zu bewegen. »Das muss als Gymnastik erst einmal reichen.«
»Und was musstest du so alles machen?« Sophie war sichtlich interessiert.
»Bislang war es mit dem Korsett und den nach hinten gebundenen Armen nur ein Spiel, doch dann wurde es auf einmal ernst.« Maria klang sentimental.
»Du hast also rund um die Uhr ...?« Sophie stand der Mund offen.
»Mit ausgiebigen Schönheitsmaßnahmen am Wochenende.« Maria lächelte. »Es hieß 'die schöne Nacht', doch es war zumindest am Anfang alles andere als schön.«
»Was musstest du da alles machen?« In Sophie begannen sich gewisse Gefühle zu regen. »Erzähle doch bitte.«
»Am schlimmsten war der Mundverschluss.« Maria lächelte. »Doch ich sollte von vorn erzählen.«
»Nichts.« Klüver war verzweifelt. »Wir haben alle Türen geöffnet, doch wir haben nichts gefunden.«
»Er hat den Raum bestimmt versteckt«, meinte einer seiner Kollegen.
»Wissen sie noch, wie der Handwerker hieß?« Klüver blickte Andrea ungeduldig an.
»Nein.« Andrea schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur noch, dass vor dem Haus ein Wagen einer Tischlerei parkte. Aber den Namen weiß ich nicht mehr.«
»Naja, so viel Tischler gibt es in Landsbach nicht. Geben sie mir mal das Branchenbuch.« Klüver begann die erste Nummer zu wählen.
»Wollen sie sie jetzt anrufen?« Andrea war erstaunt. »Am Sonntag?«
»Haben sie eine bessere Idee?« Klüver blickte sie verwundert an, dann begann er die erste Nummer zu wählen.
Doch schon beim zweiten Anruf hatten sie Glück. »Doch, ich erinnere mich sehr gut an den Auftrag. Ich wollte morgen zum Baron, weil ich noch auf meine Bezahlung warte. Er hatte mich auf die Zeit nach dem Fest vertröstet.« Es war dem Handwerker anzuhören, dass er auf den Baron nicht gut zu sprechen war.
Klüver war erleichtert. »Können sie schnell einmal zum Schloss kommen?«
Der Handwerker verneinte es. »Ich habe heute kein Auto.«
»Dann wird sie ein Streifenwagen abholen.« Klüver fragte nach der Adresse.
»Gern, das können wir so machen.« Der Handwerker nannte seinen Wohnort. »Bis gleich.«
»Und dann haben wir von deinem Unfall erfahren.« Maria blickte sich um. »Nur ganz langsam wurde mir dann klar, dass ich die Katerina zu spielen hatte.«
»Ich hätte das Fest ruiniert, darüber bin ich mir jetzt ziemlich sicher.« Nur ungern erinnerte sich Sophie an ihre Einstellung kurz vor dem Unfall.
Maria schwieg.
»Du warst die Einzige, die mich im Krankenhaus besucht hat.« Sophie war den Tränen nahe. »Erst da habe ich erkannt, was wahre Freunde sind.« Sie blickte zum Tisch. »Mit dem Brief da wollte ich mich bei dir bedanken, doch das Schreiben fällt mir noch sehr schwer.«
Maria blickte zum Tisch und sah, dass bisher erst wenige Zeilen geschrieben waren.
»Einmal habe ich meinen Vater im Krankenhaus gehört, und er sagte, dass für dich das gleiche Programm vorgesehen wäre wie für mich. Das hat mich sehr traurig gemacht.« Sie schluchzte. »Ich habe es ja verdient, aber du bist doch ganz unschuldig. Ich hatte mir ganz fest vorgenommen, dass ich darum kämpfen wollte, falls ich jemals aus dem Gipspanzer heraus käme. Verstehst du, es war so eine Art Strohhalm.«
»Weißt Du, warum dein Vater das gemacht hat?« Maria war noch dabei, die Ungeheuerlichkeit dieses Planes zu begreifen.
»Er sagte mal etwas von einem geheimen Testament, aber ich weiß nicht, was das mit dir zu tun haben soll.« Sophie strich Maria über den Kopf. »Du musst mir verzeihen, aber ich konnte dich nicht warnen. Als ich dann hörte, dass mein Vater verhaftet wurde, dachte ich, du wärest in Sicherheit.« Die Verzweiflung war immer noch deutlich in ihren Worten zu hören.
Als der Streifenwagen vor dem Schloss hielt, riess Klüver sofort die Tür auf und half dem Herrn beim Aussteigen. »Meinen sie, dass sie den Raum wiederfinden?«
»Den Weg dahin habe ich mir nicht gemerkt, aber ich würde ihn sofort wiedererkennen.« So langsam begann der Handwerker den Ernst der Situation zu begreifen.
»Dann lassen sie uns gehen.« Klüver drängte zurück ins Schloss.
Mittlerweile war auch Robert Greinert am Schloss eingetroffen und wurde von Frederike über den Stand der Dinge informiert. Auch zwei Sanitäter waren alarmiert worden.
Im vorletzten Raum zeigte der Handwerker auf ein Regal. »Da war eine Tür, ganz sicher.« Er rannte auf das Regal zu und schob es zusammen mit Paul beiseite. »Hier muss es sein.«
Zum Vorschein kam tatsächlich eine Tür.
»Maria?« rief Paul.
»Frau Beller?« Klüver war nervös. »Sind sie da drin? Hier ist die Polizei!«
Maria hielt in ihrer Erzählung inne. »Da war was!«
»Hier sind wir! Hilfe!« Sophie begann zu rufen.
Sofort standen beide auf und begannen an der Tür zu trommeln.
»Wir haben sie.« Klüver überbrachte Marias Mutter die gute Nachricht.
»Wie geht es ihr?« Frederike war erleichtert.
»Das wissen wir noch nicht. Eine Tür muss noch geöffnet werden.« Klüver fragte nach einem Brecheisen. Ein Kollege brachte ihm das Verlangte.
»Könnt ihr uns hören?« Klüver stand wieder vor der Tür und hielt das Brecheisen in der Hand.
»Ja!«, ertönte es von drinnen.
»Wir brechen jetzt die Tür auf.« Er zitterte vor Erregung. »Geht bitte von der Tür weg.«
Er wartete noch ein paar Sekunden, dann setzte er das Brecheisen an und versuchte mit aller Kraft, die Tür aufzuhebeln. Doch erst als auch Paul und der Handwerker mit anfassten, gab die Tür mit einem heftigen Knall nach.
»Endlich!« Sophie brach zusammen.
»Sanitäter, schnell.« Die Herren traten beiseite, um die Mediziner als Erste in den Raum zu lassen. Paul ging gleich hinter her. »Maria!«
Frederike ging nicht minder besorgt hinterher. Sie war erleichtert, als sie sah, dass Marias Arme befreit waren.
»Sophie hat mich befreit.« Sie blickte etwas verlegen auf das Kleid, welches jetzt aufgeschnitten auf dem Boden lag.
»Gott sei Dank.« Frederike nahm ihre Tochter in den Arm. »Du lässt dich jetzt aber auch von den Sanitätern durchchecken.«
Maria nickte, doch dann blickte sie besorgt zu Sophie, die gerade auf eine Trage gelegt wurde. »Was ist mit ihr?«
»Nur eine kleine Ohnmacht.« Der eine Sanitäter lächelte. »An der frischen Luft sollte sie schnell wieder zu sich kommen.«
Mit etwas wackeligen Knien verließ Maria das Sanitätsfahrzeug. »Sie haben mir verboten, das Gebet heute noch einmal zu tragen.« Sie grinste Paul und ihre Mutter an.
»Du kannst ja schon wieder Witze machen.« Paul war mehr als erleichtert.
»Wie geht es Sophie?« Maria blickte sich um, doch die Baroness war nicht zu sehen.
»Sie ruht sich im Moment in ihrem Zimmer etwas aus. Der Kommissar war bei ihr, weil er ihre Aussage aufnehmen wollte. Er möchte sie zu einer Anzeige gegen ihre Vater ermutigen.« Frederike nahm ihre Tochter in den Arm. »Die Baroness hat mich um ein Gespräch gebeten, wenn hier alles erledigt ist. Hast du eine Ahnung, was sie möchte?«
»Ja, habe ich.« Maria schmunzelte. »Aber das soll sie dir selbst sagen.«
Klüver räusperte sich. »Ich wollte nur mitteilen, dass wir den Neffen des Barons aufgegriffen haben. Er hat alles zugegeben.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Jetzt wird er bald seinen Onkel wiedersehen.«
»Ich wollte mich erkundigen, wie es Maria geht und ob wir die Nachricht verkündigen können.« Der Notar Herr Schrumm in Begleitung seiner Tochter stand in der Schlosstür.
»Ich denke, es kann gleich losgehen.« Frederike hatte eine Idee. Sie ging zu den Sanitätern und bat sie noch einen Moment dazubleiben. »Meine Tochter bekommt gleich eine wichtige Nachricht, und es könnte sein, dass wir dann noch einmal ihre Hilfe brauchen.«
»Meine liebe Frau Beller.« Herr Schrumm sprach Maria direkt an. »Sie haben sich bestimmt gewundert, warum ich bei dem Verlobungstanz so genau zugesehen habe.«
Maria blickte etwas nervös zwischen ihrer Mutter und dem Notar hin und her. Eine Antwort gab sie nicht.
Der Notar blickte zu seiner Tochter. »Lass sie sich bitte setzen.«
Sonja lächelte wissend, dann griff sie sich einen der bereitstehenden Stühle und half Maria auch noch beim Hinsetzen.
»Was ist denn los?« So langsam wurde es Maria unheimlich.
»Im vergangenen Jahrhundert hat ein Kollege von mir ein Testament aufgenommen, aus dem ich jetzt etwas vorlese: 'Gemäß ihren Wünschen haben wir Zweihunderttausend Mark in Gold angelegt. Zur Auszahlung kommt das Geld nur dann, wenn bei dem betreffenden Fest es eine Darstellerin schafft, das »Gebet auf dem Rücken« zu tragen.'« Er ließ das Schriftstück sinken.
Maria stand der Mund offen.
»Die entsprechende Bank hat mir mitgeteilt, dass sich der Wert des Goldes auf mittlerweile vier Millionen Mark vervielfacht hat.«
»Vier Millionen?« Maria hielt den Atem an.
»Sie haben sich bestimmt auch gewundert, warum wir darauf bestanden haben, dass ihre Stiefel versiegelt sein mussten.« Herr Schrumm hatte Mühe, zu verbergen, dass er den Moment auch sehr genoss.
Maria blickte den Notar lediglich fassungslos an.
»Nun, ein sehr reicher Herr, der auf keinen Fall bekannt werden möchte, hat mir gegenüber geäußert, dass er das Preisgeld verdoppeln möchte, wenn der Verlobungstanz auf den sogenannten Ballettstiefeln getanzt wird.« Herr Schrumm machte eine bedeutsame Pause. »Auch davon konnte ich mich überzeugen, und ich kann ihnen damit mitteilen, dass ihnen ab jetzt acht Millionen Mark zustehen.«
Spontaner Applaus kam auf. Doch Herr Schrumm bat um Ruhe. »Ich bin noch nicht fertig«, sagte er freundlich. »Es kommt noch eine Klausel, die zu beachten ist.« Er griff wieder zu einem Papier und las daraus vor. »'Das Vermögen kann nur zur Auszahlung an die Darstellerin kommen, wenn diese ihr fünfundzwanzigstes Lebensjahr vollendet hat oder wenn sie verheiratet ist. Bis dahin soll es der Vorsitzende des Festes zu treuen Händen verwalten.'« Er ließ seine Worte wirken.
»Jetzt wird mir einiges klar.« Maria blickte sich verwirrt um.
»Wenn ich das richtig verfolgt habe, dann sind sie, Herr Greinert, der amtierende Vorsitzende und müssten das Geld verwalten, bis Maria alt genug ist.« Herr Schrumm blickte den Vorsitzenden lange an.
»Es sei denn, Maria heiratet vorher.« Es war ihm deutlich anzusehen, dass er diese Verantwortung nicht übernehmen wollte.
»Das ist richtig. Eine Kopie der Heiratsurkunde würde mir genügen.« Herr Schrumm blickte sich um. »Das war es von meiner Seite.«
Marias Mutter hielt die Luft an und blickte unauffällig zu Boden. Sie wusste, dass sie ihrer Tochter viel zugemutet hatte und sehr in ihr Leben eingegriffen hatte. Wenigstens in diese eine Entscheidung wollte sie sich nicht einmischen.
Paul blickte sich um. Mrs. Potter blickte wie Marias Mutter auf den Boden. Nur seine Oma schaute ihn an und nickte ihm aufmunternd zu.
Zu seinem eigenen Erstaunen waren seine Hände völlig ruhig, als er den wertvollen Verlobungsring seiner Mutter zur Hand nahm. Er kniete sich vor seiner Freundin hin, und zu seinem eigenen Erstaunen war seine Stimme klar und ruhig. »Maria, wir kennen uns nun ein halbes Jahr, doch mir kommt es vor, als es wäre es eine Ewigkeit. Wir sind zusammen durch gute und durch schwere Zeiten gegangen.« Er machte eine bedeutsame Pause. »Möchtest du mich heiraten?«
Maria schlug die Hände vor das Gesicht und wischte sich die Tränen weg. Sie antwortete nur mit einem Wort. »Ja!«